Niemandsland Prora - Matthias Stark - E-Book

Niemandsland Prora E-Book

Matthias Stark

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Beschreibung

Ein über Jahrzehnte schwelender Konflikt zwischen einem alten Mann und seinem Sohn bricht wieder auf, als der Alte seinen Enkel zu sich einlädt und ihn an seinem Leben und seinen Gedanken teilhaben lässt. Der Großvater, durch Krankheit dem Tod nah, war in der DDR Parteisekretär. Sein Sohn floh über die innerdeutsche Grenze. Nun erfährt der junge Mann, dass seinen Vater ein dunkles Geheimnis umgibt, welches im Zusammenhang mit seiner Armeezeit in Prora auf der Insel Rügen steht. Der Roman blickt zurück auf ein untergegangenes Land, dessen Politik und deren Wirkung auf einzelne Schicksale.

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Für Gudrun und Sebastian

und

zur Erinnerung an meinen Vater,

der mich das Denken lehrte.

„Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Noch schwerer ist es, ein

zufriedener, ein anständiger, ein guter Mensch zu sein.“

Bruno H. Bürgel

„Beim heutigen Stand der Dinge ist eben doch der Sozialismus die einzige

Lehre, die an den Grundlagen unserer falschen Gesellschaft und

Lebensweise wenigstens ernstlich Kritik übt.“

Hermann Hesse

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Nachbemerkung

Prora

1

Ein Schnellzug durchschneidet den Sommer und Stefan denkt ans Sterben, an das Sterben, das seinem Großvater Alfred bevorsteht. Der Jugendliche hat die Augen geschlossen. In seinen Ohren vibriert der Sound seiner Lieblingsmusik. Die Finger spielen im Takt.

Mancher Reisende döst beim Zugfahren in Vergangenes, andere denken an gar nichts und manche an zu Erwartendes. Stefan sieht Künftiges vor sich. Er fährt nach Norden, genauer, den Norden im Osten, an die See. Die Gegend hat er seit einer Ewigkeit nicht mehr besucht. Es ist eine Reise, die auf Kämpfen ruht, eine Reise, die erkämpft werden musste. Und der Gegner in diesem Kampf war ausgerechnet sein Vater gewesen. Zuerst war es strikte Ablehnung, die sich zu Hause breitmachte, als der Brief vom Großvater kam. Ein Brief kann vieles bewirken, und in diesem Fall erzeugte er Streit. „Zum alten Bonzen fährst Du nicht“, war das Erste, was Vater ihm an den Kopf warf. Mit dem „Bonzen“ war der Großvater gemeint, den Stefan nun schon so viele Jahre nicht gesehen hat. Dunkel und schemenhaft ist seine Erinnerung an den Vater des Vaters. Das Band zwischen dem Großvater und seinem Sohn war seit vielen Jahren durchtrennt und nichts schien darauf hinzuweisen, dass es je geflickt werden könnte. Für jeden war der jeweils andere ein Verräter und Feigling.

Vor dem Fenster breitet sich bis zum Horizont die Mecklenburger Landschaft aus. Vereinzelt stehen Kühe auf den Weiden. Ein Wunder, dass es manchmal noch welche gibt und die Tiere nicht des Aufwandes wegen gleich ohne Freigang in Kuhgefängnissen gehalten werden. Flirrende Hitze draußen, ein wahrer Hochsommertag, und der Zug rollt seinem Ziel entgegen. Die Klimaanlage des Großraumwagens arbeitet mit voller Leistung. Gemurmel schwirrt umher, Gesprächsfetzen dringen zu Stefan vor, erreichen aber sein Inneres nicht. Er denkt an den Konflikt zwischen Vater und Opa, den er kaum je richtig kennenlernen durfte und für den nun, das steht nach dem Brief so ziemlich sicher fest, die Lebensuhr abzulaufen scheint. Dieser Konflikt existiert, solange Stefan denken kann, immer stand er in der Familie im Raum, mal ausgesprochen, aber meist als unausgesprochene Tatsache, versteckt hinter vielen Andeutungen, spitzen Bemerkungen und Feindseligkeiten.

Stefans Vater, Michael Stern, war im Sommer 1989 auf abenteuerliche Weise aus der DDR geflohen. Die Bilder der Flüchtlinge, die sich über Ungarn gen Westen abgesetzt hatten, kennt Stefan zur Genüge. Die Tatsache dieser Flucht war für den Großvater, der als linientreuer Parteisekretär in einem großen Betrieb tätig gewesen ist, Grund genug, mit seinem Sohn zu brechen. Selbst nach den vielen Jahren scheint es unmöglich zu sein, dass Vater und Großvater sich aussprechen und vernünftig miteinander umgehen. Für Stefans Vater ist Opa der Parteibonze geblieben, in der Familie wird er nur „Der Bonze“ genannt. „Bonze, Bonze, Bonze…“, die Räder auf der Schiene scheinen sich lustig zu machen über Stefans Familienverhältnisse. Dabei wurde früher noch manchmal diskutiert, ob man sich verzeihen könnte, alles sei doch schon so lange her. Aber Vater hatte mit seiner Zeit im Osten gebrochen und war nicht gewillt, daran etwas zu ändern.

Stefan aber hat sich, nicht zuletzt durch die besänftigenden Worte seiner Mutter, durchgesetzt. „Michael, lass den Jungen doch fahren, vielleicht sieht er seinen Opa das letzte Mal.“ Die typischen Versuche von Frauen, die Männer, egal welchen Alters, versöhnen wollen und es doch meist nicht schaffen.

Ein Haltesignal gebietet dem Zug, abzubremsen und schließlich auf freier Strecke stehen zu bleiben. Einen Steinwurf weit ein Gehöft, bunte Wäsche hängt auf der Leine. Ein Hund döst vor seiner Hütte. Ihm ist anzusehen, dass es sein letzter Sommer sein wird. Stefans Blick gleitet über die Weite. In vielen Urlaubsreisen hat er schon so manchen Ort auf der Erde gesehen. Spanien, Italien, Griechenland und einmal sogar Kanada. Aber die weiten Felder Mecklenburgs haben ihren besonderen Charme. Das Korn steht kräftig auf den Halmen, die Ernte scheint die Scheunen zu füllen in diesem Jahr. Die Feldarbeit ist in vollem Gange, eine Wolke aus Häcksel und Staub liegt über dem Feld. Dazwischen vereinzelt Menschen mit bunten Mützen. Eine Frau hebt den Kopf und blickt in Richtung Zug. Sie wischt sich mit der Hand über die Augen. Warum müssen manchmal die Züge auf freier Strecke anhalten? Besinnung? Sie können doch nur in einer Richtung weiterfahren. Wenn Menschen innehalten, dann erwägen sie vielleicht Möglichkeiten, der Zug hat keine Wahl. Stefans Geduld ist fast aufgebraucht, da ruckt die Bahn an. Noch etwas über eine Stunde, dann ist das Ziel erreicht.

2

Türenschlagen, Rucken und der Sonderzug der Deutschen Reichsbahn setzt sich in Bewegung. Auf dem Bahnsteig stehen neben Uniformierten einige Mütter, die sich ihre Tränen wegwischen, daneben die dazugehörigen Männer. Der Bahnsteig verschwindet aus dem Blickfeld, der Zug verlässt die Halle und Michael lehnt sich zurück. Nun geht es los. Das ist also der Beginn seiner dreijährigen Armeezeit. Mit seinen 19 Jahren ist er schon einer der Älteren, viele hier in diesem Zug sind gerade 18 geworden. Das Abteil ist voll besetzt, es herrscht Stille; wohl weil niemand so recht weiß, was ihn in den nächsten Stunden erwarten wird.

Michas Gedanken wandern zurück. Er sieht sich als Sechzehnjähriger bei der Musterung. Damals war die Armeezeit noch weit weg und auf die Frage, ob er sich für den Frieden einsetzen wolle, konnte er natürlich nur mit „Ja“ antworten. Wer würde sich nicht für den Frieden einsetzen wollen. Und er würde seinen Beitrag leisten, um ihn zu schützen. So wurde ihm das zumindest klargemacht und er verstand das. Außerdem könne er sich bei einem verlängerten Wehrdienst die Waffengattung aussuchen, zu der er einberufen werden möchte und er könne natürlich mit der Unterstützung der „zuständigen Stellen“ rechnen, wenn er studieren wolle. Außerdem wüsste er genau, wann er einberufen würde, könne sein Leben besser planen.

Der Offizier hatte ihn besoffen geredet. Zuletzt hatte Micha seine Verpflichtung unterschrieben und von da an gewusst, dass er ab dem heutigen Tag für drei Jahre zur „Asche“ muss. Seine Eltern hatten nicht viel dazu gesagt, selbst der Vater zeigte ihm mit fast unmerklichem Kopfschütteln, dass er nicht sehr stolz auf die Entscheidung seines Jungen war.

Als Micha erfuhr, dass er auf Rügen stationiert werden würde, hatte er es zunächst gar nicht glauben wollen. Im Vorjahr war er nur wenige Kilometer entfernt in Göhren im Urlaub gewesen. Mit einem Freund hatte er gezeltet. Es waren Traumferien. Mehr als einmal waren ihnen marschierende Soldaten auf Plattenstraßen im Nirgendwo begegnet. „Wenn du hier zur Armee musst, bist du verraten und verkauft“, hatten sie damals befunden. Und nun war Micha genau dorthin unterwegs.

Man hatte ihnen gesagt, dass mit der Ankunft nicht vor dem nächsten Morgen zu rechnen sei. Der Sonderzug fuhr nicht auf direktem Weg zur Insel, sammelte an mehreren Orten der Republik weitere junge Menschen ein. Es lagen also noch einige Stunden Fahrt vor ihnen. Im Abteil wurde noch immer wenig gesprochen, man hing seinen Gedanken nach. Für viele war es der erste lange Abschied von daheim. Im Gegensatz zu Reisen ins Ferienlager oder zu Klassenfahrten war das hier keine Vergnügungsreise. Man war auf dem Weg Soldat zu werden. Das war ernst für die meisten der Jungen.

Es gab ein striktes Alkoholverbot. Aber ebenso selbstverständlich wie dieses Verbot war es, welchen mitzunehmen. Immerhin hatte Micha schon einige Erfahrung, sich beim Alkoholtrinken nicht erwischen zu lassen. Als Lehrling hatte er erlebt, wie sich die älteren Kollegen während der Dienstzeit gern mal einen hinter die Binde kippten. „Dienstfähigkeit und Alkohol – zwei unversöhnliche Gegensätze“ stand am Spiegel ihrer Werkstatt. Was die Kollegen nicht daran hinderte, den Lehrling ab und an eine Flasche „Blauen Würger“ holen zu lassen und ihn anschließend vorzeitig nach Hause zu schicken. Irgendwann hat er dann einfach mitgetrunken und gehörte von da an, obwohl noch Lehrling, einfach dazu.

Mit der einsetzenden Dunkelheit löst sich die Stimmung. Im Nachbarabteil hat man die Alkoholvorräte hervorgeholt. Zwar müssen alle aufpassen, dass sie von der mitreisenden Militärstreife nicht erwischt werden. Vermutlich wissen die aber ganz genau, dass in diesem Zug getrunken wird und dass niemand etwas dagegen tun kann. Ab und zu ist das Geräusch einer auf dem Schotter der Bahngleise zersplitternden Glasflasche zu hören. Der Häufigkeit des Geräuschs nach zu urteilen, scheinen sich unvorstellbare Alkoholvorräte in diesem Zug zu befinden. Obwohl jeder nur eine Tasche mit Handgepäck mitführen darf, sind es viele, sehr viele Flaschen mit Hochprozentigem, die entleert ihren Weg auf den Schotter finden in dieser Nacht. Der Zug singt … dadamm, dadamm.

Langsam fällt das Sitzen schwer. Der Bahnhof Schwerin wurde eben durchrast, der Zug scheint im Norden angekommen zu sein. Draußen ist es stockdunkel. Ein paar Regentropfen hängen an den Fensterscheiben. Der Alkohol ist restlos aus, es herrscht Stille im Abteil und außer dem Rhythmus des fahrenden Zuges, der sie unaufhaltsam der Insel näherbringt, ist nichts zu hören. Micha ist kurz eingenickt, hat wirr geträumt und dann wieder den Gedanken an zu Hause nachgehangen, alkoholischer Halbschlaf.

Er weiß nicht, was ihn erwartet, er weiß nicht, ob es richtig ist, freiwillig zur Armee zu gehen und wann er wieder mal nach Hause kann. Er ist noch gar nicht angekommen und wünscht sich schon in sein altes Leben zurück.

Er wird munter, als der Zug hinter Stralsund scheppernd über die Stahlbrücke des Rügendammes fährt. Die Bahn lässt das Festland hinter sich. Im Osten dämmert der neue Tag herauf und nach reichlich dreißig Minuten Fahrt beginnen die Bremsen zu quietschen. Langsam schiebt sich am Fenster des Zuges ein Bahnhofsschild vorbei, auf dem der Name des Zieles dieser Reise zu lesen ist: Prora.

3

Auf dem Bahnhof der Kreisstadt herrscht Gedränge. Urlauber hasten mit Taschen und Koffern zu den Ausgängen. Als der Zug bereits wieder abgefahren ist, steht Stefan noch immer am Bahnsteig. An der Treppe sieht er den Großvater stehen. Hemdsärmelig, einen Strohhut auf dem Kopf, hebt der Alte den Arm und versucht ein Winken. Stefan erkennt ihn kaum wieder. Der Großvater erinnert Stefan an den alten Christopher Plummer. Die Zeit verändert die Menschengesichter, das Leben gräbt Spuren und streut Erfahrungen hinein. Der Junge geht langsam auf den Alten zu und gibt ihm die Hand. „Hallo, ich bin der Stefan, kennst Du mich noch?“ Der alte Mann nickt, ein Lächeln umspielt seine Lippen. „Schön, dass Du da bist“, sagt er und brummt nach kurzer Zeit hinterher: „Hätte nicht gedacht, dass Du kommst.“ Stefan überhört es, er weiß um die Gefahren, die Worte auslösen, wenn sie in leisen Sarkasmus gekleidet werden. Er erkennt den Vater im Großvater wieder. „Ich soll schöne Grüße ausrichten, vor allem von der Mutter.“ Und schon brummt es wieder. „Vom Vater doch wohl nicht.“ Die beiden gehen, so schnell der Alte kann, zum Ausgang. Die Hitze schlägt ihnen entgegen. Sie steigen in das Auto des Großvaters ein. Das Gefährt hat seine beste Zeit noch im letzten Jahrhundert erlebt. „Alt, aber bezahlt.“ Stefan lächelt in sich hinein. Genau das hatte er auch eben gedacht.

Sie fahren auf einer Landstraße dem Dorf entgegen. Langsam, denn das Kopfsteinpflaster aus der Zeit, als der elektrische Strom noch ein Märchen aus fremden Ländern war, lässt keine richtige Geschwindigkeit aufkommen. Das Auto galoppiert den Weg entlang. Stefan hat die Seitenscheibe heruntergelassen und atmet tief. „Wie weit ist es bis zum Strand?“, fragt er. „Acht Minuten mit dem Rad oder zehn durch die Dünen zu Fuß. Ist aber verboten.“ Der Großvater brummt wieder. Das Brummen scheint seine Art der Verständigung zu sein. Seit dem Tod seiner Frau wohnt er allein in der Kate, die er sich, als es keiner Parteisekretäre mehr bedurfte, vom Ersparten gekauft hatte.

Damals war es noch möglich, hier ein Stückchen Glück zu erwerben. Damals wollten nur noch wenige an die Ostsee, die weite Welt lockte und für kurze Zeit war manches zu haben. Das ist längst vorbei und der brummende Alte hätte mehrfach schon das Stückchen Land und die Kate für gutes Geld verkaufen können, wenn er gewollt hätte. Aber er ist hier heimisch geworden, hat sich eingegraben und ist angewachsen in der Gegend.

Da, wo er herkam, ist er als ehemaliger Funktionär bekannt und wird geschnitten, hier kennt man seine Vergangenheit wenig und interessiert sich auch kaum dafür. Zu viele Zugezogene wohnen hier, als dass man sich um jeden kümmern könnte. Das tut dem Alten gut, sich nicht immer rechtfertigen müssen für das frühere Leben. Rechtfertigen für das, was einmal als richtig galt und heute verächtlich gemacht wird. Das Auto hält vor dem Haus, das sich unter einer Linde duckt und auf die Ankömmlinge blickt. „Da sind mir“, sagt der Großvater zu Stefan. „Komm ins Haus und fühl dich wohl.“

Der alte Mann kann, obwohl er nun schon fast zwei Dutzend Jahre hier im Norden lebt, seine Herkunft nur schlecht verbergen, seine Heimat trägt er auf der Zunge mit sich herum. Stefan tritt in die Diele. Er zieht den Kopf ein, weil er glaubt, gleich an die Decke anzustoßen. „Schuhe brauchste nich erst ausziehen.“ Der Achtzehnjährige fühlt sich ein wenig fremd. Er hat das Haus des Großvaters viel größer in Erinnerung. „Mann, hast Du viele Bücher.“ Stefan staunt, als er in das Wohnzimmer kommt. Zu Hause gab es nur ein kleines Bücherbord, gelesen wurde nicht viel in seiner Familie, und wenn, dann Zeitung oder die bunten Illustrierten der Mutter. Nur er selbst hatte gelesen, zuerst das, was das Gymnasium vorgab und auch sonst manchmal etwas aus der Bibliothek der Kleinstadt.

„Kannste alle durchlesen, Junge.“ Der Großvater schlurft in die Küche. „Haste Hunger?“ „Ja, schon.“ Stefan hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Beide setzen sich an den Küchentisch. „Nu, erzähle, wie geht’s bei Euch zu?“ Stefan beginnt zu erzählen, zaghaft zuerst, denn der Mann neben ihm ist ihm ein wenig fremd, obwohl er sich daran erinnert, dass er als Kind schon ein paar Mal hier gewesen ist. Damals lebte auch die Großmutter noch. Die machte ihm immer Plinsen, die er so gern aß. Heute aber gibt es Brot und Wurst beim Großvater, dazu für jeden eine kleine Flasche Bier. Stefan erzählt zwischen Beißen, Kauen und Schlucken von zu Hause. Der Vater sei noch immer in der Firma beschäftigt, wie vor Jahren schon. Die Mutter kuriere ihr Rückenleiden aus und habe die Arbeit aufgegeben. „Vater redet immer noch schlecht von Dir.“ Zaghaft kommen ihm diese Worte über die Lippen. „Das glaub ich wohl, von dem Flüchtling is nischt anderes zu erwarten.“ Ein Schluck aus der Flasche besiegelt diesen Satz. Stefan nimmt seinen Mut zusammen. „Warum kannst Du eigentlich nicht verstehen, dass der Vater damals in den Westen gegangen ist?“ „Gegangen is nich ganz richtig, abgehaun is er, über Ungarn raus, wie so viele.“ Der alte Mann nimmt einen großen Zug aus der Flasche. Er rülpst leise. „Dein Vater wollte kein besseres Land, der wollte nur selber besser leben, egoistisch ist das.“ Der Alte brummt wieder.

„Am besten wird sein, wir reden da in den nächsten Tagen mal drüber, aber nich beim Bier, da wird es schnell komisch.“ Stefan war es recht, er wollte auf keinen Fall Streit. „Wie lange willst‘n bleiben?“ wollte Alfred wissen. „Ich denke, ein, zwei Wochen oder so.“ Stefan wusste das selbst noch nicht richtig. Es ist noch ein Jahr bis zum Abi, jetzt waren Sommerferien und er hatte nichts anderes vor. Sein Wunsch war, in diesem Sommer den Großvater noch mal zu sehen und mit ihm über seine Familie zu sprechen. Er hatte Zeit im Gepäck. Wie es aussah, wird es der letzte Großvatersommer sein, keine Eile also. „Wie geht es Dir denn nun eigentlich? Wir waren alle erschrocken nach Deinem Brief.“ „Die Ärzte sagen einem ja nischt Genaues, aber der Blick vom Doktor sprach Bände. Mein Leben wird vorbei sein, ehe der Herbst die Blätter färbt, denke ich.“ Der alte Mann sprach direkt. Er wollte wohl keine Zeit mehr opfern für sprachliche Umwege. „Deshalb freu ich mich auch, dass Du gekomm bist. Ich hätt‘s fast nicht geglaubt.“ Er strich Stefan über die Stirn. „En Mann biste geworden, en richtiger Mann.“