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Maria Lang, die schwedische Agatha Christie!
Ein paar unbekümmerte Sommertage auf einer einsamen Insel im See. So war der Plan. Bis die erste Leiche versteckt in den Wäldern liegt ...
Der Debütroman von Schwedens Krimikönigin. Der besondere Krimi zu Mittsommer.
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Seitenzahl: 373
Zum Buch
Eine einsame Insel in Schweden mitten in einer reizvollen Seenlandschaft. Ein Paradies für gestresste Städter und nun, so kurz vor Mittsommer, der ideale Ort für eine Handvoll Gäste, die sich hier im aparten Sommerhaus des Historikers Rutger Hammar versammelt haben. Sie sind gekommen, um ausgiebig zu tanzen, zu schwimmen, delikat zu essen und anregende Gespräche zu führen. Die Stimmung ist ein wenig frivol und überaus locker. Aber plötzlich wird aus dem vermeintlichen Spiel blutiger Ernst – denn eines Morgens ist einer von ihnen tot, was heißt, dass ein anderer von ihnen zum Mörder geworden sein muss. Nur wer? Und warum? Klar ist nur eins: lügen tun sie alle …
Zur Autorin
Maria Lang (1914–1991, eigentlich Dagmar Maria Lange) gilt als erste Krimikönigin Schwedens. 1949 debütierte sie mit »Nicht nur der Mörder lügt«, danach veröffentlichte sie bis 1990 jedes Jahr ein weiteres Buch, insgesamt 42. »Nicht nur der Mörder lügt« sowie »Tragödie auf einem Landfriedhof« (ebenfalls bei btb) gehören zu den sechs Lang-Romanen, die 2013 in Schweden neu verfilmt wurden und gerade international wieder entdeckt werden.
Maria Lang
Nicht nur der Mörder lügt
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Leena Flegler
MITWIRKENDE
Puck Ekstedt, Professorentochter, Studentin der Literaturwissenschaft und schwer verliebt in
Einar Bure, hochanständiger Historiker mit braunen Augen und Hang zur Kriminalliteratur.
Rutger Hammar, frischgebackener Doktor der Literaturwissenschaft sowie Besitzer eines Sommerhauses in Bergslagen.
Ann-Sofi Hammar, geborene Lilliebiörn, dessen blonde und hochsensible Gattin.
Carl Herman Lindensiöö, erfolgreicher zeitgenössischer Dichter.
Lil Arosander, geborene Arosander, extravagante Tochter des Geschäftsführers von A. B. Lyxfilm.
Jojje (George) Malm, aufgehender Stern am Lyxfilm-Himmel. Nordischer Adonis mit spektakulärem Körper und recht wenig Hirn.
Marianne Wallman, geheimnisumwobene, temperamentvolle Bildhauerin und Kunsthistorikerin.
Viveka Stensson, Studentin der Literaturwissenschaft, mit viel Sinn für Humor und wenig Sinn für ihre Examensarbeit.
Pyttan Hammar, siebzehnjährige Gymnasiastin aus Stockholm, die genau weiß, was sie will.
Christer Wijk.
PROLOG
An einem sommerlichen Frühstückstisch in Uppsala.
Bedächtig breitete Johannes M. Ekstedt, Professor der Ägyptologie, seine Stoffserviette aus. Über die Brillengläser hinweg warf er seiner einzigen Tochter einen besorgten Blick zu.
»Liebes, irgendwie gefällt mir das nicht. Du kennst diese Leute doch kaum. Und dann noch auf einer Insel fernab der Zivilisation …«
»Meine Güte, Bergslagen liegt doch mitten in Schweden. Und wenn du nicht ständig mit deinen alten Kopien beschäftigt wärst …«
»Es ging um einen neu entdeckten Hieroglyphentext, mein Kind! Der wirklich …«
»… wüsstest du, dass ich in letzter Zeit häufiger von Rutger Hammar erzählt habe.«
»Hammar? Hm. Ist das dieser Stockholmer, mit dem du in der Landings-Konditorei Kaffee getrunken hast, statt an der Carolina zu sitzen und zu studieren?«
»Darf ich dich an zwei Dinge erinnern? Rutger Hammar hat seine Doktorarbeit über Fredrika Bremer geschrieben. Deine Tochter versucht gerade – im Übrigen nicht sonderlich erfolgreich –, ihre Diplomarbeit über ebendiese fantastische Schriftstellerin fertigzustellen. Und sollte diese Arbeit irgendwann einmal in ferner Zukunft geschrieben sein, dann nur dank Rutgers und meiner Cafébesuche im Landings. Abgesehen davon ist er ein schrecklich netter Kerl, und seine Frau ist ebenfalls wahnsinnig …«
»Ich wusste gar nicht, dass du sie kennst.«
»Doch, doch, von seiner Promotionsfeier.«
»Und jetzt haben die Hammars dich also in ihr Sommerhaus nach Bergslagen eingeladen?«
»Ja, und ich begreife wirklich nicht, was daran so schlimm sein soll. Ich fahre mit dem Zug bis nach Forshyttan, und dort holt Rutger mich mit dem Boot ab. Lillborgen befindet sich auf einer Insel mitten im See. Ansonsten ist die Insel unbewohnt …«
»Und bis zum nächsten Nachbarn sind es zig Kilometer! Ich finde ja, das klingt nur bedingt bequem. Wie in aller Welt kommt man auf die Idee, sich ein derart abgelegenes Sommerhaus anzuschaffen?«
»Rutgers Eltern wohnen ein paar Kilometer hinter Forshyttan auf Borg. Und Ann-Sofi stammt auch aus der Gegend.«
»Und was ist mit den anderen Gästen? Wer ist sonst noch eingeladen?«
»Oh, einen von ihnen dürftest du sogar kennen, auch wenn er eher in meinem Alter ist: Carl Herman Lindensiöö.«
»Hm. Mit dem hast du’s wohl. Verquere Verse über die Natur und die Liebe …«
»Die sind überhaupt nicht verquer! Carl Herman Lindensiöö ist derzeit der beste zeitgenössische Dichter, den wir haben! Außerdem ist er Doktor der Literaturwissenschaft, auch wenn ich mich frage, wie er das geschafft hat, er kann ja noch nicht einmal dreißig sein … Na ja, und dann kommen noch zwei Studenten aus Stockholm. An Lil Arosander kann ich mich ehrlich gesagt nicht mehr allzu gut erinnern, ich weiß nur noch, dass sie rote Haare hat und irrsinnig gut aussieht. Und dann dieser Bure, Einar Bure.«
»Aha?«
»Ja, ja. Er saß bei der Promotionsfeier neben mir. Ich glaube, er kennt Rutger noch aus Kindertagen. Groß, schlank, braune Augen … sehr braun … Was gibt’s denn da zu lachen?«
»Nichts, Liebes, gar nichts. Fahr nur, ich hör schon auf. Aber es wird einsam werden ohne dich.«
»Du bist ein Schatz! Du verstehst doch, dass ich es bei dieser Hitze kaum erwarten kann, aus Uppsala rauszukommen? Mach dir mal keine Sorgen. Auf Lillborgen ist es um einiges ruhiger und schöner als in einem dieser schicken Badeorte.«
Der Professor steckte seine Serviette zusammen und meinte dann prophetisch: »An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher …«
ERSTES KAPITEL
Es war unerträglich heiß, und ich wusste, dass mein Gesicht glänzte, meine Frisur im Eimer war und mein Kleid völlig zerknittert, als ich am Mittwochnachmittag endlich in Forshyttan ankam. Der altersschwache Zug hielt mit einem Ruck und einem tiefen Seufzer an, und mein Herz tat einen Sprung, als ich auf dem Bahnsteig neben Rutger den braun gebrannten, lächelnden Einar entdeckte. Sie hatten beide weiße Shorts und kurzärmelige Hemden an. Rutger, ohnehin schon groß gewachsen, sah in dieser Aufmachung ziemlich massiv aus. Er hatte mal erwähnt, dass er »nur« eins neunzig groß war, aber er hatte nie davon gesprochen, wie viel er wog. Ich nehme an, zu viel, denn auch wenn er trotz allem sportlich und gut durchtrainiert wirkte, hatte er im Verhältnis zu seiner Körpergröße ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Während er in seinem weißen Dress auf mich zuschritt, schoss mir kurz durch den Kopf, wie ungeheuer anstrengend es für ihn sein musste, diesen enormen Körper in Gang zu setzen, und auf einmal begriff ich, weshalb er hin und wieder diese für ihn so charakteristische Antriebslosigkeit an den Tag legte. Die außergewöhnlich hellgrauen Augen in seinem großen Gesicht waren allerdings überaus wach und rege, als er mir ein fröhliches Willkommen entgegenrief. Er sah beneidenswert frisch und ausgeruht aus. Sein glattes, dunkles Haar war akkurat zurückgekämmt.
Einar sah dünner aus als bei unserer letzten Begegnung, da hatte er einen Frack getragen, aber es mochte genauso gut an dem Gegensatz zu Rutgers überwältigender Gestalt liegen. Selten hatte ich mir so sehr gewünscht, ein paar Zentimeter größer zu sein. In meinen flachen Sandalen reichte ich keinem der beiden Herren auch nur bis zur Schulter.
Wir bogen in einen Waldweg ein, und während ich lachte, sie löcherte und ihre Fragen beantwortete, versuchte ich mir darüber klar zu werden, weshalb ich mich beim bloßen Anblick von Einars braunen Augen fühlte wie ein frisch verliebtes Schulmädchen. Wir hatten uns zuvor erst ein einziges Mal getroffen – auf Rutgers Promotionsfeier –, und da hatte sein Verhalten wirklich keinen Anlass zu irgendwelchen romantischen Fantastereien gegeben; im Gegenteil, wie ich mit einer gewissen Enttäuschung, Kummer und einer ordentlichen Portion gekränkter weiblicher Eitelkeit eingestehen musste: Er hatte nicht einmal den Versuch unternommen, mich zu küssen, obwohl wir einander bis fünf Uhr morgens nicht von der Seite gewichen waren. Und sofern die universitären Umgangsformen in der Hauptstadt sich nicht gänzlich von denen in Uppsala unterschieden, war dies wohl ein unmissverständliches und niederschmetterndes Zeichen. Hier, unter den hohen Kiefernkronen, war ich trotzdem aufgekratzt und glücklich, dass ausgerechnet er sich hinter mir mit meiner Reisetasche abplagte …
Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen, denn ganz plötzlich traten wir unter den Bäumen hervor, und vor meinen entzückten Augen breitete sich der spiegelblanke, einladende Uvlången aus, und nur wenige Augenblicke später saß ich bequem in Rutgers elegantem Motorboot, das in dem ruhigen Wasser kleine Wellen hinter sich herzog, während wir auf ein dunkles Ufer auf der anderen Seite des Sees zuhielten, das ich zunächst für das gegenüberliegende Festland hielt, das sich aber als Rutgers Insel entpuppte.
»Wie heißt sie eigentlich?«
»Es ist die einzige Insel im See, daher heißt sie hier in der Gegend einfach nur Insel. Im Verhältnis zum See selbst ist sie erstaunlich groß. Wir haben dort sowohl Berge als auch Wald …«
Rutger fuhr fort, von der Insel zu erzählen, und der Stolz und die Liebe zu ihr waren seinen wohlbedachten, ein wenig trockenen Worten deutlich anzuhören. Noch ehe ich auch nur einen Fuß auf die Insel gesetzt hatte, war ich über ihre Besonderheiten und die Sehenswürdigkeiten der Umgebung bestens informiert.
Wie ich erfuhr, war der Uvlången ein in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlicher See. Seine Kontur entsprach der einer riesigen Birne, wobei das nördliche Ufer, das wir gerade hinter uns gelassen hatten, die Spitze darstellte. Dort floss der Forshytte in den See, dort war die größte Siedlung. Ein Stück weiter das Ufer hinab stand ein uralter Hof, Uvfallet; und ein paar Kilometer tiefer in den Wald hinein befand sich, wie ich bereits wusste, das Dorf Forshyttan mit dem Bahnhof, der Post, einem Telefonhäuschen und einem kleinen Lebensmittelladen. Die übrige Uferlinie war dicht bewaldet und unbebaut. Der Uvlången erstreckte sich schnurgerade gen Süden, und tief im Südosten öffnete der See sich zu einem weiteren kleinen Flüsschen, der sich wiederum nur wenige hundert Meter tiefer im Wald in den sogenannten Lillsjö ergoss: eine wahre Goldgrube, sowohl was Fische als auch was Krebse anging.
Der Uvlången war insgesamt fast zehn Kilometer lang. Dennoch gab es eigenartigerweise nur die eine große Insel, die im südlichen Teil des Sees lag. Die Insel erstreckte sich fast über die gesamte Breite des unteren Endes des birnenförmigen Sees; von keinem der Seeufer – sei es in südlicher, östlicher oder westlicher Richtung – war sie mehr als achthundert Meter entfernt. Dafür war es von Uvfallet bis zur Insel umso weiter – gute fünf Kilometer.
Das Motorboot hatte mittlerweile ordentlich Fahrt aufgenommen, und die Felsen am Nordufer der Insel türmten sich immer höher aus dem Wasser auf. Von einem »Berg« zu sprechen, wie Rutger es getan hatte, war nicht übertrieben gewesen. Lächelnd deutete er zu der Steilküste hinüber.
»Es ist wirklich ganz leicht, sich auf der Insel zurechtzufinden – im Großen und Ganzen ist sie nämlich fast viereckig, wenn man von ein paar wenigen kleinen Buchten und Landzungen absieht. Und um es unseren Gästen so einfach wie möglich zu machen, haben wir die Sehenswürdigkeiten in alle vier Ecken verteilt. Dort drüben in der nordwestlichen Ecke siehst du den Aussichtsberg. Von dort hat man einen fantastischen Blick über den gesamten Uvlången. Im Nordosten gibt es einen noch schrofferen Berg namens Steilhang. Pass auf, gleich fahren wir daran vorbei. Und unten im Südosten liegt mein kleiner Hafen.«
Wie angekündigt umrundeten wir in diesem Moment die steile nordöstliche Spitze der Insel, und verblüfft, sogar ein wenig erschrocken, schrie ich kurz auf. Direkt vor uns erhob sich eine jähe Felswand aus dem Wasser, und Einar schien direkt darauf zuzuhalten … Erst als ich zu ihm hinüberblickte und seinen amüsierten Gesichtsausdruck wahrnahm, schwante mir, dass er einen kleinen Extraschwenker gemacht hatte, um mir einen Schrecken einzujagen. Aber da war es schon zu spät, da hatte ich bereits geschrien.
Wir umrundeten eine weitere Landzunge und fuhren sachte in eine große, windgeschützte Bucht hinein. An einem langen Bootssteg lag ein hinreißendes kleines Segelboot Seite an Seite mit einem weiß gestrichenen Ruderboot.
Ein schmächtiger Mann mit einem dunkelblonden Lockenkopf blickte uns vom Bootssteg aus entgegen. Er hatte lediglich graugrüne Shorts an, und mit seinen auffallend weichen Gesichtszügen und den jungenhaften blauen Augen sah er sehr jung und ganz und gar nicht berühmt aus. Sofort empfand ich die gleiche spontane Sympathie und fast schon zärtliche Bewunderung für Carl Herman Lindensiöö, die ich auch seinen Gedichten entgegenbrachte. Mit aufrichtiger Freude ergriff ich seine Hand, die mich behutsam auf den Steg zog.
»Willkommen im Zauberwald, Puck!«
… Wir gingen bereits eine ganze Weile, als mir etwas in den Sinn kam.
»Rutger, welche Sehenswürdigkeit befindet sich eigentlich in der vierten Ecke deiner Insel? In der südwestlichen? Die hast du vorhin überhaupt nicht erwähnt.«
»Wenn du diese Straße hier ein Stückchen weiterwanderst, siehst du es mit eigenen Augen.«
Carl Herman legte mir den Arm um die Schulter. »Hast du bemerkt, Puck, dass Rutger sich hier und da ein wenig merkwürdig ausdrückt? Wenn er von ›Straße‹ spricht, meint er tatsächlich den Pfad, auf dem wir gerade wandeln und der sich vom Bootssteg hinauf zum Sommerhaus schlängelt. Sehr unpraktisch im Übrigen, das Boot ganze zwei Kilometer vom Haus entfernt anzulegen! Manchmal spricht er auch von den zwei Inselwegen; der eine führt zum Aussichtsberg, der andere zum Steilhang, aber versuch bloß nicht, sie zu finden, wenn du in deinen jungen Jahren noch Zukunftspläne haben solltest!«
»Mich wiederum interessiert etwas ganz anderes«, warf Einar ruhig ein. »Woher nimmst du eigentlich die Inspiration für deine sogenannte Naturlyrik? Sicher nicht aus der Natur, oder sehe ich das falsch?«
»Seine Liebesgedichte sind leichter verständlich«, fügte Rutger grinsend hinzu.
Auf einmal ging die »Straße« direkt vor einer großen Eberesche zu Ende, und mir ging auf, dass Rutger sich das Beste für zuletzt aufbewahrt hatte. Die gesamte Landzunge, die vor uns lag, war dicht von weichem Gras bewachsen. Ein riesiger ziegelroter Sonnenschirm warf nur unzureichend Schatten über einen grünen Tisch, um den ein Sofa und Stühle gruppiert waren, und locker über den sattgrünen Rasen verteilt leuchteten ebenfalls ziegelrote Liegen und Sonnenstühle wie große Blumen inmitten des Grüns. Ganz oben am Waldrand stand Lillborgen, ein einstöckiges, solide gebautes, wunderschönes Sommerhaus aus dunkel gebeiztem Holz. Mit dem Nadelwald im Rücken und dem Rasen und dem Wasser davor wirkte es auf mich wie der wahr gewordene Traum eines Sommersitzes. Ich blickte in Rutgers erwartungsfrohes Gesicht.
»Wow!«
Der Neid in meiner Stimme, so viel war klar, stellte den stolzen Besitzer voll und ganz zufrieden.
Wir waren in der Bucht unterhalb von Lillborgen schwimmen gewesen und saßen nun auf dem breiten Steg und plauderten, als ich plötzlich bemerkte, dass Ann-Sofi weg war.
»Ich habe sie doch gerade noch gesehen. Wo ist sie denn abgeblieben?«
»In der Küche natürlich. Es ist immerhin schon nach sechs Uhr.«
»Und ihr lasst sie dort einfach so alleine vor sich hinwerkeln?«
Ich warf den drei Kerlen einen verächtlichen Blick zu und stapfte den weitläufigen Rasen hinauf. Ohne an meine nassen Badesachen zu denken, umrundete ich das Haus und stürmte zu Ann-Sofi in die Küche.
»Warum hast du denn keinen Ton gesagt? Kann ich dir helfen?«
Ann strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und lachte. »Nein, in ein paar Minuten ist alles fertig – wenn ihr so weit seid …«
Sie hatte etwas sehr Frisches an sich, wie sie da so stand in ihrem Rock mit Blumenmuster und den von der Ofenhitze geröteten Wangen. Ann-Sofi Hammar war so schwedisch-blauäugig, blond und langbeinig, wie ich es immer schon hatte sein wollen. Wenn ich sie ansah, hatte ich Tegnérs Romanfigur Ingeborg vor Augen: die gleiche kühle nordische Schönheit, aber auch die gleiche unbestimmte, schwer fassbare Persönlichkeit oder vielmehr Nichtpersönlichkeit. Nichts, was sie in meiner Anwesenheit bislang getan hatte, hatte mir einen Einblick in ihr Innenleben gewährt. Zweifelsohne war sie die Stillste von uns allen, aber es war schwer zu sagen, ob dies daran lag, dass sie schüchtern oder zurückhaltend war, oder ob sie schlicht und ergreifend nichts zu sagen hatte. Irgendwie passte sie nicht wirklich zu uns und unserem Universitätsgerede, und ich konnte sie mir ehrlich gesagt nur mit Mühe als Rutgers Ehefrau vorstellen.
»Du hältst dich lieber in deiner Küche auf, nicht wahr?«, versuchte ich, ein Gespräch anzuknüpfen.
»Das ist ja auch meine Aufgabe. Ich bin nicht so intellektuell und künstlerisch begabt wie ihr. Ich bin eher bodenständiger Natur. Du kennst das sicher noch aus der Schule: die Mitschülerin mit den mittelprächtigen Noten; ein Englandaufenthalt, und dann ab in die Hauswirtschaftsschule. Außerdem lasse ich nur ungern Gäste in meine Küche – in mein Heiligtum. Du brauchst also kein schlechtes Gewissen zu haben.«
Nachdem sich mein Einsatz, Ann-Sofi beim Zubereiten des Abendessens zu helfen, darauf beschränkt hatte, eine große Pfütze auf ihrem blitzblanken Küchenboden zu hinterlassen, zog ich mich zurück, um mir etwas Trockeneres, Anständigeres anzuziehen.
Etwa fünfzig Meter hinter Lillborgen verbargen sich zwischen den Kiefern zwei kleinere Nebengebäude. Das linke diente als Holz- und Vorratsschuppen, das andere beinhaltete drei schlichte, gemütlich und praktisch eingerichtete Gästezimmer mit je zwei Betten. Die Zimmer hatten alle einen eigenen Eingang; es gab keine Verbindungstüren dazwischen. Einar und Carl Herman hatten den hintersten Raum in Beschlag genommen und mir die Wahl zwischen den beiden anderen überlassen, und aus einem vagen Gefühl heraus, dass der Wald hinter dem Fenster tief und dunkel war, hatte ich mich für das mittlere Zimmer entschieden. Es wirkte am geschütztesten, und außerdem befand ich mich darin in unmittelbarer Nähe der beiden Männer. Die Wand, die die beiden Räume trennte, war gerade so dick, dass ich ihre beruhigenden Stimmen und ihr Lachen hören konnte.
Ebendieses Lachen klang im Übrigen noch heiterer als sonst, als ich das Gästehaus betrat, um mein nasses Badezeug auszuziehen. Sie verstanden sich offensichtlich außerordentlich gut, die beiden, und ich lächelte glücklich in mich hinein, während ich in meine sonnengelben Shorts stieg und eine weiße Bluse überstreifte. Der Mann, in den ich verliebt war, und der große Dichter, den ich bewunderte, atmeten, gingen und lachten keine zwei Meter von mir entfernt. Das Leben war wunderbar und die unmittelbare Zukunft voller Verheißungen.
Hoffnungsfroh nickte ich dem Mädchen im Spiegel zu. Das Bild, das ich vor Augen hatte, erfüllte mich zumindest im Moment einigermaßen mit Zufriedenheit. Ich hatte mich schon seit Langem damit abfinden müssen, dass ich ein paar Zentimeter zu klein war, um je als gut aussehend durchzugehen. Aber ich hatte eine gute Figur, und das gestand ich mir sogar selbst ein, ohne dass mir dies irgendein Mann hätte ins Ohr säuseln müssen. Nach ägyptischen oder griechischen Maßstäben ginge mein Gesicht nicht als klassisch schön durch, aber meine Nase war gerade, und die Augen – seit Kindertagen mein ganzer Stolz – waren so dunkelblau, dass sie manchmal sogar für schwarz gehalten wurden. Vermutlich waren es ausgerechnet meine Augen – und eine gewisse Wildheit –, die meinen Vater, als ich klein war, an Shakespeares unberechenbaren kleinen Waldgeist erinnert hatten, woraufhin er meinen steifen Taufnamen durch den Kosenamen ersetzt hatte, mit dem ich seither angesprochen wurde. Ich wickelte mir ein weißes Tuch um die kurz geschnittenen schwarzen Locken und stellte zufrieden fest, dass meine Gesichtshaut den gleichen warmen, dunklen Teint angenommen hatte, der mich manchmal fragen ließ, ob nicht auf irgendeine mystische Weise doch ägyptisches Blut in meinen Adern floss. Obwohl mein Teint nicht annähernd so dunkel war wie der von Einar …
Carl Herman trällerte ein Lied über eine Sommerverlobung, und ich verließ mein Zimmer, noch ehe er an der Stelle angelangt war, da der November allem ein Ende setzte.
Ich folgte dem schmalen Trampelpfad hinauf zum Sommerhaus und umrundete es im Osten. Hinter dem Giebel lagen Anns und Rutgers Schlafzimmer – ich meinte, Rutgers Schultern hinter dem Fenster vorbeihuschen zu sehen – sowie die kleine Bibliothek mit den bücherbestandenen Wänden. Als ich die Rasenfläche vor dem Haus erreichte, blieb ich kurz stehen, um die wunderbare Aussicht in vollen Zügen zu genießen. Das Gras funkelte grün, das Wasser blitzte dunkelblau, und der Himmel war schier unbegreiflich hoch und klar. Die Bäume am gegenüberliegenden Ufer wirkten unfassbar nah.
Ann trat in die Tür. »Ich habe den Tisch drinnen gedeckt. Ich dachte, es wäre zu kühl draußen. Kommt ihr?«
Der größte Teil von Lillborgen wurde von dem geräumigen, überaus gemütlichen Aufenthaltsraum eingenommen. Zwei große Fenster gingen – mit Blick auf das Gästehaus zwischen den Bäumen – gen Norden; breite Schiebetüren öffneten sich zur südlichen Seite und zum Wasser hin. Wenn diese Türen wie jetzt gerade zur Seite geschoben waren und auch die Fenster sperrangelweit offen standen, war es tatsächlich beinahe kühl. Zu beiden Seiten des großen offenen Kamins an der östlichen Wand führten Türen ins Schlafzimmer beziehungsweise in die Bibliothek. Dieser Wand gegenüber lagen die Küche und eine kleine Kammer.
Wir anderen hatten uns bereits über Ann-Sofis Leckereien hergemacht, als endlich auch Carl Herman zu uns stieß. Er sang »I never was kissed before«. Für einen tiefsinnigen, ernsthaften Dichter besaß er eine bemerkenswert gute Kenntnis zeitgenössischer, nicht allzu tiefsinniger Schlager.
In seiner hellgrauen langen Hose und dem grauen Seidenhemd mit einer koketten kleinen Fliege in der Farbe seiner leuchtend blauen Augen war er auffällig warm und förmlich gekleidet. Im Gegensatz zu ihm wirkten wir anderen mit unseren bloßen Hälsen und Beinen fast schon nackt.
»Warum in aller Welt …«, setzte ich an. »Hast du das Thermometer falsch abgelesen?«
Rutger lachte. »Er hat sich rausgeputzt, weil er nach Forshyttan fährt, um einzukaufen und die Post abzuholen … und Lil.«
»Aber …«
»Du kennst Lil noch nicht«, seufzte Einar und streckte sich nach einem neuen Bier. »Dafür kennt Carl Herman sie umso besser.«
Zu meiner großen Verwunderung sah ich, dass Carl Herman errötete. Einmal mehr wirkte er wie ein schüchterner, ein wenig linkischer Schuljunge, und plötzlich hatte ich den Verdacht, dass wir ihn zu grob behandelten.
»Meine Meinung von Einar scheint sich gerade ins Gegenteil zu verkehren«, sagte ich. »Ich dachte immer, er wäre ein ernsthafter, sachlicher Wissenschaftler, aber er scheint mir ein veritables Lästermaul zu sein. Oder wie verhält es sich genau – ihr kennt ihn besser als ich.«
Carl Herman warf mir einen dankbaren Blick zu und antwortete: »Armes, unwissendes Ding! Du kennst Einars dunkles Geheimnis nicht. Du weißt nicht, dass er tief im Innern ein perverser Mistkerl ist, dessen morbide Neigungen zum Himmel stinken! Um der Wahrheit die Ehre zu geben, führt er so etwas wie ein Doppelleben – Doktor Jekyll und Mister Hyde, you know.«
»Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend«, warf Rutger ein und lachte. »Kommilitone Bure und Herr Ejnarskog. Simsalabim!«
Ich verstand sekündlich weniger, wovon sie sprachen, und wandte mich direkt an den besagten Doppelherren. »Worum geht es hier eigentlich? Drehst du durch, wenn Vollmond ist, und rennst hinaus und beißt jungen Mädchen in den Hals? In diesem Fall möchte ich ausdrücklich darum bitten, nicht länger Wand an Wand mit dir wohnen zu müssen. Oder hast du etwa bei irgendeiner Gelegenheit einmal versucht, den hinreißenden, arglosen Carl Herman zu erdrosseln?«
Einar seufzte. »Es ist wohl an der Zeit für die grausame Wahrheit. Allerdings finde ich es wirklich unfein von euch, meinen schlechten Leumund bis nach Uppsala zu verbreiten. Die Sache ist die … also … ich habe im vergangenen Jahr einen Kriminalroman herausgebracht.«
Rutger sprang ihm zur Seite. »Einen richtig heftigen, wenn wir mal ehrlich sein wollen! Unter dem Pseudonym Ejnar Ejnarskog.«
»Moment mal«, sagte ich atemlos, »den kenne ich doch! Der Titel lautete …«
»Mord in der Sternwarte. Ich habe ein Jahr als Lehrer in der Provinz gearbeitet und hatte dort keine Möglichkeit, meine Promotion voranzubringen, da habe ich mir die Zeit mit diesem Roman vertrieben. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Krimis. Außerdem ist einer meiner besten Freunde Kriminalkommissar, und mit ihm habe ich diverse Dinge diskutiert. Natürlich wollte ich ihn nicht unter meinem richtigen Namen veröffentlichen. Wir haben zwar einen einigermaßen fortschrittlichen Professor, aber man schreibt nicht erst einen Krimi und meuchelt darin acht Menschen und widmet sich dann seiner Doktorarbeit über die Offenbarungen der Heiligen Birgitta, wenn Letzteres ernst genommen werden soll. Und jetzt versuche ich eben, meine mörderischen Instinkte ein wenig zu beherrschen und mich Birgitta von Schweden zuzuwenden.«
»Du scheinst dich trotzdem nach diesen weniger hehren Sphären zurückzusehnen«, sagte Rutger mit einem breiten Grinsen.
Carl Herman seufzte. »Schaut euch Puck an, wie sie dasitzt und ihn anhimmelt! Was nützt all die Anstrengung, Gedichte über die Liebe und den Wachtelkönig zu verfassen, wenn man von so einem Schreiberling aus dem Rennen geworfen wird?«
So ging das Abendessen beschwingt weiter. Irgendwann machte sich Carl Herman zum Aufbruch bereit, ausgerüstet mit langen Einkaufslisten und noch längeren Ermahnungen vonseiten Anns, die offenbar von seinen praktischen Fähigkeiten nicht allzu viel hielt. »Denk dran: Milch und Eier bekommst du bei Larssons auf Uvfallet, dann holst du das Paket im Laden ab und lässt diese Liste dort, damit wir übermorgen unsere Bestellung abholen können. Nimm die Hintertür, weil er sicher schon zugesperrt hat. Und die Post …«
»Und Lil! Vergiss Lil nicht!«, rief Einar dazwischen.
Die Sonne sank bereits über den Horizont, und unter dem großen ziegelroten Sonnenschirm draußen auf dem Rasen servierte Ann Kaffee. Carl Herman war kaum verschwunden, als das Gespräch erneut auf Lil kam.
»Ich muss zugeben«, sagte Ann, »ich habe ein bisschen Bammel, diese ach so berühmte Lil hier bei uns zu haben. Ich frage mich, ob sie nicht einen Hauch zu extravagant für uns ist.«
»Mach dir keine Gedanken«, sagte Rutger. »Wenn sie an der Rolle des Naturkinds Gefallen findet, spielt sie sie sogar con amore!«
»Ihr kennt sie also alle?«, fragte ich. »Und nur ich weiß mal wieder nicht, was mir bevorsteht. Gebt mir wenigstens ein paar Hinweise zur Vorbereitung!«
Ann schüttelte den Kopf, und ich meinte, ihre Stimme klinge ein wenig kühler als sonst, als sie antwortete: »Ich kenne sie eigentlich gar nicht. Ich habe sie überhaupt erst ein einziges Mal getroffen, und das war bei Rutgers Promotionsfeier.«
Ich sah sie mit großen Augen an. Und dann fügte Rutger etwas hinzu, was das Ganze noch merkwürdiger machte: »Sie gehört zu unserem engsten Freundeskreis in Stockholm. Eje ist zwar immer ein bisschen fies zu ihr und denkt sich so das Seine, aber ich glaube, sogar er muss zugeben, dass es mit ihr nie langweilig wird. Lilian Arosander ist ein Wirbelwind …«
»Ja, ja«, murmelte Einar, der sich darauf konzentrierte, seine Pfeife zu stopfen. »Doch wohl eher ein Orkan. Natürlich wird einem damit nicht langweilig. Man muss ja ständig alles um sich herum festhalten, damit es einem nicht um die Ohren fliegt.«
Ann lachte. »Jetzt bist du aber ungerecht, Eje!«
Einar wirkte, als würde er Miss Lilian alles zutrauen. Aber nun war meine Neugier vollends geweckt.
»Wie alt ist sie denn? Und womit verdient sie ihren Lebensunterhalt? Ich nehme an, dass sie ihre Zeit nicht im Lesesaal der Königlichen Bibliothek verbringt?«
»Man fragt nicht nach dem Alter einer Frau«, ermahnte mich Einar. »Und in Lils Fall lohnt sich das noch weniger als sonst. Sie sieht aus wie zweiundzwanzig, aber aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie deutlich älter. Sie hat einen Abschluss in Philosophie – einen guten im Übrigen! –, war verheiratet, hat sich scheiden lassen …«
»Oh ja«, unterbrach ihn Rutger, »diese Ehe war von denkbar kurzer Dauer.«
»Mit wem …«, fragten Ann und ich wie aus einem Mund, und die Herren, denen klar geworden war, dass sie unsere niedersten Instinkte geweckt hatten, seufzten.
»Genaueres weiß ich auch nicht«, sagte Einar und klopfte behutsam die frisch gestopfte Pfeife wieder aus, »aber ich erzähle euch gerne, was ich weiß. Lil – oder Lilian, wie sie eigentlich heißt – ist die Tochter des Chefs von A. B. Lyxfilm. Der alte Arosander ist stinkreich, und sie ist seine einzige Tochter. Ohne Zweifel hat sie Talent, aber vor allen Dingen ist sie über die Maßen verwöhnt. Sie ist es gewöhnt, alles zu bekommen, worauf sie mit dem Finger zeigt, insbesondere in eroticis, aber sobald sie ihr Spielzeug bekommen hat, verliert sie die Lust daran. Vor rund zwei Jahren war es ein Diplomforstwirt, der ihr vor die Flinte geraten ist; weiß der Himmel, wo sie den aufgetan hatte. Ein langer, stattlicher Kerl, braun gebrannt und mit der Mystik des Waldes im Blick. Lil gab keine Ruhe, bis er sie endlich heiratete und sie zu ihm in die romantische Wildnis zog. Bestimmt haben sie sich in den ersten drei Monaten rund um die Uhr geliebt. Er war der Typ, der sie zu nehmen wusste …«
»Eje!«, ermahnte ihn Ann mit aufrichtiger Empörung, und Einar lächelte ein wenig reumütig.
»Nach weiteren zwei Monaten war Frau Arosander allerdings zurück in der Hauptstadt, wo sie mittlerweile die Theaterwissenschaften unsicher macht und gleichzeitig Werbefilmchen für Papa dreht. Und ehrlich gestanden ist sie ganz bestimmt die beste Werbung für diese Lyxfilm-Firma.«
Wenn Einar glaubte, meine Neugier wäre damit gestillt gewesen, irrte er sich gewaltig. »Und wie passt Carl Herman ins Bild? Er schien ziemlich mitgenommen …«
»Die beiden sind in letzter Zeit häufig in Stockholm ausgegangen. Aber …«
Plötzlich sprang Rutger auf und ging ein paar Schritte über den Rasen. »Lil hat eine ungeheure erotische Ausstrahlung«, sagte er nachdenklich. »Aber sie ist eine Wildkatze.«
Und mit diesen Worten beendete er das spannende Thema und begann, über den Sonnenuntergang zu sprechen.
Ann schlug vor, dass wir einen Spaziergang machen sollten, während sie abspülte, und auf ihre gewohnt milde, wenn auch bestimmte Weise bekam sie ihren Willen.
Mich überkam Entdeckerfreude, und am liebsten wäre ich einmal um die ganze Insel spaziert, doch Einar redete es mir aus. »Das sind mindestens zehn Kilometer. Und zehn Kilometer über dieses Gelände und bei diesen Temperaturen? Nein danke. Lass uns einen von Rutgers Spazierwegen nehmen, da bekommst du schon ausreichend Bewegung.«
Er hatte ja so recht. Noch bevor wir den höchsten Punkt des Aussichtsberges erreicht hatten, war ich gelinde gesagt erledigt. Doch die Aussicht vom Felsplateau über den abendstillen Uvlången war eine echte Belohnung für die Mühe. Weit und dunkel und beidseits von Wald gesäumt lag der See vor uns. Der Wald stand so dicht am Ufer, dass einige der Bäume geradezu aus dem Wasser zu wachsen schienen.
Und noch während meine Sinne die fast unwirkliche Schönheit dieses grandiosen Ausblicks aufsogen, fühlte ich plötzlich, dass diese Größe und diese Stille mir auch Angst machten. Der schwedische Sommer hatte für mich immer für Lächeln und Licht gestanden; aber die Naturgewalt, die mich hier und jetzt umgab, war verschlossen und mit einer unerklärlichen Schwermut verbunden. Rutger, der wohl ahnte, was in mir vorging, legte beschützend seinen Arm um mich und sagte leise: »Diese Gegend kann einem gefährlich werden, wenn man nicht in sich ruht und glücklich ist. Die Sommernächte hier oben bringen häufig schwere, merkwürdige Gedanken zum Vorschein …«
Mich überkam ein Frösteln, und er fuhr eilig fort: »Du frierst. Wir gehen besser zurück.«
Der Abstieg erwies sich als deutlich leichter und weniger anstrengend als der Aufstieg. Mir war immer noch kalt, und sobald wir Lillborgen erreichten, ging ich in mein Zimmer, um mir etwas Wärmeres überzuziehen. Mit einer gewissen Erleichterung tauschte ich meine Sommerkleidung gegen eine neue, leuchtend rote Hose und einen weißen Angorapullover aus. Im Nachbarzimmer pfiff Einar ein Liedchen, das wohl »E lucevan le stelle« darstellen sollte.
Als ich wieder draußen war, stand Rutger auf dem Rasen und sah aus, als würde er einem Geräusch lauschen. Und richtig: Aus der Ferne war das stetige Tuckern eines Bootsmotors zu hören. Rutger machte sich auf den Weg hinunter zum Anleger, ich ließ mich auf einem der ziegelroten Liegestühle nieder und versuchte, mir einzureden, dass Ziegel- und Knallrot unter bestimmten Voraussetzungen eine ausgesucht moderne Farbkombination darstellten.
Nach einer Weile kamen auch Ann und Einar heraus zu mir, und wir genossen schweigend die Schönheit und Ruhe um uns herum. In Gedanken schrieb ich meinem Vater einen Brief: »Du ahnst nicht, wie herrlich und ruhig es hier ist …«
Einar hielt mir wortlos eine Zigarette hin, und ebenso wortlos beugte ich mich zu ihm vor, als er mir das Feuer hinhielt – bis er mit dem brennenden Zündholz auf halber Strecke innehielt. »Herr im Himmel«, murmelte er, und sein verwunderter Blick wanderte hinüber zu der Eberesche oder zu irgendetwas anderem in dieser Richtung.
Und die Stille des Abends verflog wie Dunst über dem Wasser, als die zärtlich trillernde Stimme einer Frau erklang. »Hallo, meine Lieben! Ihr habt doch sicherlich nichts dagegen, dass ich Jojje mitgebracht habe.«
ZWEITES KAPITEL
Lil Arosanders Auftritt war wirklich vom Feinsten, da waren wir uns alle einig, und niemand, dessen Augen auch nur halbwegs funktionierten, hätte leugnen können, dass auch sie selbst eine über die Maßen auffällige Erscheinung war.
Ob nun gefärbt oder nicht – ihr rotgoldenes Haar machte andere Frauen blass vor Neid. Es war mit einem schlichten Band zusammengebunden, und nur im Nacken hatten sich vereinzelte Strähnen daraus gelöst. Ihre Frisur erinnerte an Kameen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert; ihr elegantes Profil unterstrich diesen Eindruck. Ihre Haut schimmerte blass, und plötzlich kam mir meine Bräune, auf die ich gerade noch so stolz gewesen war, fürchterlich gewöhnlich und unweiblich vor. Sie hatte schön weit auseinanderstehende Augen, und als sie näher kam, sah ich auch, dass sie alles andere als nur grün waren; sie schillerten golden wie warm leuchtender Bernstein. Sie war normal groß und hatte eine umwerfende Figur.
Bei einer wirklich schönen Frau legt man sein Augenmerk erst auf den zweiten Blick auf die Kleidung – Lil jedoch trug etwas überaus Auffälliges, Schulterfreies, grün Gemustertes, das erkennbar nach einer der besten Boutiquen Stockholms aussah. Palmen wogten bei jedem ihrer Schritte sanft hin und her, und Äffchen kletterten munter über ihren Oberkörper. In den Händen trug sie einen riesigen, gefärbten Strohhut, der genauso gut als Strandtasche hätte durchgehen können.
ENDE DER LESEPROBE
Erschienen im schwedischen Norstedts Verlag, Stockholm, 1949 & 2013
1. AuflageCopyright © Maria Lang und Norstedts 1949 & 2013 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von Studio EUmschlagmotiv: © Lucy Davey/The ArtworksSchrift: The Fell Types are digitally reproduced by Igino Marini.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15923-8
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