No Trace – Die Spur des Bösen - Emma Viskic - E-Book

No Trace – Die Spur des Bösen E-Book

Emma Viskic

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Der gehörlose Privatermittler Caleb ist endlich auf dem richtigen Weg: Er sucht sich Hilfe wegen seiner Albträume, er hat wieder Aufträge, und die Beziehung zu seiner fast-Ex-Frau läuft besser als je zuvor. Doch das verworrene Leben seiner Ex-Business-Partnerin Frankie holt ihn ein. Frankie hat viel verbrannte Erde hinterlassen, sich mit den Falschen angelegt und die noch Falscheren hintergangen. Als plötzlich ihre Nichte aus Calebs Obhut entführt wird, müssen Caleb und Frankie zusammenarbeiten, um das Kind zu retten. Aber kann Caleb Frankie nach all den Lügen und Täuschungen wieder vertrauen?

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Übersetzung aus dem australischen Englisch von Ulrike Brauns

© Emma Viskic, 2020

Titel der englischen Originalausgabe:

»Darkness for Light« bei Echo publishing, an imprint of Bonnier Zaffre Limited, London 2019

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Kerstin Kubitz

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: DenisNata/Shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

Epilog

Danksagung

Für Dad

Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen,

die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen,

die aus sauer süß und aus süß sauer machen!

Jesaja 5,20

1. Kapitel

Ein Kinderbauernhof war eine nette Abwechslung. Sonst fanden seine heimlichen Treffen in finsteren Pubs statt, nicht inmitten künstlich angelegter Koppeln mit schönem Ausblick und besten Lichtverhältnissen. Obwohl der Park in einer halben Stunde schloss, waren noch ein paar Familien unterwegs und betrachteten die Kühe. Frische Luft und tiefblauer Himmel, dazu noch etwas Restwärme der Nachmittagssonne. Ein Melbourner Herbst, wie er im Buche stand.

Caleb zahlte den happigen Eintrittspreis und marschierte dann eilig den Hauptweg entlang. Die Fahrt von seinem Büro hatte wegen der vielen Baustellen zwanzig Minuten gedauert, dabei waren es nur fünf Blocks gewesen. Alles an seinem potenziellen Kunden schrie geradezu Übervorsicht bis hin zur Panik – die anonyme E-Mail-Adresse, die fehlende Telefonnummer und der Wunsch, ihn sofort zu treffen.

Trotz der hektischen Anfahrt war da Leichtigkeit in ihm: am Ende eines guten Tages, einer guten Woche, eines deutlich besseren Jahres. Gott sei Dank.

Caleb erreichte einen eingezäunten Garten mit Bäumen, deren Blätter sich schon gelb verfärbt hatten. Fluffige Hühner scharrten im Sand, ihre Federn glichen dicken Schneeflocken. Weit und breit kein stämmiger Mann in dunkelgrauem Anzug, wie er sich selbst beschrieben hatte. Tatsächlich sogar überhaupt kein anderer Mann, nur eine Mutter mit einem Kleinkind, das auf seinen wackeligen Beinchen herumlief und desinteressierten Vögeln Gras anbot. Das Aufflackern einer möglichen Zukunft: eine kleine Hand in seiner, Kat an seiner Seite, ein gemeinsamer Nachmittag in der Sonne. Die Mutter sagte etwas zu ihm. Ihre Wörter rauschten unverstanden an ihm vorbei, aber ihre Miene sagte alles: Verschwinde, du komisch grinsender Kerl.

Also ging er.

Niemand erwartete ihn, weder am Zaun noch bei den Scheunen. Martin Amon war nicht da. Das überraschte Caleb, denn der Mann hatte in ihrer kurzen E-Mail-Korrespondenz nicht den Eindruck erweckt, unzuverlässig zu sein. Kein besorgniserregender, übermäßiger Gebrauch von Großbuchstaben oder Ausrufezeichen, nur ein paar wenige, deutliche Sätze, die so wirkten, als sei er es gewohnt, die Führung zu übernehmen. Vielleicht war das aber auch ganz gut. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Amon einfach nur ein unentspannter Manager war, besorgt wegen eines kleineren Betrugsdelikts. Aber die Dringlichkeit konnte auch auf etwas viel Unheilvolleres hindeuten, und um solche Fälle machte Caleb dieser Tage eigentlich lieber einen Bogen. Er übernahm die leichten, ungefährlichen Jobs – Überprüfung von Angestellten, Unterschlagungsverdacht, Sicherheitsberatungen –, nichts, was wieder Terror und Gewalt in sein Leben brächte. Eine Lektion, die er endlich gelernt hatte. Nach der Sache mit seinem Bruder. Und mit Frankie.

Er marschierte noch einmal an der Begrenzung des Gartens entlang, ein letzter Versuch. Weitere Hühner, drei von ihnen pickten emsig an einer dunkleren Stelle in der Nähe einer der Holzscheunen herum. Kleine, helle Klümpchen glänzten dort im Gras. Dazu ein unangenehmer Geruch, wie vor einer Metzgerei an einem heißen Sommertag. Er kannte diesen Geruch, erwachte immer noch aus Albträumen und hatte ihn in der Nase.

Er blieb stehen.

Eine lange Schleifspur führte von den pickenden Hühnern geradewegs in die Scheune. Feucht, als hätte jemand einen dreckigen Wischmopp über die Wiese gezogen. Vereinzelte Federn klebten an den Halmen und bewegten sich im sanften Wind. Weiße Federn, rot befleckt.

Galle stieg ihm in den Mund.

Eine Bewegung rechts von ihm – die Mutter und das Kleinkind bogen um die Ecke, kamen auf ihn zu. Das Kind schenkte ihm ein breites Lächeln und bot ihm eine Handvoll ausgerupftes Gras an. Caleb fehlten die Worte, die Luft zum Sprechen. Er riss nur die Hand hoch, damit sie nicht näher kamen. Die Frau erstarrte, öffnete den Mund, doch dann erfasste sie mit einem Blick die blassen Klumpen, das feuchte Gras und die Hühner, die pick-pick-pickten. Sofort nahm sie ihr Kind auf den Arm und rannte davon.

Das sollte er auch tun.

Umdrehen, abhauen und niemals zurückkehren.

Vorsichtig umrundete er die Hühner und folgte der Schleifspur in die Scheune. Sie hatte keine Fenster, Calebs Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Ein spitz zulaufendes Dach, hoch aufgestapelte Heuballen an den Wänden. Der Mann lag auf der Seite, direkt beim Eingang. Dunkelgrauer Anzug, ein paar Extrakilos am stämmigen Körper, verklebtes, staubiges Haar am Hinterkopf. Kein Gesicht, nur blutiger Matsch aus Fleisch und Knochen.

2. Kapitel

Sie brachten Caleb in das enge Büro des Bauernhofs, wo er zwischen halb leeren Teetassen, umgeben von Postern mit Kindern und dicken Kühen, warten sollte. An der Tür saß eine Polizistin auf einem Drehstuhl, die gelangweilt auf ihrem Handy rumtippte. Vor dem kleinen Fenster war es dunkel, die Nacht hatte sich schon vor Stunden über die Stadt gesenkt und eine bleierne Müdigkeit mitgebracht. Am liebsten hätte er den Kopf auf den unordentlichen Tisch gelegt und geschlafen. Er hatte keine Ahnung, worauf er überhaupt wartete, wusste nur, dass die Detectives ihn gerade hatten gehen lassen wollen, als sie einen Anruf bekamen, auf den eine hastige Diskussion folgte und die Bitte, noch zu bleiben.

Amon war erschossen worden. Eine Kugel in den Hinterkopf, die vorn wieder ausgetreten war. Caleb wusste nicht viel über Schusswaffen, nur, was sie mit einem Körper anrichten konnten. Er hatte den heftigen Rückstoß einer Pistole selbst gespürt, die Wärme vom Blut eines fremden Mannes.

Er zuckte zusammen, als die Polizistin plötzlich aufsprang. Zwei Männer in Anzügen kamen zur Tür herein; dafür, dass sie nicht gerade groß waren, beanspruchten beide sehr viel Raum. Ein kurzes Aufblitzen ihrer Dienstausweise, ein paar unlesbare, an die Polizistin gerichtete Wörter, schon war sie draußen und schloss die Tür hinter sich. Beide Männer musterten ihn nach bester Bullenmanier; der kleinere war rasiert, der größere hatte einen braunen Spitzbart, der eher einem halb gefressenen Hasen glich. Der Bart war problematisch, denn er verdeckte komplett die Ober- und einen Großteil der Unterlippe. Seit wann erlaubte die Polizei von Victoria Bärte?

Der Bartlose zog einen Stuhl vor Caleb und setzte sich darauf, aber zur Ruhe kam er dadurch nicht: Füße flach auf dem Boden, rastloser Blick. Hasengesicht lehnte sich mit einer Pobacke gegen den niedrigen Aktenschrank und wirkte noch angespannter als sein Kollege.

»Danke, dass Sie gewartet haben«, sagte der Bartlose. »Macht das alles etwas einfacher.«

Leicht zu lesen: klar und deutlich, seine Stimme schwach, aber immerhin hörbar. Caleb sackte vor Erleichterung fast in sich zusammen – er war einfach zu müde, um einem Nuschler von den Lippen zu lesen.

»Selbstverständlich«, sagte er.

»Unsere Kollegen bei der Mordkommission sagen, Sie brauchen keinen Dolmetscher.« Sein Blick wanderte zu den Hörgeräten, die aber unmöglich unter Calebs dunklen Haaren zu sehen sein konnten.

»Richtig.« Caleb unterdrückte den Impuls zu prüfen, ob man sie wirklich nicht sehen konnte, während er schlussfolgerte: »Dann sind Sie nicht von der Mordkommission?«

Der Bartlose zögerte, bevor er antwortete. »AFP.«

Bundespolizisten, die sich für ein Verbrechen auf Landesebene interessierten. Bundespolizisten, die ihre Namen lieber für sich behielten. Der Mord hatte was Professionelles, nicht nur wegen des Schalldämpfers, den der Täter benutzt hatte, sondern weil er in den Hinterkopf geschossen hatte. Organisierte Kriminalität vielleicht?

»Warum interessiert sich die Bundespolizei für Amon?«, fragte Caleb.

»Wir stellen hier die Fragen, wenn’s recht ist, Mr Zelic.« Der Bartlose zog Calebs Handy aus der Hosentasche und reichte es ihm. »Wir haben uns den Mailwechsel zwischen Ihnen und Martin Amon angeschaut. Was können Sie uns sonst noch über ihn sagen?«

Caleb könnte darauf drängen, dass sie ihm ihre Ausweise richtig zeigten, könnte seinen Kumpel bei der Mordkommission, Tedesco, kontaktieren. Aber damit würde er sich nur tiefer in diese Sache verstricken – und sein neues Motto war »Handle klug«. Sein sehr neues Motto. Quasi frisch aus der Packung, es roch noch nach Fabrik.

»Nichts«, sagte er. »Ich weiß auch nur das, was in den Mails steht.«

Ein leises Grummeln, als Hasengesicht sprach, der Bart öffnete sich nur leicht, schloss sich wieder.

Scheiße, schlimmer, als Caleb befürchtet hatte. Die Hörgeräte lauter zu drehen, würde auch nicht helfen. Erhöhte Lautstärke würde die Stimme dieses Mannes weder verständlicher noch seinen Mund sichtbarer machen. Er musste klein beigeben. »Entschuldigen Sie, ich kann Sie leider nicht verstehen. Der Bart ist das Problem.«

Der Bartlose warf seinem Kollegen einen Blick zu. »Damit wären wir uns einig – die Gesichtsmatte muss weg.« Dann zog er ein gebundenes Notizbuch aus der Brusttasche und blätterte darin. »Der erste Kontakt zwischen Amon und Ihnen war also eine E-Mail mit den Worten: ›Ich muss sofort mit Ihnen sprechen. Streng vertraulich.‹?«

»Ja.«

»Und das reichte Ihnen als Voraussetzung für ein Treffen?«

»Das ist nicht unüblich. Ich prüfe oft firmeninterne Betrugsfälle – und niemand will, dass die Gesellschafter von langfingrigen Angestellten erfahren.«

»Hatten Sie vorher schon einmal etwas von dem Verstorbenen gehört? Wurde Ihnen angekündigt, dass er sich melden könnte?«

»Nein.«

Enttäuschung huschte über das Gesicht des Detectives, aber er verbarg sie schnell wieder. »Nicht mal eine vage Andeutung? Ohne Namensnennung?«

»Nein.«

»Haben Sie sich mit ihm unterhalten?«

»Nein.«

»Nicht mal ein paar Worte gewechselt?«

»Sein Gesicht war weg, was das Lippenlesen deutlich erschwert.«

Dafür erntete er einen langen Blick. Milchkaffeefarbene Augen, ein bisschen blutunterlaufen. »Am Telefon, meinte ich. Sie haben doch gesagt, dass Sie sich verspätet haben. Da haben Sie ihn nicht angerufen und ihm das gesagt? Von einer Telefonzelle aus? Oder mit einem geliehenen Handy?«

»Ich telefoniere nicht.« Caleb zögerte, fügte dann hinzu: »Kann ich nicht.«

Der Bartlose hielt sich eine Hand vor den Mund und sprach, dabei ließ er Caleb nicht aus den Augen. Wahrscheinlich machte er den üblichen Test, den Caleb noch aus der Jugendzeit kannte, und sagte irgendetwas Vulgäres, beleidigte nahe Verwandte. Caleb starrte ihn an wie ein toter Fisch, bis der Bartlose endlich die Hand senkte.

Ein kurzer Blickwechsel zwischen den beiden Kollegen, dann steckte der Bartlose sein Notizbuch weg. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr Zelic. Sie können dann gehen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit nennen wir Ihren Namen nicht in unseren Ermittlungen, bitten Sie aber umgekehrt auch, Amon niemandem gegenüber zu erwähnen. Weder online noch persönlich.«

Caleb regte sich nicht. Die beiden wussten offensichtlich eine Menge mehr über Amon, als sie ihm mitzuteilen gedachten. Wenn er nachhakte, konnte er vielleicht noch etwas erfahren.

»Müssen wir mit Schwierigkeiten rechnen?«, fragte der Bartlose.

Handle klug. Wer immer dieser Amon war, sein Mord hatte dafür gesorgt, dass diese beiden Bundespolizisten starr vor Anspannung waren. Wenn er sich einmischte, konnte das nur Ärger bedeuten.

»Nein.« Dann stand er auf und trat aus dem Gebäude in die klare Nacht. Er schaute sich nicht um.

3. Kapitel

Caleb war fast beim Café, als er wieder das Auto sah: eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben und einem verdreckten Kennzeichen. Das war jetzt das dritte Mal, seit er das Büro verlassen hatte. Schwer zu sagen, ob er verfolgt wurde oder einfach nur paranoid war. Vierundzwanzig Stunden waren seit Martin Amons Tod vergangen, sein Adrenalinpegel noch immer hoch. Caleb justierte den Rückspiegel nach und blinzelte in das schwindende Tageslicht: unverkennbar, nur ein Wagen zwischen ihnen.

Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

Die kleine Einkaufszeile lag direkt um die Ecke. Abbiegen oder weiterfahren? Die meisten Geschäfte hatten um Viertel nach fünf an einem Dienstagabend sicher schon geschlossen, dort konnte er also nicht gerade auf viele potenzielle Zeugen hoffen, aber wenige waren besser als keine. Denn auf die Einkaufszeile folgte nur noch ein Industriegebiet mit Fabrikanlagen und Lagerhallen.

Langsam bog er ab, beschleunigte dann kurz und hielt am Bordstein. Tür halb geöffnet, Blick auf den Spiegel gerichtet. Die schwarze Limousine bog ebenfalls um die Ecke. Sie kam näher, die Scheinwerfer ausgeschaltet, am Steuer nichts als eine vage Silhouette. Schon fast auf seiner Höhe. An ihm vorbei. Der Wagen fuhr weiter, die Bremslichter leuchteten kurz auf, bevor er um die nächste Ecke verschwand. Weg war er. Caleb atmete auf. Lediglich jemand, der wie er die Hauptverkehrsstraßen mied. Hatte nichts mit ihm oder einem toten Mann mit weggeschossenem Gesicht zu tun.

Die Zeitungsartikel hatten bisher kaum weitere Informationen geliefert. Weder Caleb noch Martin Amon wurden namentlich erwähnt, kein mögliches Motiv genannt, nur ausführlich spekuliert. Auch eine Onlinesuche hatte ihm nichts über Amon verraten, was zwei Gründe haben konnte: Der Mann war sehr vorsichtig gewesen oder hatte ein Pseudonym benutzt.

Caleb blieb einen Moment in dem schnell abkühlenden Wagen sitzen, stieg dann aus und ging zu Alberto’s Place. Das kleine Café war geschlossen, aber in der Küche herrschte sicher noch reges Treiben, um die Bestellungen für die Hotels der Stadt abzuarbeiten. Pasteten und Pasta, Würstchen, Backwaren, alle nach alten Familienrezepten. Er wollte Kat mit einem umwerfenden Picknick in ihrem Atelier überraschen, um ihr zu versichern, dass er nicht rückfällig geworden war. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, als er ihr am Vorabend von Amon erzählte. Würde sich weiter sorgen.

Er bog in die kleine Seitenstraße ein, die zur Rückseite des alten Backsteinhauses führte, und blieb vor der Glastür stehen. Die hohe Decke der Küche lag im Dunkeln, das einzige Licht spendeten Kerzen, Taschenlampen und Handys, die über den gesamten Raum verteilt waren. Sie standen in den Regalen oder auf der Arbeitsfläche und warfen so immerhin ausreichend Licht auf alle Handbewegungen und Gesichter der Angestellten. Sechs an der Zahl, die alle in Gebärdensprache kommunizierten, während sie kochten, ihr Auslan nur geringfügig beeinträchtigt durch die Latexhandschuhe. Es ging um Wochenendpläne, Partner, Enkel, Trainingsvorhaben. Alberto Conti streifte zwischen ihnen hindurch, seine Hände ruhelos, während er hier eine Anweisung gab, dort ein Gericht probierte.

Caleb schob seine Hörgeräte in die Hosentasche, öffnete die Tür und trat in die Stille und Wärme. Es roch nach angedünstetem Knoblauch und Zwiebeln, gerösteten Walnüssen, Oregano. Eine Abfolge von gewunkenen Hallos, als sie ihn nacheinander bemerkten, das überschwänglichste von Alberto. Ein zweiundsiebzigjähriger, muskulöser Mann mit wettergegerbter Haut. Kein Läufer wie er, was Caleb zunächst vermutet hatte, sondern ehemaliger Boxer im Federgewicht.

Wie immer schloss er Caleb in eine Umarmung, die seine Rippen knacken ließ, gefolgt von einem Schlag auf den Rücken. Das Verhältnis von Größe zu Stärke stimmte bei ihm hinten und vorne nicht. Er war vierzig Jahre älter als Caleb, dazu einen Kopf kleiner, und trotzdem hätte Caleb in einem Kampf keine Chance gegen ihn.

»Stromausfall?«, gebärdete Caleb, als der drahtige Mann ihn endlich freigab.

»Nein, nein, wir mögen’s romantisch.« Alberto begleitete die Gebärde eines klopfenden Herzens mit einem passend schwärmerischen Gesichtsausdruck. Dann holte er eine offenbar schwere Canvastasche aus dem Regal und stellte sie feierlich vor Caleb. Seine Miene hatte nun etwas Andächtiges. »Heute gibt es Schweinebauch statt Würstchen. Unschlagbar, so was Gutes hast du noch nie gegessen.«

»Kat ist kein großer Fan von Schwein. Soll ich mal einen Blick auf den Sicherungskasten werfen? Der Rest der Straße hat Strom.«

»Hier ist alles unter Kontrolle. Und dieses Schwein wird sie mögen. Besser könnte deine Mutter es nicht machen, selbst wenn sie mit dem Metzger schlafen würde. Mit dem Schwein!« Trotzdem steckte er eine große Quiche in einen Karton und packte ihn dazu. »Wie geht’s Kat? Alles in Ordnung?«

»Ja, alles gut.«

»Ich verstehe euch nicht. Ihr solltet wieder zusammenziehen. Gerade jetzt.«

Er brauchte immer einen Moment, bis er sich wieder an die Direktheit der Gehörlosen gewöhnt hatte, nach einer Woche in der Welt der Hörenden. Zudem bemerkenswert, dass Alberto es geschafft hatte, ihm in nur vier Wochen mehr über sich und sein Leben zu entlocken, als es anderen in Jahren gelang, in Jahrzehnten sogar.

»Steht auf der Agenda.« Caleb erstarrte. Durch die Küchendurchreiche erhaschte er einen Blick auf einen Wagen, der langsam durch die Straße rollte. Ausgeschaltete Scheinwerfer trotz einsetzender Dämmerung. Vielleicht grau, vielleicht schwarz. Er fuhr, ohne anzuhalten, vorbei.

Alberto winkte, um Calebs Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich habe mich jetzt doch für die Panzerriegel entschieden, von denen du mich schon so lange überzeugen willst. Kannst du das übernehmen?«

»Klar.« Jetzt war die Straße leer, keine weiteren Autos, weder mit noch ohne Licht.

Wieder winkte Alberto. »Morgen?«

Da wandte Caleb sich ihm voll zu. Monatelang hatte er versucht, den Mann dazu zu bringen, in die Sicherheit seines Cafés zu investieren, wieso hatte er es plötzlich so eilig? Das lebenslange Gebärden hatte zur Folge, dass Albertos Gesicht so leicht zu lesen war wie seine Hände: Er machte sich Sorgen, versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen.

»Stimmt was nicht?«

»Quatsch, ich will nur dein ewiges Gequengel nicht mehr hören.«

»Alberto, was ist los?« Ihm wurde bewusst, dass er dies versehentlich laut ausgesprochen hatte.

Alberto gehörte zu jenen, die stolz waren, nicht von den Lippen lesen zu können, aber Calebs Gesichtsausdruck verriet offenbar, was er wissen wollte. »Du machst dir zu viele Sorgen.« Er tätschelte Caleb die Hand.

Halt dich raus. Alberto wollte allem Anschein nach nicht darüber sprechen. Außerdem war es immer ein Fehler, Berufliches und Privates zu mischen – eine weitere Lektion, die er dank Frankie gelernt hatte.

Caleb warf einen prüfenden Blick zur Straße und hängte sich dann die Tasche mit dem Essen um. »Ich rede gleich morgen mit dem Monteur.«

Daraufhin wurde er erneut fest umarmt, stand aber schon bald mit unversehrten Rippen in der kleinen Seitengasse.

Hier gab es keine Verstecke oder Angreifer, die ihm auflauern konnten. Er machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Die Dämmerung war der Nacht gewichen, die den Geruch kalter Erde mit sich führte. Vorzügliches Essen, ein paar schöne Stunden mit Kat, dann nach Hause, um den Schlaf des fast Gerechten zu schlafen.

Ein schneller Schatten vor ihm, die schwarze Limousine bog in die enge Seitengasse, blockierte seinen Weg. Die Fahrertür flog auf.

Caleb ließ die Tasche fallen und rannte los. Wieder zu Alberto in die Küche? Nein, er konnte die Sicherheit der anderen nicht aufs Spiel setzen. An der Küche vorbei, weiter die Gasse hinunter. Die Scheinwerfer strahlten hinter ihm, kamen näher. Scheiße, das würde er nicht schaffen. Direkt vor ihm ein Fußweg, zu schmal für das Auto. Er keuchte. Das Licht wurde immer greller, der Wagen hatte ihn fast eingeholt.

Um die Ecke. Dunkelheit. Hohe Zäune, Bäume ragten darüber auf, zu seinen Füßen ließ sich ein betonierter Weg gerade noch erahnen. Er rannte.

Paff.

Er taumelte rückwärts, die Hände vors Gesicht gerissen.

Ein Drahtzaun quer über den Weg, dahinter eine Baustelle. Scheiße, er musste rüberklettern. Er zog sich daran hoch, seine Füße rutschten ab, als der Zaun gefährlich wippte. Er war zu langsam, die Meningitis hatte ihm nicht nur sein Hörvermögen geraubt, sondern auch eine große Portion seines Gleichgewichtssinns.

Kurzer Blick zurück. Eine dunkle Gestalt, rennend. Sieben, acht Meter entfernt, etwas in der Hand.

Eine Waffe.

Eine Pistole.

Caleb kämpfte sich am Zaun hoch, seine Finger krallten sich in den Draht. Fast oben, Hände auf …

Zuckender Schmerz.

Haut, Lunge, Rückenmark verschmolzen.

Absturz.

4. Kapitel

Minuten, Jahre, bis sein Hirn sich wieder entwirrt hatte. Er lag rücklings auf dem Betonboden, der harte Aufschlag dröhnte ihm noch in den Knochen, Arme und Beine leicht taub. Erst war da Panik, bevor er begriff, was los war. Nicht halb tot, nicht angeschossen – getasert.

Licht flackerte rechts von ihm auf, als jemand eine Taschenlampe auf den Boden stellte. Die Art Taschenlampe, die Leute für gewöhnlich im Kofferraum und im Schuppen hatten. Die Frau, die sich vor ihn stellte, trug ein blumiges Parfum. Ach, Scheiße – Jasmin. Zumindest hatte er sie so getauft. Sie hatte weder ihren Namen genannt noch einen Ausweis gezeigt, der bewiesen hätte, dass sie tatsächlich Bundespolizistin war, wie sie behauptete.

Caleb setzte sich auf und versuchte, den krampfartigen Schmerz im Rücken zu ignorieren, während Jasmin sich vor ihn kniete. Mitte dreißig, stumpfes, braunes Haar und ein nicht sehr einprägsames Aussehen, strenger Mund. Ihr Taser sah aus wie ein Handy. Vermutlich war es dieselbe illegale Waffe, die sie schon vor vier Monaten bei ihm eingesetzt hatte. Sie hatte ihn fast in einer Badewanne ertränkt und wiederholt getasert. Angeblich, damit ihre Tarnung nicht aufflog. Keine Ahnung, was sie jetzt wollte. Letztes Mal war sie hinter Frankie her gewesen, dieses Mal würde das nicht anders sein.

Sie vergewisserte sich, dass er sie ansah, und fing an zu sprechen.

Stille.

Mist, die Hörgeräte steckten noch immer in seiner Hosentasche. Sie waren nicht gerade eine Überraschung für Jasmin, aber er konnte sich wahrlich Schöneres vorstellen, als sie vor ihren Augen mit gefühllosen Fingern einzusetzen – da konnte er sich ja gleich nackt ausziehen. Allerdings war es unmöglich, ohne die geringste lautliche Unterstützung Jasmin von den Lippen zu lesen. Nichts als eine schnelle Abfolge von Wörtern, dazu ein Mund wie eine harte Linie. Eine härter werdende Linie, da eine Reaktion seinerseits auf ihre Frage ausblieb, die sie anscheinend gerade wiederholt hatte.

Scheiß drauf.

Er griff in die Hosentasche, und schon hatte sie den Taser wieder im Anschlag.

Caleb erstarrte.

»Ich brauche meine Hörgeräte«, sagte er schnell. »Ohne verstehe ich dich nicht.«

Sie warf einen Blick zur Seitengasse und machte ihm ein Zeichen, er solle sich beeilen. Ungeduldig beobachtete sie, wie er mehrfach ansetzen musste, bis die Hörgeräte richtig saßen. Schnell streifte er die Haare wieder über die Ohren und schaute sie an.

»… du … jetzt verstehen?« Ein dünnes Rinnsal ihrer Stimme.

Er reimte sich die Frage zusammen: Kannst du mich jetzt verstehen? Wahrscheinlich würde er nur jedes zweite Wort mitbekommen, aber vermutlich genug, um den Rest erraten zu können.

»Warum zur Hölle hast du mich getasert?«, fragte er.

»Ich hab gesagt, du sollst stehen bleiben.«

»Oh, super Idee. Wenn du zu Frankie willst: Ich habe keine Ahnung, wo sie steckt. Wende dich lieber gleich an ihr kriminelles Netzwerk – und fang am besten bei ihrer Schwester Maggie an.«

Jasmin warf einen Blick hinter ihn. »Die haben keinen Kontakt. Und du … sie.«

»Langsamer.«

»Du. Kennst. Sie. Besser als irgendwer sonst.«

Er hatte geglaubt, er würde Frankie kennen, geglaubt, sie wären nicht nur Geschäftspartner, sondern sogar befreundet. »Frankie hat mein Leben ruiniert und ist schuld daran, dass meine Frau beinahe ermordet wurde. Ich würde sie nicht suchen, selbst wenn ich wüsste, wo ich sie finden kann.«

Jasmin beugte sich zu ihm vor. Aufgesprungene Lippen, Überreste eines dunklen Lippenstifts in den Mundwinkeln, Haut, die über den Wangenknochen spannte. »Ich bitte dich nicht, ich sage dir, du musst sie finden. Sie hat Unterlagen, die ich brauche. Entweder du holst Frankie aus der Versenkung oder beschaffst die Unterlagen, mir egal. Du hast zwei Tage.«

Er wusste etwas über die Unterlagen, aber das würde er Jasmin gegenüber nicht erwähnen.

Ihr Blick wanderte die hohen Holzzäune entlang, sie war bereit, jederzeit loszusprinten. Sofort spürte er, wie sich auch seine Muskeln anspannten. Wovor hatte eine Polizistin Angst, die einen Mann eine dunkle Gasse entlang gejagt hatte?

Plötzliche Klarheit in seinem benebelten Verstand: Sie hatte behauptet, von der Bundespolizei zu sein.

»Hat das mit Martin Amon zu tun?«, fragte er.

»Ja. Ich brauche …«

»Zeig mir deinen Ausweis.«

Erneut blickte sie sich um, zog dann ein Lederetui aus der hinteren Hosentasche und warf es ihm zu. Darin befand sich eine echt aussehende Dienstmarke mit Krone und den Wörtern Australian Federal Police, daneben ein Foto ihres ernsten Gesichts. Senior Constable Imogen Blain. Imogen – ein Name, den er bisher nur geschrieben kannte, ausgesprochen hatte er ihn noch nie.

Er notierte sich ihre Dienstnummer und reichte den Ausweis zurück. »Was hat Frankie mit Amon zu tun?«

»Ich habe doch gerade gesagt, dass sie Unterlagen hat, die wir brauchen. Deshalb hat Martin dich kontaktiert. Ich habe ihm gesagt …« Sie zögerte. »Ich habe ihm gesagt, dass du sie finden kannst.«

»Moment. Dann war Amon ein Bulle? Von der Bundespolizei?«

Ihr Kiefer arbeitete. »Ja.«

Angst rumorte in seinem Bauch: ein ermordeter Bundespolizist. Egal, in was Imogen da verwickelt war, Caleb musste auf größtmöglichen Abstand dazu gehen, und zwar sehr schnell. Niemals waren das hier offizielle Ermittlungen – warum sonst dieser hinterhältige Überfall ganz ohne Partner? Warum sonst hatte bisher niemand Frankie erwähnt? Imogen ermittelte also entweder auf eigene Faust, oder sie war gar kein echter Cop.

»Ich kann dir nicht helfen.« Er stand auf.

»Wenn du mir nicht hilfst, mach ich dir das Leben zur Hölle.«

Die Hölle kannte er schon, kannte ihren Gestank und ihre schweißtreibende Last. Das konnte sie unmöglich übertrumpfen. »Mach, was du willst.«

»Schön, dann verhafte ich dich wegen Mordes.«

Kälte durchfuhr ihn. Wie konnte sie das wissen?

»Hast du wirklich geglaubt, wir wüssten das nicht, Caleb? Du hast Michael Petronin erschossen und seine Leiche am Strand sich selbst überlassen. Eine Auseinandersetzung zwischen zwei Straftätern. Das werden wir vor Gericht aussagen. Und dort wird man uns glauben. Insbesondere wenn herauskommt, dass das Opfer Frankies Gangsterschwager war.«

Petronins zerschossener Hals, die leeren Augen, die Wärme seines spritzenden Blutes, der salzige Geschmack.

Reiß dich verdammt noch mal zusammen und denk nach. Sie konnte es nicht wissen, nicht mit Sicherheit; es gab keine Zeugen, keine Beweise.

Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Ach nein? Jemand anders ist sich dafür aber ziemlich sicher.« Imogen holte ein Blatt aus der Manteltasche und hielt es ihm vors Gesicht: die Kopie eines handschriftlichen Textes mit dem gestrigen Datum. Kein Briefkopf der Polizei, aber aufgezogen wie eine offizielle Aussage, nur Name und Unterschrift waren geschwärzt. Wörter unterschiedlicher Größe zogen sich schief über das Papier.

Ich habe gesehen, wie CALEB ZELIC letztes Jahr den Mann am Schtrand getötet hat sie haben gestritten und CALEB ZELIC hatte eine Pistole dabei und hat den Mann erschossen. Ich kenne CALEB ZELIC vom Sehen und er ist taup.

Imogens trockene Lippen bewegten sich. »… du findest Frankie, oder du bekommst zwanzig Jahre für Mord.« Sie hielt ihm eine Visitenkarte hin. »Deine zwei Tage starten genau jetzt.«

Dann wandte sie sich ab und ging davon, bis die Dunkelheit sie verschluckte.

5. Kapitel

Früh am folgenden Morgen brach Caleb zu einem Lauf entlang des Yarra Rivers auf. Er musste den Kopf freikriegen, er konnte einfach nicht klar denken. Früher hätte er sich kopfüber in die Suche nach Frankie gestürzt, aber er versuchte neuerdings, klüger zu handeln. Eine steile Lernkurve. Er lief über die Fußgängerbrücke und dann den unbefestigten Weg direkt am Ufer entlang, während seine schmerzende Muskulatur sich allmählich lockerte. Um ihn der Geruch sich langsam erwärmender Erde und der zitronige Duft der Eukalyptusbäume. Der Himmel über ihm war schmutzig grau.

Mit den Morgennachrichten kam bedauerlicherweise die Bestätigung, dass Martin Amon tatsächlich Bundespolizist gewesen war. Jetzt hing alles an den Informationen, die Calebs Freund Tedesco gerade für ihn beschaffte. War Imogen kein Cop, konnte er ihre Drohung ignorieren. War sie einer, saß er ziemlich tief in der Scheiße – denn selbst wenn er irgendwie Kontakt zu Frankie aufnehmen konnte, würde sie niemals sein Wohlergehen über ihr eigenes stellen.

Frankie. Ehemalige Sergeant Francesca Reynolds, achtundfünfzig und ein Verstand wie ein Sägemesser. Gedanken an sie brachten nur Verwirrung. Fünf Jahre lang hatten sie zusammen eine Firma geführt, befreundet waren sie viel länger gewesen, und die ganze Zeit hatte sie heimlich mit Kriminellen gearbeitet, um ihre Sucht zu finanzieren. Sie hatte Kat in Lebensgefahr gebracht und ihn belogen und betrogen. Und dann hatte sie ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um sie beide zu retten.

Es wäre leichter gewesen, sie einfach nur hassen zu können.

Der Fluss wand sich in einem weiten Bogen durch die Eukalyptusbäume. Hier war das Wasser flach und überspülte nur knapp die Steine, sodass es schimmerte wie Quecksilber.

»… zwanzig Jahre für Mord.«

Dabei war es Notwehr gewesen. Nach vier Monaten intensiver Therapie konnte er dies endlich glauben. Petronin hatte ihn verfolgt, um ihn zu töten, und fast wäre es ihm sogar gelungen. Vor Gericht hätte das jedoch keinen Bestand. Weil er den Mord vertuscht hatte. Weil er in Verbindung zu Frankie und ihrer Familie stand.

Er wurde langsamer, blieb stehen. Eigentlich war er nicht mal ins Schwitzen gekommen, doch er musste zurück. Er konnte es schaffen, konnte Herr der Lage bleiben. Und anfangen musste er mit dem wichtigsten Schritt.

Kat war in der großen Metallgarage, die ihr als Atelier diente, und hantierte mit einer Kettensäge. Sie trug eine Sicherheitsbrille und Gehörschutz, außerdem ein Kopftuch in den Farben der Flagge der Aborigines: Schwarz, Rot und Gelb. Aus einem großen Stück Rotem Eukalyptus entstand langsam ein Vogel. Kraftvolle Schwingen und scharfe Krallen: ein Weißbauchseeadler, Kats Totemtier. In diesem Jahr hatte sie schon eine Reihe dieser Adler geschaffen. Angefangen bei dem Tattoo, das ihren Arm mit filigranen braunen und ockerfarbenen Federn bedeckte. Die obere Flügelkante war eine lange, blasse Narbe, ihres Zeichens Symbol von Frankies Verrat.

Kat ließ die Kettensäge sinken und trat einen Schritt zurück, um ihre Arbeit zu begutachten. Caleb rief ihren Namen, schaltete dann schnell das Licht an und aus, weil sie nicht reagierte. Mit einem breiten Lächeln drehte sie sich zu ihm um. Er war siebzehn gewesen, als er sich in dieses Lächeln verliebt hatte, aber auch als erwachsener Mann konnte er darüber noch versonnen grinsen und sich fragen, was er in einem früheren Leben richtig gemacht hatte, um so ein wunderschönes Lächeln zu verdienen.

Sie schob sich die Schutzbrille auf die Stirn und zog mit den Zähnen einen der Handschuhe ab, damit sie gebärden konnte. »Worüber grinst du so?«

»Dich.«

»Richtige Antwort, du kannst bleiben.« Übergangsloses Nutzen einhändiger Gebärden, damit sie die Kettensäge nicht weglegen musste – doppelt beeindruckend, wenn man bedachte, dass sie noch eingeschaltet war. Sie schenkte ihm einen prüfenden Blick, blieb dabei aber entspannt, ganz so, als läge ein schöner Morgen hinter ihr und ein vielversprechender Tag vor ihr.

Er wollte ihren Arbeitsplatz nicht mit schlechten Nachrichten beflecken. »Darf ich dich zu einem Kaffee einladen?«

»Geht leider nicht. Jarrah kommt gleich, wir wollen ein Projekt besprechen. Wenn er sich nicht nach der Koori-Zeit richtet, dürftest du ihn noch treffen.«

Jarrah war ein weiterer Aborigine-Künstler, der wie sie aus Resurrection Bay stammte. Großherzig, witzig, klug und so mühelos schön, dass er regelrecht der Pin-up-Boy der Kunstszene war. Caleb hätte ihn gemocht, hätte er ihn nicht so gehasst.

Er rang sich ein Lächeln ab. »Super.«

»Dachte mir schon, dass du dich freust.« Nicht viele Hörende konnten ironisch gebärden, doch Kat war eine Meisterin. Sie hob die Kettensäge. »Stell schon mal den Wasserkocher an, ich bin gleich so weit.«

In der provisorischen Küchenecke stapelten sich Holzstücke und Klumpen von verpacktem Ton. Caleb entdeckte den Wasserkocher neben einer Dose mit der Aufschrift Gift. Schob die Dose beiseite, füllte den Wasserkocher. Dann blieben ihm ein paar Minuten, um den richtigen Tee zu finden. Sechs Blatttees standen zur Auswahl, inklusive Earl Grey, Kats postkoitalem Getränk. Auch wenn sie in allen sonstigen Lebensbereichen äußerst flexibel war, für die Wahl des Tees galt dies nicht. Ihrer Ansicht nach gab es für jeden Anlass einen passenden Tee. Gerade befanden sie sich in einer strikt Earl-Grey-losen Phase. Hoffentlich nur eine kurze Auszeit, während sie den steinigen Grat zwischen Beziehung und Scheidung hinter sich brachten. Eigentlich ein solider Plan, auf den sie sich gemeinsam geeinigt hatten, und doch gab es auf seiner Seite ein paar Momente des Bedauerns. Nach einem letzten Blick zum Earl Grey griff er zum Oolong: die Begleitung für schwierige Gespräche.

Während er die Tassen dekontaminierte, vibrierte sein Handy: Tedesco mit Neuigkeiten über Imogen.

Ich habe ein paar interessante Informationen und bin zwischen 14:30 und 15:00 Uhr an der Cooper Reserve.

Wahrscheinlich der einzige Mensch unter achtzig, der seine SMS in ganzen Sätzen schrieb. Markenzeichen eines Mannes, der in allem große Sorgfalt walten ließ. »Interessant« konnte was Gutes sein. Vielleicht war Imogen Blair eine in Ungnade gefallene Ex-Polizistin oder eine Betrügerin, die nie Ernst machte. Oder aber sie war genau das, wonach es aussah: eine Frau mit Todesangst und bereit, sein Leben zu opfern, um ihres zu retten. Das einzig Richtige an der Zeugenaussage, die sie ihm gezeigt hatte, war sein Name gewesen. Also hatte sie entweder einen tatsächlichen Zeugen bestochen oder jemanden gefunden, der nur zu gern für schnelles Geld log. Und wenn sie bereit war, Beweise zu fingieren, wozu war sie dann noch fähig?

Er schob gerade das Handy in die Hosentasche, als Kat zu ihm trat. Ein feiner Schweißfilm glänzte an ihrem Haaransatz und in den Kuhlen der Schlüsselbeine. Durch die dunkle Haut wirkten ihre blauen Augen noch heller. Sie trug jetzt lediglich eine Jeans und ein ärmelloses, schwarzes T-Shirt, beide weit genug, um den kleinen Bauchansatz zu verbergen. Selbst jetzt noch, nachdem die Leute längst mit dem Spekulieren angefangen hatten.

Ein warmer Kuss auf den Mund, begleitet von ihrem leichten Honigduft. Er verharrte einen Moment genau so, dann rückte er etwas ab. »Du siehst toll aus.«

Sie ließ sich auf einen Stuhl plumpsen, befreite ihre dunklen Locken von dem Kopftuch und tupfte sich damit die Stirn ab. »Stehst wohl auf verschwitzt und dreckig, was?«

»Absolut.« O Gott, grauenhafte Antwort. Versuch’s noch mal. »Du siehst immer toll aus.«

»Makelloser Rettungsversuch, sehr gut.« Ihr Lächeln ließ ein wenig nach, als sie den Oolong schmeckte. »Alles in Ordnung?«

Schon zögerte er. Die Zeiten, in denen er Dinge vor Kat geheim halten konnte, waren vorbei, mussten vorbei sein, wenn er ihre Beziehung retten wollte. Nun kannte sie all seine Geheimnisse und schien die schlimmsten akzeptiert zu haben, selbst Petronins Tod. Trotzdem hielt er es nicht für klug, sie mit Imogens Drohungen zu belasten.

Sie trank ihren Tee, den Blick auf ihn gerichtet. Drängen würde sie ihn nicht, aber sie hatte nicht vergessen, wie viele wichtige Informationen er ihr vorenthalten hatte.

»Mit mir schon«, sagte er. »Aber gestern Abend ist etwas passiert. Es hat mit Martin Amon zu tun.« Er schilderte die Begegnung mit Imogen so schnell und unpersönlich wie möglich, weshalb er auch den Taser und Imogens so offensichtliche Angst nicht erwähnte.

Kat saß ganz still da, bis er fertig war. Dann nahm sie seine Hand und streichelte mit dem Daumen über den Handrücken. »Geht es dir wirklich gut?«

»Ja, wirklich. Wahrscheinlich ist sie nicht mal von der Polizei. Tedesco prüft das gerade für mich. Ich wollte nur, dass du das weißt.«

»Könntest du Frankie denn finden? Also, wenn du müsstest?« Die sonst so flüssigen Handbewegungen wirkten starr.

»Ich schätze, ihre Schwester weiß, wo sie steckt.«

»Maggie? Meinst du ernsthaft, die würde dir helfen?«

Maggie Reynolds würde ihm vermutlich lieber eine Kugel in den Kopf jagen, aber wissen, wo Frankie steckte, das würde sie schon. Obwohl das Verhältnis der Schwestern eher angespannt war, gab es da wohl etwas, was sie aneinander band. Gemeinsame Vergangenheit vielleicht. Oder Maggies Tochter. Oder Maggies Geld.

»Ja«, sagte er.

»Frankie ist seit Monaten untergetaucht. Wenn diese Unterlagen so wichtig sind, wieso interessieren sich alle erst jetzt dafür?«

Eine hervorragende Frage, aber keine, die Kat beschäftigen sollte.

»Das weiß ich nicht, und das interessiert mich auch nicht.«

Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Genau, wie ich meine Männer liebe – unwissend und desinteressiert.« Dann schaute sie zur Tür, und ihr Lächeln blühte auf.

Jarrah kam auf sie zu, eine große Bäckereitüte unter den Arm geklemmt. Verwuschelte Haare, aufgeweckter Blick, gockelnder Schritt. Er küsste Kat auf die Wangen, dann blieb seine Hand auf ihrem nackten Arm, während er ihr etwas Unverständliches zuflüsterte. Sie lachte.

Reine, glühende Eifersucht flammte in Caleb auf. Nimm’s wie ein Erwachsener. Stürz dich unter keinen Umständen auf diesen netten Kerl, und ring ihn zu Boden, um ihm in die Augen zu sabbern. Kats Körpersprache deutete nicht darauf hin, dass sie seine so unmissverständliche Zuneigung erwiderte, aber selbst wenn sie ähnliche Gefühle hegte wie er, würde sie ihnen nicht nachgeben. Zumindest nicht, solange sie und Caleb versuchten, ihre Ehe zu retten.

Jarrah wandte sich nun ihm zu, zuckte bei seinem Gesichtsausdruck leicht zusammen. »Cal, Kumpel.«

»Jarrah.« Caleb stand auf, um ihm die Hand zu schütteln. Nur aus Höflichkeit natürlich, das hatte nichts damit zu tun, dass er den Künstler um mehrere Zentimeter überragte.

In der Tüte waren Mandelcroissants, Kats derzeitige Leibspeise. Ernüchtert dachte er an das Picknick, mit dem er sie gestern hatte überraschen wollen, das sicher immer noch in einer kleinen Gasse unweit von Alberto’s Place am Boden lag.

Jarrah folgte seinem Blick. »… Menge … mitessen?«

»Nein danke, ich muss los.«

Kat brachte ihn zur Tür, verabschiedete sich aber noch nicht.

»Mach dir keine Sorgen, wird schon alles gut«, sagte er.

Sie nickte, schaute ihm aber nicht in die Augen. »Klar. Wegen nächster Woche – passt dir der neue Termin?«

Ultraschall, zwanzigste Woche. So weit hatten sie es in der letzten Schwangerschaft fast geschafft. Und der vorletzten. Kat fragte schon zum vierten Mal seit der Terminverlegung nach.

»Ja«, sagte er. »Ich hol dich ab.«

Sie umarmte ihn, ein wenig fester als sonst. Eine schnelle, entschlossene Berührung. Als sie die Tür zugemacht hatte, blieb er noch einen Moment stehen, spürte die milde Wärme der Sonne im Rücken.

Zwanzig Jahre.

Ein ganzes Leben.

6. Kapitel

Cooper Reserve war mal eine illegale Müllhalde gewesen, doch die Kommune hatte ihr kürzlich erst den Rang eines Erholungsgebiets aufgezwungen. Eine überraschend geglückte Wandlung, denn die Spielplätze und Radwege waren gut besucht. Tedesco stand mit einer Schüssel an einem der Imbisswagen und aß etwas, das aussah wie Gras. Der riesige Mann mit dem kurz geschorenen Haar, der über sein Essen gebeugt dastand, erinnerte an die Steinfiguren, die im ganzen Park verteilt standen. Caleb war unterwegs zu ihm, als sein Handy vibrierte. Wie immer hatte er Angst beim Blick darauf, aber die Nachricht kam von Imogen, nicht von Kat. Also steckte er das Gerät zurück in die Tasche, ohne die SMS zu lesen: Ihre Drohungen konnten warten.

Selbst aus der Nähe sah es noch aus, als würde Tedesco Gras essen. Der Wagen hieß The Gourmet Gut und bot anscheinend ausschließlich grünkohlbasierte Speisen an. Nur Tedesco konnte den einzigen Imbisswagen in Melbourne auftun, bei dem es gesundes Fast Food gab.

»Spätes Mittagessen?«, fragte Caleb.

»Frühstück.« Dann dachte er noch einmal darüber nach. »Vielleicht auch Abendessen. Sonderbarer Fall.«

Was zählte wohl für jemanden von der Mordkommission als sonderbarer Fall?

»Werde ich eine Nachfrage bereuen?«

»Ach, nichts Gruseliges – ein Erstickter mit einer Billardkugel im Mund.«

Okay, jetzt wollte Caleb es wissen. »Wie kriegt man denn eine Billardkugel in den Mund?«

»Das war schnell gelöst. Der Typ hatte ein hypermobiles Kiefergelenk, hat das wohl gern bei Partys demonstriert.«

»Dann war es ein Unfall?«

»Nee, viele Schulden bei einem Kredithai namens Jimmy Puttnam. Jimmy peitscht die Leute normalerweise mit einem Stück Gartenschlauch aus, ist aber dazugekommen, als das Opfer seinen kleinen Trick darbot, und dann hat er improvisiert. Hat dem Kerl die Nase zugehalten. Mutmaßlich. Dreißig Leute anwesend, aber niemand hat was gesehen.«

»Das war eine nette Geschichte, danke.«

»Alles im Preis inbegriffen.« Tedesco deutete mit dem Kopf zu den Picknicktischen und steuerte dann einen an. Caleb folgte ihm.

Selbst wenn sein Freund, der Detective, herausgefunden hätte, dass Imogen Kannibalin war, hätte seine Miene nichts verraten. Tedesco öffnete sich ungern, wahrscheinlich verstanden sie sich deshalb so gut. Eigenartige Vorstellung, dass sie sich erst ein Jahr kannten. Zusammengeführt durch den Mord an Calebs bestem Freund, den Tedesco aufgeklärt hatte. Eine Reihe von Ereignissen, die ihnen beiden schmerzliche Erfahrungen bereitet hatte, über die sie aber fast nie sprachen.

Als sie saßen, holte Tedesco sein Handy heraus und zeigte Caleb ein Foto. Eine mürrische Imogen starrte ihn an, blasser Hintergrund wie bei einem Passfoto. »Ist das Imogen Blain?«

Dann sagte man also Imm-o-gen: kurzes I, weiches G. Wie gut, dass er es gar nicht erst in ihrer Anwesenheit versucht hatte.

»Ja.«

»Sie ist bei der Bundespolizei. Hat recht viel undercover gemacht.«

Auf so etwas hatte Caleb sich eingestellt, trotzdem war die Bestätigung wie ein Schlag in die Magengrube. Er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck und überlegte, was er als Nächstes fragen sollte. Er hatte dem Detective so wenig wie möglich über sein Zusammentreffen mit Imogen erzählt. Tedesco wusste mit großer Wahrscheinlichkeit, welche Rolle Caleb bei Petronins Tod gespielt hatte, aber auch dies stand auf der langen Liste von Dingen, über die sie nicht sprachen oder sprechen sollten. »Was sagt man so über sie?«

»Gewieft, verschlagen und ein Mensch, um den man einen großen Bogen machen sollte. Was dir ja spätestens seit eurer letzten Begegnung klar sein dürfte.«

»Wofür ist sie zuständig?«

Ende der Leseprobe