Neurozentriertes Training in der Sportphysiotherapie - Daniel Müller - E-Book

Neurozentriertes Training in der Sportphysiotherapie E-Book

Daniel Müller

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Beschreibung

<p><strong> Clever trainieren - so geht´s </strong><br></p><p>Viele physiotherapeutischen Ansätze konzentrieren sich auf die Behandlung von spezifischen muskuloskelettalen Strukturen des Bewegungsapparats. Dieses Buch befasst sich dagegen mit dem Nervensystem: Es zeigt, welche zentrale Rolle es bei körperlichen, kognitiven und psychischen Prozessen spielt und verdeutlicht, warum es unerlässlich ist, dieses System bewusst in die Therapie zu integrieren.</p><p><strong>Wissenschaftliche Erkenntnisse</strong> </p><p>Anhand fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Neurologie und Neuroanatomie sowie praktischer Anwendungen führt das Buch die Leser*innen durch die Grundfunktionen des Nervensystems und gibt wertvolle Einblicke in die Modulation von Intensitäten und Trainingsmaßnahmen.</p><p>Lesen Sie,</p><ul><li>welche Bedeutung das propriozeptive, visuelle und vestibuläre System sowie die Atmung für die Bewegungssteuerung haben</li><li>welche Testmethoden und Assessments Sie einsetzen können, um die Wirkung der Trainingsinterventionen zu überprüfen<br></li><li>welche Übungen und Tools es gibt, die verschiedenen sensorischen Systeme gezielte zu aktivieren und zu integrieren</li></ul><p>Mit realen Fallbeispielen aus dem Leistungssport und der therapeutischen Praxis veranschaulicht das Buch die praktische Anwendung des Neurotrainings in der Therapie und eröffnet damit neue Perspektiven für Prävention, Rehabilitation und Leistungssteigerung.</p><p><br></p>

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Neurozentriertes Training in der Sportphysiotherapie

Kevin Grafen, Daniel Müller, Dirk Schauenberg, Dominik Suslik

500 Abbildungen

Titelei

Vorwort

Im sich schnell entwickelnden Bereich der Sportphysiotherapie sind Praktiker und Sportler gleichermaßen ständig auf der Suche nach innovativen und wirksamen Methoden, um die Leistung zu steigern, Verletzungen vorzubeugen und die Genesung zu beschleunigen. Während wir tiefer in die Komplexität der menschlichen Physiologie eintauchen, gibt es einen Bereich, der große Aufmerksamkeit erregt hat – die zentrale Rolle des Nervensystems bei der Regulierung und Optimierung der körperlichen Funktionen. Das wachsende wissenschaftliche und praktische Interesse hat zum neurozentrierten Training geführt, einem sich weiterentwickelnden Ansatz, der das Nervensystem als Ergänzung der Sportphysiotherapie anführt.

„Neurozentriertes Training in der Sportphysiotherapie“ von Kevin Grafen, Dominik Suslik, Daniel Müller und Dirk Schauenberg ist ein wichtiges Werk, das sich mit diesem entscheidenden Paradigmenwechsel befasst. Die Autoren haben ihr umfangreiches Wissen und ihre praktische Erfahrung gebündelt, um einen umfassenden Leitfaden zu erstellen, der die Lücke zwischen moderner Bewegungs- und Neurowissenschaft und Sportrehabilitation schließt. Dieses Buch ist ein Beweis für ihr Engagement, das Verständnis darüber zu fördern, wie das Gehirn und das Nervensystem die sportliche Rehabilitation, Leistung und Erholung beeinflussen.

Ich bin Dr. Eric Cobb, der Gründer von Z-Health Performance, und ich bin stolz und voller Freude, dieses Vorwort zu schreiben. Im letzten Jahrzehnt hatte ich das Privileg, drei der vier Autoren im Rahmen meiner Kurse ausführlich zu unterrichten. In dieser Zeit habe ich ihre bemerkenswerte berufliche Entwicklung miterlebt. Ihr Weg von begeisterten Studenten zu führenden Experten auf diesem Gebiet war inspirierend und ich bin zuversichtlich, dass dieses Buch sowohl für Praktiker als auch für Sportler eine wertvolle Ressource sein wird.

Das in diesem Buch vorgestellte neurozentrierte Training betont das komplexe Zusammenspiel zwischen dem Zentralnervensystem, der Biomechanik und der Kinesiologie. Traditionelle Ansätze der Sportphysiotherapie konzentrieren sich oft auf die mechanischen Aspekte der Bewegung, etwa Muskelkraft, Flexibilität und Gelenkbeweglichkeit. Obwohl diese Elemente unbestreitbar wichtig sind, machen sie nur einen Teil des Gesamtbildes aus. Durch die Einbeziehung neurozentrierter Prinzipien können Praktiker ein umfassenderes Verständnis des Körpers von Sportlern erlangen, was jeden Aspekt der klinischen Effizienz massiv verbessern kann.

Eines der grundlegenden Konzepte, die in diesem Buch untersucht werden, ist die Vorstellung, dass das Nervensystem als Hauptkontrolleinheit des Körpers fungiert. Es ist dafür verantwortlich, jede Bewegung zu koordinieren, sensorischen Input zu regulieren und die Reaktion des Körpers auf äußere Reize zu orchestrieren. Wenn das Nervensystem optimal funktioniert, ermöglicht es präzise, effiziente und schmerzfreie Bewegungen. Umgekehrt kann eine Funktionsstörung des Nervensystems zu kompensatorischen Bewegungsmustern, verminderter Leistungsfähigkeit und einem erhöhten Verletzungsrisiko führen. Die Autoren zeigen eine detaillierte Untersuchung der neurophysiologischen Mechanismen, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, und bieten Einblicke, wie dieses Wissen genutzt werden kann, um Behandlungsergebnisse zu optimieren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des neurozentrierten Trainings ist der Fokus auf Neuroplastizität – die bemerkenswerte Fähigkeit des Gehirns, sich durch die Bildung neuer neuronaler Verbindungen im Laufe des Lebens neu zu organisieren. Besonders relevant ist dieses Konzept im Rahmen der Sportphysiotherapie, bei der es nicht nur um die Wiederherstellung der Funktion, sondern auch um die Steigerung der Leistungsfähigkeit geht. Das Buch befasst sich mit verschiedenen Strategien zur Nutzung der Neuroplastizität für kritische Systeme und bietet detaillierte Beispiele für das Adressieren von Neuroplastizität. Durch die Förderung positiver Veränderungen im Nervensystem können Praktiker Sportlern dabei helfen, ihre körperlichen Fähigkeiten nachhaltig zu verbessern.

Die Autoren betonen außerdem die Bedeutung einer individuellen Beurteilung und Behandlung im neurozentrierten Training: Jede Sportlerin, jeder Sportler ist einzigartig und hat eigene Stärken, Schwächen und Bewegungsmuster. Es ist unwahrscheinlich, dass ein einheitlicher Ansatz zu optimalen Ergebnissen führt. Stattdessen plädiert das Buch für einen maßgeschneiderten Ansatz, der die spezifischen Bedürfnisse und Ziele einzelner Athleten berücksichtigt. Umfangreiche praktische Beispiele veranschaulichen, wie neurozentrierte Prinzipien in realen Umgebungen angewendet werden können und bieten wertvolle Hinweise für Praktiker, die diese Konzepte in ihre Praxis integrieren möchten.

Neben den theoretischen Grundlagen ist das Buch „Neurozentriertes Training in der Sportphysiotherapie“ reich an praktischen Anwendungen: Die Autoren stellen eine breite Palette von Übungen und Techniken vor, die darauf abzielen, die Nervenfunktion und die sportliche Leistung zu verbessern. Dazu gehören Übungen zur Verbesserung des Sehvermögens, der Propriozeption, des Gleichgewichts und der Koordination sowie Methoden zur Behandlung spezifischer neuronaler Dysfunktionen, welche die Leistung beeinträchtigen können. Die Übungen werden von klaren Schritt-für-Schritt-Anleitungen und anschaulichen Fotos begleitet, sodass Praktiker sie leicht mit ihren Kunden umsetzen können.

Darüber hinaus befasst sich das Buch mit der entscheidenden Rolle der Edukation und Kommunikation im therapeutischen Prozess: Sportler neigen eher dazu, sich an einem Behandlungsprogramm zu beteiligen und es einzuhalten, wenn sie die dahinterstehenden Gründe verstehen. Die Autoren betonen, wie wichtig es ist, Sportler über die Prinzipien des neurozentrierten Trainings aufzuklären und sie aktiv in ihre Rehabilitationsreise einzubeziehen. Durch die Förderung eines kollaborativen und informierten Ansatzes können Praktiker Sportlern die Möglichkeit geben, die Verantwortung für ihre Genesung und Leistungssteigerung selbst zu übernehmen.

Da wir an der Schwelle zu einer neuen Ära in der Sportphysiotherapie stehen, ist „Neurozentriertes Training in der Sportphysiotherapie“ ein äußerst wichtiges Werk für Therapeuten und Trainer, das sowohl wissenschaftlich fundiert als auch äußerst praktisch ausgerichtet ist. Es ist eine Pflichtlektüre für Sportphysiotherapeuten, Athletiktrainer und alle, die sich mit der Betreuung und Leistungsoptimierung von Sportlern befassen. Dieses Buch erweitert nicht nur unser Verständnis der komplexen Beziehung zwischen dem Nervensystem und der körperlichen Funktion, sondern bietet auch realistische Strategien für die Umsetzung dieses Wissens in die Praxis.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das neurozentrierte Training einen transformativen Ansatz für die Sportphysiotherapie darstellt, der das Potenzial hat, die Art und Weise, wie wir die sportliche Leistung beurteilen, behandeln und verbessern, neu zu definieren. Durch die Fokussierung auf das Nervensystem als zentralen Regulator von Bewegung und Funktion bietet dieser Ansatz einen umfassenden und effektiven Weg zu optimaler Gesundheit und Leistung. „Neurozentriertes Training in der Sportphysiotherapie“ ist eine unschätzbare Ressource, die Praktiker mit dem Wissen und den Werkzeugen ausstattet, die sie benötigen, um dieses innovative Paradigma anzunehmen und das Leben der von ihnen betreuten Sportlern nachhaltig zu beeinflussen.

Dr. Eric Cobb, Gründer von Z-Health Performance

Danksagung

Dieses Buch wäre nicht ohne die Unterstützung vieler Menschen und Institutionen möglich gewesen, denen wir hier unseren aufrichtigen Dank aussprechen möchten.

Zunächst möchten wir uns herzlich bei allen Beteiligten des Thieme Verlags bedanken, die bei der Umsetzung dieses Projektes geholfen und es möglich gemacht haben. Euer Engagement hat maßgeblich zum Gelingen dieses Buches beigetragen.

Ein großer Dank gilt auch Astrid Buscher, die nicht nur den Kontakt hergestellt hat, sondern auch von außen immer mit guten Ideen dieses Projekt unterstützt hat. Ohne sie wäre das Projekt in dieser Konstellation so nicht zustande gekommen.

Wir haben das Privileg, in einer Zeit zu leben, in der wir auf das Wissen vieler Forscher und deren Entdeckungen und Erfahrungen zurückgreifen dürfen. Wir sind daher zutiefst dankbar, dass wir unsere Erkenntnisse auf der Arbeit unserer „Vorgänger“, Lehrer und Mentoren aufbauen und das Wissen erweitern dürfen. Sie haben den Grundstein gelegt, auf dem wir nun aufbauen können.

Ein ganz besonderer Dank gilt hierbei Dr. Eric Cobb von Z-Health Performance, der die wohl größte Pionierarbeit im neurozentrierten Training geleistet hat. Ohne seine innovativen Ideen und seine Hingabe wäre die Umsetzung dieses Buches nicht möglich gewesen.

Des Weiteren möchten wir unseren Frauen und Familien danken, die viele „Schreib-Stunden“ und Abende auf unsere Anwesenheit verzichten mussten und uns dabei immer unterstützt haben. Euer Verständnis und eure Unterstützung haben uns die nötige Kraft gegeben, dieses Buch zu vollenden.

Abschließend möchten wir noch jedem Leser danken, der dem neurozentrierten Training Interesse und Offenheit entgegenbringt. Ihr tragt dazu bei, das Potenzial und die Wichtigkeit des neurozentrierten Trainings weiter zu verbreiten, wodurch vielen Menschen geholfen werden kann.

Danke!

Die AutorenKevin GrafenDaniel MüllerDominik SuslikDirk Schauenberg

Autoren

Dirk Schauenberg Dirk Schauenberg, Jahrgang 1969, ist Inhaber des Kensho Sport- und Gesundheitszentrums und Gründer der Kensho Academy. Mit einem naturwissenschaftlichen Hintergrund und einer Ausbildung zum Sport-Heilpraktiker an der Paracelsus-Schule in Düsseldorf, kombiniert er fundiertes Fachwissen mit praktischer Erfahrung. Seine sportliche Expertise basiert auf seiner Karate-Laufbahn, die bereits vor 50 Jahren begann. Im Jahr 1991 gewann er die Shotokan Karate Weltmeisterschaft im kanadischen Calgary in der Disziplin Kata (Formenwettbewerb). Von 1993 bis 2013 trainierte er den Landeskader Karate von Nordrhein-Westfalen und war von 2007 bis 2013 Athletiktrainer von Fortuna Düsseldorf in der Fußball-Bundesliga. Im Jahr 2013 wechselte er von der Bundesliga in die Singapore Premier League. Hier arbeitete Dirk für die Lion City Sailors und Hougang United bis 2019. Dirk Schauenberg, ein ausgebildeter Meditationstrainer und Atemexperte, geschult seit über 20 Jahren von Theravada Mönchen in Sri Lanka, Atem- und Meditationsausbildungen bei Dan Brule‘ und der Deutschen Gesellschaft für Waldbaden und Gesundheit.

E-Mail: [email protected]

Kevin Grafen Kevin Grafen ist Sportwissenschaftler und Z-Health® Mastertrainer. Er absolvierte sein Studium der Sportwissenschaften an der Deutschen Sporthochschule Köln, mit einem Fokus auf Prävention, Gesundheit und Rehabilitation. Seine Leidenschaft für die Verknüpfung von Bewegung und Neurologie führte ihn zu Z-Health Performance in den USA, wo er das gesamte Curriculum durchlief. Heute ist er stolz darauf, einer der wenigen Z-Health® Mastertrainer weltweit zu sein. In seiner beruflichen Laufbahn hat Kevin sich darauf spezialisiert, Physiotherapeuten, Coaches und Trainer im Bereich des neurozentrierten Trainings auszubilden. Seine Kooperationen mit großen Sport- und Physiotherapieverbänden in Deutschland unterstreichen sein Engagement und seine Kompetenz in diesem Bereich. Darüber hinaus ist Kevin ein gefragter Redner auf großen Kongressen und in Unternehmen deutschlandweit. Er nutzt diese Plattformen, um ein breiteres Publikum für die Bedeutung des neurozentrierten Ansatzes zu sensibilisieren und zu begeistern. Sein Ziel ist es, ein tieferes Verständnis für die Verbindung zwischen Neurologie und körperlicher Leistung zu schaffen und somit einen Beitrag zur Gesundheitsförderung und Leistungssteigerung zu leisten.

E-Mail: [email protected]

Mobil-Nummer: +491787833289

Dominik Suslik Dominik Suslik ist Sportwissenschaftler M.A., Leiter der medizinischen Abteilung des Nachwuchsleistungszentrums von Hannover 96. Darüber hinaus fungiert als Neuroathletiktrainer für die Lizenz- und Jugendspieler und ist Organisatorischer Leiter des 96 Kompetenzzentrums Fußballmedizin.

https://www.hannover96.de/ueber-96/kompetenzzentrum-fussballmedizin

Er arbeitet seit über 15 Jahren als Athletik- und Rehatrainer mit angehenden und etablierten Fußballprofis. Neben der Arbeit für Hannover 96 war er im Trainerteam von Weltmeistertrainer Christian Wück für die Junioren- Nationalmannschaften des Deutschen Fußball-Bundes aktiv und hat dort Spieler wie Florian Wirtz und Jamal Musiala betreut. Zuvor war er 8 Jahre als Athletik- und Rehatrainer in der Handball Bundesliga tätig. 2011 bis 2013 für die MT Melsungen. 2013 bis 2019 für die TSV Hannover Burgdorf.

Zu den von ihm betreuten Spielern zählen Fußball- und Handballbundesligaspieler. Unter ihnen Olympiasieger, Weltmeister und Europameister. Durch viele Weiterbildungen ist er selber zu einem der führenden Experten für Athletik- und Neuroathletiktraining in Deutschland geworden.

Neben dem Sport- und BWL-Studium in Deutschland, hat er, motiviert durch seinen eigenen Schädelbasisbruch, als einer der ersten Deutschen das Zhealth Curriculum in „Applied Pain and Performance Neurology“ bei Dr. Eric Cobb aus den USA absolviert und in England das Diploma in Performance Nutrition beim International Institute of Performance Nutrition.

Er ist Initiator und inhaltlicher Entwickler der Software „Prevention Management Tool“, kurz PMT, zur Belastungs- und Beanspruchungssteuerung für Teamsportler in Deutschland, die er zusammen mit dem Entwickler- Team von Zinkler & Brandes bereits 2014 als Software „Athletics Connect“ initiierte und 2019 mit und für die Verwaltungsberufsgenossenschaft in das „PMT“ transferierte. https://start.pmt.vbg.de

Er ist ein Early Adopter von Entwicklungen im Bereich Prävention, Therapie und Training und ein kreativer Praktiker mit Weitblick. 2016 schrieb er das Buch „Therapie und Training mit dem Flossband“, ein Beweglichkeits- und Therapiekonzept mit Screeningtests, das deutlich über die Anwendung eines Tools hinausgeht.

2017 brachte er gemeinsam mit der Firma Ludwig ARTZT Dr. Eric Cobb und das Zhealth Curriculum nach Deutschland und initiierte den ersten Neuroathletikshop zur praxisbezogenen Anwendung der Neurologie in Sport und Bewegung. https://bit.ly/neuroathletik_artzt

2020 gewann er mit der Hannover 96 GmbH & Co KGaA für die Entwicklung des „Neurologischen Präventions-Algorithmus“ den Deutschen Präventionspreis Sport in der Kategorie Nachhaltigkeit.

https://www.hannover96.de/newscenter/news/details/28733-deutscher-meister-2020-praeventionspreis-der-vbg-fuer-gmbh-co-kgaa.html

2021 während der Pandemie widmete er sich gemeinsam mit dem MOJO Institut für Regenerationsmedizin und Dr. Gerrit Keferstein dem Thema Neuroimmunologie und realisierte die Online-Ausbildung zum Immunsignatur Coach, um über die Zusammenhänge zwischen Energiestoffwechsel und Immunsystem aufzuklären und Menschen hin zu mehr Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu insipirieren. https://immunsignatur.de/

Das vorliegende Buchprojekt öffnet den „Neurologischen Präventions-Algorithmus“ nun noch fundierter als „Neuro-Sport-Assessmentbogen“ in Gemeinschaftsproduktion des Autorenteams für eine breitere Reihe an SportphysiotherapeutInnen im deutschsprachigen Raum.

E-Mail: [email protected]

Daniel Müller Daniel Müller ist Sportwissenschaftler (M.A.) und ausgebildeter Sporttherapeut. Er arbeitet im individuellen Setting mit Profisportler*innen aus diversen Sportarten sowie als Bewegungstherapeut mit Schmerzpatient*innen im orthopädischen und neurologischen Bereich. Er hat nationale und internationale Ausbildungen auf dem Gebiet der funktionellen Neurologie absolviert, unter anderem das Z-Health Curriculum von Dr. Cobb, NeurokineticTherapy, Proprioceptive Deep Tendon Reflex, Primal Reflex Release Technique sowie weitere Fortbildungen in Applied Kinesiology, funktioneller Anatomie und Trainingslehre.

Daniel ist Ausbilder der Seminarreihe NeurokineticTherapy® in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dort schult er die Anwendung von Rezeptor-basierten Therapiemethoden für Physiotherapeut*innen und Trainer*innen. Seit 2019 arbeitet er mit den Eliteschwimmer*innen des Deutschen Schwimm-Verbandes, dort setzt er neurozentrierte Methoden zur Leistungsverbesserung und Prävention ein. Daraus entstand ein von ihm entwickeltes Ausbildungskonzept zu neurozentriertem Training für den Deutschen Schwimmsport, welches er seit 2021 etabliert.

Zudem ist er seit 2019 der leitende Athletiktrainer des SC Magdeburg Handball in der 1. Bundesliga. Er publiziert regelmäßig Artikel für Fachzeitschriften zu den Themen funktionelle Neurologie und individualisierte Trainings- und Therapieansätze. Als Sportwissenschaftler beschäftigt er sich mit den Forschungsgrundlagen neurozentrierter Ansätze, und promoviert zum Thema „Visuelles Training im Sport“ an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Durch seine Erfahrungen in Praxis und Wissenschaft ist Daniel ebenfalls ein gefragter Referent und Therapeut für Firmen und Profisportler weltweit. Zusammen mit seiner Frau Sarah und ihren drei Kindern lebt er am Waldrand seines Heimatdorfes bei Magdeburg.

E-Mail: [email protected]

Website: www.danielmueller-nbt.de

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Titelei

Vorwort

Danksagung

Autoren

1 Einführung in das neurozentrierte Training

1.1 Einleitung

2 Grundfunktionen des Nervensystems

2.1 Übersicht über das Nervensystem

2.2 Überleben und bewegen

2.2.1 Energie

2.2.2 Aktivierung

2.3 Von der Information bis zur Ausführung

2.3.1 Input

2.3.2 Reizweiterleitung

2.3.3 Reizverständnis

2.3.4 Entscheidung

2.3.5 Output

2.3.6 Umsetzung

2.4 Sensorik vor Motorik (feeding pattern)

2.4.1 Von unten nach oben

2.4.2 Von hinten nach vorn

2.5 Der Stressrucksack

2.6 Neuronale Hierarchie

2.7 Der neurozentrierte Therapieansatz

2.8 Angewandte Neurologie – Möglichkeiten und Grenzen in der Sportphysiotherapie

2.8.1 Anwendungsmöglichkeiten nach Ansatzpunkten sportphysiotherapeutischen Handelns

2.9 Literatur

3 Verschaltungs- und Informationsebenen

3.1 Verschaltungsebenen

3.2 Interventionsebenen

3.3 Bedeutung ausgewählter neuronaler Strukturen für die Bewegungskontrolle

3.3.1 Rezeptoren (Sensorik vor Motorik)

3.3.2 Periphere Nerven

3.3.3 Hirnnerven

3.3.4 Rückenmark

3.3.5 Hirnstamm

3.3.6 Formatio reticularis

3.3.7 Kleinhirn (Cerebellum)

3.3.8 Kortex (Großhirnrinde)

3.3.9 Thalamus

3.4 Literatur

4 Problemfindung und -eingrenzung

4.1 Einleitung

4.2 Anamnese

4.3 Assessments

4.3.1 Bewegungsumfang

4.3.2 Muskeltests

4.3.3 Gleichgewicht (Romberg-Test)

4.3.4 Koordination

4.3.5 Geräuschlokalisation

4.3.6 Peripheres Sehen

4.4 Erscheinungsbild und Verhalten

4.5 Zusammengefasst

4.6 Literatur

5 Einflussfaktoren auf die Trainingstherapie

5.1 Einleitung

5.2 Stressmodelle und Schutzreflexe

5.3 Trainingsintensitäten

5.3.1 Komplexität der Bewegung

5.3.2 Anzahl der Wiederholungen

5.3.3 Widerstand und Perturbation

5.3.4 Position im Raum

5.3.5 Rhythmik

5.3.6 Kombinieren und Sequenzieren

5.4 Vertrauen gewinnen

5.5 Zusammengefasst

5.6 Literatur

6 Trainingsmaterial

6.1 Einleitung

6.2 Vibration

6.3 Tape

6.4 Floss-Band

6.5 Blackroll

6.6 Widerstandsbänder

6.7 Farbbrillen

6.8 Vision Sticks

6.9 Brock-Schnur

6.10 Rasterbrille

6.11 Augenklappe

6.12 Knochenschall-Kopfhörer

6.13 Riechöle und Düfte

6.14 Visualtafeln

6.15 Literatur

7 Propriozeptives System

7.1 Einleitung

7.2 Homunkulus

7.3 Sensorik

7.3.1 Sensorische Bahnen

7.3.2 Adressierung der sensorischen Bahnen über unterschiedliche Rezeptortypen

7.3.3 Ligamente

7.3.4 Narben

7.4 Motorik

7.4.1 Pyramidales System

7.4.2 Extrapyramidales System

7.4.3 Zerebellare Einflüsse

7.5 Grundübungen Gelenke

7.5.1 Fünf Bewegungsregeln

7.5.2 Grundübungen Sprunggelenkmobilisation

7.5.3 Grundübung Kniegelenkmobilisation

7.5.4 Grundübung Hüftgelenkmobilisation

7.5.5 Grundübung Beckenmobilisation

7.5.6 Grundübungen Wirbelsäulenmobilisation

7.5.7 Grundübungen Kiefergelenkmobilisation

7.5.8 Grundübungen Schultermobilisation

7.5.9 Grundübungen Ellenbogenmobilisation

7.5.10 Grundübungen Handgelenkmobilisation

7.5.11 Grundübungen Fingermobilisation

7.6 Interneuronale Gelenkkopplung

7.7 Periphere Nerven

7.7.1 N. axillaris

7.7.2 N. musculocutaneus

7.7.3 N. radialis

7.7.4 N. medianus

7.7.5 N. ulnaris

7.7.6 N. obturatorius

7.7.7 N. cutaneus femoris lateralis

7.7.8 N. femoralis

7.7.9 N. ischiadicus

7.7.10 Zusammengefasst

7.8 Neurologie der Bewegungssteuerung

7.9 Zusammengefasst

7.10 Literatur

8 Vestibuläres System

8.1 Einleitung

8.2 Aufbau des vestibulären Systems

8.2.1 Reflexbögen

8.2.2 Funktionelle Kopplung der Bogengänge

8.2.3 Makulaorgane

8.2.4 N. vestibulocochlearis (VIII)

8.2.5 Gleichgewichtskerne

8.3 Zentrale Aufgaben des vestibulären Systems

8.4 Grundübungen zum Training des vestibulären Systems

8.4.1 Vestibulookulärer Reflex (VOR)

8.4.2 VOR-Unterdrückung

8.4.3 Vestibulospinaler Reflex

8.4.4 Achtergang

8.4.5 Isometrisches Training der Nackenmuskulatur

8.5 Literatur

9 Visuelles System

9.1 Die Sehfähigkeit als trainierbare und adaptierbare Qualität im Sport

9.2 Visuelle Stimulation und kognitive Leistungen

9.3 Anatomie des Sehens – ein kurzer Überblick

9.4 Okulomotorisches System – assoziierte Hirnareale und Funktionskreise

9.4.1 Frontale, parietale und temporale Augenfelder

9.4.2 Formatio reticularis

9.4.3 Kleinhirn

9.4.4 Zusammengefasst

9.5 Visuelles Screening und Basistraining

9.5.1 Visuelles Basistraining

9.5.2 Screening-Befunde

9.5.3 Screening: Folgebewegungen

9.5.4 Screening: Blickstabilisierung

9.5.5 Screening: Sakkaden willkürlich (+ Antisakkaden)

9.5.6 Screening: Optokinetischer Reflex

9.5.7 Screening: Vergenz

9.5.8 Screening: Binokulares Sehen

9.5.9 Screening: Peripheres Sehen

9.5.10 Screening: Farben

9.6 Literatur

10 Atmung

10.1 Einleitung

10.2 Was braucht das Gehirn?

10.3 Steuerung der Atmung

10.3.1 Hirnstamm

10.3.2 Mund- und Nasenatmung

10.4 Neurologie der Atmung

10.4.1 Wirkung und Einfluss des Zwerchfells

10.4.2 Inspiratorische Muskulatur

10.4.3 Exspiratorische Muskulatur

10.4.4 Atem-Mapping und Aktivierung der Atemmuskulatur

10.5 Atmungsqualität messen mit Atemtests

10.5.1 BOLT-Test

10.5.2 CO2-Ausatemtest

10.5.3 Zusammengefasst

10.6 Atemtraining und Basisübungen

10.6.1 Dreidimensionale Atmung

10.6.2 Zwerchfelldehnung

10.6.3 Seitöffner

10.6.4 Frontöffner

10.6.5 Dreiecksatmung

10.6.6 Atemübung für das Mesenzephalon

10.6.7 Atemübung für den Pons

10.6.8 Atemübung für die Medulla oblongata

10.7 Anhang: Testformulare für das Atemsystem

10.7.1 Beobachtung und Erstanamnese

10.7.2 Nijmegen-Fragebogen

10.8 Literatur

11 Praktische Umsetzung der Tests und Interventionen

11.1 Einleitung

11.1.1 Ablauf in 6 Schritten

11.1.2 Checkpunkte in der Sportphysiotherapie zur Sicherung des Therapieerfolges

11.1.3 Präventive Tests in der Sportphysiotherapie

11.2 Einstiegsmöglichkeiten in Neuro-Tests, Training und Therapie

11.2.1 Die schnelle Hilfe – Schlüsselfaktoren

11.2.2 Schlüsselfaktoren – ausführliches Neuroassessment

11.3 Literatur

12 Anwendung im Leistungssport – Fallbeispiele

12.1 Einleitung

12.2 Ablauf einer Sportrehabilitation

12.3 Fallbeispiel 1: Bänderdehnung im Sprunggelenk

12.3.1 Fallbeschreibung

12.3.2 Neurofunktioneller Status

12.3.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

12.4 Fallbeispiel 2: Vorderer Kreuzbandriss

12.4.1 Fallbeschreibung

12.4.2 Neurofunktioneller Status

12.4.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

12.5 Fallbeispiel 3: Muskelfaserriss M. biceps femoris

12.5.1 Fallbeschreibung

12.5.2 Neurofunktioneller Status

12.5.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

12.6 Fallbeispiel 4: Leistenschmerzen

12.6.1 Fallbeschreibung

12.6.2 Neurofunktioneller Status

12.6.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

12.7 Fallbeispiel 5: Werferschulter – ventrale Schulterluxation

12.7.1 Fallbeschreibung

12.7.2 Neurofunktioneller Status

12.7.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

12.8 Fallbeispiel 6: Kopfverletzung

12.8.1 Fallbeschreibung

12.8.2 Neurofunktioneller Status

12.8.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

12.9 Literatur

13 Anwendung im Breitensport – Fallbeispiele

13.1 Einleitung

13.2 Fallbeispiel 1: Achillodynie

13.2.1 Fallbeschreibung

13.2.2 Neurofunktioneller Status

13.2.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

13.3 Fallbeispiel 2: Springerknie (Patellaspitzensyndrom, jumpers knee)

13.3.1 Fallbeschreibung

13.3.2 Neurofunktioneller Status

13.3.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

13.4 Fallbeispiel 3: Golferellenbogen (Epicondylitis medialis)

13.4.1 Fallbeschreibung

13.4.2 Neurofunktioneller Status

13.4.3 Interventionsstrategien und Integration in die Sportphysiotherapie

13.5 Literatur

14 Anwendung in der Sportphysiotherapie Praxis – Workflow

14.1 Der 15-minütige Monday-Morning-Workflow der Sporttherapie

14.1.1 Überprüfung der Beinlänge

14.1.2 Aktiver Single Leg Raise

14.1.3 Ventrale Rumpfkraft

14.1.4 Alternierende Brücke

14.1.5 Prone Hip Extension – Hüftstreckung im Liegen

14.1.6 Beweglichkeit in Hüftstreckung

14.1.7 Beweglichkeit im Stand

14.1.8 Rückbeuge

14.1.9 Antirotation

14.1.10 Reflektorische Stabilität der Körpermitte

14.1.11 Dynamische motorische Kontrolle

14.1.12 Kraft und Bewegung der proximalen Gelenke

14.1.13 Stabilität der Halswirbelsäule

14.1.14 Athletische Grundposition

14.1.15 360°-Richtungswechsel

14.2 Integrationsübungen

14.2.1 Periphere Wahrnehmung

14.2.2 Frontalkortexaktivierung

14.2.3 Konvergenz-/Divergenztraining

14.3 Literatur

15 Neuro-Sport-Assessmentbogen – Darstellung und Download

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum/Access Code

1 Einführung in das neurozentrierte Training

Kevin Grafen, Daniel Müller, Dirk Schauenberg, Dominik Suslik

1.1 Einleitung

Alle Therapierenden haben den Anspruch, mit einer (Trainings-)Intervention der Person mit Beschwerden zu helfen. Unabhängig davon, ob es sich um präventive, rehabilitative oder leistungsorientierte Maßnahmen handelt, ist es immer das Ziel, durch therapeutische oder trainingstechnische Maßnahmen eine Verbesserung des Ist-Zustandes zu erreichen. Ein optimales Ergebnis kann jedoch nur dann erzielt werden, wenn die möglichen Potenziale, die in der jeweiligen Situation mit dem Individuum realisierbar sind, auch voll ausgeschöpft werden.

Hier steht die moderne (Sport-)Physiotherapie vor einem entscheidenden Entwicklungsschritt. Während die Anwendung muskuloskelettaler und kardiovaskulärer Trainingsinterventionen in der Sportphysiotherapie bereits volle Aufmerksamkeit genießt, bleibt ein außergewöhnliches System weitgehend unbeachtet, obwohl sein praktisches Verständnis durch exponentiell wachsende Forschungserkenntnisse seit Jahren zunimmt. Die Rede ist vom Nervensystem. Wenn man bedenkt, dass unser Nervensystem an allen körperlichen, kognitiven und psychischen Prozessen beteiligt ist, sollte klar sein, warum die Erkenntnisse der praktisch anwendbaren (funktionellen) Neurologie einen ebenso hohen Stellenwert verdienen wie Biomechanik, Trainingslehre, Anatomie, Physiologie und Psychoedukation. Letztendlich sind alle Erkrankten auch neurologisch Erkrankte. Die Frage ist nur, mit welchem psychophysischen Status sich eine Person um Hilfe bemüht. So könnte man auch sagen, dass alle (Sport-)Physiotherapierenden das Nervensystem bereits behandeln, allerdings meist nicht im vollen Bewusstsein der im Hintergrund ablaufenden Prozesse. Genau dieses Bewusstsein für die Mechanismen des Nervensystems in der Therapie und im Training ist es, was dieses Buch vermitteln möchte.

Obwohl neurologische Lehrinhalte ein wesentlicher Bestandteil der physiotherapeutischen Ausbildungsstrukturen sind, finden sie in der Praxis eher wenig Anwendung. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich neurologische Untersuchungen und therapeutische Maßnahmen überwiegend auf spezifische Krankheitsbilder beziehen, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betreffen. Die Tendenz geht dahin, dass eine Notwendigkeit für gezielte Eingriffe in das Gehirn erst dann besteht, wenn pathologische Zustände des Nervensystems bereits vorliegen oder durch das Auftreten außergewöhnlicher Probleme vermutet werden.

Die Funktionsfähigkeit des Nervensystems lässt sich jedoch nicht allein dadurch definieren, ob es funktioniert oder nicht (eindimensionale Sichtweise). Vielmehr geht es darum, wie gut es funktioniert (mehrdimensionale Sichtweise). Wenn sich im Laufe des Lebens Defizite entwickeln, müssen diese kompensiert werden. Kompensationen wiederum führen zu Einschränkungen, die sich über kurz oder lang auf körperlicher und psychischer Ebene durch Leistungsdefizite und verschiedenste Probleme bemerkbar machen.

Aus neurologischer Sicht sind solche Probleme die Endresultate vorangegangener Fehlkommunikationen und Fehlintegrationen des Nervensystems. Entscheidend ist, dass diese Funktionseinschränkungen im ZNS auch bei den Personen auftreten, mit denen Sportphysiotherapeut*innen im Alltag in der Regel zu tun haben und bei denen meistens keine neurologischen Vorerkrankungen vorliegen. Vielfach handelt es sich eher um subklinische Defizite, die erst in ihrer Gesamtheit eine Wirkung entfalten und daher für neurologische Fachkräfte als nicht relevant angesehen oder gar nicht erst untersucht werden.

Da das Nervensystem in seiner Funktionsweise so komplex ist und die Wissenschaft noch längst nicht alle Steuerungsmechanismen verstanden hat, besteht die Herausforderung darin, die Regelkreise zu finden, die für Funktionsdefizite verantwortlich sind. Genau hier liegt – bei allem Potenzial, das in neuen Erkenntnissen steckt – auch eine große praktische Schwierigkeit: Das Auffinden der richtigen neurologischen Mechanismen, die zu Funktionseinschränkungen auf anderen Ebenen (z.B. muskulärer Ebene, organischer Ebene oder Gelenkebene) führen, ist nur durch eine differenzierte neurofunktionelle Analyse möglich und daher nicht einfach umzusetzen.

Während sich klassische therapeutische Maßnahmen oft auf die Behandlung der Problemstrukturen beschränken, können die Behandlungsmöglichkeiten durch einen neurozentrischen Ansatz um ein Vielfaches erweitert werden, wenn die entsprechenden Regelkreise angesprochen werden.

Ein Beispiel: Bei unspezifischen Knieschmerzen kann zunächst eine lokale Behandlung in Betracht gezogen werden. Die Behandlungsmöglichkeiten sind vielfältig – myofasziale Techniken, Kräftigung der das Knie umgebenden Muskulatur und vieles mehr. Bei geringem Erfolg können weitere Ansätze in Betracht gezogen werden, z.B. die Behandlung und Regulierung der myofaszialen Ketten, spezielle Konzepte für den Fuß oder die Wirbelsäule usw. Diese Behandlungsansätze können zum Erfolg führen und die Knieschmerzen lindern. Merkwürdigerweise gibt es aber auch Menschen, bei denen keine Besserung eintritt. Betrachtet man die oben genannten Maßnahmen, so bezieht sich die Behandlungsstrategie hauptsächlich auf propriozeptive Signale auf Rezeptorebene. Aus neurozentrischer Sicht können Knieschmerzen jedoch auch auf einer anderen Ebene des Nervensystems ihren Ursprung haben.

Wenn z.B. das Mittelhirn im Hirnstamm das ursächliche Problem darstellt, werden die angewandten Interventionen wenig Aussicht auf Erfolg haben. In diesem Fall ist es sinnvoller, mit Augenbewegungen zu arbeiten, da der größte Teil der Augenbewegungen im Mittelhirn verschaltet und gesteuert wird. Der Anteil der neurologischen Mechanismen ist bei unspezifischen Schmerzen meist sehr hoch, was in diesem Fall bedeuten würde, dass durch eine entsprechende Aktivierung des defizitären Areals im Mittelhirn die Knieschmerzen sofort deutlich reduziert werden könnten. Hier würde dann die eigentliche Trainingsintervention ansetzen, um die Verbesserung nachhaltig zu sichern.

Da jedes Problem auf verschiedenen Ebenen entstehen kann, sollte auch klar sein, dass es nicht die Übung gegen Problem XY gibt. Jede Trainingsintervention muss daher auf ihre Wirksamkeit überprüft werden, da das Nervensystem jedes Menschen immer individuell reagiert. Mit einem neurozentrierten Therapieansatz ist es möglich, die dysfunktionalen Kommunikationsebenen einzugrenzen, ihre Auswirkungen zu überprüfen und dann mit gezielten Trainingsinterventionen die notwendigen Bereiche anzusprechen.

Propriozeptive Trainingsinterventionen spielen dabei eine wichtige Rolle, reichen aber für einen ganzheitlichen Trainingsansatz nicht aus. Die funktionelle Neurologie konzentriert sich daher auf die Aktivierung und Integration aller sensorischen Systeme. Vor allem über die Atmung, das visuelle System und das vestibuläre System können enorme Effekte erzielt werden. Das Testen und Aktivieren anderer Systeme, wie z.B. des olfaktorischen oder gustatorischen Systems, ist nicht weniger wichtig, wird aber in diesem Buch nicht näher behandelt.

Das Ziel dieses Buches ist es, die Bedeutung des Nervensystems für Anwendungen in der Sportphysiotherapie aufzuzeigen. Durch eine gezielte Einbeziehung können ungeahnte Erfolge in Prävention, Rehabilitation und Leistung erzielt werden. Schritt für Schritt wird erläutert, wie der neurozentrierte Ansatz funktioniert und in der Praxis umgesetzt werden kann.

Das Kap. ▶ 2 beschreibt die grundlegenden Funktionen, Kap. 3 die verschiedenen Interventionsebenen und wie sich Defizite auf diesen Ebenen manifestieren können und in Kap. ▶ 4 werden verschiedene Testverfahren und Assessments vorgestellt, um die Wirkung der Trainingsintervention zu überprüfen.

Das Kap. ▶ 5 befasst sich mit der Modulation von Trainingsinterventionen und -intensitäten. In Kap. ▶ 6 werden nützliche Trainingshilfen vorgestellt, die bei der Aktivierung der verschiedenen Interventionsebenen hilfreich sein können. Das Kap. ▶ 7 beschreibt das propriozeptive System, seine Wirkungsmechanismen und seine Rolle bei der Bewegungssteuerung und stellt eine Vielzahl von praktischen Übungen vor. Kap. ▶ 8 stellt die Funktion des vestibulären Systems und Übungen für die verschiedenen Sinnesorgane des Innenohrs vor.

In Kap. ▶ 9 geht es dann um die enorme Bedeutung des visuellen Systems für das Gehirn, grundlegende Screeningverfahren und bewährte visuelle Trainingsübungen. Kap. ▶ 10 beschreibt die Bedeutung der Atmung und entsprechender Ateminterventionen auf, welche die Grundlage für alle weiteren Trainingsinterventionen bilden, da sie die Sauerstoffversorgung des Gehirns verbessern. Kap. ▶ 11 zeigt dann, wie der grundlegende praktische Ansatz mithilfe dieses Buches aussehen kann. Abschließend werden in den Kap. ▶ 12 und Kap. ▶ 13 Praxisbeispiele aus dem Leistungssport und der therapeutischen Praxis beschrieben, welche die Inhalte des gesamten Buches anhand von realen Fallbeispielen veranschaulichen. In Kap. ▶ 14 wird schließlich ein Workflow dargestellt, der als direkte Einstiegsintervention genutzt werden kann.

Mit dem vorliegenden Buch „Neurozentriertes Training in der Sportphysiotherapie“ haben wir uns zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zum Transfer von praktisch anwendbarem Wissen über das Gehirn und die Verbesserung von Bewegungen in die sportphysiotherapeutische Praxis zu leisten. Zu diesem Zweck sind die Kapitel immer mit entsprechenden wissenschaftlichen Quellen belegt, um den aktuellen Stand der Forschung wiederzugeben.

Wir hoffen, dass es uns gelungen ist, einen interessanten Einblick in die Welt der angewandten Neurologie zu geben und damit die praktischen Möglichkeiten von Therapierenden zu erweitern.

München, im Juni 2024

Kevin Grafen

Daniel Müller

Dirk Schauenberg

Dominik Suslik

2 Grundfunktionen des Nervensystems

Kevin Grafen

2.1 Übersicht über das Nervensystem

Das Nervensystem ist eines der kompliziertesten und komplexesten Systeme des menschlichen Körpers und hat die Aufgabe, alle Körperfunktionen zu regulieren und zu koordinieren. Es besteht aus dem Gehirn, dem Rückenmark und den peripheren Nerven, die für den Informationsfluss zwischen Körper und Gehirn verantwortlich sind ▶ [1].

Das Nervensystem kann in 2 Hauptbereiche unterteilt werden: das zentrale Nervensystem (ZNS) und das periphere Nervensystem (PNS). Das ZNS besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark, während das PNS alle Nerven umfasst, die das zentrale Nervensystem mit dem Rest des Körpers verbinden.

Das Gehirn ist die Schaltzentrale des Nervensystems und verantwortlich für die Übertragung und Integration von Sinnesinformationen, die Steuerung von Bewegungen und die Regulierung lebenswichtiger Funktionen wie Herzfrequenz, Blutdruck und Atmung. Neuroanatomisch lässt es sich in verschiedene Hirnstrukturen wie Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm unterteilen ▶ [6].

Das Großhirn ist die größte Struktur des Gehirns und u. a. verantwortlich für Wahrnehmung, Vorstellungsvermögen, bewusstes Denken und willkürliche Bewegungen. Es wird in eine rechte und eine linke Hemisphäre unterteilt, die durch Nervenfasern, das Corpus callosum, miteinander verbunden sind. Jede Hemisphäre kann außerdem in 4 weitere Lobi (Lappen) unterteilt werden: den Frontallappen, den Parietallappen, den Temporallappen und den Okzipitallappen.

Das Kleinhirn (Cerebellum), das sich im hinteren Teil des Gehirns befindet, hat die Aufgabe, Haltung, Gleichgewicht und Bewegung zu koordinieren. Es empfängt Informationen von der motorischen Rinde und den Sinnessystemen und sendet Impulse an die Muskeln, um Bewegungen zu kontrollieren und zu korrigieren.

Der Hirnstamm verbindet das Gehirn mit dem Rückenmark und steuert viele lebenswichtige Funktionen wie Blutdruck, Atmung und Herzfrequenz. Er ist auch an der Regulation von Schlaf, Bewusstsein und Schmerz beteiligt.

Das Rückenmark kann man sich als länglichen Schlauch aus Nervengewebe vorstellen, der vom Gehirn bis zum Lendenwirbelkörper 1 oder 2 reicht. Es ist für den Informationsaustausch zwischen Gehirn und Körper zuständig.

Das periphere Nervensystem besteht aus allen Nerven, die das ZNS mit dem Rest des Körpers verbinden. Es kann weiter in das autonome und das somatische Nervensystem unterteilt werden. Das somatische Nervensystems ist für die Steuerung willkürlicher Bewegungen zuständig, während das autonome Nervensystem unwillkürliche Funktionen wie Atmung, Verdauung und Herzfrequenz steuert. Das autonome Nervensystem kann weiter in das sympathische und das parasympathische Nervensystem unterteilt werden. Das sympathische Nervensystem bereitet den Körper darauf vor, mit Gefahr und Stress bestmöglich umzugehen. Umgangssprachlich wird dies auch als Kampf- oder Fluchtreaktion bezeichnet. Das parasympathische Nervensystem hingegen ist für Entspannung und Verdauung zuständig.

Die Kenntnis des Aufbaus und der Funktionen des Nervensystems ist entscheidend, um gezielte Trainingsansätze und Übungsinterventionen auswählen zu können. Dadurch können nicht nur Gesundheit und Lebensqualität erhalten, sondern auch neurologische Störungen und andere Probleme wie Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und Leistungseinbußen behandelt werden.

2.2 Überleben und bewegen

Das Nervensystem hat also die Aufgabe, den menschlichen Körper so zu regulieren und zu steuern, dass das Überleben in einer bestimmten Situation gewährleistet ist. Es trifft daher alle unbewussten Entscheidungen auf der Grundlage der Überlebensfähigkeit und muss unter Umständen körperliche Anpassungen vornehmen, um in bestimmten Situationen die Überlebenschancen zu erhöhen.

Das Gehirn tut dies, indem es Muster erkennt oder Vorhersagen über mögliche Szenarien trifft, die in einer Situation eintreten können. Dadurch ist das Gehirn in der Lage, durch die äußere Umwelt zu navigieren und auf mögliche Bedrohungen zu reagieren. Dies funktioniert über den Prozess der Wahrnehmung, dessen Grundlage die Verarbeitung und Interpretation sensorischer Informationen ist. Das Gehirn repräsentiert die äußere Umwelt hauptsächlich durch visuelle, auditive und taktile Informationen. Ergänzend nutzt es das vestibuläre und propriozeptive System, um die eigene Position im Raum zu bestimmen. Aber auch das olfaktorische und gustatorische System liefern zusätzliche Informationen über die äußere Beschaffenheit. Mit ihrer Hilfe ist das Gehirn in der Lage, bekannte und unbekannte Situationen zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Die Reaktion wird, sofern sie nicht von höheren kortikalen Arealen beeinflusst wird, von den autonomen Strukturen, dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem gesteuert. Stuft das Gehirn die Situation als bedrohlich ein, reagiert der Sympathikus mit einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Der Körper schüttet Hormone wie Adrenalin und Cortisol aus, welche die Herzfrequenz und den Blutdruck erhöhen, die Pupillen weiten und Verdauungsprozesse unterdrücken. So kann der Körper mehr Energie und Ressourcen aufwenden, um eine Bedrohung abzuwehren.

Bewertet das Gehirn eine Situation als nicht bedrohlich, wird der Parasympathikus aktiv. Es werden Hormone wie Acetylcholin ausgeschüttet, welche die Herzfrequenz senken und die Verdauungstätigkeit erhöhen. Dadurch kann der Körper mehr Energie speichern und sich von Stressreaktionen erholen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass das sympathische und das parasympathische Nervensystem nicht isoliert voneinander arbeiten, sondern als ein gemeinsames Kontinuum. Das Zusammenspiel beider Nervensysteme ist komplex und spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung des körperlichen Gleichgewichts und bei der Reaktion auf verschiedene Stressoren, die durch äußere Anforderungen hervorgerufen werden.

Autonome Reaktionen können jedoch durch übergeordnete kortikale Strukturen beeinflusst werden. So kann die körperliche Reaktion auf bekannte und unbekannte Situationen durch kognitive Bewertungen und Entscheidungen verändert werden. Eine solche Bewertung ist jedoch von Person zu Person verschieden und sehr individuell. Eine Situation kann für die eine Person äußerst bedrohlich sein, während eine andere sie ganz anders interpretiert. Eine solche Interpretation hängt also von vielen Komponenten ab: Sowohl Logik, Erfahrung und Denkweise als auch die Gesundheit des Gehirns und die Qualität der Sinnesinformationen spielen bei der Einschätzung eine wichtige Rolle.

Das folgende Beispiel soll das Konzept der Mustererkennung und der ausgelösten Folgereaktion veranschaulichen:

Zwei Personen gehen morgens spazieren. Die eine legt diese Strecke jeden Morgen zurück, während die andere zum ersten Mal durch dieses Waldstück geht. Es ist nebelig und die Sicht ist eingeschränkt. Auf einer Lichtung taucht plötzlich in der Ferne die breite Silhouette einer dritten Person auf.

Der einen Person ist diese Gestalt unbekannt, während die andere Person weiß, dass es sich um den Nachbarn handelt, der ebenfalls jeden Morgen seinen Morgenspaziergang macht.

Während die eine Person die Silhouette als gefährlich interpretiert und eine sympathische Reaktion auslöst, bleibt die andere Person ruhig und in einem parasympathischen Zustand.

Beide Reaktionen sind wichtig, aber bei vielen Menschen löst das Nervensystem nicht immer die richtige Reaktion auf die äußeren Umstände aus. Das bedeutet, dass viele Menschen in Dauerstressmustern gefangen sind oder auf Situationen gestresst reagieren, obwohl dies gar nicht nötig wäre. Umgekehrt gibt es viele Menschen, die vom Nervensystem nicht den nötigen Antrieb erhalten und sich deshalb etwa ständig müde fühlen. Das Nervensystem muss also gesund genug sein, um die richtigen und angemessenen Einstellungen zu wählen.

Will man die Interpretationsfähigkeit des Nervensystems verändern, kann man an den verschiedenen Komponenten ansetzen. Diese sind jedoch mit dem Trainingsansatz der funktionellen Neurologie nur bedingt beeinflussbar. Bereits gemachte Erfahrungen können nicht verändert, sondern allenfalls aus einem anderen Blickwinkel neu erlebt werden. Denkweisen können durch äußere Impulse und neue Sichtweisen verändert werden.

Der Trainingsansatz der funktionellen Neurologie konzentriert sich daher auf die Verbesserung der Qualität der sensorischen Informationen und der Gesundheit des Gehirns, indem durch gezielte Stimulation effektive Trainingsreize gesetzt werden. Nur wenn das Gehirn ausreichend gesund ist, können bewusste und unterbewusste Steuerungsprozesse optimal ablaufen und Situationen möglichst realitätsnah eingeschätzt werden. Ist dies der Fall, folgt in der Regel eine adäquate Folgereaktion.

Die Gesundheit des Nervensystems kann vor allem dann aufrechterhalten werden, wenn bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllt sind. Zum einen muss das Gehirn energetisch versorgt werden, zum anderen muss es strukturell so gut vernetzt sein, dass Informationsverarbeitung und Kommunikation innerhalb der Hirnstrukturen optimal ablaufen können. Letzteres wird durch gezielte Aktivierung und Stimulation erreicht. Auf die beiden Komponenten „Energie“ und „Aktivierung“ wird im Folgenden näher eingegangen.

2.2.1 Energie

Energie wird durch eine ausgewogene Ernährung und eine effiziente Atmung in Form von Glukose und Sauerstoff zugeführt.

Während Nahrung und Wasser dem Organismus durch Energiereserven und eine gewisse Speicherkapazität länger zur Verfügung stehen, ist Sauerstoff unverzichtbar, da das Nervensystem ohne ihn nicht lebensfähig ist. Schon nach 4 bis 6 Minuten ohne Sauerstoffversorgung beginnen Gehirnzellen abzusterben, da das Gehirn besonders empfindlich auf Sauerstoffmangel reagiert. Ohne sofortige medizinische Versorgung kann dies zu bleibenden Hirnschäden führen. Im Allgemeinen ist es unwahrscheinlich, dass ein Mensch länger als 10 min ohne Sauerstoff überlebt. Insofern ist eine optimale Atmung die absolute Grundlage für alle weiteren Funktionen und Interventionen. Nur wenn eine effiziente Atmung und ein guter Energiestoffwechsel vorhanden sind, können die in diesem Buch vorgestellten Übungen ihre volle Wirkung entfalten.

2.2.2 Aktivierung

Regelmäßige Stimulation ist ein weiterer wichtiger Faktor für die Gesundheit des Nervensystems. Die Vernetzung und Myelinisierung der Nervenzellen wird fast ausschließlich durch wiederholte Stimulation gefestigt. Ähnlich wie bei der Muskulatur können Nervenstrukturen durch Unteraktivierung verkümmern und atrophieren. Daher muss das Nervensystem regelmäßig stimuliert werden, um alle körperlichen und kognitiven Funktionen langfristig zu erhalten ▶ [2].

Die Aktivierung erfolgt vor allem über die Sinnesorgane und über Bewegung. Demnach steht die Gesundheit des Gehirns in einem direkten Zusammenhang mit der Nutzung der Sinnesorgane und dem Bewegungsverhalten. Bewegungsmangel hingegen führt zum Abbau von Nervenzellen.

Die Seescheide

Ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Evolution zum Verlust komplexer Strukturen bei Organismen, einschließlich des Gehirns, führen kann, ist die Seescheide.

Seescheiden sind marine Manteltiere, die wie der Mensch zur Gruppe der Chordatiere gehören. Interessanterweise durchlaufen Seescheiden einen einzigartigen Entwicklungsprozess, bei dem sie im Larvenstadium ein einfaches Nervensystem besitzen, als erwachsene Tiere jedoch den Großteil ihres Nervensystems verlieren ▶ [3]. Im Larvenstadium besitzen Seescheiden ein primitives Gehirn, das aus einer sensorischen Blase, einem Nervenstrang und einem motorischen Ganglion besteht. Damit können sie schwimmen und Nahrung aufspüren. Sobald sich die Seescheiden jedoch an einer Oberfläche festsetzen, machen sie eine Verwandlung durch. Sie beginnen, ihr eigenes Nervensystem, einschließlich ihres eigenen Gehirns, aufzunehmen und zu verdauen ▶ [8]. Es mag widersprüchlich erscheinen, aber der Verlust des Nervensystems ist für das Überleben der Seescheiden von Vorteil. Als sessile Filterfresser müssen sie ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen oder sich bewegen, um Nahrung zu finden oder Fressfeinden auszuweichen. Sie können an Ort und Stelle überleben. Durch die Absorption ihres Nervensystems können sie die Energie, die sie sonst für die Aufrechterhaltung ihres Nervensystems aufwenden müssten, auf andere lebenswichtige Funktionen wie Wachstum und Fortpflanzung umlenken.

Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig Bewegung und die Nutzung aller Sinnesorgane für die Gesundheit des Gehirns sind.

Betrachtet man die Komplexität der Bewegungsmöglichkeiten des Menschen, so ergibt sich ein großes neuronales Anforderungsprofil. Je nach Definition und Zählweise besitzt der Mensch etwa 360 Gelenke. Konzentriert man sich nur auf die großen Hauptgelenke wie Fuß-, Knie-, Hüft-, Kiefer-, Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenk sowie auf die einzelnen Abschnitte der Wirbelsäule (Lenden-, Brust- und Halswirbelsäule), so ergeben sich daraus enorme Bewegungsmöglichkeiten, die alle vom Gehirn gesteuert und überwacht werden müssen. Darüber hinaus müssen diese Bewegungen mit den Anforderungen der äußeren Umwelt koordiniert werden.

Das folgende Kapitel beschreibt, wie das Nervensystem in seiner grundlegendsten Funktion arbeitet und wie es Entscheidungen trifft. Nachfolgend werden dann die wichtigsten Aktivierungssysteme im Detail behandelt: das propriozeptive System, das vestibuläre System, das visuelle System und die Atmung ( ▶ Abb. 2.1).

Abb. 2.1 Die 4 großen Aktivierungssysteme: Atmung, visuelles, vestibuläres und propriozeptives System.

2.3 Von der Information bis zur Ausführung

Als komplexes Netzwerk von Zellen ist das Nervensystem in der Lage, auf Veränderungen der äußeren und inneren Umwelt zu reagieren. Die Hauptaufgabe besteht also darin, sensorische Informationen wie Licht, Schall, Geruch, Geschmack und Propriozeption aus der Umwelt wahrzunehmen, zu interpretieren und daraus eine angemessene Reaktion zu generieren. Dieser Prozess klingt einfach, ist aber in Wirklichkeit äußerst kompliziert und von der Wissenschaft bis heute nicht vollständig verstanden.

Eine vereinfachte Darstellung der Funktionsweise reicht jedoch völlig aus, um den Ansatz des neurozentrierten Trainings zu erklären.

Demnach lässt sich die Funktionsweise des Nervensystems in die folgenden 5 Schritte unterteilen:

Input

Reizweiterleitung

Reizverständnis

Entscheidung

Output.

Jeder dieser Schritte ist entscheidend für das Endergebnis und muss auf seine Funktionalität hin überprüft werden. Im Folgenden wird auf jeden dieser Schritte näher eingegangen.

2.3.1 Input

Im vorigen Kapitel wurde beschrieben, dass das Gehirn dem Überleben oberste Priorität einräumt. Um Entscheidungen darüber treffen zu können, welche Maßnahmen in einer aktuellen Situation zu ergreifen sind, benötigt es Informationen über die äußere und innere Umwelt.

Informationen über die äußere Umwelt erhält das Nervensystem über die Sinnesorgane der Exterozeption. Dazu gehören die Augen (Sehen), die Ohren (Hören), die Nase (Riechen), die Zunge (Schmecken) und die Haut mit tiefer liegenden Geweben (Tasten). Die von innen kommenden Informationen werden als Propriozeption bezeichnet. Eine Reihe von Rezeptoren liefern verschiedenste Sinnesreize wie Druck, leichte und tiefe Berührung, Vibration, Temperatur, Nozizeption usw., um Informationen über situative Ereignisse und die Position von Gelenken und Gliedmaßen im Raum zu übermitteln.

Die Überwachung von Organfunktionen und hormonellen Steuerungsvorgängen heißt Interozeption und ist Teil der Propriozeption. Ein weiteres wichtiges Sinnesorgan ist der Vestibularapparat im Innenohr, der mithilfe der Schwerkraft die Lage im Raum, Kopfdrehungen und Beschleunigungen ermittelt.

Ist die Informationsqualität aus den verschiedenen Sinnesorganen vermindert, weil diese aufgrund von (Alt-)Schäden oder Degenerationen keine genauen Lageinformationen liefern, kann das Gehirn auch keine optimalen Entscheidungen treffen.

2.3.2 Reizweiterleitung

Da das Gehirn im Schädelinneren nur über die Augen eine direkte Verbindung zur Außenwelt hat, ist es auf eine externe Informationsübertragung angewiesen. Die von den Sinnesrezeptoren aufgenommenen Reize müssen irgendwie zum Gehirn gelangen. Diese Informationsübertragung erfolgt über die peripheren Nerven und das Rückenmark.

Je nach Nerv, Nervenlänge und Eintrittsstelle ins Rückenmark muss die Information über unterschiedliche Längen und Schaltstellen von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergeleitet werden. Auf jeder Ebene der Informationsübertragung können Kommunikationsfehler auftreten, die dazu führen, dass das ursprüngliche Signal nicht korrekt weitergeleitet wird. Kommt es zu Fehlkommunikation oder Interferenzen, ist das Gehirn nicht in der Lage, die Informationen korrekt zu entschlüsseln.

Dieser Vorgang lässt sich mit dem beliebten Kinderspiel „Stille Post“ vergleichen. Wenn eine Person in der Kette das ursprünglich gesprochene Wort falsch weitergibt oder die nächste Person das Wort nicht richtig versteht, kommt am Ende ein anderes Wort heraus.

2.3.3 Reizverständnis

Im Gehirn angekommen, müssen alle eintreffenden Sinnessignale zunächst nach ihrer Bedeutung gefiltert und dann verschiedenen Hirnstrukturen zugeordnet werden. Dadurch ist das Gehirn in der Lage, die wichtigsten Informationen zu interpretieren und ein aktuelles Bild von außen und innen zu erstellen. Da verschiedene Hirnstrukturen unterschiedliche Funktionen übernehmen, ist es wichtig, dass alle Hirnstrukturen an der Entschlüsselung der Informationen beteiligt sind. Man kann sich diesen Prozess wie einen Arbeitsprozess einer Gruppe von Menschen vorstellen, die sich im Laufe ihres Arbeitsprozesses ständig abstimmen und rückversichern, Ideen einbringen und Feedback geben müssen, um einen optimalen Fortschritt zu erzielen.

Unter Umständen ist das Gehirn jedoch durch (alte) Verletzungen und Degenerationen nicht mehr in der Lage, Informationen schnell und fehlerfrei zu interpretieren. Die Folgen sind eine verlangsamte Auffassungsgabe und eine falsche Einschätzung der aktuellen Situation. Es ist daher von grundlegender Bedeutung, dass alle Hirnstrukturen optimal funktionieren, um den situativen Anforderungen gerecht zu werden.

2.3.4 Entscheidung

Nach der Interpretation des Ist-Zustandes durch die afferenten Signale müssen Entscheidungen bzw. Outputs durch verschiedene Folgeaktionen des Nervensystems konzipiert und ausgeführt werden. Diese Entscheidungen manifestieren sich in physischen, psychischen, hormonellen und kognitiven Faktoren. Zu den physischen Faktoren gehören z.B. die Planung und Ausführung von Bewegungen, die Koordination von Muskelgruppen und Muskelspannung sowie Vitalfunktionen wie Atmung, Blutdruck und Herzfrequenz. Zu den psychischen Faktoren gehören z.B. Gemütszustände wie Freude, Angst, Traurigkeit oder Antriebslosigkeit und Müdigkeit. Die hormonellen Faktoren beziehen sich auf alle Hormonausschüttungen im Körper sowie die Aktivierung und Hemmung von Drüsen. Zu den kognitiven Faktoren gehören z.B. die Planungs-, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit.

Merke

Auch Schmerz ist eine Entscheidung oder ein Output des Gehirns. Schmerz wird, wenn das System richtig funktioniert, vom Gehirn nur dann erzeugt, wenn es das Verhalten ändern will. Schmerz ist also ein Werkzeug zur Verhaltensänderung auf der Basis aller sensorischen Informationen und der Fähigkeit, diese zu interpretieren. Alle afferenten Signale sind vor dem Interpretationsprozess nur Informationen. Schmerz entsteht erst dann, wenn das Gehirn ein bestimmtes Bedrohungsniveau registriert und dann einen Handlungsbedarf für Schmerz sieht.

2.3.5 Output

Im letzten Schritt werden die getroffenen Entscheidungen ausgeführt. Dies geschieht durch efferente Nervenimpulse an die ausführenden Systeme. Die Reizweiterleitung erfolgt in umgekehrter Reihenfolge zu Punkt 2. Die Reize werden über das Rückenmark und die peripheren Nerven an die ausführenden Strukturen gesendet. Auch hier ist zu beachten, dass die Reizweiterleitung bis zur endgültigen Ausführung noch fehlerhaft sein kann. Dadurch kommt es am Ende nicht zu der ursprünglich geplanten Umsetzung. Zudem erzeugt der erzeugte Output während der Ausführung durch die Aktivierung weiterer Rezeptoren ein neues Informationsmuster. Alle genannten Schritte laufen also in einer permanenten Schleife ab ( ▶ Abb. 2.2).

Abb. 2.2 Grundfunktionen des Nervensystems: Input – Reizweiterleitung – Reizverständnis – Entscheidung – Output.

2.3.6 Umsetzung

Die Anwendung dieses Modells führt zu einer entscheidenden Erkenntnis:

Jede Ausführung des Nervensystems beruht auf der Qualität aller sensorischen Informationen und der Fähigkeit des Gehirns, diese zu verstehen. Das bedeutet gleichzeitig, dass es möglich ist, jede Ausführung durch die Stimulation verschiedener Sinnesorgane und Gehirnstrukturen zu verändern.

Einige mögliche Beispiele:

Knieschmerzen können durch Augenübungen gelindert werden.

Die Beweglichkeit kann durch Gerüche verändert werden.

Hartnäckige Verspannungen können durch die Anwendung von Geräuschen gelöst werden.

Rückenprobleme können durch Atemübungen verschwinden.

Auch wenn diese Aufzählung unvorstellbar klingt und die Funktionen zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buches noch aufgelistet wurden, basiert dieses Konzept auf sich gegenseitig beeinflussenden neuronalen Strukturen.

Versteht man den „Schaltkreis“, der dahintersteckt, eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten für therapeutische Maßnahmen, Behandlung und Training. Ziel dieses Buches ist es, in den folgenden Kapiteln Schritt für Schritt die Zusammenhänge zwischen den Sinnessystemen und den angesprochenen Hirnstrukturen darzustellen, um ein besseres Verständnis für den Ansatz des neurozentrierten Trainings zu erzeugen.

2.4 Sensorik vor Motorik (feeding pattern)

Eine wesentliche Erkenntnis, die sich aus dem letzten Kapitel ergibt, ist die entscheidende Abhängigkeit der Ausprägung eines Outputs von der Qualität der Information und der Interpretationsfähigkeit des Gehirns. Diese Erkenntnis verdeutlicht das Prinzip „Sensorik vor Motorik“, das besagt, dass die Verarbeitung sensorischer Informationen vor der Ausführung von Bewegungen erfolgen sollte. Bewegungen können nur dann optimal geplant und ausgeführt werden, wenn sich das Gehirn ein umfassendes Bild von der äußeren und inneren Umgebung macht.

Möchte man etwa einen Gegenstand ergreifen, sollte man ihn zunächst visuell lokalisieren, um nicht nur seine Position, sondern auch seine Größe, Form und Bedeutung zu erfassen. Dies hilft, die nachfolgenden Bewegungen zu planen, anzupassen und zu justieren, um z.B. den richtigen Abstand und die erforderliche Griffkraft zu wählen.

Damit das Gehirn das situative Geschehen effizient bewerten und darauf aufbauend eine Entscheidung treffen kann, müssen alle Informationen gefiltert, geordnet und koordiniert werden. Dies geschieht im Gehirn durch organisierte Aktivierungsmuster oder „Aktivierungskaskaden“. Diese werden von vielen Faktoren beeinflusst, z.B. von der individuellen Expertise, der Art der Aufgabe und dem emotionalen Zustand.

Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ist eine gängige Methode, um diese Aktivierungsmuster im Gehirn sichtbar zu machen. Dies geschieht durch die Beobachtung von Durchblutungsänderungen im Gehirn, die mit neuronaler Aktivität assoziiert sind ▶ [5]. Diese können je nach Aufgabe und Reiz variieren, zeigen aber folgende konstante Muster in der Abfolge der Aktivierungen:

von unten nach oben

von hinten nach vorn.

2.4.1 Von unten nach oben

Typischerweise beginnen die Aktivierungsmuster im Gehirn in den unteren Regionen wie Hirnstamm und Kleinhirn. Diese sind für grundlegende physiologische Funktionen wie Herzschlag, Atmung oder Gleichgewicht verantwortlich.

Weiter aufwärts verlaufen die Aktivierungswege zum limbischen System, das an der Steuerung von Emotionen, Gedächtnis und Motivation beteiligt ist. Es besteht aus Strukturen wie dem Hypothalamus, dem Hippocampus und der Amygdala.

Erst am Ende erreicht die Aktivierung den Neokortex, der für kognitive Prozesse wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Sprache, Planen und Entscheiden zuständig ist.

2.4.2 Von hinten nach vorn

Betrachtet man den weiteren Verlauf der Aktivierungsmuster, so beginnen diese meist in den hinteren Hirnrinden, wie dem Okzipitallappen oder dem somatosensorischen Kortex. Diese Regionen sind für die Verarbeitung von Sinnesinformationen aus der äußeren Umgebung zuständig. Im weiteren Verlauf setzen sich die Aktivierungsmuster in den Parietal- und Temporallappen fort, die an der Verarbeitung und Integration der sensorischen Informationen beteiligt sind. Erst am Ende erreichen die Aktivierungsmuster den Frontallappen, der für die Steuerung kognitiver Prozesse wie Entscheidungen, Planung und Aufmerksamkeit zuständig ist ▶ [7].

Dieses Prinzip bezieht sich auf den Grundgedanken, dass sensorische Informationen das ausschlaggebende Feedback für die motorische Kontrolle bereitstellen und die Möglichkeit bieten, dass Bewegungen nahezu in Echtzeit überwacht, justiert und ausgeführt werden können.

2.5 Der Stressrucksack

Im Kontext der Überlebensentscheidungen des Gehirns sind sensorische Informationen von zentraler Bedeutung, um auf situative Ereignisse der inneren und äußeren Umwelt angemessen reagieren zu können. Einschränkungen in der Qualität der Informationen können dazu führen, dass potenzielle Bedrohungen nicht oder nur unzureichend erkannt werden, was zu einer erhöhten Stressbelastung des Systems führen kann. Da die Sinnessysteme ständig aktiv sind, ist es wichtig, dass alle Sinnessysteme funktionieren, damit das Nervensystem den Anforderungen der Umwelt gerecht werden kann.

Sind etwa bei einer Person die visuelle Wahrnehmung und die vestibuläre Positionsbestimmung eingeschränkt und bestehen überdies sensorische Defizite in den Körperstrukturen, fehlen dem Gehirn Informationen, um eine situative Entscheidung treffen zu können. Jeder Informationsverlust ist daher potenziell bedrohlich.

Stress kann auch durch andere Faktoren wie Schlafmangel, das soziale Umfeld und schlechte Ernährung ausgelöst werden. Diese können im Gegensatz zu den Sinnessystemen direkt durch Verhaltensänderungen beeinflusst werden. Das bedeutet nicht, dass dies einfacher zu bewerkstelligen ist, sondern vielmehr, dass diejenige Komponente ausgewählt werden muss, die das System am stärksten belastet, um den Stress bzw. die Bedrohung für die betroffene Person am besten zu beeinflussen.

Stress kann vom Nervensystem bis zu einem gewissen Grad kompensiert werden, aber wenn die Belastung zu groß wird, ist es gezwungen, mit Verhaltensänderungen zu reagieren. Diese äußern sich in der Regel in Bewegungseinschränkungen, Verspannungen, Schmerzen, emotionalen Reaktionen oder anderen Auswirkungen. Aus Sicht der funktionellen Neurologie treten solche Kompensationsreaktionen also immer dann auf, wenn Bedrohungen oder Stressoren für das Nervensystem nicht mehr handhabbar sind.

Daraus ergibt sich die große Chance, eine Kompensationsreaktion durch Reduktion der Bedrohungssignale positiv zu beeinflussen.

Um die Reaktionen des Nervensystems auf alle einwirkenden Stressoren bzw. Bedrohungssignale zu veranschaulichen, bietet sich die Metapher des Stressrucksacks an ( ▶ Abb. 2.3).

Der Rucksack stellt die Kompensationsfähigkeit des Nervensystems dar, d.h. die Menge an Stressoren, die eine Person verarbeiten kann. Je schwerer der Rucksack wird, desto mehr wird das Nervensystem belastet, bis es ab einem bestimmten Gewicht unter der Belastung „zusammenbricht“ und ein verhaltensveränderndes Kompensationsmuster einleiten muss.

Stressrucksack.

Abb. 2.3 Mögliche Äußerungen des Organismus bei zu hoher Stresslast oder zu geringen Ressourcen.

Ein großer Teil des neurozentrierten Trainings besteht daher darin herauszufinden, welche Komponenten die größte Bedrohung darstellen, um auf dieser Ebene zu intervenieren oder ein Training zu beginnen.

Jedes System kann entscheidend sein, um Veränderungen zu erreichen. Die Praxis zeigt jedoch, dass sich die Systeme hinsichtlich ihrer Aktivierung in eine neuronale Hierarchie einordnen lassen.

2.6 Neuronale Hierarchie

Vergleicht man die Funktion aller Sinnessysteme, so ergibt sich als logische Konsequenz, dass vor allem das visuelle, das vestibuläre und das propriozeptive System für die Orientierung und Bewegung in der äußeren Umwelt dominant sind. Hören, Riechen und Schmecken spielen dabei, obwohl ihre Bedeutung keineswegs infrage gestellt wird, eine eher untergeordnete Rolle ( ▶ Abb. 2.4).

Abb. 2.4 Das visuelle, vestibuläre und propriozeptive System sowie die Atmung haben einen großen Einfluss auf die Stimulation des Gehirns.

Das visuelle System ist vor allem für die Verarbeitung einer Vielzahl von Informationen über die Umwelt zuständig. Dazu gehören visuelle Fähigkeiten wie peripheres Sehen, Kontrasterkennung, Farbe, Sehschärfe, Position und Bewegung von Objekten usw. (Kap. ▶ 9).

Das vestibuläre System liefert Informationen über Kopfdrehungen und -bewegungen und ist hauptverantwortlich für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts (Kap. ▶ 8). Obwohl die Menge der vom vestibulären System übertragenen Daten geringer sein kann als die des visuellen Systems, ist es dennoch eines der wichtigsten Steuerungssysteme des menschlichen Körpers ▶ [4].

Das propriozeptive System liefert Informationen über die Lage und Bewegung des Körpers (Kap. ▶ 7). Es spielt eine entscheidende Rolle bei der Koordination und unterstützt das vestibuläre System bei der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts.

Es ist schwierig, die Menge der vom visuellen, vestibulären und propriozeptiven System gelieferten Daten zu vergleichen, da sie unterschiedliche Arten von Informationen über unterschiedliche Nervenbahnen und Mechanismen liefern. Man geht jedoch davon aus, dass das visuelle System das dominanteste der 3 Systeme ist. An zweiter Stelle steht das vestibuläre System, gefolgt vom propriozeptiven System.

Jedes System liefert entscheidende Informationen, die im Zusammenspiel für die Gesamtfunktion des Körpers (insbesondere für die Bewegung) unerlässlich sind. So müssen z.B. visuelle Reize aus der Umwelt mit vestibulären und propriozeptiven Reizen über die Körperposition kommuniziert, verglichen und koordiniert werden. Erst wenn eine Person ein Gefühl für die Stellung der Gelenke und die Lage des Körpers im Raum hat, kann sie Entfernungen einschätzen und auf Objekte reagieren.

Betrachtet man heute herkömmliche physiotherapeutische Maßnahmen und Rehabilitationskonzepte wie Massage, Krafttraining, Stretching, Taping oder Faszientraining, so stellt man fest, dass diese fast ausschließlich auf das propriozeptive System abzielen. Dies ist zwar kein unangemessener Ansatz, jedoch werden die wesentlichen Aktivierungssysteme in der Regel weitgehend vernachlässigt oder nur unbewusst mittrainiert.

Geht man davon aus, dass das visuelle, das vestibuläre und das propriozeptive System 45 %, 35 % bzw. 20 % aller Informationen in diesen 3 Systemen liefern, trägt das propriozeptive System, selbst wenn es gelingt, die Funktionsfähigkeit des propriozeptiven Systems einer Person vollständig wiederherzustellen, nicht mehr als 20 % zur Gesamtsituation bei. Daher sollten Defizite im visuellen und vestibulären System getestet und trainiert werden, um die Gesamtsituation zu verbessern.

Ein propriozeptives Training ist wichtig, aber das visuelle und das vestibuläre Training dürfen in keinem Trainingsplan vernachlässigt werden. Problematisch wird es nicht nur, wenn die 3 Systeme fehlerhaft arbeiten, sondern auch, wenn sie sich in der Beurteilung von Situationen „uneinig“ sind. Dies führt zu sensorischen Inkonsistenzen, die wiederum dazu führen, dass das Gehirn Schutzmaßnahmen in Bezug auf den Output ergreift. Die Systeme müssen nicht nur einwandfrei funktionieren, sondern auch so synchronisiert sein, dass sie konsistente Informationen liefern. Nur so kann das Gehirn fundierte Entscheidungen treffen.

Die Grundlage für das reibungslose Funktionieren dieser Systeme ist jedoch die Versorgung mit Energie. In diesem Zusammenhang spielen die Kontrolle und das Training der Atmung eine entscheidende Rolle. Ohne ausreichende Sauerstoffversorgung können die Systeme nicht optimal arbeiten.

Im Folgenden werden daher detaillierte Test-, Trainings- und Rehabilitationsmaßnahmen für das propriozeptive, vestibuläre und visuelle System sowie für die Atmung vorgestellt.

2.7 Der neurozentrierte Therapieansatz

Durch die bisher dargestellten Grundfunktionen des Nervensystems sollte verständlich geworden sein, warum auch die Behandlung durch eine qualifizierte sportphysiotherapeutische Fachkraft einen anderen Charakter hat, wenn ein neurozentrierter Ansatz verfolgt wird. Im Gegensatz zu den klassischen Ansätzen wird das ZNS als Steuerzentrale für die „Regulation der Selbstregulation“ vollständig berücksichtigt und mit möglichst vielen Facetten integriert.

Die wesentlichen Unterschiede zwischen der neurologisch ausgerichteten Sichtweise und den klassischen Ansätzen sind in ▶ Tab. 2.1  zusammengefasst.

Tab. 2.1 

Unterschiede in den Merkmalen zwischen klassischen Therapieansätzen und dem neurozentrierten Therapieansatz.

Klassische Therapieansätze

Neurozentrierter Therapieansatz

Defizite entstehen meist entweder durch strukturelle Probleme oder durch myofasziale oder viszerale Störungsmuster.

Defizite entstehen auf unterschiedlichen, dysfunktionalen Kommunikationsebenen des Nervensystems.

Trainingsinterventionen richten sich auf problematische myofaszial, phylogenetisch, organisch oder energetisch zusammenhängende Strukturen.

Trainingsinterventionen adressieren unterschiedliche Ebenen im Nervensystem, inklusive der steuernden kortikalen und subkortikalen Hirnareale.

Trainingsinterventionen werden nur bedingt auf ihre Wirkung auf das ZNS getestet.

Jede Trainingsintervention wird auf ihre Wirksamkeit überprüft.

Einem Problem folgt oft eine Auswahl spezifischer Behandlungsmethoden oder Übungen.

Einem Problem kann keine konkrete Übung zugeordnet werden, da diese zunächst durch neurofunktionelle Tests eingegrenzt werden muss.

Trainingsinterventionen werden überwiegend im Bereich der Propriozeption ausgeführt.

Trainingsinterventionen fokussieren sich auf alle sensorischen Systeme, inklusive Propriozeption, Interozeption und Exterozeption.

Es gibt eine Unterscheidung zwischen Struktur und Funktion.

Es gibt keine klare Unterscheidung zwischen Struktur und Funktion.

Präzision ist eines der wichtigsten Prinzipien einer Intervention.

Timing und Intensität der Reizdarbietung sind ebenso wichtig wie die Präzision.

Der Trainingsansatz der funktionellen Neurologie lässt sich am besten mit der Funktionsweise eines Computers vergleichen. Diese hängt maßgeblich von seiner technischen Ausstattung ab, die aus Hardwarekomponenten wie Bildschirm, Maus, Tastatur, Motherboard, Festplatte, Grafikkarte und Arbeitsspeicher besteht. Diese bilden die physikalische Grundlage, aber ohne die passende Software ist die beste Hardware nutzlos. Erst die Software macht den Computer in seiner Funktion nutzbar. Software und Hardware sind voneinander abhängig und bilden zusammen ein Ganzes.

Ähnlich verhält es sich mit dem menschlichen Körper und dem Nervensystem. Der Körper ist wie die Hardware des Computers und das Nervensystem entspricht der Software. Wenn eine Bewegung ausgeführt werden soll, ist Muskelaktivität (Hardware) erforderlich, die nur durch die Koordination des Nervensystems (Software) möglich ist. Kommt es bei einem Computer zu Softwarefehlern oder zu einer Überlastung des Arbeitsspeichers, arbeiten bestimmte Programme langsamer oder können sogar abstürzen. Ähnlich verhält es sich mit körperlichen Funktionen und dem Nervensystem. Gibt es Probleme bei der Aktivierung oder Steuerung des Nervensystems, kann es zu Einschränkungen bei der Kraftentwicklung, Ausdauer und Konzentration kommen. Auch ein erhöhtes Schmerzempfinden, Fehlhaltungen oder Muskelverspannungen können die Folge sein.

Bei einem Computer würde man bei Funktionseinschränkungen zunächst ein Software-Update durchführen, bevor man die Hardware auf Defekte überprüft. Klassische Therapiemaßnahmen setzen dagegen oft an der Struktur an, ohne vorher die Funktion der Software zu überprüfen. Ansätze, die sich nur auf die Hardware beziehen, sind daher nur begrenzt wirksam. Insbesondere wenn ein Problem auf eine Fehlfunktion der Software zurückzuführen ist, kann es nur durch eine gezielte Behandlung des Nervensystems behoben werden.

2.8 Angewandte Neurologie – Möglichkeiten und Grenzen in der Sportphysiotherapie

Daniel Müller, Dominik Suslik

Die Einsatzgebiete der angewandten Neurologie in der Sportphysiotherapie sind vielfältig. Die hier vorgestellten Methoden sind sowohl zur Prävention als auch in der Rehabilitation, zur Leistungssteigerung und zur Regeneration relevant. Auch in der Akutbehandlung gibt es einige Möglichkeiten, insbesondere mit sensorischer Arbeit und Atemübungen. Je nach Situation können auch höhere neuronale Systeme wie z.B. das visuelle System angesprochen werden. Dies hängt jedoch stark von der jeweiligen Verletzung und den Beschwerden ab. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass je größer die strukturelle Schädigung des Bewegungsapparates ist, desto eher sind klassische sportphysiotherapeutische Methoden das Mittel der Wahl.

2.8.1 Anwendungsmöglichkeiten nach Ansatzpunkten sportphysiotherapeutischen Handelns

2.8.1.1 Prävention

Aus präventiver Sicht spielt die Balance des Muskeltonus eine wesentliche Rolle, sodass es hier auf eine regelmäßige sensorische und motorische Aktivierung ankommt. Ein gut ausbalanciertes sensorisches und motorisches Bewegungssystem kann ein gesundes Aktivierungsniveau des Kleinhirns und der kortikalen Strukturen gewährleisten. Dadurch können auch neuromuskuläre Kompensationsmuster, die aus vergangenen Verletzungen resultieren, neutralisiert werden, was eine präventive Wirkung hat. Die neuromuskuläre Leistungsfähigkeit ist bekanntermaßen ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung von Verletzungen, daher ist die Optimierung der neuromuskulären Kontrolle ein wesentlicher Punkt in der Prävention, da hierdurch eine höhere Bewegungseffizienz möglich ist. Gängige Trainingsformen wie funktionelles Training, klassisches Krafttraining oder auch Beweglichkeits- und Flexibilitätstraining bieten eine hervorragende strukturelle Basis, die durch komplexe Gelenkbewegungen und sensorische Aktivierung sehr gut ergänzt werden kann, um auch das Gehirn mit weiterführenden Reizen zu trainieren. Es ist belegt, dass durch visuelles Training insbesondere Stürze vermieden und Gehirnerschütterungen reduziert werden können. Schließlich kann durch eine vielfältige kortikale Aktivierung, sei es durch neue Bewegungsformen oder durch visuelle Reize, eine Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, der Reaktionsgeschwindigkeit, der Entscheidungsfindung und der Informationsverarbeitung erreicht werden, was sich in einer Verringerung von Ermüdungsverletzungen widerspiegeln kann.

2.8.1.2 Erste Hilfe, Akutversorgung und Management vor Ort

Wie oben kurz angedeutet, können die in diesem Buch vorgestellten Methoden bei jenen akuten Problemen helfen, bei denen die neurogene Beteiligung der jeweiligen Einschränkung überwiegt und strukturelle Gegebenheiten eine untergeordnete Rolle spielen, z.B. bei Muskeltonusproblemen, Bewegungseinschränkungen, Stabilitätsproblemen oder Aktivierungsdefiziten, reaktivierten Schmerzen oder Stresssituationen sowie bei Konzentrations- oder Entscheidungsproblemen.

So kann z.B. ein gut gewählter motorischer Drill in Verbindung mit einer Nervenmobilisation und einer Kopplung über eine Blickbewegung bei der Normalisierung des Muskeltonus wirkungsvoller sein als eine gezielte Massage oder eine Weichteiltechnik. Dies ist meist dann der Fall, wenn eine Person mehrere neurofunktionelle Defizite aufweist, die sich dann immer wieder in der Belastung manifestieren.

Neurozentrierte Methoden können auch bei akuten muskulären Problemen eine wichtige Rolle spielen, solange die Verletzung nicht über eine neuromuskuläre Läsion hinausgeht. Auch die vorgestellten Bandtechniken sind hier sehr hilfreich. Bei Athletinnen und Athleten mit geringeren Defiziten sind klassische sportphysiotherapeutische Maßnahmen in der Regel die bessere Wahl, da hier meist auf der Ebene des Gewebes oder des Stoffwechselsystems gearbeitet werden muss. Liegt ein struktureller Schaden vor, z.B. ein Muskelfaserriss oder eine Gelenkprellung, ist die Priorität des Nervensystems natürlich verschoben und die direkte Behandlung der verletzten Struktur ist dann meist deutlich effizienter.

Die in diesem Buch vorgestellten Methoden zur Erfassung der Funktionalität des vestibulären und visuellen Systems können als Bausteine innerhalb einer Testbatterie zur Entscheidungsunterstützung bei der Akutversorgung von Gehirnerschütterungen eingesetzt werden. Wenn keine stärkere Symptomprovokation auftritt, kann es bei einer akuten Gehirnerschütterung indiziert sein, die entsprechenden Teilfunktionen direkt zu reaktivieren. Schließlich sind noch parasympathische und auch aktivierende Atemtechniken zu nennen, die in einer akuten Schmerzsituation zur Reduktion des subjektiven Schmerzempfindens beitragen können.

2.8.1.3 Rehabilitation