Neues vom Hexer - Edgar Wallace - E-Book

Neues vom Hexer E-Book

Edgar Wallace

4,2

Beschreibung

Der vermögende Lord Curtain wird von seinem Neffen Archie Moore unter Beihilfe des Butlers Edwards umgebracht. Am Tatort findet Inspektor Wesby (von Sir John als Vertretung für Inspektor Higgins rekrutiert) eine vermeintliche Visitenkarte des „Hexers“. Dieser befindet sich wieder in Australien. Er reist mit seiner Frau Cora-Ann und Butler Finch nach London, um den Fall aufzuklären und sich vom Mordverdacht zu befreien, denn es wurde eine Gerichtsverhandlung mit ihm als Angeklagten in Abwesenheit angesetzt. Einen ersten Eindruck seiner Fähigkeiten hinterlässt der „Hexer“, als er die Stelle eines beisitzenden Richters einnimmt und ein Tonbandgerät aus einem Versteck am Tatort abspielen lässt, mit dem die Täter eine falsche Spur legen wollten ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 265

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,2 (14 Bewertungen)
7
3
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Edgar Wallace

Neues vom Hexer

Edgar Wallace

Neues vom Hexer

idb

ISBN 9783963751530

Inhaltsverzeichnis

1 – Der Elektroingenieur

2 – Zum Tode verurteilt

3 – Der Mann mit den vielen Namen

4 – Der Sklave der Frauen

5 – Paul Lumière wird bestraft

6 – Der Erpresser

7 – Eine Herausforderung

8 – Der Vampir

9 – Der Schweizer Oberkellner

10 – Mr. Bliss entkommt mit knapper Not

11 – Der Mann mit dem Bart

12 – Die Momentaufnahme

13 – Der unheimliche Dr. Lutteur

14 – Der liebenswürdige Schuster

15 – Um ein Testament

16 – Eine Entführung

1 – Der Elektroingenieur

Miska Guild führte ein extravagantes Leben und machte häufig durch seine Abenteuer und dummen Streiche in der Öffentlichkeit von sich reden. Manche Leute lachten über ihn, die meisten aber waren empört über sein Verhalten.

Eines Tages raste er zum Beispiel mit einer Geschwindigkeit von hundertzehn Kilometern die Regent Street entlang. Die Folge davon war, dass er zwei Fußgänger schwer verletzte, einen Laternenpfahl in Grund und Boden fuhr und seinen Wagen vollständig ruinierte. Die Anklage, dass er betrunken gewesen sei, konnte nicht aufrechterhalten werden, da man ihn vollkommen nüchtern unter den Trümmern hervorgezogen hatte. Auch war ihm selbst nicht das mindeste passiert.

Trotz des gegenteiligen ärztlichen Gutachtens verurteilte ihn aber das Gericht. Miska erhob Einspruch, erschien vor den Geschworenen mit den besten Anwälten, die man für Geld haben konnte, und es gelang ihm, mit knapper Not einen Freispruch durchzusetzen. Die Leute vom Theater kannten ihn, weil er vielbesprochene Essen gab. Man munkelte auch davon, dass es bei seinen intimen Festen so toll zugehen sollte, dass man kaum darüber reden konnte. Einmal fuhr er nach Paris, und die französische Polizei gab sich die größte Mühe, einen unangenehmen Zwischenfall zu vertuschen, der während seines Aufenthaltes passierte.

Aber immerhin konnte man die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass eine schöne, junge Choristin tot auf dem Gehsteig vor dem Hotel lag. Sie war aus dem fünften Stockwerk gefallen. Die Polizei erklärte allerdings in entgegenkommender Weise, dass die junge Dame die Tür zum Wohnzimmer verwechselt habe. Bei der Totenschau fragte niemand danach, warum sie über das Geländer geklettert war.

Der Einzige, der sich leidenschaftlich für die Sache interessierte, war Henry Arthur Milton, der von den Gerichten und der Polizei gesucht wurde. Zufällig wohnte er damals in demselben Hotel. Die große Öffentlichkeit kannte ihn unter dem Namen ›Der Hexer‹. Natürlich hatte er sich nicht mit seinem wirklichen oder mit seinem Spitznamen in die Fremdenliste eingetragen.

Mr. Guild zahlte große Beträge an die Polizeibeamten, denen er so viel Unannehmlichkeiten und Mühe bereitet hatte. Einige Zeit später kehrte er nach London in seine prächtig ausgestattete Wohnung in Carlton House Terrace zurück. Ihm selbst hatten die Ereignisse am wenigsten zugesetzt, und er tat so, als ob nichts vorgefallen wäre.

Er war ein Mann Mitte der Dreißig und besaß mehr als drei Millionen Pfund Sterling. Infolge seines großen Reichtums waren ihm die Begriffe für Gut und Böse, für Erlaubt und Unerlaubt etwas durcheinandergeraten.

Wäre dieser Unglücksfall nicht in Paris, sondern in London passiert, dann hätten ihn auch die größten Summen und die besten Advokaten der Welt nicht vor den schlimmen Folgen schützen können.

*

An einem herrlichen Novembermorgen, als die Sonne aus einem klaren Himmel auf die kahlen Bäume von Green Park herniederschien, brachte Mr. Guilds Diener diesem das Frühstück ans Bett. Auf dem Tablett lag auch ein eingeschriebener Brief, der aus Paris kam. ›Dringend und persönlich! Nicht vom Privatsekretär zu öffnen!‹ stand rot unterstrichen auf dem Umschlag.

Miska Guild richtete sich im Bett auf, strich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte einige Zeit unentschlossen auf den Brief, bevor er ihn seufzend öffnete. Er zog nur einen dünnen Bogen heraus, der eng mit der Maschine beschrieben war und weder Datum, Anrede noch Unterschrift trug.

Am achtzehnten Oktober fuhren Sie in Begleitung einer kleinen Gesellschaft nach Paris. Auch Miss Ethel Seddings, die Ihren wahren Charakter nicht kannte, hatte sich Ihnen angeschlossen. Sie beging Selbstmord, um Ihren Nachstellungen zu entkommen. Man nennt mich den ›Hexer‹ – mein wirklicher Name ist Henry Arthur Milton. Wenn Sie sich für meine Persönlichkeit interessieren sollten, können Sie alles Nähere von Scotland Yard erfahren. Da Sie ein Mann sind, der große Beziehungen sein eigen nennt, gebe ich Ihnen eine Gnadenfrist, um darüber zu verfügen. Nach einer angemessenen Zeit komme ich nach London und bringe Sie um.

Miska las den Brief mehrmals durch, drehte das Blatt dann um, fand aber nichts weiter darauf.

»Zum Teufel, wer ist denn der Hexer«, fragte er, und der Diener, der in diesen Dingen bewandert war, erzählte ihm Verschiedenes über diesen allbekannten Mann. Miska betrachtete den Umschlag von allen Seiten, aber auch dadurch wurde er nicht klüger. Er lachte und wollte den Brief schon zerreißen, überlegte es sich aber im letzten Augenblick anders.

Später am Morgen sprach er mit seinem Sekretär.

»Schicken Sie diesen Wisch mit einem Begleitschreiben an Scotland Yard.«

Er hätte die unangenehme Sache vergessen, wenn er nicht bei der Rückkehr vom Mittagessen einen Herrn in seiner Wohnung angetroffen hätte. Der Mann sah düster aus, trug einen kurzen schwarzen Bart und stellte sich als Chefinspektor Bliss von Scotland Yard vor.

»Ach, kommen Sie wegen des Briefes? Das ist doch Blödsinn! Sie nehmen die Sache doch nicht etwa ernst?«

Bliss nickte langsam.

»Ich nehme sie so ernst, dass ich Sie für ein oder zwei Monate von zweien meiner besten Leute bewachen lasse!«

Miska sah ihn ungläubig an.

»Wollen Sie das wirklich tun? Aber mein Diener hat mir doch gesagt, dass der Herr ein Verbrecher ist, den die Polizei sucht. Der wagt es doch sicher nicht, nach London zu kommen!«

Bliss lächelte grimmig.

»Der wagt alles. Er geht sogar zu Scotland Yard, wenn es ihm Vergnügen macht. Und für Fälle wie den Ihren interessiert er sich ganz besonders.«

Der Beamte erzählte ein wenig über den Hexer, und Miska Guild wurde plötzlich sehr aufgeregt.

»Das ist doch aber entsetzlich … einen Mörder lässt man doch nicht frei herumlaufen? Können Sie ihn denn nicht fangen? So etwas ist mir noch niemals vorgekommen! Außerdem war die Sache in Paris tatsächlich ein Unglücksfall. Das arme, verrückte Ding hat die Türen verwechselt –«

»Ich bin über den Vorfall genau orientiert, Mr. Guild«, entgegnete Bliss ruhig, »und möchte nicht gern mit Ihnen darüber sprechen. Aber eins muss ich Ihnen sagen: Ich kenne den Hexer und seine Methoden wohl am besten, und ich kann Ihnen versichern, dass er sein Wort unter allen Umständen hält. Wir müssen Sie also beschützen. Stellen Sie kein neues Personal ein, ohne mich zu verständigen, und benachrichtigen Sie mich täglich, wohin Sie gehen und was Sie unternehmen wollen. Der Hexer ist meines Wissens der einzige Verbrecher auf der Welt, der sich nur auf seine Verkleidungskunst verlässt. Wir haben in Scotland Yard kein Foto von ihm, und ich bin einer der wenigen, die ihn jemals ganz ohne Maske gesehen haben.«

Miska war wenig erfreut über die Aussicht, sich im Voraus festlegen zu sollen. Er gehörte zu den impulsiv veranlagten Menschen und wusste niemals genau, wo er sich in der nächsten Stunde aufhalten würde. Außerdem wollte er nach Berlin reisen …

»Wenn Sie England verlassen, bin ich nicht für Ihre Sicherheit verantwortlich«, erwiderte Bliss kurz.

Mr. Guild wurde bleich.

*

Zuerst betrachtete er die Angelegenheit als einen Scherz, aber nach vier Wochen wurde er nervös, als er ständig Detektive in seiner Nähe sah.

Und eines Abends brachte ihm Bliss die bestürzende Nachricht, dass der Hexer in England sei.

Miska schaute ihn entsetzt an.

»Woher wissen Sie das?«, fragte er mit stockender Stimme. Aber der Chefinspektor gab ihm keine nähere Auskunft, da er weder von Freddy noch von dem eigenartigen Benehmen des rotbärtigen Mannes sprechen wollte.

Freddy wohnte in einem kleinen Haus, das einer tauben alten Frau gehörte. Sie hatte schon unangenehmere Mieter gehabt als Freddy, obwohl er schäbige Kleider trug, große, vorstehende Zähne und ein Trinkergesicht hatte.

Eines Abends ging er heimlich auf die Polizeiwache, denn Inspektor Stourbridge hatte nach ihm geschickt.

»Es gibt morgen einen Einbruch bei dem Juwelier Lowe in Islington, Mr. Stourbridge. Ein paar Kerle von Notting Dale sind dabei, und die Ware wird bei dem Hehler Elfus untergebracht. Haben Sie mich deshalb geholt?«

Freddy kniff die roten Augenlider zusammen und drehte den Hut in den Händen. Sein zerlumpter Mantel berührte fast den Boden.

Stourbridge kannte viele Polizeispitzel, aber Freddy war ein neuer Typ für ihn.

Er zögerte, sagte ihm dann, dass er einen Augenblick warten solle, und ging in das nächste Zimmer.

Chefinspektor Bliss saß an dem Tisch, ein dickes Aktenstück lag vor ihm.

»Der Mann ist jetzt da, von dem ich Ihnen erzählt habe. Wir haben noch keinen Besseren gehabt, und solange er nicht irgendein ungewöhnliches Risiko eingehen muss oder wenigstens nichts davon weiß, ist er von unschätzbarem Wert.«

Bliss zupfte an seinem schwarzen Bart.

»Weiß er, warum Sie ihn gerufen haben?«

Stourbridge grinste. »Nein – ich habe ihn beauftragt, mir Informationen über einen Juwelendiebstahl zu bringen – aber wir wussten schon vorher alles.«

»Bringen Sie ihn einmal herein.«

Freddy schlenderte in den Raum und schaute unsicher von einem zum andern.

»Das ist Mr. Bliss vom Yard«, erklärte Stourbridge.

Freddy nickte.

»Hab’ schon von Ihnen gehört«, sagte er mit einer hohen, schrillen Stimme. »Sie sind doch der Teufelskerl, der den Hexer –«

»Wenn wir genau sein wollen, bin ich es nicht«, erwiderte Bliss barsch, »aber Sie können es vielleicht sein.«

»Ich?« Freddys Mund stand offen, und seine vorstehenden Zähne erinnerten Stourbridge an die Maske eines beliebten Komikers. »Ich rühre den Hexer nicht an, wenn Sie gestatten. Wenn Sie Arbeit für mich haben, übernehme ich sie gern. Es ist nun einmal mein Steckenpferd – eigentlich hätte ich zur Polizei gehen müssen. In Manchester können Sie sich nach mir erkundigen. Ich habe Spicy Brown gefunden, als alle Polypen vergeblich nach ihm suchten.«

»Deshalb ist Ihnen der Boden in Manchester wohl auch etwas zu heiß geworden, was?«, fragte der Inspektor.

Der Mann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Ja, sie haben mir etwas zugesetzt – die Jungens, meine ich. Deshalb bin ich nach London zurückgekommen. Aber ich muss herumschnüffeln, das ist nun einmal so. Daran kann ich nichts ändern.«

»Sie können ein paar Nachforschungen für mich anstellen«, erwiderte Bliss.

So kam es, dass ein neuer und außerordentlich befähigter Mann den Fremden mit dem roten Bart beobachtete.

*

Der Mann mit dem roten Bart war auf einem Indiendampfer, der Marseille berührt hatte, in London angekommen. In seinem Pass stand der Name Tennett. Er reiste dritter Klasse und war von Beruf Elektroingenieur. Aber trotz seiner augenscheinlichen Armut hatte er eine kleine, luxuriös eingerichtete Wohnung in Kensington gemietet.

Chefinspektor Bliss wurde zuerst auf ihn aufmerksam, als er ihn eines Abends in Carlton House Terrace sah. Der Ingenieur gab an, dass er mit Mr. Guild über das Projekt eines Wasserkraftwerkes in Indien sprechen wolle.

Am nächsten Tag wurde er beobachtet, als er das Haus von der Parkseite aus besichtigte.

Nun wäre es eine einfache Sache gewesen, ihn festzunehmen und nachzuprüfen, ob seine Angaben auf Wahrheit beruhten. Aber kürzlich hatte es schon mehrere Skandale gegeben, weil zwei Unschuldige verhaftet worden waren, und in Scotland Yard wollte man kein neues Risiko auf sich nehmen.

Tennett wurde bis zu seiner Wohnung verfolgt. Anscheinend war er ein verschwenderischer Mann, denn er benutzte ständig Taxis, auch wenn es unnötig schien.

Freddy hörte Bliss mit wachsendem Unbehagen zu.

»Ich will nichts mit Hexern zu tun haben«, sagte er dann heiser. »Übrigens hat er keinen roten Bart.«

»Halten Sie den Mund!«, fuhr in Bliss an. »Er kann sich doch wohl einen wachsen lassen, oder? Sehen Sie zu, was Sie herausbringen können. Vielleicht kommen Sie zufällig in seine Wohnung und sehen ein paar Briefe herumliegen – manchmal findet man auf diese Weise Anhaltspunkte. Ich gebe Ihnen natürlich nicht den Auftrag, das zu tun, aber …«

Freddy nickte verständnisvoll.

*

Drei Tage später berichtete er dem Detektiv, an den er sich wenden sollte, merkwürdige Dinge. Der Mann mit dem roten Bart war auf dem Flugplatz Croydon gewesen und hatte wegen eines Flugzeugs verhandelt, das ihn nach dem Kontinent bringen sollte. Auch hatte er sich längere Zeit bei einer Firma für elektrische Bedarfsartikel im Osten Londons aufgehalten und eine Reihe geheimnisvoller Einkäufe gemacht, die er in einem Taxi nach Hause brachte.

Bliss sprach mit seinem Vorgesetzten.

»Nehmen Sie ihn fest«, schlug dieser vor. »Sie können einen Haussuchungsbefehl für seine Wohnung bekommen.«

»Sie ist schon durchsucht. Es war aber nicht das Geringste dort zu finden, was von Wichtigkeit sein könnte.«

Abends besuchte er Mr. Guild. Miska war kaum wiederzuerkennen. Die letzten drei Monate hatten ihn vollständig zermürbt.

»Nichts Neues?«, fragte er furchtsam, als Bliss hereintrat. »Hat dieser Mann auch nichts entdeckt? Der kann es wirklich mit den Leuten von Scotland Yard aufnehmen. Ich habe letzte Nacht mit ihm gesprochen, als er sich draußen mir einem Ihrer Leute unterhielt. Hören Sie, Bliss, ich möchte Ihnen gern die Wahrheit über den Zwischenfall in Paris erzählen –«

»Tun Sie das lieber nicht«, erwiderte Bliss entschieden.

Er wollte nach außen hin auf alle Fälle ein scheinbares Interesse an Mr. Guilds Schicksal aufrechterhalten können.

Der Chefinspektor hatte Carlton House Terrace kaum verlassen, als ein Taxi vorfuhr. Freddy stieg aus und fiel beinahe in die Arme des diensttuenden Detektivs.

»Wo ist Bliss?«, fragte er schnell. »Der rotbärtige Kerl ist verschwunden … er hat das Haus verlassen und seinen Bart abrasiert, Mr. Connor. Ich erkannte ihn nicht, als er herauskam.«

»Bliss ist gerade gegangen«, entgegnete Connor bedrückt.

Sie fuhren zu dem Stockwerk hinauf, in dem sich Mr. Guilds Wohnung befand. Der Diener führte Connor ins Speisezimmer, wo das Telefon war, und ließ Freddy in der Diele warten. Dieser stand verzweifelt dort, als Miska herauskam.

»Hallo, was gibt es?«, fragte der Hausherr schnell.

Freddy schaute nach rechts und nach links.

»Er telefoniert mit dem Chef«, flüsterte er dann heiser. »Aber ich habe ihm nichts von dem Brief gesagt.«

Er folgte Miska in die Bibliothek, und der Millionär erfuhr eine Neuigkeit, die er nicht erwartet hatte.

Als Connor zurückkam, wartete Freddy wieder in der Diele. »Es ist alles in Ordnung – sie haben den Rotbart am Bahnhof Liverpool Street festgenommen. Wir hatten jemand beauftragt, ihm zu folgen.«

Freddy schaute ihn gekränkt an.

»Was soll denn das bedeuten, dass Sie mich und obendrein noch einen Detektiv auf seine Spur hetzen?«, fragte er verstimmt. »Das nenne ich ein doppeltes Spiel spielen.«

»Machen Sie, dass Sie nach Scotland Yard kommen. Der Chefinspektor will Sie sehen«, entgegnete Connor.

Freddy brummte noch etwas und verschwand dann.

Der Mann, der einen roten Bart getragen hatte, saß indessen in Mr. Bliss’ Büro.

»Ich weiß nicht, welches Gesetz mir verbieten könnte, meinen Bart abzunehmen«, sagte er entrüstet. »Ich wollte gerade nach Holland reisen, um mit einem Herrn zu verhandeln, der sich für mein Projekt interessiert.«

Der Chefinspektor unterbrach ihn mit einer kurzen Geste. »Sie kamen mittellos nach England, Mr. Tennett, und doch haben Sie sofort nach Ihrer Ankunft eine teure Wohnung in London gemietet und haben sich neu eingekleidet. Und jetzt haben Sie Geld genug, um nach dem Kontinent zu reisen. Können Sie mir eine Erklärung dafür geben?«

Mr. Tennett zögerte.

»Nun gut, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Bei meiner Ankunft in London war ich tatsächlich ohne Mittel, aber ich kam auf dem Bahnhof mit einem Mann ins Gespräch. Ich erzählte ihm auch von dem Projekt des Wasserkraftwerkes, und er interessierte sich dafür. Für einen wohlhabenden Mann konnte ich ihn seinem Aussehen nach nicht halten, aber er gab mir zweihundert Pfund und sagte mir dann, was ich tun solle. Auf seinen Vorschlag hin habe ich die Wohnung gemietet, und er hat mir jeden Tag angegeben, was ich tun solle. Ich wollte mich gar nicht von meinem alten Bart trennen, aber schließlich brachte er mich doch dazu, ihn abzunehmen. Dann erhielt ich dreihundert Pfund von ihm, damit ich nach Holland gehen sollte.«

Bliss schaute ihn ungläubig an.

»Hat er Sie auch beauftragt, Mr. Guild zu besuchen?«

»Ja. Ich sage Ihnen, ich hatte manchmal das Gefühl, dass bei der Sache etwas nicht stimmen könnte. Der Mann sah so heruntergekommen aus mit den vorstehenden Zähnen und den roten Augenlidern …«

*

Bliss sprang auf und sah Stourbridge erregt an.

»Freddy!«, sagte er nur.

Ein Auto brachte ihn nach Carlton House Terrace, und Connor erzählte ihm kurz, was sich ereignet hatte.

»Hat Freddy Mr. Guild gesehen?«

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte der Detektiv und schüttelte den Kopf. Bliss wartete nicht auf den Aufzug, er eilte die Treppe hinauf. In der Diele traf er den Diener.

»Wo ist Mr. Guild?«, fragte er schnell.

»In seinem Zimmer.«

»Haben Sie ihn vor kurzem noch gesehen?«

»Nein. Ich störe ihn nicht, wenn er nicht klingelt. Und seit etwa einer halben Stunde hat er sich nicht gemeldet.«

Bliss drückte die Türklinke nieder und trat ein.

Miska Guild lag auf dem Teppich, als ob er schliefe. Aber als Bliss ihn auf den Rücken legte und in sein Gesicht sah, wusste er, dass die Welt niemals die wahre Geschichte über den ›Selbstmord‹ der jungen Choristin erfahren würde.

2 – Zum Tode verurteilt

In Scotland Yard waren die Ansichten geteilt. Die einen glaubten, dass der Hexer ganz allein arbeite, die anderen, dass er mindestens ein Dutzend Helfershelfer habe.

Inspektor Bliss gehörte zu den Ersteren und führte als Begründung seiner Anschauung vor allem die Ermordung Miska Guilds ins Feld.

»Er arbeitet vollkommen allein«, sagte er. »Selbst sein Helfer war in diesem Fall ein ganz unschuldiger Bursche, der keine Ahnung davon hatte, dass er nur die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich lenken sollte.«

»Ist übrigens etwas Neues von ihm bekannt?«, fragte Colonel Walford. Bliss schüttelte den Kopf.

»Er ist in London. Davon war ich schon seit einiger Zeit überzeugt, aber jetzt habe ich die Bestätigung. Wenn man mir vor ein paar Jahren gesagt hätte, dass sich ein Mann durch einfache Verkleidung der Verfolgung der Polizei entziehen kann, hätte ich ihn ausgelacht. Aber die Verkleidung und Masken dieses Mannes sind unübertrefflich. Er ist tatsächlich die Person, deren Rolle er im Moment spielt. Wenn ich daran denke, wie er den Spitzel Freddy mit den vorstehenden Eckzähnen und den entzündeten Augen gespielt hat, bin ich noch heute sprachlos. Wer hätte auch daran gedacht, dass er falsche Zähne über seinen eigenen befestigen, sich die Augenlider rot schminken und den Bart stehenlassen könne? Diese wenigen Maßnahmen genügten, um selbst mich zu täuschen. Und dabei bin ich einer der wenigen Leute, die ihn ohne Verkleidung gesehen haben. Es ist ihm wieder einmal gelungen, mich hinters Licht zu führen.«

»Woraus schließen Sie, dass er in London ist?«

Der Chefinspektor nahm einen Brief aus seiner Tasche.

»Das kam heute Morgen.«

Colonel Walford starrte ihn an.

»Was – ein Schreiben vom Hexer?«

Bliss nickte. »Die Mitteilung ist mit derselben Schreibmaschine geschrieben wie die Nachricht an Miska Guild. Die ›e‹ stehen nicht in der Zeile, und die i-Punkte sind abgenützt.«

Colonel Walford setzte seine Brille auf und las.

Der zum Tode verurteilte Michael Benner ist vollkommen unschuldig. Ich glaube, diese Tatsache ist Ihnen auch bekannt, denn als Sie bei seinem Prozess als Zeuge gegen ihn auftraten, erwähnten Sie alles, was irgendwie zu seinen Gunsten sprechen konnte. Lee Lavinski ist der Mörder des alten Mannes. Er wurde aber nach der Tat von Benner gestört, bevor er die Beute an sich nehmen konnte. Zwei Tage nach dem Mord ging er nach Kanada. Seien Sie menschenfreundlich und helfen Sie mir, Benner zu retten.

Das Schreiben trug wie gewöhnlich keine Unterschrift.

»Was halten Sie denn davon?«, fragte der Colonel.

»Der Hexer hat recht«, entgegnete Bliss ruhig. »Benner hat den alten Estholl nicht ermordet – ich habe auch feststellen können, dass Lavinski zur Zeit der Tat in England war.«

Das Verbrechen, über das sie sprachen, hatte das Interesse der breiten Masse nicht geweckt, da die Schuld des Angeklagten über jeden Zweifel erhaben schien und seine Verurteilung von vornherein erwartet wurde. Estholl war ein reicher siebzigjähriger Mann, der in einem kleinen Hotel in Bloomsbury gewohnt hatte. Wie alle Leute, die sich aus kleinen Verhältnissen in die Höhe gearbeitet haben, hatte er die leichtsinnige Angewohnheit, stets große Geldsummen bei sich zu tragen.

An einem Wintermorgen um vier Uhr hatte ein Gast des Hotels, der in seinem Wohnzimmer mit mehreren Freunden Karten spielte, den Raum verlassen und war auf den Korridor hinausgetreten. Dort sah er Benner, den Nachtportier, der gerade aus dem Zimmer des alten Herrn kam. Der Mann war kreidebleich, trug einen blutbefleckten Hammer in der Hand und war so verwirrt, dass er nicht antworten konnte, als der Gast ihn anrief.

Dieser eilte in das Zimmer des alten Estholl und sah den Mann in einer großen Blutlache auf dem Bett liegen.

Nachdem der Portier verhaftet worden war, machte er seine Aussage. Er war auf ein Klingelzeichen hin zu Estholl gegangen. Als er auf sein Klopfen keine Antwort erhielt, öffnete er die Tür und trat ein. Er sah das Mordwerkzeug auf dem Bett liegen und nahm es mechanisch auf, erschrak aber so sehr, dass er nicht wusste, was er tat.

Benner war jung verheiratet und in finanziellen Schwierigkeiten. Er brauchte dringend Geld und hatte an demselben Abend versucht, von der Hotelbesitzerin sieben Pfund zu leihen. Auch mit dem Hauptportier hatte er sich unterhalten.

»Sehen Sie doch einmal den alten Estholl«, hatte er gesagt. »Wenn ich nur halb so viel hätte, wie der in der Tasche herumträgt, brauchte ich mich nicht abzuquälen!«

Bei der Gerichtsverhandlung in Old Bailey beteuerte Benner seine Unschuld, aber sein Prozess dauerte kaum einen Tag und endete mit seiner Verurteilung.

»Der Hammer war Eigentum des Hotels«, erklärte Bliss, »und Benner hatte Zutritt zu dem Raum, in dem die Werkzeuge aufbewahrt werden. Andererseits konnte man aber auch sehr leicht von außen in diesen Raum eindringen, da er im Erdgeschoss liegt. Und man fand auch tatsächlich am nächsten Morgen das Fenster offenstehen.«

»Hat Benner irgendwelche Hoffnung auf Begnadigung?«

Bliss schüttelte den Kopf.

»Nein, das Gericht hat seinen Revisionsantrag verworfen, und der Innenminister ist nicht der Mann, der Mitleid hat und Leute begnadigt. Unglücklicherweise war der alte Estholl mit ihm befreundet.«

Colonel Walford sah wieder auf den Brief und fuhr sich nervös mit der Hand durch das Haar.

»Was kümmert sich der Hexer denn überhaupt um Benner?«

Der Chefinspektor lächelte kaum merklich über diese seiner Meinung nach naive Frage.

»Es ist doch eine alte Erfahrungstatsache, dass sich der Hexer immer um anderer Leute Angelegenheiten kümmert. Er hat sich des Falles angenommen, denn er schickt nicht umsonst Briefe in der Welt herum. Wir werden sicher wieder recht aufregende Dinge erleben. Übrigens hat mich der Innenminister gerade wegen dieser Angelegenheit zu einer Besprechung vorgeladen.«

»Und glauben Sie, dass Sie Ihren Einfluss auf ihn geltend machen können?«

»Wenn ich ihm beipflichte, ja. Sonst nicht.«

Bliss ging in sein Büro zurück und erfuhr, dass ihn jemand zu sprechen wünsche. Noch bevor sein Assistent ihm den Namen der Dame nannte, ahnte er, um wen es sich handele.

Sie war sehr schön, obwohl sich tiefer Kummer in ihren Zügen ausdrückte. Ihre trüben, traurigen Augen zeugten von schlaflos durchweinten Nächten.

»Was kann ich für Sie tun, Mrs. Benner?«, fragte er freundlich.

Ihre Lippen zuckten.

»Ich weiß es nicht … ich weiß nur, dass Mike unschuldig ist. Er ist nicht fähig, einen so schrecklichen Mord zu begehen! Ich war im Innenministerium, aber man hat mich nicht vorgelassen.«

Bliss sah wieder auf ihre Kleidung, die offensichtlich erst vor kurzem gekauft worden war.

»Es geht mir finanziell nicht schlecht«, sagte sie, als ob sie seine Gedanken erraten hätte. »Ein Herr hat mir vorige Woche zwanzig Fünfpfundnoten geschickt. Damit konnte ich alle Schulden meines Mannes bezahlen und hatte auch noch so viel übrig, dass ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.«

»Wer hat Ihnen das Geld geschickt?«, fragte Bliss schnell. Aber hierüber konnte sie ihm keine genaue Auskunft geben, denn es war anonym mit der Post angekommen.

»Haben Sie denn keinen Brief dazu erhalten?«

»Nur einen Zettel. Hier ist er.«

Sie nahm einen kleinen Papierfetzen aus ihrer Handtasche, der von einer Zeitung abgerissen worden war.

»Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, stand in Schreibmaschinenschrift darauf.

Bliss erkannte die Maschine sofort wieder. Die kurze Nachricht stammte vom Hexer, daran war nicht zu zweifeln.

»Sie stehen unter ganz besonderem Schutz«, sagte er etwas ironisch. »Ich fürchte, dass ich nicht viel für Sie tun kann«, fuhr er dann ernst fort. »Ich spreche allerdings heute einen der höchsten Beamten im Innenministerium, aber …«

Er beendete den Satz nicht, als er sah, dass sie die Augen schloss und noch bleicher wurde.

Er zog einen Stuhl herbei und bat sie, Platz zu nehmen. Der Anblick dieser verzweifelten Frau rührte ihn, obwohl er sonst sehr hart sein konnte.

»Gibt es gar keine Hoffnung mehr?«, fragte sie fast unhörbar und schüttelte den Kopf, als ob sie seine Antwort vorausahnte.

»Ich habe nur eine ganz schwache Hoffnung.«

»Aber Sie glauben doch nicht an seine Schuld, Mr. Bliss. Als ich ihn im Gefängnis in Pentonville sah, sagte er zu mir, dass Sie ihn für unschuldig halten. Oh, es ist entsetzlich!«

Bliss hatte eine gewisse Vorstellung von den Arbeitsmethoden des Hexers und überlegte, wie dieser Mann, der vor nichts zurückschreckte, den Fall wohl lösen würde.

»Haben Sie Verwandte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mrs. Benner, ich will alles für Sie tun, was ich kann. Aber ich möchte Sie bitten, auch etwas für mich zu tun. Wenn sich der Mann, der Ihnen das Geld geschickt hat, Ihnen irgendwie nähern sollte oder wenn irgendein Unbekannter Sie besucht, müssen Sie mich sofort telefonisch benachrichtigen.«

Er schrieb die Nummer, unter der sie ihn erreichen konnte, auf ein Blatt Papier und reichte es ihr.

»Wenn jemand zu Ihnen kommt und sagt, er sei von Scotland Yard oder ein Polizeibeamter, so müssen Sie mir das auch sofort berichten. Ich werde alles für Ihren Mann tun, was in meinen Kräften steht.«

*

Es war halb drei Uhr nachmittags, als er im Innenministerium ankam, und er hatte Glück, dass er Mr. Strathpenner antraf. Der Minister war der Schrecken seiner Untergebenen, denn er arbeitete ohne Methode und System. Es gab Tage, an denen er überhaupt nicht im Amt erschien, und sonst kam er meistens eine Stunde vor Büroschluss, so dass die Beamten dann bis spät in die Nacht im Dienst bleiben mussten.

Infolgedessen war er sowohl bei seinen Untergebenen als auch beim großen Publikum sehr unbeliebt. Er bildete sich viel ein, besaß aber wenig Phantasie und hatte schlechte Umgangsformen und einen unangenehmen Charakter. Man konnte sich darüber wundern, dass dieser Mann einen so hohen Posten bekleidete, da er sich in keiner Weise durch Geist oder Rednergabe auszeichnete. Auch verdankte er seine Stellung nicht der Zugehörigkeit zur Regierungspartei. Er war eben sehr lange im Amt und durch Beharrlichkeit zum Ziel gekommen, unterstützt durch eine Reihe für ihn glücklicher Umstände. Er war ein hagerer Mann mit breiten Schultern, und wenn man ihn sah, hatte man immer den Eindruck, dass er irgendeiner unangenehmen Sache auf die Spur gekommen sei. Seine Gesichtszüge machten es den Karikaturisten nicht schwer, ihn lächerlich darzustellen. Der fast kahle Kopf, über den die wenigen Haare sorgfältig gebürstet waren, die buschigen schwarzen Augenbrauen und die dicken Brillengläser gaben ihm ein charakteristisches Aussehen.

Er sprach mit harter Stimme und hatte die Angewohnheit, sich häufig durch heiseres Räuspern zu unterbrechen.

Bliss musste zwanzig Minuten warten, bis er vorgelassen wurde. Die Verzögerung schien vollständig grundlos zu sein, denn Mr. Strathpenner las Zeitung, als Bliss eintrat.

»Bliss? Ach ja, Sie sind der Polizeibeamte – hm – also, dieser Fall Benner … ja, ich besinne mich jetzt auf die Sache. Deswegen habe ich Sie herkommen lassen!«

Der Minister schaute ihn von unten herauf an. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

»Was wissen Sie denn darüber? Ich habe den Richter noch nicht gesehen, der den Fall bearbeitet hat. Aber meiner Meinung nach besteht nicht der geringste Zweifel, dass dieser Kerl seine Strafe vollkommen verdient hat. Was hier in der Zeitung steht, ist doch blühender Blödsinn.« Er klopfte mit dem Finger auf das Papier. »Ich glaube nicht an derartige rührende Geständnisse – Sie doch auch nicht?«

»Welches Geständnis meinen Sie?«, fragte Bliss erstaunt.

»Was, Sie haben es noch nicht gelesen?« Strathpenner schob ihm die Zeitung über den Tisch zu. »Hier steht der Artikel. Machen Sie nur die Augen auf -- dritte Spalte --«

Der Artikel stand allerdings nicht in der dritten, sondern in der fünften Spalte. Er lautete:

DER MORD IM HOTEL

Aufsehenerregende Enthüllung eines Verbrechers kurz vor seinem Tode

Lee Lavinski, der vorgestern Abend in einer Straße Montreals kaltblütig einen Polizisten niederschoss, wurde von einem Kollegen des Getöteten durch einen Schuss niedergestreckt. Die Polizisten überraschten ihn, als er in die Canadian Bank einbrechen wollte. Er legte ein wichtiges Geständnis vor einem höheren Beamten ab, der zu ihm ins Krankenhaus gerufen wurde.

Lavinski wird von seinen Verwundungen nicht wieder genesen. Im Laufe des Geständnisses sagte er auch aus, dass er den Mord an Mr. Estholl begangen habe. Man hatte dafür Michael Benner verantwortlich gemacht, der zum Tode verurteilt wurde und augenblicklich in einem Londoner Gefängnis sitzt. Lavinski wusste, dass Mr. Estholl größere Geldsummen in seiner Brieftasche mit sich trug, und nahm einen Hammer aus der Werkzeugkammer des Hotels, um die Tür von Estholls Zimmer aufzubrechen, falls sie verschlossen sein sollte.

Estholl wachte auf, als Lavinski das Zimmer betrat, und der Einbrecher schlug ihn mit dem Hammer nieder, ohne zu wissen, dass er ihn getötet hatte. Als er sich nach der Tat genauer umschaute, sah er, dass der Ermordete eine elektrische Klingel in der Hand hatte. Er fürchtete, entdeckt zu werden, und entfloh, ohne irgendwelche Wertsachen mitzunehmen. Diese Aussagen sind vor einem Friedensrichter gemacht worden.

*

Bliss sah auf und begegnete dem Blick des Ministers.

»Das ist doch reinster Unsinn, nicht wahr? Ist Ihnen in Scotland Yard offiziell etwas davon mitgeteilt worden?«

»Nein.«

»Nun, das habe ich mir gleich gedacht. Der alte Trick! Das ist ja schon öfter passiert. Dadurch wird Benner auch nicht gerettet – verlassen Sie sich auf mich – hm!«

»Aber Sie werden den Mann doch nicht henken lassen, bevor Sie die Nachricht aus Kanada genauer untersucht haben?«

»Reden Sie doch keinen Unsinn! Wo kämen wir denn hin, wenn sich der Innenminister durch jeden Zeitungsklimbim irremachen lassen wollte? Haben Sie denn auch den letzten Absatz gelesen?«

Bliss nahm die Zeitung wieder auf und las: »Lavinski starb, bevor er die Aussagen unterschreiben konnte, die er vor Mr. Prideaux gemacht hatte.«

»Ich sage Ihnen«, fuhr Mr. Strathpenner fort, »ich lasse mich durch derartige wilde Gerüchte nicht beeinflussen. Das haben diese Journalisten doch alles nur nach dem Hörensagen in die Zeitung gesetzt. Was sollen wir denn aufgrund der nicht einmal unterschriebenen Aussage eines Mörders machen – etwa diesen Benner freilassen?«

»Sie könnten einen Aufschub bewilligen.«

Mr. Strathpenner lehnte sich in seinen Sessel zurück, und sein Ton wurde eisig.

»Ich habe Sie nicht um Ihren Rat gefragt, Inspektor. Wenn ich meine Brieftasche oder meine goldene Uhr verliere und sie gern wiederhaben möchte, werde ich ihn zweifellos zu schätzen wissen. Ich danke Ihnen.«

Durch eine Handbewegung wurde Bliss entlassen. Er kehrte nach Scotland Yard zurück, aber Colonel Walford war schon fortgegangen. Im Ministerium hatte er nur noch feststellen können, dass das Todesurteil am nächsten Tag unterzeichnet werden sollte.

*

Der Minister war Witwer, unterhielt aber zahlreiches Personal in seinem Haus. Er nahm das Abendessen allein in dem großen Speisezimmer ein, dessen Wände mit Mahagoni getäfelt waren. Vor ihm lag ein Buch, das er selbst während des Essens las.

Gegen Ende der Mahlzeit wurde ihm ein Besucher gemeldet, und er betrachtete die Visitenkarte argwöhnisch.

›Mr. James Hagger, 14 High Street, Crouchstead‹

Crouchstead lag im Westen Englands, und in diesem Bezirk war er für das Unterhaus gewählt worden. Da er nur mit geringer Majorität durchgekommen war, ließ er den Fremden zu sich bitten, wenn ihm der Besuch auch keineswegs behagte.

Wer mochte dieser Mr. Hagger sein? Wahrscheinlich jemand, der in der Kleinstadt Crouchstead eine große Rolle spielte. Sicher hatte er dem Mann vor der Wahl die Hand gedrückt. Der Minister hasste die Kleinstadt und all ihre Bewohner, zwang sich aber zu einem Lächeln, als Mr. Hagger ins Zimmer trat.

Er war gut gekleidet und fiel durch einen großen schwarzen Schnurrbart auf.