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Die englische Originalausgabe erschien 1929 in London unter dem Titel ›Problems of Neurosis‹. Herausgeber des Buches war Philip Mairet, ein englischer Journalist, der selbst ein Buch über Individualpsychologie verfaßt hatte. Eine zweite Ausgabe erschien 1964 in New York bei Harper & Row als ›Harper Torchbook‹. In der Einführung zu dieser Ausgabe weist ihr Herausgeber Heinz L. Ansbacher darauf hin, daß das Buch ursprünglich auf englischen Manuskripten und Vorlesungsmitschriften beruhte, die Adler zur redaktionellen Bearbeitung an Mairet übergeben hatte. Außerdem führt Ansbacher in dieser Ausgabe die Kapitelüberschriften ein und auch die Überschriften zu den 37 Fällen, die in diesem Buch vorgestellt werden; sie sollen dem Leser helfen, sich besser zurechtzufinden. Die vorliegende Übesetzung beruht auf dieser Ausgabe. Auch dieses Werk ist wie fast alle Scriften von Adler in einer allgemeinverständlichen Sprache verfaßt. Unter der Annahme, daß das Individuum einem einheitlichen selbstgestellten Ziel zustrebt, entfallen die Voraussetzungen für die dramatische Inszenierung von Kräften und Gegenkräften, von Kämpfen und Konflikten und von Menschen als tragischen Helden und hilflosen Opfern solcher Auseinandersetzungen. Eher prosaisch ist stattdessen nur von Fehlern und falschen Einstellungen, von Lebensaufgaben und deren mehr oder weniger gelungenen Lösungen die Rede. Wer es gewohnt ist, Triebe und Instanzen, Mechanismen und Strukturen als lebendige Wesenheiten zu betrachten, wird vieles vermissen; wer sich aber vergegenwärtigt, daß es sich dabei um nichts anderes handelt als um Konstruktionen und Abstraktionen, um Fiktionen, die das Denken erleichtern sollen, wird an diesem Buch prüfen können, ob diese Denkwerkzeuge unverzichtbar sind und ob die Werkzeuge der Individualpsychologie nicht zu genauso schnellem und gründlichem Verstehen und zur ebenso wirkungsvollen Behandlung von Neurosen geeignet sind.
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Seitenzahl: 279
Alfred Adler
Neurosen
Fallgeschichten
Aus dem Englischen von Willi Köhler
FISCHER E-Books
In dem vorliegenden Buch werden hauptsächlich Fallgeschichten dargestellt, mit denen ADLER zeigt, wie er sich die Behandlung neurotischer Störungen gedacht und wie er sie praktiziert hat. Diese Darstellungen sind verwoben mit wichtigen Passagen, die zur Theorie seelischer Gesundheit, der Neurose und ihrer Entstehung Stellung nehmen. In diesen Ausführungen nimmt die soziale »Nützlichkeit« einen so hervorragenden Platz ein, daß sie zurecht als das individual-psychologische Kriterium für seelische Gesundheit oder Krankheit angesehen werden kann. Nun hat dieser Terminus nach mehr als 50 Jahren (zumal nach den faschistischen Perversionen der Nützlichkeitsbegriffe im »Holocaust«) ohne Zweifel seine Überzeugungskraft verloren. Darüber hinaus ist in der Psychiatrie und in der Klinischen Psychologie unter den Stichworten »soziale Abweichung« (Devianz) und »Psychotherapie als Anpassung an eine Norm« so viel über das Verhältnis von sozialen Forderungen, ihrer Erfüllung oder Nichterfüllung und die Etikettierungen von bestimmten Eigenheiten als abnormal bzw. »krank« diskutiert worden, daß der Terminus »Nützlichkeit« nicht unkommentiert stehen bleiben kann, wenn er nicht zu Kurzschlüssen hinsichtlich der zugrunde liegenden Theorie Anlaß geben soll.
Der Begriff der »Nützlichkeit« hat eine Geschichte und einen theoretischen Hintergrund, und ohne diese beiden Bezugsrahmen wird man im Verständnis der individualpsychologischen Neurosenlehre leicht in die Irre geführt. Deshalb soll im folgenden aufrißartig versucht werden, im Anknüpfen an die früheren der klassischen Psychoanalyse näherstehenden Vorformen des ADLERschen Neuroseverständnisses den Zugang zu seinen späteren weiterentwickelten Auffassungen zu finden.
Wie FREUD, so geht auch insbesondere der frühe ADLER davon aus, daß das neurotische Geschehen sich aus einem Konflikt heraus entwickelt. Der ursprüngliche »primäre« Konflikt ist einer, der »zur Unausgeglichenheit und Zaghaftigkeit dieser Kinderseele führte«[1]. Er »muß in dem Zusammenstoße seiner Triebe und einer sie verurteilenden Instanz gelegen sein, wobei eine kleine Erfahrung peinlicher Erlebnisse (Organempfindlichkeit, Blamagen, Strafen) zur Intoleranz gegen Herabsetzung führte«[2]. Von diesem Ausgangspunkt aus haben sich in der ADLERschen Neurosenlehre einige Entwicklungen ergeben, die im folgenden skizziert werden sollen.
So sind als Ausgangspunkt der Neurose neben die Organminderwertigkeit, über die ADLER1907 eine bedeutende Abhandlung[3] geschrieben hat, zweitens die Folgen der Verwöhnung und drittens die Folgen der Vernachlässigung bzw. die Folgen einer autoritären oder haßerfüllten Unterdrückung in der Erziehung getreten; hier ist von Einflüssen die Rede, die das aufkeimende Selbstwertgefühl in seiner Wurzel erschüttern und auf diese Weise zu Minderwertigkeitsgefühlen und der damit verbundenen neurotischen Überempfindlichkeit führen können. Solche Überempfindlichkeiten, die ADLER seit 1909[4] betont, äußern sich darin, daß die notwendige Auseinandersetzung mit den entwicklungsspezifischen Unlust- und Unfähigkeitsgefühlen, das kompensatorische Herangehen (lateinisch: ›adgredi‹), übertrieben oder zaghaft, hektisch oder zögernd, auf jeden Fall aber nicht situationsangemessen und wenig erfolgreich verläuft. Adler, der damals[5] noch den Triebbegriff benutzte, definiert den (wortgeschichtlich aus dem ›adgredi‹ abgeleiteten) Begriff Aggressionstrieb so: »daß es sich dabei um eine Leistung der Kultur handelt, die für die Entwicklung der Menschheit notwendig war, insofern als Vorausdenken und Vorausfühlen nur durch diesen Umweg über eine gehemmte Aggression zustande kommen konnte«.
Im »normalen« d. h. individualpsychologisch gesprochen: In dem nicht von verschärften Minderwertigkeitsgefühlen angekränkelten Seelenleben, gelingt es, das ›Adgredi‹, das Herangehen an Menschen und Dinge so zu steuern, daß es auf die jeweiligen Forderungen der Situation und der sozialen Umgebung abgestimmt (was nicht heißt: passiv angepaßt!) bleibt. Das in der Natur angelegte ›Adgredi‹ wird angereichert durch neue, z. B. sachliche und auf die Gemeinschaft bezogene, Gesichtspunkte. ADLER spricht in diesem Zusammenhang von der »kulturelle(n) Aggression«[6] im Sinne einer situationsangemessenen Kompensation eines bestehenden Unlustgefühls. In der im gesteigerten Gefühl der Minderwertigkeit entstandenen Überempfindlichkeit mißlingt dagegen der Kompensationsmechanismus, das ›Adgredi‹ gestaltet sich archaisch und wild: das »Minderwertigkeitsgefühl führt nämlich zu einer egoistischen feindseligen Aggressionsstellung«[7]; das Handeln bleibt blind auf sich bezogen, bleibt stecken im eigenen eingegrenzten Horizont und bleibt – weil es mangels Angemessenheit in der Umwelt nichts auszurichten vermag – nicht selten zerstörerisch gegen die eigenen Intentionen gerichtet (Symptomatik).
Die bis hierhin noch kausalistisch anmutende Denkstruktur wird in der weiteren Entwicklung der Adlerschen Gedankengänge durch die finale Dimension erweitert: Je mehr sich nämlich die Symptomatik – die Überempfindlichkeit und ihre hemmenden Folgen – im Sinne einer ungenügenden körperlichen Ausstattung hinderlich auf alle Handlungsvollzüge auswirkt, umso mehr erscheint der Betroffene vor sich und seiner Umgebung entschuldigt. Die Neurose ist dadurch charakterisiert, daß diese Zusammenhänge von dem Betroffenen nicht verstanden werden, ihm unbewußt bleiben. Er leidet an den Folgen der neurotischen Konstellation (Angst; Symptomatik) und nutzt sie gleichzeitig für sich aus (Entschuldigungs-Arrangement) ohne sie zu verstehen; kurz: der Betroffene erscheint sich selber entfremdet, immer nur gelähmt vor Angst und ohne Spürsinn dafür, daß er sich in seine Angst selber weiter hineinsteigert, sich selber lähmt, sich selber außer Kraft setzt und sich entweder dadurch oder im unsinnig übersteigerten Aufbäumen dagegen letztlich zerstört. Entweder fühlt der Patient sich nur als Objekt und Produkt oder aber ausschließlich als Subjekt und Produzent seiner Verhältnisse: die mangelnde Einsicht in die Dialektik menschlicher Lebensbedingungen und in ihre Zusammenhänge, die Tatsache, daß der Mensch mehr weiß als er versteht, machen in der entwickelten Lehre ADLERSdas Zentrum des Unbewußten aus und nicht irgendwelche Triebe, Triebabkömmlinge und -repräsentanzen, die als Teile des Ganzen das unteilbare Individuum nie überlisten könnten, wenn dieses ihnen nicht bewußt oder unbewußt eine Möglichkeit dazu einräumte.
Der ursprüngliche Konflikt zwischen dem unbefriedigenden Selbstwerterleben und dem unstillbaren Bedürfnis, es durch entsprechend übersteigerte Ansprüche auf einem zufriedenstellenden Pegel zu halten und zu stabilisieren, wächst sich teufelskreisartig aus: ein überkompensatorisch überhöhtes Ziel, (z. B. »Vollkommenheit«, Überlegenheit über alle, Perfektionismus im Leistungsbereich) und die von eben dieser überkompensatorischen Tendenz angekränkelte Mittelwahl führen zu immer größeren Abweichungen zwischen den Ist- und Soll-Lagen des Selbstwertgefühls. Wenn das Kind schon sehr früh in derart intensiv erlebte und überkompensatorisch bearbeitete Zweifel an seinem Wert verwickelt war, scheint der weitere Weg nach ADLER vorgezeichnet: »Man gewinnt dabei den Eindruck, daß alle späteren Konflikte zur manifesten Neurose führen können, sobald der primäre, aus der Organminderwertigkeit stammende innere Widerspruch besteht«.[8] Es ist also nicht so, daß die Individualpsychologie den Konflikt als Kategorie der Darstellung der Neurose nicht kennte; was sie lediglich in Frage stellt/ablehnt, ist die Vorstellung eines Konfliktes zwischen unabhängig gedachten reifizierten Instanzen im Individuum. Statt dessen sieht die Individualpsychologie den Menschen als Ganzes gattungsmäßig vor Aufgaben gestellt, die er mit seiner angeborenen Anlage als solcher nicht bewältigen kann; vielmehr muß diese Anlage entwickelt werden, was ohne einen wohlwollenden Bezug zur Gemeinschaft der anderen, ohne die Weitergabe und Übernahme von allgemeingültigen Gütern wie Logik und Sprache und ohne die Übermittlung eines tragenden Selbstwertgefühls (»Urvertrauen«) durch Wärme und Beachtung der Bezugspersonen nicht möglich wäre. Allerdings hat der Konflikt als Gegebenheit und Zustand in diesem System nicht den entscheidenden Stellenwert; entscheidend ist vielmehr seine Weiterführung in der Bewegung, die als Streben nach Überwindung und als Kompensation bezeichnet wird. Das Streben nach Überwindung von Mangellagen kann gefährdet werden oder als gefährdet erscheinen, weil in der Kindheit die lebensnotwendige Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen oder Umgang mit der »Logik des Zusammenlebens« nicht oder nicht konsequent genug entwickelt wird.
In der weiteren Entfaltung der individualpsychologischen Neurosenlehre darf nun eine Tatsache nicht vergessen werden: die Einführung und Weiterentwicklung des Konzepts des »Gemeinschaftsgefühls«. Auf dem Wege der Ausformung seiner Theorie entdeckte ADLER dieses Phänomen zunächst als Gegenkraft gegen den Aggressionstrieb; als solcher Gegenkraft werden dem »Gemeinschaftsgefühl« in Adlers Theorie die Funktionen übertragen, die bisher der Kultur vorbehalten waren. Heißt es in der Ausgabe von 1914 von Heilen und Bilden zum Thema »Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose« noch: »Ziel und Schicksal des Aggressionstriebes stehen wie bei den Primärtrieben unter der Hemmung der Kultur«[9], so sind die Worte »der Kultur« in allen späteren Ausgaben durch die Worte »des Gemeinschaftsgefühls«[10] ersetzt. In der 1922 (2. Auflage) neu hinzugefügten Zusammenfassung führt ADLER aus:
»Als wichtigster Regulator des Aggressionstriebes ist das dem Menschen angeborene Gemeinschaftsgefühl anzusehen. Es liegt jeder Beziehung des Kindes zu Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen zugrunde und bedeutet die Verwachsenheit mit unserem Leben, die Bejahung, die Versöhntheit mit demselben. Durch das Zusammenwirken des Gemeinschaftsgefühls in seinen zahlreichen Differenzierungen (Elternliebe, Kindesliebe, Geschlechtsliebe, Vaterlandsliebe, Liebe zur Natur, Kunst, Wissenschaft, Menschenliebe) mit dem Agressionstrieb kommt die Stellungnahme, also eigentlich das Seelenleben des Menschen, zustande.«[11]
Während sich ADLER also bis zu diesem Zeitpunkt noch das (freilich erst später entwickelte) Modell der Freudschen Gewissens- und Über-Ich-Bildung hätte zu eigen machen müssen, um erklären zu können, wie »die Kultur« im Innern des Menschen den Aggressionstrieb hemmt, kann er sich nach der Einführung des »Gemeinschaftsgefühls« darauf berufen, daß die Kultur nicht als etwas dem natürlichen »Trieb« grundsätzlich Fremdes auf die Dynamik des Handelns Einfluß gewinnt, sondern eine für die Gattung Mensch spezifische natürliche Anlage angenommen werden kann, die den Einwirkungen der Erziehung und Kultur einen natürlichen, ja einen für das menschliche Leben notwendigen Zugang öffnet. Diese Annahme ist ein genuiner Vorläufer des Menschenbildes, wie es später von den sog. Neo-Analytikern (HORNEY, FROMM, SULLIVAN u. a.) und Ich-Psychologen (HARTMANN, RAPAPORT u. a.) wiederentdeckt, vonseiten der Allgemeinen und der Entwicklungspsychologie (BÜHLER, ALLPORT, METZGER u. a.) vertreten und in letzter Zeit von SCHMID-BAUER[12] dargestellt und weiterentwickelt wurde.
ADLER stößt zu seiner konsequent ganzheitlichen (holistischen) Sicht der Dinge erst vor, nachdem er mit dem Begriff des »Lebensstils« (der 1926 zum ersten Mal in seinen Schriften erwähnt wird) einen adäquaten Ausdruck für die Ganzheit gefunden hatte, die er vorher nur mit bestimmten Vorläuferbegriffen wie »Leitbild«, »Leitlinie« oder »Lebenslinie« hatte benennen können (vgl. ANSBACHER1967).[13] Ein Jahr später zieht er daraus die Konsequenz, Konflikte und Ambivalenzen für bloßen Schein zu erachten, für das Ergebnis einer bloß oberflächlichen Betrachtungsweise, der die darunterliegende Kompensationsbestrebung entgeht:
»Der Irrtum aller Psychologen, die in solchen Fällen [beim Vorliegen gegensätzlicher Impulse; der Verf.] eine Ambivalenz annehmen, eine mehr oder weniger gegensätzliche Bewegung, gegensätzliche Gefühle oder Charaktere, besteht bekanntlich darin, daß sie die Entstehung des einen Ausdrucks aus dem andern nicht gesehen haben (Kompensationsbestrebung), ferner auch darin, daß sie bei ihrem einseitigen Analysieren den Zusammenhang (Lebensplan, Lebensstil) aus dem Auge verlieren, und daß sie statt seelischer Bewegung (die alles ist), alles durchfließt, abgesonderte Teile vorzufinden glauben (Gefühle, Intellekt, Wert, Charakter, Gegensätzlichkeit usw.) und sie ›gegeneinander‹ halten und abmessen«[14].
Natürlich ist unter solcherart geänderten Umständen das »Gemeinschaftsgefühl« als Gegenkraft, als Kraft in einem Konflikt, nicht mehr zu halten. Dementsprechend versteht nach ANSBACHER (1978)[15]ADLER das »Gemeinschaftsgefühl« etwa vom Jahre 1928 an als eine kognitive Funktion, die das ›Adgredi‹, das Herangehen an Menschen und Dinge prägt und formt, also steuert und nicht nur hemmt. Dabei entscheidet der Grad, in dem das »Gemeinschaftsgefühl« insbesondere durch die warme, vertrauensvolle Zuwendung der Mutter – entwickelt wurde, darüber, ob die Aktivitäten des Individuums mehr der allgemein »nützlichen« oder »unnützlichen« Seite des Lebens zuzurechnen sind. Die Bedeutung des vorliegenden Bandes besteht u. a. auch darin, daß ADLER in ihm – zum ersten Mal in einem Buch! – diese neue Auffassung von ›Gemeinschaftsgefühl‹ darlegt und formuliert:
»›Gemeinschaftsgefühl‹ ist nicht angeboren, sondern es ist lediglich eine angeborene Möglichkeit, die es bewußt zu entfalten gilt. Wir können uns auf irgendeinen sogenannten sozialen ›Instinkt‹ nicht verlassen« (s. Kapitel 3. Mangel an Gemeinschaftsgefühl und männlicher Protest). Und:
»Dann muß die Mutter das Kind Schritt für Schritt für andere Menschen und für die weitere Lebensumwelt interessieren. Soweit sie diese beiden Funktionen erfüllen kann – nämlich Unabhängigkeit zu gewähren und ein wahres Anfangsverständnis für die umgebende Situation daheim und in der Welt zu vermitteln –, wird sie erleben, daß ihr Kind Gemeinschaftsgefühl, Unabhängigkeit und Mut entwickelt … Mit einer solchen Hinführung zum Leben wird der untilgbare Überlegenheitswille mit Gemeinschaftsgefühl verbunden und führt zu mutigen und optimistischen Aktivitäten auf der nützlichen Seite des Lebens« (s. Kapitel 3. Mangel an Gemeinschaftsgefühl und männlicher Protest).
In diesen Passagen zeigt sich, daß mit dem Terminus »Gemeinschaftsgefühl« Wertungen (»wahr«, »nützlich«) in die Persönlichkeits- und Neurosentheorie eingeführt werden; zu prüfen bleibt, ob ADLER das »Gemeinschaftsgefühl« als positive Wertsetzung in seine Theorie einfügt und damit eine Bezugsgröße zur Beurteilung einzelner Handlungen anbietet. An verschiedenen Stellen, am deutlichsten vielleicht in seinem Spätwerk Der Sinn des Lebens (1933)[16] hat ADLER darauf verwiesen, daß er mit »Gemeinschaftsgefühl« nicht eine bestimmte konkrete – etwa affirmative – Beziehung zu irgendeiner konkreten Gemeinschaft[17] meint, sondern ein Abstraktum:
»Gemeinschaftsgefühl besagt vor allem ein Streben nach einer Gemeinschaftsform, die für ewig gedacht werden muß, wie sie etwa gedacht werden könnte, wenn die Menschheit das Ziel der Vollkommenheit erreicht hat. Es handelt sich niemals um eine gegenwärtige Gemeinschaft oder Gesellschaft, auch nicht um politische oder religiöse Formen, sondern das Ziel, das zur Vollkommenheit am besten geeignet ist, müßte ein Ziel sein, das die ideale Gemeinschaft der ganzen Menschheit bedeutet, die letzte Erfüllung der Evolution.«[18]
Damit eignet sich das »Gemeinschaftsgefühl« ganz offenbar nicht zur Bewertung konkreter Handlungsweisen im Sinne einer Anleitung, sondern lediglich zur Bewertungsgrundlage ex post: ob »Gemeinschaftsgefühl« im Spiel war, ergibt sich (genau wie dies übrigens auch bei der »Ermutigung« der Fall ist) nicht aus den bewußten Absichten und Zielen des Handelnden, sondern erst aus den – mehr oder weniger langfristigen – Ergebnissen seines Handelns.
Genauso muß in Bezug auf die »Nützlichkeit« einem idealistischen ›Aber ich habe doch nur das Beste gewollt!‹ das pragmatische ›Schau hin, was Du erreicht hast‹ entgegengesetzt werden. Denn: auch die Feststellung »was nützlich ist und was unnützlich ist, … liegt außerhalb der menschlichen Beurteilung«[19] – jedenfalls, was den konkreten Vollzug einer bestimmten Handlung betrifft. Erst im Zusammenhang mit anderen Handlungen und mit den gegebenen Situationen lassen sich Lebensstile allgemein und abstrakt in dem Maße, in dem sie (wie z. B. bei einer Neurose) in subjektiv unlösbare Schwierigkeiten ausmünden, danach beurteilen, ob sich in ihnen die Prinzipien des »Gemeinschaftsgefühls« bzw. der »Nützlichkeit« entdecken lassen. Anders ausgedrückt: »Nützlichkeit« ist ein Prädikat, das sich nicht einzelnen Handlungen, sondern nur ganzen Kommunikationsverläufen bzw. Lebensstilen zuordnen läßt. ADLER hat dies verschiedentlich – z. B. in seinem Buch Individualpsychologie in der Schule – durch eine Skizze zu verdeutlichen gesucht, in der er die »allgemein nützliche Seite« der »allgemein unnützlichen Seite« des Lebens gegenübergestellt hat und zu zeigen versucht, welche Faktoren bei der Entwicklung dieser Lebensstilqualitäten eine Rolle spielen.[20]
In der Betonung der Beurteilungsmöglichkeit ex post und der Notwendigkeit, den Zusammenhang mit der jeweiligen Situation im Auge zu behalten, wird die unverkennbar ganzheitliche und finale Ausrichtung der Individualpsychologie deutlich. Erkennbar wird die Weigerung, eine Person im Sinne eines von ihr erreichten Status (einer Struktur) zu interpretieren; ADLER legt vielmehr alles darauf an, mehr oder weniger gelungene Interaktionen (gelungen vom Standpunkt des Individuums in seiner sozialen Einbettung) unter dem Aspekt ihres Verlaufs, ihrer Bewegung, zu erfassen. In diesem Sinne steht jede auf Zustände und nicht auf Bewegungsformen bezogene Typologie quer zur Systematik der Individualpsychologie.
Für ADLER ist das Problem der »Nützlichkeit« eines, das sich aus der von ihm sogenannten »Logik des Zusammenlebens« heraus stellt und lösen läßt: eine selbstgewählte übertriebene Distanz, fixierte übergeneralisierte Abwehr und Absicherungen gegen die Realität bei gleichzeitiger Ich-Bezogenheit, Entwertung der vorgefundenen Wirklichkeit und überkompensatorische (aktive oder passive) Anpassungsbewegungen – zögern, steckenbleiben, ausweichen – sind ein Verstoß gegen diese Logik, ein hilfloser und in diesem Sinne unnützlicher Protest gegen eine Notwendigkeit, die uns gattungsmäßig aufgegeben erscheint.
Zusammenfassend läßt sich also sagen: In der Neurose wird das selbstwertstabilisierende, lebensnotwendige ›Adgredi‹ des Subjekts an seine Objekte irritiert, d. h. gehemmt oder übertrieben, und dabei selbstbezogen und nicht objektbezogen gehandhabt. Das objekt- bzw. sachbezogene »mutige« Handeln, das die Bedingungen der sozialen und materialen Umwelt (die »Logik des Zusammenlebens«) bewußt erkennt und anerkennt – auch als zu verändernde! –, charakterisiert den vom »Gemeinschaftsgefühl« geprägten Lebensstil und wird von ADLER mit dem Prädikat der »Nützlichkeit« gekennzeichnet. In der Neurose erlebt das Individuum einen Konflikt zwischen der »Logik des Zusammenlebens« und seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten, dieser Logik gerecht zu werden – es entwickelt daraufhin eine »private Logik« (in diesem Band S. 95). Das aus diesem subjektiven und – was seine Ursachen und Ziele betrifft – unbewußten (weil unverstandenen) Konflikt resultierende Handeln bezeichnet ADLER als »unnützlich« in dem Sinn von »allgemein unnützlich«, was auch den Patienten letzten Endes einschließt. Warum bedient sich denn der Patient seiner Symptome, obwohl er unter ihnen leidet? Weil sie seiner privaten Logik gemäß einstweilen nützlich für ihn sind: er zieht privat, d. h. für sich allein und auf Kosten der anderen, Nutzen aus seinem Verhalten.
Auf diese Weise also buchstabiert die Individualpsychologie, die sich immer geweigert hat, im unteilbaren Individuum mehr oder weniger selbständige Instanzen anzuerkennen, den »Konflikt zwischen Es und Über-Ich« anders als die (orthodoxe) Psychoanalyse: das sich selbst entfremdende Subjekt erlebt sich als Objekt fremder Mächte und verhält sich auf sich bezogen, es vesteht sich nur noch als Produkt und nicht mehr gleichzeitig auch als Produzent seiner Verhältnisse. Selbst seine Anstrengungen, zur verlorenen Subjekthaftigkeit zurückzufinden, sind in Übersteigerung und Verabsolutierung durch die Spuren dieser Entfremdung entstellt. Resultierte die Einheit der Neurose für den frühen ADLER noch aus einem Grundkonflikt, der sich um das Selbstwerterleben entfaltet – nämlich aus der Entgegensetzung des (von außen) induzierten Zweifels am eigenen Selbstwert und dem unstillbaren Bestreben, den Wert der eigenen Person vor sich und anderen zu sichern und zu beweisen – so gründet sich für den späten ADLER diese Einsicht auf die Fehlprogrammierung des gattungsmäßig angelegten Kompensationsstrebens in Form einer Über- bzw. Fehlkompensation.
Das Problem der Neurosenwahl hat er dieser Erkenntnis strikt untergeordnet und gegenüber allen psychiatrischen und psychoanalytischen Typologisierungsversuchen darauf beharrt, daß es immer nur Mischfälle gebe. Damit hatADLERdie Möglichkeit von Schwerpunktsetzungen bei der Beschreibung von Neurosenformen nicht geleugnet, solange sie nicht als Erklärungen behandelt werden. Schwerpunktmäßige Beschreibungen der zugrundeliegenden Angst- und Mangelerlebnisse und der Wahl der dazugehörigen Abwehr- und Sicherungsmethoden, wie sie z. B. von ANNA FREUD, HARALD SCHUTZ-HENCKE und FRITZ RIEMANN vorgelegt wurden, scheinen seinem System kompatibel. Je mehr allerdings die diesen Erscheinungen zugrundeliegende Bewegung als Zustand interpretiert und in der Annahme von »Instanzen« und »Strukturen« reifiziert zu werden droht, umso weiter entfernt man sich von dem hier vorgestellten Grundmodell der Neurose.
Düsseldorf, im Oktober 1980
ROBERT F. ANTOCH
Das Problem jeder Neurose besteht darin, daß der betroffene Patient an einem prekären Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsstil festhält, der die Forderungen der Wirklichkeit verfälscht und leugnet. Erst wenn diese Lebensweise zu schwierig geworden und an den Rand des Zusammenbruchs führt, wird der Fall gewöhnlich dem Arzt vorgeführt, der dann vor der Aufgabe steht, die richtige Korrekturmethode zu finden. Das für Patient und Arzt gemeinsame Problem und somit die Grundlage ihrer Zusammenarbeit besteht folglich darin, den Fehlern des Patienten auf den Grund zu gehen und ihr eigentliches Wesen zu verstehen. Dies erfordert nicht nur eine wahrheitsgetreue Erfassung der entscheidenden Stationen seiner Lebensgeschichte, sondern darüber hinaus auch eine Vorstellung von der dynamischen Einheit dieser Lebensgeschichte als ein fortwährendes Streben nach einer darin enthaltenen Überlegenheit.
Wie durch die Arbeit der Individualpsychologen in überreichem Maße bewiesen, ist bei jeder Neurose der bestimmende Faktor ein individuelles Überlegenheitsziel, doch das Ziel selbst hat seinen Ursprung stets in aktuellen Erfahrungen der Minderwertigkeit, von denen es auch bestimmt wird. Als erster Schritt muß der Arzt die wirklichen Gründe der Minderwertigkeitsgefühle erkennen, die der Patient in unterschiedlichem Maße und je auf eigene Art und Weise vor sich verbirgt. Das Minderwertigkeitsgefühl wird im allgemeinen als Zeichen von Schwäche und als etwas Schimpfliches angesehen, und von daher besteht bei den Menschen naturgemäß eine starke Neigung, es zu verheimlichen. Das Bemühen, dieses Gefühl zu verbergen, kann tatsächlich so stark sein, daß der betreffende Mensch seine Minderwertigkeit als solche gar nicht mehr erkennt, sondern sich nur noch mit den Folgen des Gefühls und all den objektiven Einzelheiten beschäftigt, die ihm dabei behilflich sind, das Gefühl im verborgenen zu halten. Ein Mensch kann seine ganze Mentalität so gründlich auf dieses Bemühen ausrichten, daß der gesamte Fluß seines Seelenlebens, der unablässig von unten nach oben drängt – das heißt vom Gefühl der Minderwertigkeit zu dem der Überlegenheit –, völlig automatisch abläuft und sich seiner Wahrnehmung entzieht.
Daher ist es keineswegs überraschend, daß wir oft eine negative Antwort erhalten, wenn wir einen Menschen fragen, ob er ein Minderwertigkeitsgefühl hat. Man sollte auf diesem Punkt besser nicht beharren, sondern die geistigen und psychischen Regungen beobachten, in denen sich seine Haltung und sein persönliches Ziel stets sicher ausmachen lassen. Auf diese Weise entdecken wir bald bei jedem Menschen ein mehr oder minder großes Maß an Minderwertigkeitsgefühl, das verbunden ist mit einem kompensatorischen Streben nach einem Überlegenheitsziel. Ein solch universales Gefühl ist an sich noch nicht sträflich, denn seine Bedeutung und sein Wert hängen ausschließlich davon ab, wie es gebraucht wird. Die wichtigste Entdeckung der Individualpsychologie besteht darin, daß dieses Gefühl als Anreiz verwandt werden kann, sich weiterhin der nützlichen Seite des Lebens zu widmen.
Diese allgemeinen Feststellungen treffen ziemlich genau auf den Fall eines siebzehnjährigen Jungen zu, der (zweites Kind in seiner Familie) mir vorgestellt wurde, weil er unter Angst litt und äußerst wütend wurde, wenn er sich Schwierigkeiten gegenübersah. Auch hatte er Magenbeschwerden und Durchfall, wenn er zum Bergsteigen ging, einem Sport, den er gelegentlich zusammen mit seinen Klassenkameraden ausübte. Seine Mutter war intelligent; sie mochte ihn, wenngleich sie offensichtlich seinen älteren Bruder vorzog, der ihr weniger Mühe machte. Der ältere Bruder war viel kräftiger, größer, und er war ein guter Sportler. Der Vater war ein fähiger Mann, und der Patient schätzte ihn sehr.
Der Junge fürchtete sich vor jeder Entscheidung, da sein Minderwertigkeitsgefühl zu groß war, als daß er Vertrauen zu sich gehabt hätte. Er war jedoch nicht bereit zuzugeben, daß dieses Gefühl auf irgendeinem Grund beruhte, auf den er Einfluß hatte. Er beharrte darauf, er sei so geboren, wie er nun einmal war, und könne ganz und gar nichts für sein Wesen.
Die Einstellung des Patienten dem Leben gegenüber bestand im Zögern. Sah er sich vor Probleme gestellt, machte er ständig Schwierigkeiten, obwohl er auf diese Weise langsamer wurde, blieb er nie ganz stehen. Er war ein sehr guter Schüler, lebte jedoch in beständiger Furcht, auch diesen Vorteil einzubüßen, und er konnte sich überhaupt nicht entschließen, was er nach dem Schulabgang tun solle. Er suchte keine Freunde, Mädchen mochte er nicht, und er fürchtete sich vor sexuellen Erfahrungen. Einige seiner Schwierigkeiten, so glaubte er, seien die Folge von Masturbation und Pollutionen. All dies läßt typische Unentschlossenheit und Mangel an Zutrauen hinsichtlich der drei Lebensprobleme erkennen: Gemeinschaft, Beruf und Liebe. In allen drei Fragen wich er einer Antwort aus oder suchte sie hinauszuschieben. Er maskierte sein Gefühl von Unzulänglichkeit, indem er verschiedene Ursachen verantwortlich machte, und auf diese Weise vergewisserte und überzeugte er sich, etwas wert zu sein. Es ist allerdings bemerkenswert, daß der Patient trotz seiner Schwierigkeiten vorankam. Er war ein guter Schüler und stieg auf Berge – eine Betätigung nebenbei, die gewöhnlich Menschen, die sich vom Leben überlastet fühlen, als Mittel einsetzen, um sich Überlegenheitsgefühle zu verschaffen. Vom günstigen Blickwinkel eines Überlegenheitsgefühls aus Lebensschwierigkeiten zu betrachten und zu betonen, ist fast so gut wie damit zu prahlen, daß man sie überwunden habe. Um sich dem Bewußtsein seines Minderwertigkeitsgefühls zu entziehen, gab der Patient natürlichen Widrigkeiten und Masturbation und vor allem vererbten Unzulänglichkeiten die Schuld für seine Schwäche.
Auf die Vererbungstheorie sollte in der Erziehung oder in der Theorie und der Praxis der Psychologie niemals besonderes Gewicht gelegt werden. Außer in Fällen von nicht normalen Kindern und Idioten von Geburt an kann man richtigerweise annehmen, daß jedermann alles Notwendige leisten kann. Damit sollen natürlich die Unterschiede im Erbgut nicht geleugnet werden, doch entscheidend ist immer die Frage, welchen Gebrauch man davon macht. Nur so verstehen wir die enorme Bedeutung von Erziehung. Richtige Erziehung ist die Methode zur Entwicklung des einzelnen mit all seinen ererbten Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Durch Mut und Training lassen sich Unfähigkeiten sogar soweit kompensieren, daß sie zu großen Fähigkeiten werden. Eine Unfähigkeit wird, sofern man richtig mit ihr umgeht, zu einem Anreiz, der zur höheren Leistung anspornt. Es überrascht uns nicht mehr, wenn wir feststellen, daß Menschen, die in ihrem Leben bemerkenswerte Erfolge errungen haben, zu Beginn durch Unfähigkeiten und starke Minderwertigkeitsgefühle beeinträchtigt waren. Auf der anderen Seite stellen wir fest, daß ein Mensch, der von sich glaubt, er sei das Opfer von vererbten Mängeln und Unfähigkeiten, mit einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit in seinen Anstrengungen nachläßt, und auf diese Weise ist seine Entwicklung ständig verzögert.
Lehrer übertreiben die schlimmen Auswirkungen von Erbfaktoren, um die Unergiebigkeit ihrer Erziehungsmethoden zu entschuldigen. In seiner Biographie von Karl dem Großen schreibt Einhardt interessanterweise, der Kaiser habe aus reinem Mangel an Begabung für solche Dinge weder lesen noch schreiben lernen können! Nun, mit der Entwicklung der Erziehungsmethoden ist jedes normale Kind diesen Aufgaben gewachsen. Dieses und viele andere Beispiele lassen den Eindruck entstehen, daß Autoren, Lehrer oder Eltern, wann immer sie keine Methoden finden können, um Fehler durch Erziehung zu korrigieren, erbliche Mängel dafür verantwortlich machen. Der Aberglaube, den diese Gewohnheitshaltung erzeugt, ist eine der größten und am häufigsten anzutreffenden Schwierigkeiten in der Erziehung und im Umgang mit »Problemkindern«, ganz zu schweigen von der Behandlung von Kriminellen, Neurotikern und Psychotikern. Doch für die Behandlung solcher Zustände ist allein die Annahme vernünftig, von der die Individualpsychologie ausgeht, nämlich, daß jeder gleichermaßen seiner Lebensaufgabe gewachsen ist. Das soll nicht heißen, daß die Ergebnisse gleich sind oder auch nur gleich sein können, denn natürlich muß man die Ungleichheiten des Trainings, der jeweiligen Methode und vor allem den Grad an bewiesenem Mut in Rechnung stellen.
Um zu dem fraglichen Fall zurückzukehren: Die Fähigkeit und das Können des Vaters boten dem Jungen einen zusätzlichen Grund für sein Gefühl, daß er es im Leben zu nichts bringen könne. Es ist wohlbekannt, daß die Kinder großer Menschen sehr häufig erfolglos sind; sie fühlen sich nicht in der Lage, jemals die hohen Positionen zu erreichen, wie sie ihre Väter innehatten, und daher nehmen sie nichts ernsthaft in Angriff. Im Falle unseres Patienten vergrößerten auch die guten Leistungen seines älteren Bruders seinen Abstand vom Überlegenheitsziel im Familienkreis. Er fühlte sich hoffnungslos zurückgesetzt. Die Neurose, die er entwickelte, war ein Schutz vor dem schmerzlichen Bewußtsein seiner Minderwertigkeit. Sie war die Übernahme einer Einstellung, die für ihn die Bedeutung hatte: »Wenn ich nicht ängstlich, wenn ich nicht krank wäre, dann wäre ich in der Lage, genausoviel zu leisten wie die anderen. Wenn mein Leben nicht voller schrecklicher Schwierigkeiten wäre, würde ich sicher der Erste sein.« Mit dieser Einstellung kann sich ein Mensch immer noch überlegen fühlen, denn die Entscheidung über seinen Wert und seine Qualität liegt jenseits von Beweisen, liegt im Bereich der Möglichkeiten. Seine Hauptbeschäftigung im Leben besteht darin, nach Schwierigkeiten Ausschau zu halten, Mittel zu finden, um sie zu vergrößern oder zumindest sein Gefühl für ihre Schwere zu verstärken. Die allergewöhnlichsten Schwierigkeiten, jedermann bekannt, werden von ihm sorgfältig gesammelt und zur Schau gestellt. Er tut dies mehr, um sich als um andere zu beeindrucken, aber naturgemäß stellen andere Menschen seine Last in Rechnung und erwarten nicht zuviel von ihm. Darüber hinaus erscheint jeder Erfolg, den er erzielen mag, durch diese eifrig angepriesene Beeinträchtigung um so größer, so daß sie sein nützlichster Besitz wird. Durch sie erhält er die Möglichkeit, ein privilegiertes Leben zu führen, ein Leben, an das ein weniger strenger Maßstab angelegt wird als an das anderer. Gleichzeitig bezahlt er freilich mit seiner Neurose den Preis dafür.
Ein weiterer Fall von Angstneurose, welche die Gestalt einer Agoraphobie, einer Platzangst annahm und mit Herzbeschwerden einherging, widerfuhr einem Mann von 35 Jahren. Die Angstneurose ist stets symptomatisch für eine furchtsame Attitüde gegenüber den drei Lebensproblemen, und Menschen, die darunter leiden, sind, wie sich immer wieder feststellen läßt, »verzärtelte« Kinder.
Dieser Mann träumte: »Ich überquerte die Grenze zwischen Österreich und Ungarn, und sie wollten mich ins Gefängnis sperren.« (Nebenbei, solche kurzen Träume eignen sich am besten für die Analyse.) Dieser Traum ließ den Wunsch des Mannes erkennen, zum Stillstand zu kommen, sich nicht weiter fortzubewegen, und zwar aufgrund der Angst, er könne eine Niederlage erleiden, wenn er vorwärtsging. Die Traumdeutung bestätigt überzeugend unsere Auffassung von Angstneurosen. Der Mann wollte den Umfang seiner Tätigkeit im Leben begrenzen, wollte »die Zeit anhalten«, um so Zeit zu gewinnen. Er suchte mich auf, weil er heiraten wollte, und die unmittelbar bevorstehende, drohende Aussicht seines Tuns hatte ihn bewegungsunfähig gemacht. Die Tatsache, daß er mich wegen seiner Heirat um Rat fragen wollte, ließ ganz deutlich seine Einstellung ihr gegenüber erkennen. Desgleichen spiegelte sich die Art und Weise, wie er sich in seiner Ehe verhalten würde, in seinem Traum wider, in dem er sich befahl: »Überschreite die Grenze nicht!« Das im Traum auftauchende Gefängnis spiegelte gleichfalls die Auffassung des Träumers von der Ehe wider. Wir verraten uns häufig durch solche Traumbilder. Wir benutzen sie, um uns darin zu üben, mit den Problemen der nahen Zukunft auf eine Art und Weise fertig zu werden, die in Einklang steht mit unserem Lebensstil, jedoch nicht mit der Logik der jeweiligen Situation.
Der Lebensstil wird in den ersten vier oder fünf Jahren der Kindheit ausgebildet. Diese Lebensperiode endet mit der vollen Entwicklung des Ichs und seiner anschließenden Fixierung auf eine Lebenseinstellung. Von diesem Zeitpunkt an werden die Antworten auf die vom Leben gestellten Fragen diktiert, allerdings nicht von der Wahrheit, die in Beziehungen selbst liegt, sondern von bestimmten mechanisierten Einstellungen, die wir als Stil des Individuums bezeichnen. So erklären wir uns die Tatsache, daß ein bestimmter Anpassungsfehler – wie der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen, überlastet zu werden, nicht gezwungen zu werden, nicht eingeschränkt zu werden, usw. – sich ein Leben lang unverändert erhalten kann.
Ein sehr erfolgreicher Mann, vierzig Jahre alt, klagte darüber, er könne kein hohes Gebäude betreten, ohne den Impuls zu spüren, sich aus einem Fenster zu stürzen. Er habe immer vor allem und jedem Angst gehabt, erklärte er. Als jüngstes von sechs Kindern war er von seiner Mutter sehr verwöhnt worden. Dieser Fall offenbart auf den ersten Blick den Wunsch, man solle von ihm denken, er sei überlastet und in Gefahr. Der Patient kann es nicht vermeiden, in höhere Stockwerke zu gehen, doch er vermischt diesen Vorgang mit seinem Wunsch, in einer gefährlichen Situation zu sein, und klammert sich an die Gefahr, indem er einen Impuls zum Hinunterspringen entwickelt.
In diesem und den zwei weiter oben zitierten Fällen ist, was das Motiv des Überlastetseins angeht, das Überlegenheitsziel ähnlich gelagert. Doch der zuletzt genannte Mann geht noch weiter. Er möchte aus einem Fenster springen, doch siehe da, er überwindet seinen Wunsch und lebt noch. Er ist sogar noch stärker als er selbst.
Zur Stützung dieser Diagnose möchte ich eine Erinnerung aus der Kindheit des Patienten anfügen. »Mit sechs Jahren ging ich zur Schule. Ich war nicht sehr glücklich. Ausgerechnet am ersten Tag griff mich ein Junge an. Ich hatte schreckliche Angst und zitterte, doch … ich sprang auf ihn zu und schlug ihn nieder.« Dieses Erinnerungsstück hält die zwei typischen Motive fest, die den Lebensstil des Mannes bestimmen. Er zittert zuerst vor Angst, doch nur um sie zu überwinden. Und das kleine Wort »doch« läßt die vielfältige Bedeutung seiner Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen durchscheinen.
Eine junge Frau von 27 Jahren kam nach fünfjährigem Leiden zu mir in die Sprechstunde. Sie erklärte: »Ich war bereits bei so vielen Ärzten, daß Sie meine letzte Lebenshoffnung sind.« »Nein«, erwiderte ich, »nicht die letzte Hoffnung. Vielleicht die vorletzte. Es gibt noch andere, die Ihnen auch helfen können.« Ihre Worte waren eine Herausforderung an mich; sie wollte mich herausfordern