Nicht von hier - Margrit Cantieni - E-Book

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Margrit Cantieni

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Beschreibung

Nach dem Tod ihres Ehemannes muss Alinda den kleinen Bergbauernhof allein führen. Wie allen alleinerziehenden Frauen in der damaligen Zeit droht ihr die Gefahr, von den Behörden bevormundet zu werden. Der Gemeindepräsident lässt Alinda seine Macht spüren, stellt ihr nach und will sie zur Heirat mit ihm bewegen. Alinda wehrt seine Annäherungsversuche immer wieder ab. Doch dann geschieht ein Unglück und Alindas Lage spitzte sich dramatisch zu. «Nicht von hier» zeigt das Leben der Bergbauern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Graubünden (Schweiz) auf – spannend und berührend.

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Margrit Cantieni

Nicht von hier

Roman

1

Die Bise schoss kalt in die Rücken der Trauernden und zerrte an den Kopftüchern der Frauen und an dem mit einem filigranen Lochmuster verzierten Messgewand des Priesters. Die Enden seiner Stola flatterten aufgeregt. Vom Weihrauch blieb nur einen kurzen Moment lang ein Hauch in der Luft, bevor er das Tal hinunter geweht wurde. Die Männer hatten ihre Hüte abgenommen, der Wind stellte die kurzgeschnittenen Haare auf. Vor drei Tagen, am zweitletzten Tag des Oktobers, an dem Tag, als Bertram an einem Asthmaanfall gestorben war, hatte es heftig geregnet. Heute blieb es trocken, doch die Luft war feucht und ließ Alinda trotz der wollenen Strümpfe, dem dicken Kleiderstoff und dem Mantel zittern.

Sie starrte auf den hellbraunen Sarg im Grab. Er sah einsam aus in dieser Grube, schien aber auch geschützt vor dem kalten Wind. Ein Geruch nach feuchter Erde stieg Alinda in die Nase, fast wie im Frühjahr, wenn die Äcker aufgepflügt wurden. Sie sog ihn ein, als ob sie sich dadurch dem Sarg näher fühlen würde. Seit seinem Tod war Bertram in der Stube aufgebahrt gewesen, sie hatte sein Gesicht Tag und Nacht betrachtet. Doch es war immer fremder geworden, wächsern und steif. Es war nicht mehr ihr Mann, der da lag. Fast war sie froh gewesen, als der Sarg geschlossen wurde, und sie sich ihre eigene Erinnerung an ihn bewahren konnte, seine feinen Züge, sein munteres Lächeln. Vor allem wollte sie das fröhliche Braun seiner Augen festhalten.

Krachend fiel Erde auf den Sarg, die der Priester mit einer kleinen Schaufel hineingeworfen hatte. Alinda zuckte zusammen. Ihr Blick begegnete Teresias verheultem Gesicht. Ihre Tochter schien den letzten Rest von Kindlichkeit verloren zu haben und trotz ihrer erst vierzehn Jahre erwachsen geworden zu sein.

Der Priester steckte die Schaufel in den Erdhaufen neben dem Grab, nahm das schlichte Holzkreuz, deutete damit murmelnd ein Kreuzzeichen an und steckte es neben die Schaufel in die Erde. ‘Bertram Palsim, 1905 – 1947’ stand drauf.

«Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde», hob Pfarrer Vitus an. Alinda starrte auf seinen Mund, der jedes Wort deutlich artikulierte. Er hatte eine feste Stimme, die weit trug, beim Beten und beim Schimpfen. Die Trauergäste fielen in das Glaubensbekenntnis ein, das anfängliche Murmeln wurde zu einem kräftigen Rauschen wie von einem Fluss, der Stromschnellen überwinden muss. Alinda fühlte sich sekundenlang von dem Raunen emporgehoben und getröstet, doch die Trauer um ihren Mann und die Angst vor der Zukunft kam rasch zurück. Ihr Blick wanderte zum Dorf hinauf. Die Häuser und Ställe von Nalda schienen wie neugierige alte Menschen zur Kirche und den Trauernden hinunterzuschauen. Auch ihr eigenes Haus mit den roten Fensterläden, in dem schon ihre Eltern und Großeltern gewohnt hatten. Von dort war der Trauerzug wie ein Tausendfüßler hinunter zur Kirche gewandert, hinter dem von einem behäbigen Pferd gezogenen schwarzen Leichenwagen mit den gummierten Reifen und dem baldachinähnlichen Dach, von dem seitlich dunkler schwerer Stoff in Halbbögen hinunterhing und sich im Wind wellenförmig bewegte.

Alindas Blick glitt über die Trauergemeinde. Alle waren da, die Nachbarn, Bertrams ehemalige Schülerinnen und Schüler, der Schulrat, der Gemeindevorstand, ihr Bruder Florentin. Auch Bertrams beide Brüder und seine Eltern waren aus dem fernen Oberland angereist. Alinda kannte jedes Gesicht, die alten zerfurchten und die jungen hoffnungsvollen, sie kannte jeden ihrer Schicksalsschläge, die oft schon im Kindesalter eingetreten waren. Wie bei ihr und nun auch bei Teresia und Rätus. Ihr Sohn stand mit geballten Fäusten neben ihr, die Lippen fest zusammengepresst, die Augen weit geöffnet, um die Tränen auszutrocknen. Die Mundwinkel zitterten.

Pfarrer Vitus verlas die Fürbitten. Alinda nahm sie nicht wahr, hörte nur jedes Mal die Antwort der Gemeinde.

«Wir bitten dich, erhöre uns.»

Ja, mein Herrgott, dachte sie, erhöre mich und meine Sorgen um die Familie. Du hast mir nur wenige glückliche Jahre geschenkt. Sie griff sich an den Hals, als wollte sie das unsichtbare Band, das sie zu ersticken drohte, wegreißen. Nicht weinen, Alinda. Sie wollte nicht als schwachesWeib gelten. Nicht vor den Gemeinderäten, die sie aufmerksam beobachteten. Sie würde ihnen beweisen, dass sie fähig war, ihre Kinder alleine großzuziehen.

«Vater unser im Himmel», begann der Priester, die Trauergäste stimmten mit ein. Alinda bewegte nur lautlos die Lippen. Sie wusste nicht, wie viele Male sie dieses Gebet und den Rosenkranz seit Bertrams Tod gesprochen hatte. Es schienen ihr hunderte, tausende. Das Haus war bis spät in der Nacht vom Gemurmel der Dörfler erfüllt gewesen, die vorbeigekommen waren, um mit ihr und den Kindern zusammen zu beten. Es hörte sich an, als ob sich ein Bienenschwarm eingenistet hätte.

Als der Priester zu ihr trat und ihre Hand drückte, merkte Alinda, dass er den Segen bereits gesprochen hatte. Sein Händedruck war so fest, dass es ihr weh tat. Seine schmalen Augen schienen in ihre Seele blicken zu wollen.

«Gott sei mit dir und schenke dir Kraft und Zuversicht.»

Sie nahm den Sprenger, tunkte ihn in die Schale mit dem Weihwasser und zeichnete über Bertrams Grab ein Kreuz. Das Wasser tropfte auf das Holz wie riesige Tränen. Rasch wandte sie sich ab und gab den Sprenger in eine Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Es war diejenige von Lavinia, ihrer Freundin, die sich eng neben Alinda stellte, nachdem sie den Abschiedsgruß über dem Sarg gemacht hatte. Alinda schaute sie dankbar an. Lavinias Nähe gab ihr Kraft. Sie traten zur Seite, stellten sich in einer Reihe auf, Alinda, Teresia, Lavinia, Rätus, Florentin und auch die Verwandten von Bertram. Alinda erwiderte jeden Händedruck, dankte für jedes Wort des Mitgefühls. Es waren unzählige. Das Pfeifen des Windes übertönte manchmal die Beileidsbezeugungen. Nach einer halben Stunde fühlte sich Alinda wie eingefroren, sie hatte kein Gefühl mehr in den Füßen, ihre Hand war eiskalt. Sie konnte kaum mehr die Lippen bewegen und musste sich zwingen, die Augen offen zu halten.

Als letzter trat Xaver Bergmann zu ihr, den Hut unter den Arm geklemmt. Mit beiden Händen umfasste er die klammen Finger ihrer rechten Hand und rieb sie. Alinda wollte sie ihm entziehen, doch er hielt sie fest, kam ihr mit seinem runden Gesicht näher und flüsterte:

«Alinda, du weißt, dass ich immer für dich da bin.

Denk daran.»

Alinda kniff die Augen zusammen und wich einen Schritt zurück. Xaver ließ sie los, setzte den Hut auf sein schütteres, vom Wind zerzaustes Haar und ging zu den Männern, die vor dem Friedhof warteten. Mit brennenden Augen blickte Alinda der untersetzten Gestalt nach. Wie konnte Xaver nur so unverschämt sein und ihr in dieser Situation so nahekommen. Unverschämt und rücksichtslos. Sie musste heute Bertram beerdigen, den Mann, den sie so geliebt hatte und dem sie alle Freude ihres Lebens verdankte. Am liebsten hätte sie Xaver nachgeschrien, dass er sie in Ruhe lassen solle, ein für alle Mal, mit aller Wut und Hilflosigkeit, die sie in sich fühlte. Doch das würden die Männer des Dorfes als hysterische Reaktion einer überforderten Frau betrachten. Lavinia, die Xavers Worte nicht gehört hatte, ergriff ihren Arm und Teresias Hand.

«Lasst uns gehen», sagte sie und zog die beiden zum Friedhofstor. «Im Restaurant haben sie sicher schon zum Trauermahl aufgetischt.»

Der elfjährige Rätus folgte mit gesenktem Kopf.

2

Geschätzter Florentin

Ich hoffe, es geht dir gut. Ich habe mich hier in Hastings gut eingelebt. Auch mit dem Englisch klappt es schon ganz gut. Ich übe fleißig. Das Wörterbuch ist schon ganz abgegriffen. Ich lese jeden Tag in der Zeitung, damit ich die Sprache schneller lerne. Vorerst arbeite ich als Zimmermädchen. Das Hotel ist nicht sehr groß, es hat neun Zimmer. Der Patron ist nett und fragt immer, ob es mir hier gefalle. Ich kann hier im Hotel wohnen. Ich teile mir ein Zimmer mit dem anderen Mädchen, das Engländerin ist. Das ist sehr gut, denn so kann ich mit ihr Englisch sprechen.

Hastings liegt direkt am Meer. Es gibt hier viele schöne Villen und riesige, weiße Hotels, direkt am Strand. Die reichen Londoner machen hier Ferien. Das Meer ist wirklich gewaltig, du kannst dir das gar nicht vorstellen. Bis zum Horizont sieht man nur Wasser. Es rauscht den ganzen Tag und alles schmeckt nach Salz. Jetzt, im Herbst, ist es hier ziemlich kühl. Letzthin hatten wir einen Sturm, da war es doch etwas beängstigend. Das Wasser war ganz schwarz. Die Wellen waren höher als ein Mensch, und es lärmte, als ob jemand auf einen riesigen Kessel einschlagen würde. Jetzt ist es wieder ruhiger geworden.

Hier in England hat sich die Prinzessin – sie heißt Elizabeth – verlobt. Sie ist sehr hübsch, wie aus einem Märchen. Das ist hier schon speziell, das mit dem Königshaus. Die Engländer sind ganz stolz darauf und es wird viel über ihr Leben geschrieben. Aber sonst geht es den Engländern nicht so gut, glaube ich. In der Zeitung steht etwas von Wirtschaftskrise. Aber ich kann noch nicht so gut Englisch, dass ich alles verstehe.

Wie geht es dir? Habt ihr schon viele Gäste im Engadin? Ich freue mich auf die Nachrichten aus der Schweiz (weil, ein wenig Heimweh habe ich schon).

Greetings from England Susanne

Florentin hatte den Brief schon vor zwei Tagen im Engadin bekommen, aber mit dem Öffnen bis zu seinem Besuch bei Alinda gewartet. Er hatte das Gefühl, dass der Brief nach Salz roch. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Sorgfältig faltete er ihn zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag, auf dem in kleiner Schrift sein Name und Hotel Seeblick, St. Moritz, stand. Die blauen und grünen Briefmarken zeigten das Profil eines Mannes. Das war sicher der König von England.

Susanne hatte in den letzten drei Jahren im Hotel Seeblick als Zimmermädchen gearbeitet. Im Sommer hatte sie endlich eine Stelle in England bekommen. Sie war eine nette Arbeitskollegin von Florentin gewesen, stets fröhlich, neugierig und wissbegierig. Sie hatten zusammen Englisch gelernt. Florentin lernte rascher als Susanne, auch wenn er fünfzehn Jahre älter war als sie. Er behielt die meisten Wörter schon beim ersten Mal. Sie brauchte länger, vor allem die Grammatik bereitete ihr Schwierigkeiten. Florentin half ihr gerne. Er genoss das Aufleuchten in ihren braunen Augen, wenn sie einen Satz fehlerfrei übersetzt hatte, und ihr Kichern, wenn sie sich wie eine vornehme englische Lady benahm, die dickwandige Teetasse mit abgespreiztem Finger emporhob und mit hochgezogenen Augenbrauen nippte. Sie hatte ihm versprochen, dass sie für ihn auch eine Stelle in England suchen werde.

Von draußen hörte Florentin seine Schwester, die den Vorplatz fegte, obwohl er kaum Schmutz aufwies. Ihre magere kleine Gestalt machte ihn traurig. Sie sah so zerbrechlich aus und wollte sich doch keine Schwäche anmerken lassen. Nicht ein einziges Mal seit Bertrams Tod hatte er sie weinen sehen.

Es war Sonntagnachmittag, sein freier Tag. Nach Bertrams Beerdigung, die nun schon über zwei Wochen zurücklag, war er ins Engadin zurückgekehrt. Etwas, was Alinda ihm damals gesagt hatte, war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen:

«Hoffentlich werde ich nicht bevormundet. Das würde ich nicht ertragen.»

Das helle Blau ihrer Augen war ganz dunkel geworden, wie wenn sie von Gewitterwolken bedeckt worden wären. Wie gerne hätte er sie in die Arme genommen und getröstet, wäre ihr über das streng nach hinten zu einem Dutt gestraffte Haar gefahren, das an den Schläfen erste graue Ansätze aufwies. Doch er traute sich nicht.

Er verstand Alindas Sorgen. Alleinerziehenden Frauen wurde die Fähigkeit, das eigene Vermögen ordentlich zu verwalten und die Kinder im richtigen Geist und mit der nötigen Härte zu erziehen, angezweifelt. Man hielt sie für zu gutmütig und leichtgläubig. Alinda wäre nicht die erste Witwe, die einen Vormund bekäme.

Florentin hatte in den letzten Tagen hin und her überlegt, wie er Alinda helfen könnte. Er machte seine Arbeit als Portier gerne. Jeden Tag bürstete er seine Uniform aus und rieb die Knöpfe und das Schild der Mütze, auf der mit Goldbuchstaben das Wort ‘Portier’ eingestickt war, blank. Es erfüllte ihn mit leisem Stolz, wenn er mit den Gästen, die meistens aus England kamen, einige Brocken in ihrer Sprache reden konnte. Sie fragten ihn, wie man die romanischen Dorfnamen richtig ausspreche, was ihnen aber kaum je gelang. Oft musste er ein Lachen unterdrücken, wenn sie die ungewohnten Lautfolgen nachsprechen wollten und sich darin verhedderten. Ebenso lustig fand er die knielangen Pluderhosen, die die Männer beim Curling Spielen anzogen. Kurze Hosen trugen in Nalda nur die Knaben.

Manchmal bekam er etwas Kopfschmerzen von den süßlichen Parfums der Damen. Und manchmal überlegte er sich, was die Leute in Nalda über eine junge Frau aus ihrer Mitte sagen würden, die Farbe auf die Augenlider legte und sich die Lippen rot anmalte. Sie würde als flatterhaft angesehen und der Pfarrer würde von der Kanzel herab über die verdorbene Jugend klagen.

Im Hotel Seeblick gab es Betten mit weichen Matratzen, Toiletten mit Wasserspülung und Badewannen in jedem Zimmer. Am schönsten fand Florentin den Kristalllüster mit den elektrischen Kerzen in der Eingangshalle. Er war fast so groß wie ein neugeborenes Kalb und funkelte, als ob hundert Sterne in ihm gefangen wären.

In St. Moritz war es so ganz anders als in Nalda. Es gab dort viele Hotels, die gut besucht waren. Vor allem von Engländern, obwohl der zweite schlimme Krieg in diesem Jahrhundert erst zwei Jahre zurücklag. Eigentlich hatte sich Florentin aus seinem Heimatdorf verabschiedet. Er kam nur noch alle zwei Monate nach Nalda, um seine Schwester und ihre Familie zu besuchen. Teresia, Alindas Tochter, war sein Patenkind. Er freute sich jedesmal, wenn sie ihn mit ‘Padroin’ ansprach, dem in Nalda gebräuchlichen Wort für Pate.

Alinda hatte ihm sein Zimmer im Elternhaus immer freigehalten. Sie behauptete, dass sie ihm ihr Leben verdanke. Er habe sie gesund gemacht, als sie mit dreizehn Jahren an Kinderlähmung erkrankt war. Den ganzen Winter war sie damals ans Bett gefesselt gewesen und hatte fast das ganze Schuljahr verpasst. Ihre Beine waren kraftlos und knickten ein, wenn sie aufstehen wollte, als ob sie aus Pudding bestünden. Immer seltener versuchte sie es und versank in ihren Schmerzen in den Beinen und im Rücken. Florentin trieb sie an, es doch zu versuchen, streckte ihre Beine im Bett vor und zurück, wie es der Arzt gezeigt hatte, der das ‘Gymnastik’ nannte. Doch Alinda hatte ihn nur traurig angeblickt und den Kopf geschüttelt.

«Ich werde ein Krüppel bleiben, immer ans Haus gefesselt sein und anderen zur Last fallen. Alle werden mich hassen als unnütze Esserin», sagte sie mit brüchiger Stimme. Die Traurigkeit verdüsterte ihr kleines schmales Gesicht.

«Komm schon, probiere noch mal. Du kannst es.»

Mit zuckenden Schultern hatte sie den Kopf abgewandt und Florentin war traurig aus dem Zimmer geschlichen. Die Tränen flossen ihm über die Wangen. Doch eines Tages, die Sonne wärmte schon stark und der Schnee war größtenteils von den Wiesen verschwunden, ließ er sich nicht mehr abwimmeln. Die Mutter war im Backhaus und Alinda und er waren alleine zuhause.

«Jetzt versuchst du es nochmals.»

Florentin packte Alinda und zog sie aus dem Bett. Sie wehrte sich und schlug ihn mit den Fäusten, doch sie war so schwach und dünn, dass sie Florentin nicht davon abhalten konnte, sie auf den Flur zu tragen. Dort ließ er sie am Boden liegen.

«So, und nun steh auf. Sieh her, du kannst dich am Geländer hochziehen. Und ich stütze dich auf der anderen Seite. Versuch es, Alinda, bitte versuch es.»

Das Mädchen mit den abgemagerten Beinen lag am Boden, ein schluchzendes Bündel.

«Bring mich wieder ins Bett, ich friere.»

Er rührte sich nicht. Alinda kroch zur Schlafzimmertür wie ein lahmer Käfer, doch Florentin versperrte ihr den Weg.

«Du bist so gemein, ich werde es Mama erzählen.» Minutenlang blieb sie am Boden sitzen, still weinend.

Es schnürte Florentin die Kehle zu und er musste sich zwingen, sie nicht in die Arme zu nehmen und sich zu entschuldigen für seine Hartherzigkeit. Doch er blieb standhaft. Endlich packte Alinda das Geländer und versuchte, sich hochzuziehen. Doch es gelang ihr nicht einmal, ein Bein aufzustellen. Es sackte gleich wieder weg.

«Siehst du, es geht nicht. Bring mich ins Bett, bitte.»

Ihr flehentlicher Ton schnitt Florentin ins Herz und er kniff fest den Mund zu, um nicht zu weinen. Was machte er hier nur? Lieber Gott, betete er still, bitte hilf Alinda. Ich werde nie mehr etwas Schlechtes tun, wenn du machst, dass sie wieder laufen kann. Er wandte den Blick ab, um Alindas brennende Augen nicht sehen zu müssen. Als sie sah, dass Florentin sie nicht ins Schlafzimmer hineinkriechen lassen würde, packte sie wieder das Geländer und versuchte, hochzukommen. Wieder scheiterte sie.

«Es geht nicht. Alleine geht es nicht. Du musst mir helfen.»

Florentin war mit einem Satz bei ihr.

«Halte dich mit einer Hand am Geländer fest und ich stütze dich von der anderen Seite.»

Immer und immer wieder versuchten sie es. Alindas Nachthemd war nass, Schweißperlen liefen ihr über das Gesicht. Stets aufs Neue ermunterte Florentin sie, nicht aufzugeben. Er hoffte, dass die Mutter nicht gerade jetzt nach Hause kam. Sie würde ihn sicher ausschimpfen, was er hier mache, ob er wolle, dass sich Alinda den Tod hole.

«Ich schaffe es nicht, Florentin», sagte Alinda und sank schluchzend zu Boden. Er setzte sich neben sie und ließ seinen Tränen freien Lauf. Alinda legte die Hand auf seinen Arm, als ob sie ihn trösten oder sich für ihre Unfähigkeit entschuldigen wollte. Lange saßen sie so da, beiden zog die Kälte in die Knochen, Alinda zitterte wie ein dürres Blatt im Herbstwind.

«Komm, wir probieren es noch einmal. Nur noch einmal. Stell dir vor, du könntest wieder Schmetterlinge fangen.»

Er stand auf und zerrte Alinda am Arm. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit kämpften in ihrem Gesicht. Sie zog sich nochmals am Geländer hoch, mit fest geschlossenen Augen, wie wenn sie sich tatsächlich eine Blumenwiese mit Schmetterlingen vorstellte, denen sie nachjagte. Der Schweiß schoss ihr sofort wieder aus den Poren. Dann knickte sie wieder ein und erschlaffte.

Doch Florentin jubelte.

«Du hast es geschafft», rief er und ließ sie langsam auf den Bretterboden gleiten. Alinda blickte ihn verwirrt an und schüttelte den Kopf.

«Doch, ich habe es gesehen, du bist einen Moment lang stehen geblieben.»

Seine Stimme hüpfte auf und ab wie ein Gummiball.

«Meinst du wirklich?» fragte Alinda flüsternd. «Du hast dir das sicher nur eingebildet.»

«Nein, ich schwöre es dir. Es war so. Du bist einen winzigen Moment lang stehen geblieben. Ich habe es wirklich gesehen. Glaub mir. Komm, wir versuchen es gleich noch einmal.»

Er packte Alinda, ohne ihr Zeit zum Überlegen zu lassen und bevor ihm selbst Zweifel kommen konnten, ob es tatsächlich so gewesen war, wie er gesagt hatte.

Zögernd zog sich Alinda wieder hoch. Ihr Zittern übertrug sich auf Florentin. Was war, wenn es jetzt nicht klappte? Wenn er sich das nur eingebildet hatte? Dann hatte er ihr falsche Hoffnungen gemacht, die ihr Elend noch vergrößern würden. Er ließ sie kurz los, umfasste sie aber sofort wieder, als sie die Augen verdrehte und zusammensank. Alinda war ohnmächtig geworden. Doch sie hatte es noch einmal geschafft. Da war er sich ganz sicher. Trotzdem überkam ihn Angst. Hoffentlich hatte er nichts Falsches gemacht. Hoffentlich bekam sie keine Lungenentzündung von der Kälte und der Anstrengung. Er hob sie rasch auf und trug sie ins Bett. Er spürte jeden Knochen des dünnen Mädchenkörpers. Liebevoll deckte er sie bis zum Hals zu, setzte sich auf die Bettkante und beobachtete sie ängstlich.

«Alinda, wach auf», flehte er und betete das Avemaria und dann noch eines und noch eines. Er versprach der Gottesmutter, dass er sie sein Leben lang ehren würde, wenn Alinda gesund werde. Endlich schlug sie die Augen auf. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich an das Geschehene erinnerte. Florentins Mund zitterte.

«Wie geht es dir?»

Er drückte ihr die Hand, so fest, dass sie aufschrie und er sie schnell losließ. Doch dann lächelte seine Schwester, das erste Mal seit Wochen. Florentin versprach der heiligen Maria, ihr das Geld, dass er vielleicht von seinem Paten zu Weihnachten bekam, zu spenden und ganz viele Kerzen anzuzünden.

Als kurz darauf die Mutter mit dem frisch gebackenen Brot heimkam, erzählte ihr Florentin stockend und mit schlechtem Gewissen, was er getan hatte. Sicher würde sie ihm nicht glauben, dass Alinda stehen konnte, und mit ihm schimpfen. Sie befühlte Alindas Glieder und ihre Stirn.

«Mama, ich kann wieder laufen. Florentin hat es gesehen.»

«Das liegt in Gottes Hand», sagte die Mutter und zog ihr ein frisches Nachthemd an. Kein Wort des Tadels kam über ihre Lippen, als sie Alinda wieder zudeckte und ihr befahl, zu schlafen. Als sie mit Florentin das Zimmer verließ, strich sie ihm über den Kopf. Florentin erschauerte. Das hatte sie noch nie gemacht.

Alinda übte in den nächsten Tagen und Wochen das Gehen mit der Hartnäckigkeit eines Schneeglöckchens, das sich im Frühjahr aus der harten Erde kämpfte. Ein leichtes Hinken blieb, weil das linke Bein einfach nicht mehr die alte Kraft bekam, vor allem, wenn Alinda sehr müde war. Doch es war kaum wahrzunehmen, so dass die Dörfler keinen Grund hatten, sie als ‘die Hinkende’ zu bezeichnen.

Jetzt, fast dreißig Jahre später, brauchte Alinda wieder seine Unterstützung. Auch wenn sie ihm das noch nicht gesagt hatte. Doch in welcher Form sollte er helfen? Mit Geld? Mit seiner eigenen Arbeitskraft? Aber was würde dann mit England? Seufzend legte Florentin Susannes Brief in die Schublade des Tisches. Er musste ihr schreiben, dass sein Schwager gestorben war und sich die Situation verändert hatte. Doch zuerst musste er sich selber klar werden, wie es weitergehen sollte. Und zwar in den nächsten Tagen. Er schaute auf die Kirchenuhr. Es war fast sechs Uhr, Zeit, loszulaufen, wenn er den Zug nach St. Moritz um sieben Uhr erreichen wollte. Fast zwei Stunden dauerte die Fahrt. Um zehn Uhr begann seine Nachtschicht im Hotel. Er packte den Hut und die Geldbörse, ging zur Tür, nahm mit dem Mittelfinger ein wenig Weihwasser aus dem kleinen muschelförmigen Gefäß an der Wand, bekreuzigte sich und verließ das Haus.

Alinda saß auf der Bank neben der Treppe, den Besen an die Wand gelehnt. Die letzten Sonnenstrahlen erhellten die Hauswand und ließen die schwarzgekleidete Gestalt von Alinda wie einen Schatten erscheinen.

«Ich komme nächsten Sonntag wieder», sagte er und wandte sich zum Gehen.

Alinda erhob sich rasch, als ob sie ein schlechtes Gewissen hätte, weil sie einfach auf der Bank saß und nichts tat.

«Warte», sagte sie und ging ins Haus. Florentin sah unruhig auf die Kirchenuhr. Es war schon zehn nach sechs.

Der Fußmarsch zum Bahnhof dauerte fast eine Stunde. Er würde sich sehr beeilen müssen. Da kam Alinda zurück, ein mit Zeitungspapier umhülltes Paket in der Hand.

«Du wirst unterwegs Hunger haben. Ich habe dir Brot und Käse eingepackt.»

Ohne seinen Dank abzuwarten, ergriff sie den Besen und ging zum Stall. Florentin blickte ihr kurz nach. Dann drehte er sich um und eilte davon.

3

Es war sechs Uhr früh und immer noch dunkel. Hin und wieder ertönte ein Muhen oder Meckern aus den Ställen. Aus einigen Fenstern schien ein fahles gelbes Licht, das kaum kräftig genug war, um bis zur Straße zu gelangen. Ein Hahn krähte. In der Nacht hatte es ein wenig geschneit, der Schnee bedeckte die Wiesen hauchdünn, so dass das Grün durchschimmerte. Auf den Straßen war er bereits von der harten Erde verschluckt worden.

Der Weg zum Backhaus war kurz, etwa hundert Meter, aber steil. Schon zum zweiten Mal stieg Alinda heute hinauf. Beim ersten Mal hatte Florentin ihr geholfen, den schweren Holzzuber mit dem Brotteig hinaufzubringen. Jetzt trug sie in einem Korb Holz für den Ofen und zwei Tischtücher hinauf. Sie war heute die Erste, die buk. Deshalb benötigte sie mehr Holz, denn der Ofen war über Nacht vollkommen erkaltet, und sie konnte nicht von der Restwärme einer Vorgängerin profitieren.

Als Bertram noch gesund gewesen war, hatte er ihr beim Hochtragen geholfen. Doch im Backhaus hatte er es nie lange ausgehalten. Das feine Mehl in der Luft engte ihm die Luftröhre ein und ließ ihn keuchend atmen, genauso wie das frisch gemähte Heu im Sommer. Niemals wären sie auf die Idee gekommen, dass das Asthma so schlimm werden und zu seinem Tod führen würde. Alinda wurden die Arme schwer, doch sie ließ den Korb keinen Zentimeter sinken. Am nächsten Sonntag war erster Advent und gleichzeitig der dreißigste Tag nach Bertrams Tod. In der Messe würde der Pfarrer seinen Namen erwähnen. Alinda überkam ein Zittern, nicht nur wegen der morgendlichen Kälte. Nie mehr würde sie Bertrams feines Lächeln sehen, seine Stimme hören, die sie umfasst hatte wie eine Decke, die auf dem Ofen aufgewärmt worden war, nie mehr seine Lippen auf ihrem Körper spüren, so sanft und rücksichtsvoll, dass sie sich nie dafür geschämt hatte. In ihrem Kopf schien alles dunkel, als ob jemand die Sterne vom Himmel genommen, in einen Sack getan und vergraben hätte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals wieder auftauchen würden.

Plötzlich hörte Alinda ein Knirschen hinter sich. Der Geruch von Tabak drang ihr in die Nase und Xaver Bergmann erschien an ihrer Seite.

«Warte, Alinda, ich helfe dir», sagte er undeutlich. Er bewegte nur die rechte Hälfte des Mundes, mit der anderen hielt er die dicke, glänzende Pfeife. Bevor sie protestieren konnte, entriss er ihr den Korb mit den Holzscheiten. Alinda blieb stehen. Es war ihr nicht recht, dass Xaver ihr half. Doch er ging einfach weiter.

«Ich kann den Korb selbst tragen, Xaver», sagte sie und starrte auf seinen kurzen Rücken, als könnte sie ihn dadurch zum Anhalten bewegen. Der Hut mit dem samtenen Band bedeckte das blonde kurzgeschnittene Haar fast vollständig. Wie ein hautfarbener Schal legte sich die Nackenfalte auf den Kragen der Jacke. Sein ausladender Hintern erinnerte sie an ein gut genährtes Schwein.

«Das weiß ich, Alinda. Du bist eine starke Frau. Aber lass dir doch helfen in deiner Situation. Das ist keine Schande.»

Er ging weiter, mit kurzen schnellen Schritten, ohne sich umzudrehen. Alinda folgte ihm mit verkniffenem Mund. Am liebsten hätte sie Xaver am Kragen zurückgehalten. Doch wenn jemand sie dabei beobachtet hätte, gäbe diese lächerliche Situation nur Gesprächsstoff für den Stammtisch.

Vor dem Backhaus legte Xaver den Korb auf den Boden.

«So, den Rest überlasse ich dir. Brotbacken ist schließlich Frauenarbeit, nicht wahr?»

Sein volles Lachen hätte besser zu einem großen, gutgebauten Mann gepasst als zu Xavers gedrungener Gestalt.

«Wie geht es dir denn so, Alinda?» fragte er und schob mit der Schuhspitze Kieselsteine zusammen.

«Gut.»

Sie schloss das Backhaus auf und hob den Korb hoch.

«Du weißt, du kannst immer mit meiner Hilfe rechnen.»

«Danke.»

«Es ist nicht einfach für eine alleinstehende Frau, ohne Mann im Haus, mit zwei Kindern. Da kann man jede Unterstützung brauchen. Der einfachste Weg ist oft auch der beste, nicht wahr?»

Er zog an der Pfeife und stieß mit gesenktem Blick den Rauch aus, ohne zu bemerken, dass er ihn direkt in Alindas Gesicht blies. Sie rührte sich nicht.

Xaver machte sich also Hoffnungen, dass sie ihn heiraten, seinem Jungen eine gute Mutter und ihm eine gute Hausfrau werden würde. Fast hätte sie ihn angeschrien, ob er sich nicht schäme, nur einen Monat nach Bertrams Tod so zu reden. Als ob sie ihren Ehemann schon vergessen hätte wie einen alten kaputten Stuhl, der verfeuert wurde.

«Die Kinder sind nicht mehr klein. Teresia ist schon bald fünfzehn. Und außerdem …», sie holte tief Luft, «… bleibt Florentin bei uns.»

Wie froh war sie in diesem Moment, ihm Florentins Entscheidung mitteilen zu können. Ihr Bruder hatte ihr am letzten Sonntag angeboten, bei ihr zu bleiben, um ihr bei der Bewirtschaftung des Hofes zu helfen. Alinda hatte gezögert, ob sie das Angebot annehmen sollte. Florentin hatte schon als junger Mann davon geträumt, Nalda zu verlassen und in die Welt zu ziehen, wo es Fortschritt gab und fremde Sprachen. Doch er war nach der Schulzeit bei seiner Schwester und bei seiner Mutter geblieben, die Witwe geworden war, als er und Alinda noch klein gewesen waren, ein- und dreijährig. Bis zu Alindas Hochzeit hatte er geholfen, den Hof zu bewirtschaften. Als Alinda dann – endlich – geheiratet hatte, war dies für Florentin die Gelegenheit gewesen, den Hof mit gutem Gewissen zu verlassen. Und jetzt, sechzehn Jahre später, bot er an zurückzukommen.

Alinda hatte zuerst abgelehnt, zu groß schien ihr das Opfer. Doch als Florentin ergänzte, dass dies vorerst für ein Jahr gelte, hatte sie zugestimmt, und das Atmen war ihr schlagartig leichter gefallen.

«Was?» Xaver schnaubte überrascht. «Florentin? Der hatte doch keine Ahnung von Landwirtschaft und Angst vor jeder Kuh. Da hast du dir eine feine Hilfe ausgesucht.»

Die Beleidigung ihres Bruders traf Alinda wie der Tritt einer Geiß und verschlug ihr sekundenlang die Sprache.

«Du wirst schon sehen, dass wir es schaffen werden. Gemeinsam, Florentin und ich und die Kinder. Wir brauchen deine Hilfe nicht, Xaver.»

Sie hatte seinen Namen herausgespien wie saure Milch. Xaver trat einen Schritt zurück. Seine braunen Augen wurden noch kleiner, als sie es schon waren. Alinda bereute, dass sie so heftig reagiert hatte.

«Denk daran, Alinda, dass ich als Gemeindepräsident dafür verantwortlich bin, dass die Kinder in der Gemeinde gesund und wohlversorgt aufwachsen. Du wärst nicht die erste, die Hilfe benötigt, einen Beistand oder sogar einen Vormund. Einen Hof zu führen ist nicht einfach. Da sammeln sich schnell mal Schulden an.»

Alinda schien es, wie wenn Xaver ihr eine Kröte in den Hals gestopft hätte, die sich nun in der Kehle festklammerte und sich nicht ausspucken ließ. Sein Einfluss in der Gemeinde war groß, nicht nur, weil er der Mastral war, wie man in Nalda den Gemeindepräsidenten bezeichnete, sondern auch, weil er der reichste Mann im Dorf war. Die größte Angst hatte Alinda vor der Armengenössigkeit. Wenn die Gemeinde sie finanziell unterstützenmüsste, könnte sie die Familie in Bertrams Heimatdorf im Oberland abschieben. Dorthin, wo sie niemanden kannte, außer die Eltern und Geschwister von Bertram. Aber auch diese nur oberflächlich. Das Bürgerrecht von Nalda hatte sie mit der Heirat verloren. Eine Ungerechtigkeit, fand sie. Seit Generationen war ihre Familie hier ansässig, und nun, nur weil sie einen Auswärtigen geheiratet hatte, musste sie auf die Privilegien als Bürgerin verzichten, auf das kostenlose Losholz, auf die Möglichkeit, ihr Vieh auf der gemeindeeigenen Alp zu sömmern, auf den Kauf von Land – und eben auf die Unterstützung, wenn sie in die Armut fallen würde.

«Ja, Xaver, ich weiß das. Aber das wird nicht passieren. Du wirst sehen», sagte sie und blickte ihn fest an.

Nach einigen Sekunden wandte Xaver den Blick ab, nahm die Pfeife aus dem Mund und klopfte sie an der Schuhsohle aus. Alinda drehte sich wortlos um, trat ins Backhaus und schloss die Tür. Sie legte den Korb vor den Ofen, schob die Scheite hinein und entfachte das Feuer. Es war gutes Holz, ohne Astlöcher, und brannte schnell hinunter. Nach ein paar Minuten hörte sie knirschende Schritte. Xaver entfernte sich. Sie war wieder allein. Erst jetzt spürte sie, wie ihre Beine zitterten. Sie setzte sich auf den Schemel und schlug die Hände vors Gesicht. Sie waren eiskalt. Krampfhaft versuchte sie, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Niemand durfte es hören, die Kinder nicht, Florentin nicht und am allerwenigsten Xaver.

«Reiß dich zusammen, Alinda», murmelte sie und schnäuzte sich die Nase. Ihre Mutter hätte dies auch gesagt. Alinda raffte sich auf und zog den Mantel aus, obwohl es noch kalt war im Backhaus. Doch die Arbeit und das Feuer im Ofen würden ihr rasch warm geben. Sie breitete die Decken über die beiden langen Tische aus und bestäubte sie mit Mehl. Mit geübter Hand formte sie Brote und legte sie auf die Tische. Es waren fast dreißig Stück.