Nordlicht - Das kalte Grab - Anette Hinrichs - E-Book

Nordlicht - Das kalte Grab E-Book

Anette Hinrichs

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Beschreibung

In der Vergangenheit lauern die schlimmsten Verbrechen ... Boisen & Nyborg ermitteln wieder!

Ein eiskalter Doppelmord erschüttert die Bewohner der dänischen Insel Als: In einem abgelegenen Haus werden die Leichen des deutschen Immobilieninvestors Konrad Dahlmann und seiner Frau aufgefunden. Blutüberströmt und an einen Heizkörper gefesselt. Ein schiefgegangener Raubüberfall oder steckt ein persönliches Motiv dahinter? Als eine weitere Leiche auftaucht, nimmt der Fall eine unerwartete Wendung und führt Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg von der Sondereinheit GZ Padborg weit in die Vergangenheit in den Eiswinter 1978/79 …

Zwei Ermittler so unterschiedlich wie Ebbe und Flut: Boisen & Nyborg ermitteln in grenzübergreifenden Fällen in Deutschland und Dänemark.

Alle Bände der SPIEGEL-Bestsellerreihe sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 455

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Buch

Ein eiskalter Doppelmord erschüttert die Bewohner der dänischen Insel Als: In einem abgelegenen Haus werden die Leichen des deutschen Immobilieninvestors Konrad Dahlmann und seiner Frau aufgefunden. Blutüberströmt und an einen Heizkörper gefesselt. Ein schiefgegangener Raubüberfall oder steckt ein persönliches Motiv dahinter? Als eine weitere Leiche auftaucht, nimmt der Fall eine unerwartete Wendung und führt Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg von der Sondereinheit GZ Padborg weit in die Vergangenheit in den Eiswinter 1978/79 …

Autorin

Anette Hinrichs ist als geborene Hamburgerin ein echtes Nordlicht. Ihre Leidenschaft für Krimis wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte in ihr den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München. Ihre Sehnsucht nach ihrer alten Heimat lebt sie in ihren Küstenkrimis und zahlreichen Recherchereisen in den hohen Norden aus. Mit »NORDLICHT«, ihrer Krimireihe um das deutsch-dänische Ermittlerteam Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg, begeistert Anette Hinrichs ihre Leserinnen und Leser und erobert regelmäßig die Bestsellerliste.

Weitere Informationen unter:

www.anettehinrichs.de

www.facebook.com/Anette-Hinrichs-Autorin-517398078303711/

www.instagram.com/anettehinrichs/

Boisen & Nyborg ermitteln in:

NORDLICHT – Die Tote am Strand

NORDLICHT – Die Spur des Mörders

NORDLICHT – Die Tote im Küstenfeuer

NORDLICHT – Die Toten im Nebel

NORDLICHT – Tod in den Fluten

NORDLICHT – Das kalte Grab

Weitere Fälle sind in Vorbereitung

ANETTE HINRICHS

NORDLICHT

Das kalte Grab

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieses Buch ist ein Roman, das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Das Zitat stammt aus dem Song »Over the Rainbow«, Text von E.Y. Harburg, 1939.

Copyright © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: www.buerosued.de; privat

Karte: www.buerosued.de nach einer Vorlage von Daniela Eber

WR · Herstellung: DiMo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling 

ISBN 978-3-641-29678-0V001

www.blanvalet.de

Für Petra

Prolog

Norddeutschland, Eiswinter 1978/79

Seit vier Tagen schneite es nahezu ununterbrochen. Die Schneeverwehungen türmten sich an die sechs Meter hoch, Züge steckten auf den Gleisen fest, und die Straßen waren nicht mehr passierbar. Die Infrastruktur war vollständig zum Erliegen gekommen. Ganz Schleswig-Holstein lag unter einer dicken Schneedecke. Vielerorts war der Strom ausgefallen, zahlreiche Dörfer waren von der Außenwelt abgeschnitten. Doch die Not hatte die Menschen zusammengeschweißt. Gemeinsam kämpften sie mit ihren Schneeschaufeln unermüdlich gegen die weißen Massen. So auch in dem kleinen Ort Hederup.

Es war gegen sechs Uhr morgens, als Enno Hansen, ein achtundvierzigjähriger Malermeister, in seine gefütterten Stiefel stieg und vor die Haustür trat. Er hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Die Heizung war schon vor Tagen ausgefallen, und die Wände waren vollständig ausgekühlt, deshalb schliefen sie zu viert im elterlichen Schlafzimmer, die Kinder zwischen ihm und seiner Frau, alle in mehrere Schichten Kleidung eingemummelt. Natürlich war es viel zu eng. Immer wieder fand sich ein fremdes Körperteil in seinem Gesicht oder stieß ihm gegen den Bauch. Erst in den frühen Morgenstunden hatte er schließlich in den Schlaf gefunden, nur um kurz darauf von dem Kratzen der ersten Schneeschaufeln geweckt zu werden.

Draußen schlugen ihm Dunkelheit und beißende Kälte entgegen. Die Temperaturen waren über Nacht in den zweistelligen Minusbereich gerutscht. Starker Wind peitschte ihm die Schneeflocken wie tausend kleine Nadelspitzen ins Gesicht.

Er zog den Schal ein wenig höher, sodass nur noch seine Augen hervorlugten, und griff mit seiner behandschuhten Hand nach der Schaufel, die neben dem Eingang lehnte. Bereits nach wenigen Minuten war er unter seiner dicken Winterkleidung schweißüberströmt und völlig aus der Puste.

»Moin«, kam es von der Einfahrt des Nachbargrundstücks, als Enno schließlich einen schmalen Streifen von der Haustür bis zum Gehweg freigelegt hatte.

»Moin, Nils«, begrüßte er den Nachbarn. Ihre Familien wohnten seit rund fünf Jahren nebeneinander, doch bis auf das tägliche »Moin« oder belangloses Geplänkel über das Wetter hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Das hatte sich erst mit dem Schnee geändert. Hilde, Nils’ Frau, hatte in den letzten drei Tagen auf ihrem alten Kachelofen Eintopf für sich und die halbe Nachbarschaft gekocht, und der hatte nicht nur ihre Mägen gefüllt, sondern auch ihrer aller Seelen erwärmt. So hatte er erfahren, dass Nils fast zwanzig Jahre lang zur See gefahren war, ehe er wegen eines Rückenleidens in den Innendienst bei der Wasser- und Schifffahrtsdirektion gewechselt hatte. »Mach mal langsam, Nils. Ich kann für dich mitschippen.«

»Das wäre ja noch schöner«, brummte sein Nachbar. Sein Bart hing voller kleiner Schneekristalle. »Man fragt sich bloß, wann das endlich aufhört.«

»Das weiß nur Gott allein«, sagte Enno.

»Und vermutlich noch nicht einmal der.«

Sie lachten und fuhren einträchtig damit fort, den Gehweg freizulegen. Aus den angrenzenden Häusern kamen immer weitere Nachbarn heraus und griffen nach ihren Schneeschaufeln.

Eine eigenartige Atmosphäre lag über ihrer kleinen Straße. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und trotz der kratzenden Geräusche herrschte eine nahezu friedliche Stille.

Enno fuhr schnaufend mit der Arbeit fort und machte auch an der Grundstücksgrenze zum nächsten Nachbarhaus nicht halt. Dort war es hinter den Fenstern noch immer dunkel. Kein einziger Kerzenschein war zu sehen. Offenbar schliefen die Bewohner noch. Die Glücklichen, dachte Enno.

Er pausierte einen kurzen Moment, um wieder zu Kräften zu kommen. Es schien ihm, als hätte der Schneefall ein wenig nachgelassen, und auch der Wind blies nicht mehr ganz so stark wie zuvor. Vielleicht hatte der Wettergott endlich ein Einsehen mit ihnen. Sein Haar unter der dicken Wollmütze war vor Anstrengung klatschnass. Hoffentlich holte er sich hier draußen keine Lungenentzündung. Am besten, er blieb in Bewegung.

Enno arbeitete sich Stück für Stück voran. Das größte Problem war, dass niemand mehr wusste, wohin mit dem ganzen Schnee. An den Ausfahrten der Grundstücke türmten sich die Schneeberge, die Straßen waren als solche nicht mehr erkennbar, und auch neben ihm erhob sich eine hohe weiße Wand. Irgendwo darunter befanden sich die geparkten Autos, die noch vor zwei Tagen anhand der gewölbten Hauben auszumachen gewesen waren. Jetzt ertranken sie förmlich im Schnee.

Vor ihm stieß seine Schneeschaufel auf ein Hindernis, und ein gelber Farbfleck geriet in sein Sichtfeld. Es sah aus wie ein Stück Stoff. Eine Jacke, schoss es Enno in den Sinn. Lag dort etwa ein Mensch? Er sog scharf die Luft ein. Dann drehte er sich um. »Nils, komm mal her!« Auf dem freigeschippten Weg hinter ihm hatte sich bereits wieder ein dünner weißer Teppich gebildet.

Sein Nachbar stapfte zu ihm heran, das Gesicht unter der Mütze gerötet, der Bart schien nur noch aus Eis und Schnee zu bestehen.

»Schau mal.« Enno deutete auf das gelbe Stück Stoff. »Ich glaube, da liegt jemand.«

Die beiden Männer gingen dichter heran. Nils bückte sich und schob mit der Hand vorsichtig den Schnee beiseite. Ein steif gefrorener Arm in einer gelben Jacke kam zum Vorschein.

»Herr im Himmel«, rutschte es Enno von den Lippen.

»Der kann auch nicht mehr helfen.« Nils richtete sich wieder auf. »Wer immer dort liegt, hat seinen letzten Atemzug längst getan.«

1. Kapitel

Sarup, Dänemark

Der stetige Nordwind brachte seit Tagen klirrende Kälte an die jütländische Küste und ließ die Temperaturen tief unter den Gefrierpunkt fallen. Jetzt hatte sich die Nacht über Als gesenkt, und Frost legte sich über die Wiesen und Felder und drang tief in die Böden ein.

Das Haus lag abseits der Straße, halb versteckt hinter einem Band kahler Bäume, in völliger Finsternis.

Jeppe Olsen rollte mit ausgeschalteten Scheinwerfern und im Schritttempo mit seinem Auto über den Asphalt heran, ehe er schließlich in ausreichender Entfernung stehen blieb und den Motor ausstellte.

»Da steht das gute Stück«, sagte sein Freund Ricky auf dem Beifahrersitz und deutete zu der schwarzen Luxuslimousine in der Auffahrt, deren Konturen sich schwach in der Dunkelheit abzeichneten.

»Hauptsache, die Kiste macht keinen Ärger«, murmelte Jeppe.

Früher hatten dünne Metallstreifen mit Zacken und Haken ausgereicht, um ein Fahrzeug zu knacken, doch mit voranschreitender Sicherheitstechnik und elektronischen Wegfahrsperren war ihre Arbeit anspruchsvoller geworden. Zumindest, wenn die Besitzer zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatten. Doch das taten die wenigsten.

»Ich hab das ausgecheckt.« Ricky beförderte zwei kleine Geräte aus seiner Tasche. »Der Schlitten hat ein Keyless-Schließsystem mit digitaler Funktechnik. Die Leute haben echt keine Ahnung. Anstatt das Zeug zu deaktivieren, blättern sie dafür noch jede Menge Asche auf den Tisch.«

Jeppe nahm das Haus in Augenschein. »Bewegungsmelder oder Kameras?« Die Menschen in der Gegend waren vertrauensselig, und beides gab es hier nur selten.

Ricky schüttelte den Kopf.

Jeppe fühlte sich unwohl in seiner Haut. Etwas ließ ihn zögern. »Vielleicht sollten wir das Ganze doch lieber lassen. Ich habe echt keine Lust, dass die Bullen bei uns auf der Matte stehen.«

»Du willst kneifen?« Ricky sah ihn ungläubig an. Sein rechtes Augenlid hing wie gewohnt auf halbmast und gab seinem Aussehen etwas Verschlagenes. Auch seine zahlreichen Tätowierungen, sein Dreitagebart und der kleine goldene Ring an seinem linken Ohr trugen dazu bei.

Äußerlich hätten sie sich tatsächlich nicht unähnlicher sein können. Während Ricky klein, sehnig und dunkelhaarig war, fiel Jeppe vor allem durch seine Größe – er kratzte an der Zweimetermarke – sowie die hellblonden Haare auf.

»Wir waren uns doch einig«, schob sein Kumpel empört hinterher. »Nur ein einziger Deal. Wir schaffen den Schlitten zu den Polen, greifen die Kohle ab, und zack, das war’s. Das ist eine sichere Kiste.«

»Es klingt, als würden wir mal eben ein Handy verticken. Was, wenn die Leute wach werden?«

»Werden sie nicht«, versicherte ihm Ricky eifrig. »Die merken das nicht vor morgen früh. Und da ist die Karre längst über die Grenze geschafft, und wir liegen in unseren Betten. Mensch, Jeppe. Die Gelegenheit ist perfekt.« Er wies mit ausgestreckten Händen auf die Luxuslimousine. »Die Kohle steht genau vor unserer Nase. Und an Silvester lassen wir es dann so richtig krachen.«

Jeppe dachte an die vereinbarte Summe, die sie für den Wagen bekommen würden. Er knickte ein. »Von mir aus. Aber lass uns noch ein paar Minuten abwarten.«

»Hauptsache, wir sind bis dahin nicht erfroren.« Rickys Blick war auf die Windschutzscheibe gerichtet, die von innen langsam beschlug. »Es ist echt scheißkalt.« Er beförderte einen Klumpen Snus unter der Oberlippe hervor, öffnete die Beifahrertür und ließ den Kautabak im Freien verschwinden.

Jeppe atmete tief durch. »Also gut. Legen wir los.«

»Hier.« Ricky reichte ihm eines der beiden kleinen Geräte, mit denen sich das Funksignal eines Autoschlüssels abfangen ließ. »Stell dich damit in die Nähe der Fahrertür, dann geh ich zum Hauseingang.«

Jeppe nickte. Er war mit der Elektronik von Autos bestens vertraut. Wenn einer von ihnen etwas nicht auf die Kette bekam, dann war es in der Regel Ricky. Zumindest hatte er sich schon einmal erwischen lassen. »Dann los!«

Sie stießen die Autotüren auf.

Der Mond versteckte sich hinter einem Vorhang dichter Wolken, kräftiger Wind wehte vom Kleinen Belt ans Ufer und blies Jeppe kalt ins Gesicht.

Im Schutz der Büsche schlichen sie zum Haus. Kies knirschte unter ihren Sohlen, als sie schließlich die Einfahrt betraten, und Jeppes Puls beschleunigte sich. Die Fenster am Haus waren geschlossen, nirgends schimmerte Licht. Blieb nur zu hoffen, dass die Bewohner fest schliefen.

Jeppe blieb an der Fahrertür der Limousine stehen, während Ricky weiter zum Hauseingang huschte. Das Herz klopfte ihm jetzt bis zum Hals.

Im nächsten Moment erkannte das Fahrzeug das Gerät in seiner Hand als Schlüssel, und die Tür ließ sich öffnen. Jeppe rutschte hinter das Lenkrad, drehte den Knopf der Scheinwerfer in den Ausschaltmodus und startete den Motor.

2. Kapitel

Flensburg, Deutschland – drei Tage später

Kriminalkommissarin Vibeke Boisen trat durch die grüne Rundbogentür der Polizeidirektion und nahm die Treppe bis in den dritten Stock, wo die Räume der Mordkommission untergebracht waren.

Es war der erste Tag des Jahres, und der Flur mitsamt den angrenzenden Räumen lag still und verlassen da. Auf einigen Schreibtischen standen noch immer die Adventsgestecke, im verwaisten Büro ihrer Mitarbeiter hing die bunte Lichterkette, die Connie bereits Ende November um das Fenster drapiert hatte, an Ort und Stelle, und auch das Rentier, das fröhlich »Rudolph, the Red-Nosed Reindeer« trällerte, sobald man auf die rote Plastiknase drückte, thronte unverändert mittig auf den beiden zusammengeschobenen Schreibtischen.

Vibeke würde nie verstehen, weshalb manche Leute solche Dinge schön fanden. Sie hasste Weihnachten und alles, was damit einherging. Den Geschenketerror, die Menschenmassen, die sich plötzlich samt blinkendem Geweih oder Nikolausmütze durch die Fußgängerzone schoben, die unerträgliche Weihnachtsdudelei in den Geschäften, dazu die ständige Völlerei und das ganze Harmoniegehabe, den vulkanartigen Ausbruch von Liebe. So als ginge das alles per Knopfdruck. Oftmals gipfelte das Fest der Liebe in einem heillosen Familienstreit. Studien belegten, dass in der Zeit von Weihnachten bis Neujahr die Zahl der Suizide, Morde und Unfälle rasant anstieg. Es waren die tödlichsten Tage des Jahres.

Vibeke entzog sich dem Trubel, indem sie den größten Teil ihres Jahresurlaubs im Dezember nahm und spätestens eine Woche vor den Feiertagen verschwand. Dieses Jahr war sie auf Langeneß gewesen, einer der nordfriesischen Halligen. Eingedeckt mit zahlreichen Lebensmitteln und Büchern, hatte sie sich in einem kleinen Ferienhaus mit Meerblick einquartiert und an Weihnachten anstatt auf blinkende Girlanden auf Wiesen und Wasser geschaut.

Im Gegensatz zu ihrem Vater Werner, von dem sie von Jahr zu Jahr mehr den Eindruck gewann, er würde sich ihr am liebsten anschließen, hatte sich ihre Mutter Elke bis heute nicht mit ihrer Abwesenheit abgefunden. Meist war sie bis zu ihrem Geburtstag in der ersten Januarwoche verstimmt.

Die Boisens waren nicht ihre leiblichen Eltern, und der Grund für Vibekes Abneigung gegen Weihnachten lag tief in ihrer Kindheit vergraben. Hin und her geschoben zwischen Pflegefamilien und Heimen, hatte sie erst als Elfjährige bei Elke und Werner ein Zuhause gefunden. Zuvor hatte die Weihnachts- und Adventszeit für sie zu den dunkelsten Wochen des Jahres gezählt.

Vibeke drängte die Gedanken beiseite und bereitete sich in der Küche einen Kaffee zu, ehe sie auf ihr Büro am Ende des Flurs zusteuerte. Der Raum war kaum größer als eine Besenkammer. Ein Schreibtisch, zwei Stühle und ein Aktenschrank auf ausgetretenem Teppichboden. Die Luft war feucht und abgestanden.

Vibeke stellte den Kaffeebecher auf ihrem Schreibtisch ab und entdeckte ein in goldenes Geschenkpapier gewickeltes Päckchen samt handgeschriebener Karte neben ihrer Computertastatur. Ein Neujahrsgruß von Connie.

Ein unerwartetes Gefühl der Freude durchströmte Vibeke, gleichzeitig bekam sie ein schlechtes Gewissen, dass sie keine Mitarbeitergeschenke verteilt hatte.

Seufzend steckte sie das Päckchen in ihre Tasche und öffnete für einen Moment das Fenster. Kühle Luft strömte zusammen mit Straßengeräuschen herein. Hinter den kahlen Bäumen schimmerten die Masten der verbliebenen Segelschiffe in der südlichen Hafenspitze. Darüber endloses Grau aus tief hängenden Wolken.

Vibeke schloss das Fenster und drehte den Thermostat am Heizkörper auf. Anschließend zog sie ihre Jacke aus, hängte sie über ihre Stuhllehne und setzte sich an ihren Schreibtisch. Während der Computer die Programme hochfuhr, trank sie einen Schluck Kaffee. Neben ihr gluckerte die Heizung.

Sie hätte eigentlich noch freigehabt, doch sie wollte sich einen Überblick verschaffen, was während ihrer Abwesenheit liegen geblieben war, um für die erste Arbeitswoche des Jahres gewappnet zu sein.

Sie loggte sich in den Computer ein und ging zunächst die Polizeimeldungen aus der Silvesternacht durch. Insgesamt war es in Flensburg, dem Kreis Schleswig-Flensburg und Nordfriesland zu rund sechzig Einsätzen gekommen. Sachbeschädigungen, mehrere Brände, schwerpunktmäßig brennende Müllcontainer, alkoholbedingte Streitigkeiten und Körperverletzungsdelikte. Zwei Personen hatten zudem in Flensburg aus dem Hafenbecken gerettet werden müssen, ein Streifenteam der Landespolizei war mit Böllern beworfen worden, dabei waren die Beamten unverletzt geblieben. Keine Todesfälle.

Vibeke nahm einen weiteren Schluck Kaffee und sichtete die Ermittlungsprotokolle aus dem Dezember, die von ihren Mitarbeitern fein säuberlich geordnet auf ihren Schreibtisch gelegt worden waren. Eine Messerstecherei zwischen zwei Jugendlichen, die für einen der beiden tödlich geendet hatte, sowie ein Vater, der zusammen mit seinen beiden kleinen Söhnen tot in seinem Auto aufgefunden worden war – ein Fall, der sich als erweiterter Suizid entpuppt hatte. Furchtbar, dachte Vibeke, als sie die dazugehörigen Berichte durchging.

Anschließend zeichnete sie die Dokumente ab, die man ihr zur Unterschrift hingelegt hatte, und war gerade dabei, die Post-its mit Anrufnotizen durchzugehen, als ihr Handy klingelte.

Es war Søren Molin von der dänischen Polizei in Sønderborg, der zusammen mit ihr in der Sondereinheit GZ Padborg arbeitete, die bei Tötungsdelikten im Grenzgebiet zusammengerufen wurde.

Sie nahm das Gespräch an. »Hej, Søren. Frohes Neues!«

»Hej, Vibeke, dir auch.« Sørens Stimme klang angespannt, und Vibeke wusste sofort, dass sein Anruf einen dienstlichen Hintergrund hatte.

»Auf Als gibt es einen Doppelmord«, kam der Däne auch gleich zur Sache. »In Sarup. Allem Anschein nach handelt es sich bei den Opfern um ein deutsches Ehepaar. Eine Nachbarin hat ihre Leichen heute früh entdeckt. Es ist das reinste Schlachthaus.« Er machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach. »Ich dachte, ich gebe dir besser gleich Bescheid. Die Kollegen in Esbjerg sind ebenfalls informiert, und die Spusi ist auf dem Weg hierher.«

»Gut, ich komme. Schickst du mir die Adresse aufs Handy?«

»Mache ich. Wir sehen uns dann vor Ort. Hej hej.« Søren legte auf.

Vibeke leerte den restlichen Inhalt ihres Kaffeebechers und schnappte sich den Autoschlüssel.

Als, Dänemark

Es nieselte leicht, als Vibeke rund fünfunddreißig Minuten später die Brücke über dem Als Sund passierte und einen Blick über Sønderborg erhaschte.

Die Wolken hingen bleischwer über der Altstadt. Dort, wo in den Sommermonaten Segelboote und Yachten längsseits der Hafenfront lagen, herrschte gähnende Leere. Die bunten Hausfassaden der Restaurants und Cafés, die sich an der Promenade wie Perlen aneinanderreihten, wirkten im Regenschleier trist und farblos; Tische und Stühle waren von den Bürgersteigen verschwunden, auch am Colosseum, wo sie Brigittes und Sørens Hochzeit gefeiert hatten.

Sie ließ Sønderborg hinter sich und fuhr die Route 427 in südöstlicher Richtung. Neben ihr zogen karge Äcker und kleine Wälder vorbei, hin und wieder passierte sie vereinzelte Gehöfte und Ortschaften, die lediglich aus einer Handvoll Häuser bestanden. Die Straßen waren menschenleer. Es schien, als läge ganz Als im Winterschlaf, während der Wind wie ein unliebsamer Störenfried kalt und harsch über die Insel fegte.

In Vibøge verließ Vibeke die Route, fuhr durch Lysabild Sogn, ehe sie das Navi ihres Dienstwagens kurz vor Lille Mommark in eine einsam gelegene Straße mitten ins Nirgendwo führte. Weit und breit waren keine Häuser oder ein anderes Fahrzeug in Sicht. Vor der Windschutzscheibe ging der Regen in Schnee über.

Nach etwa zwei Kilometern, als Vibeke sich bereits fragte, ob sie richtig war, entdeckte sie rechter Hand der Fahrbahn ein einzelnes graues Haus, eine Biegung später passierte sie das Ortsschild von Sarup.

Hübsche Einfamilienhäuser mit tief gezogenen Dächern, renovierungsbedürftige Gehöfte und weiß getünchte Ziegelbauten. Auch hier war keine Menschenseele in den Straßen zu sehen. An einem Bauernhof kurz vor dem Ortsausgang führte sie eine Abzweigung an einer Handvoll Häuser vorbei, ehe die Straße einen Knick machte und sich eine schier endlose Weite auftat. Nebelschleier waberten über Wiesen und Felder, am Horizont blitzte das Meer zwischen kahlen Bäumen hervor, die sich, vom Wind verformt, ins Landesinnere bogen.

Vibeke passierte einen u-förmig angelegten Hof mit ockerfarbener Fassade, ehe sie schließlich wenige Hundert Meter weiter hinter einer Baumreihe die Einsatzfahrzeuge der Polizei entdeckte. Rot-weißes Flatterband versperrte den Durchgang zu einer Kieseinfahrt.

Sie stellte ihren Dienstwagen auf dem seitlichen Grünstreifen ab und fröstelte, sobald sie ins Freie stieg. Es hatte aufgehört zu schneien, doch von der Küste wehte ein eisiger Wind heran.

Sie holte einen Satz Schutzkleidung aus dem Kofferraum und schlüpfte hinein, ehe sie dem Uniformierten am Durchgang ihren Dienstausweis zeigte.

Ein kleines, weiß gekalktes Haus lag etwas abseits der Straße, halb versteckt hinter Bäumen, die ihre kahlen Äste wie knorrige Finger dem Himmel entgegenstreckten.

Der ehemals weiße Putz der Fassade schimmerte vom vielen Moosbelag grünlich. Neben dem Hauseingang, der von zwei Uniformierten flankiert wurde, lehnte ein schwarzes Trekkingbike. Ihr Blick streifte den Polizeitransporter, in dem ein Beamter neben einer blassen dunkelhaarigen Frau saß.

Vibeke zeigte ihren Dienstausweis ein weiteres Mal vor.

»Søren Molin, wo finde ich den?«

Der ältere Beamte deutete mit dem Kopf ins Haus.

Vibeke stülpte sich Überschuhe über ihre Stiefel und trat über die Schwelle.

Schon im Eingangsbereich schlug ihr der metallische Geruch von Blut entgegen. Sie registrierte rotbraune Abdruckspuren auf dem abgenutzten Dielenboden und achtete sorgfältig darauf, nicht daraufzutreten.

Der Flur war schmal und dunkel, die Wände nackt. Offenbar waren erst kürzlich die Tapeten heruntergelöst worden. Stockflecken verbreiteten einen leichten Dunst von Schimmel.

Am Eingang zur Küche blieb Vibeke stehen, zog unter ihrem Mundschutz harsch die Luft ein.

Die beiden Toten lehnten unterhalb des Sprossenfensters mit dem Rücken am Heizkörper, jeweils eine Hand war mit Kabelbinder an der Bodenhalterung befestigt.

Der Kopf der Frau war auf die Brust gesunken, das halblange blonde Haar blutverkrustet, das darunterliegende Gesicht blutüberströmt. An der Schläfe klaffte eine Platzwunde und entblößte einen Krater rohes Fleisch.

Vibekes Blick wanderte über die blutdurchtränkte Kleidung zu der Lache, die sich unterhalb des Opfers gebildet hatte. Geronnenes Blut. Dunkelrot, fast schwarz.

Sie schluckte und nahm den zweiten Leichnam in Augenschein. Auf den ersten Blick wirkte der Mann unversehrt. Erschlaffte Gesichtszüge, ein zurückgehender grauer Haaransatz. Seine mittelgroße, kräftige Gestalt war in einen offenen dunkelblauen Blazermantel gekleidet, darunter trug er einen gleichfarbigen Anzug samt Hemd und Krawatte. Einzig der kleine See aus geronnenem Blut verriet, dass sich irgendwo an seiner hinteren Körperhälfte eine Verletzung verbarg.

Vibeke wandte den Blick ab und inspizierte den Raum.

Das Sprossenfenster ließ nur wenig Licht herein.

Blutspritzer klebten an den Wänden, an den Fronten, am Fensterrahmen, an der Werkzeugkiste auf dem Küchentisch. Am Boden. Von der Raummitte zogen sich rote Schlieren bis zum Heizkörper. Offenbar waren die Opfer erst attackiert und dann an den Heizkörper gebunden worden.

In der Küche war es nahezu vollkommen still. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Was war hier geschehen?

Hinter Vibeke ertönte ein Räuspern.

Sie drehte sich um. »Hej, Søren.«

Søren Molin, ein vollbärtiger Hüne mit kurz geschorenen blonden Haaren, die sich jetzt unter der Kapuze seines prall sitzenden Overalls versteckten, war offenbar aus einem der angrenzenden Räume gekommen.

»Meine Flensburger Lieblingskollegin.« Seine Augen über dem Mundschutz wirkten ungewohnt ernst. Er deutete mit dem Kopf in die Küche. »Schlimme Sache.«

»Die Frau hat es heftiger erwischt«, stellte Vibeke fest.

Søren nickte. »Laut Aussage der Nachbarin – sie hat die Toten gefunden – handelt es sich um Luise und Konrad Dahlmann. Ein Hamburger Ehepaar um die sechzig. Sie haben das Haus wohl erst kürzlich gekauft.«

»Die Zeugin, ist das die Frau im Transporter?«

»Ja. Larissa Kerber.«

»Auch eine Deutsche?«

Søren nickte. »Auf Als leben zahlreiche Deutsche.«

»Was hat Rasmus gesagt, wann er hier ist?« Vibeke öffnete den Reißverschluss ihres Spurensicherungsoveralls, zog das Handy aus ihrer Jackentasche und begann, Fotos zu machen.

Rasmus Nyborg arbeitete bei der für Südjütland zuständigen Mordkommission in Esbjerg und war zusammen mit Vibeke der hauptverantwortliche Ermittler der Sondereinheit. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten waren sie mittlerweile ein eingespieltes Team, und auch wenn Rasmus hin und wieder aus der Reihe tanzte, war er ein brillanter Ermittler und derjenige mit der schärfsten Intuition. Vibeke hatte selten erlebt, dass er sich täuschte.

»Sie schicken jemand anderen«, sagte Søren. »Rasmus hat heute frei.«

»Das hätte ich eigentlich auch gehabt«, murmelte Vibeke und beförderte ihr Handy zurück unter den Reißverschluss.

Vor dem Haus wurden Stimmen laut. Henrik Knudsen, der Chef der Spurensicherung, erschien in der Tür und musterte sie mit seinen dunklen Knopfaugen. Hinter ihm stand ein halbes Dutzend Kriminaltechniker in Schutzkleidung. »Ihr habt hoffentlich nicht meinen Tatort kontaminiert.«

Søren hob augenblicklich die Hände. »Wir haben nichts angefasst.«

»Das ist ja schon mal was«, entgegnete Knudsen streng. »Und jetzt trampelt hier nicht länger rum, sondern lasst mich und meine Leute unsere Arbeit machen.« Er drehte sich um und instruierte seine Mitarbeiter.

Vibeke folgte Søren zurück ins Freie. Erneut hatte Schneefall eingesetzt, doch die Flocken lösten sich auf, sobald sie den Boden berührten. Sie lüpfte ihren Mundschutz und atmete mehrfach tief durch.

Hinter der Absperrung hatten sich die ersten Schaulustigen eingefunden. Die meisten hielten ihre Handys gezückt. Auch ein Reporter des örtlichen Radiosenders war darunter.

Vibeke zog die Kapuze von ihrem Kopf. »Ich werde dann mal mit der Zeugin sprechen.« Sie steuerte auf den Polizeitransporter zu.

Dort angekommen, klopfte sie gegen die Scheibe, und der Streifenbeamte schob die Seitentür auf.

»Vibeke Boisen. Mordkommission Flensburg«, stellte sie sich vor.

»Jesper.« Der Uniformierte lächelte flüchtig. Auf seiner Nase tanzten ein paar Sommersprossen. »Søren hat schon gesagt, dass du kommst.« Er sprach deutsch, wie die meisten Dänen in der Grenzregion. Auch Vibeke beherrschte die Sprache des Nachbarlandes seit ihrer Schulzeit und wechselte je nach Bedarf.

»Ich würde gerne mit Frau Kerber sprechen.« Sie sah zu der blassen Frau, die auf der Rückbank mit beiden Händen einen Pappbecher umklammert hielt.

Der Streifenbeamte stieg aus, um Vibeke Platz zu machen.

»Danke.« Sie setzte sich auf die Bank der Zeugin gegenüber und zog Stift und Notizbuch aus ihrer Tasche hervor. »Hallo, Frau Kerber.«

»Hallo«, kam es zaghaft zurück. Larissa Kerber hatte widerspenstige dunkelbraune Naturwellen und ein offenes, freundliches Gesicht. Augen und Nase waren leicht gerötet.

Obwohl sie einen dick gefütterten Parka trug, schien sie darunter zu zittern.

Vibeke schätzte die Frau auf Mitte bis Ende dreißig. »Soll ich Ihnen eine Decke bringen lassen? Oder benötigen Sie einen Arzt?«

»Nein danke. Es geht schon.«

»Ich weiß, Sie haben es bereits meinen Kollegen erzählt, aber bitte schildern Sie mir trotzdem den Morgen noch einmal aus Ihrer Sicht«, bat Vibeke.

»Ich wollte den Dahlmanns einen Neujahrsgruß vorbeibringen«, sagte Larissa Kerber mit leiser Stimme und deutete auf den kleinen Korb, der, mit einem Piccolosekt, zwei Marzipanschweinchen und einem Glücksklee samt Schornsteinfeger befüllt, zu ihren Füßen stand. »Sie waren erst kürzlich hergezogen, und ich wollte, dass sie sich hier willkommen fühlen. Meine Familie und ich, wir leben schon eine Weile auf Als, aber es ist nicht ganz so einfach, Anschluss zu finden.« Sie hielt einen Moment inne, ehe sie weitersprach. »Ich bin mit dem Fahrrad hergekommen.« Sie deutete auf das schwarze Trekkingbike neben dem Hauseingang.

»Ist Ihnen zum Zeitpunkt Ihrer Ankunft etwas Besonderes aufgefallen?«, hakte Vibeke nach. »Haben Sie vielleicht jemanden gesehen?« Aus den Augenwinkeln registrierte sie die Ankunft eines Autos. Adam Larsen von der Rechtsmedizin.

Die dunkelhaarige Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Da war niemand. Die Klingel funktionierte nicht, also habe ich angeklopft. Dabei habe ich dann gemerkt, dass die Haustür nicht abgeschlossen war.« Larissa Kerber errötete leicht. »Nicht dass Sie mich für neugierig halten. Aber es kam mir merkwürdig vor. Ich meine, viele Leute sperren hier nicht ab, aber wenn man aus Deutschland und noch dazu aus der Stadt kommt, handhabt man das doch anders, oder?« Sie sah Vibeke erwartungsvoll an.

»Und Sie sind dann hineingegangen?«

Larissa Kerber nickte. »Ich dachte, sie hätten mein Klopfen vielleicht nicht gehört. Deshalb habe ich in den Flur gerufen, und da waren diese Spuren … Ich wusste, dass Luise das Haus renovieren wollte, und hielt es zunächst für Farbe.« Ihr Blick ging für einen Augenblick zur Auffahrt, wo gerade der Rechtsmediziner mit seiner Arzttasche in der Hand und seinem Assistenten im Schlepptau auf das Haus zusteuerte, ehe sie sich wieder Vibeke zuwandte. »Ich habe aufgepasst, dass ich nicht hineintrete. Und dann bin ich zur Küche gekommen …« Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen in der Luft hängen. Tränen traten ihr in die Augen. »Ich glaube, ich habe geschrien. Und dann bin ich sofort wieder raus.«

»Sie haben die Küche nicht betreten?«

»Nein. Ich habe gleich gesehen, dass den beiden niemand mehr helfen kann.« Sie schluckte.

»Und Sie sind sich sicher, dass es sich bei den Opfern um Luise und Konrad Dahlmann handelt.«

Larissa Kerber nickte und nahm gedankenverloren einen Schluck aus dem Pappbecher.

»Wie gut kannten Sie die Dahlmanns?«

»Nicht besonders gut. Ich war Anfang Dezember hier, kurz nachdem sie das Haus gekauft hatten, um sie in Sarup willkommen zu heißen. Wir haben zusammen einen Tee getrunken, und Luise hat mir von ihren Plänen für das Haus erzählt. Sie arbeitete seit Jahren als Innenarchitektin, und Konrad gehört …«, Larissa Kerber stockte, »Konrad gehörte eine Immobilienfirma in Hamburg. Dort leben auch ihre Kinder. Mirjam und Thomas. Sie ist Rechtsanwältin, der Sohn Zahnarzt.«

Vibeke notierte sich die Namen. »Sie haben ein gutes Namensgedächtnis.«

»Ich habe Luise und Konrad zu uns nach Hause eingeladen«, erzählte Larissa Kerber, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. »Meine Eltern sind mit uns hergezogen und ungefähr im gleichen Alter. Ich hatte gehofft, sie würden sich anfreunden, aber Luise hat die Verabredung dann kurzfristig abgesagt. Danach habe ich sie noch einmal in Skovby beim Einkaufen getroffen.«

»Wissen Sie, ob die Dahlmanns mit jemandem im Ort Kontakt hatten? Gab es vielleicht einen Streit oder sonst irgendeinen Vorfall?«

Larissa Kerber schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Die Menschen hier sind zurückhaltend. Vielleicht waren es Einbrecher.« Sie wurde aschfahl im Gesicht, und einen Moment befürchtete Vibeke, die Frau würde vor ihren Augen zusammenklappen, doch kurz darauf kehrte ein wenig Farbe zurück. »In dem Fall hätte es auch uns treffen können.« Sie drehte den Kaffeebecher zwischen den Händen. »Ich glaube, ich möchte jetzt lieber nach Hause. Ich fühle mich nicht besonders gut.«

»Natürlich.« Vibeke klappte ihr Notizbuch zu. »Jemand wird Sie fahren. Stellen Sie sich aber bitte darauf ein, dass wir später noch Fragen an Sie haben. Und wir brauchen Ihre Schuhe für den Abgleich.«

Larissa Kerber nickte.

»Für den Fall, dass Ihnen vorher noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte.« Vibeke zog eine Visitenkarte hervor, notierte noch die Telefonnummer der Polizei in Esbjerg und reichte sie Larissa Kerber. Anschließend verabschiedete sie sich und verließ den Polizeitransporter.

»Kann einer deiner Kollegen Frau Kerber nach Hause fahren?«, fragte sie Søren, der gerade mit einem der Kriminaltechniker gesprochen hatte. »Er soll dann dort ihre Schuhe mitnehmen.«

Søren nickte und instruierte einen der Uniformierten, ehe er sich wieder Vibeke zuwandte. »Die Spusi hat im Mantel des Toten eine Brieftasche gefunden. Der Ausweis lautet auf Konrad Dahlmann, wohnhaft in Hamburg. Frau Kerber hat also recht gehabt.« Er zog den heruntergelassenen Mundschutz unter seinem Kinn noch ein Stück tiefer. »Ich soll dir übrigens einen Gruß von Brigitte ausrichten.«

»Danke. Ihr hattet für heute sicher andere Pläne.«

Søren nickte. »Wir wollten zu meinen Schwiegereltern. Brigitte ist jetzt mit den Kindern allein los. Aber mir tut die ganze Völlerei ohnehin nicht gut.« Er klopfte sich mit der behandschuhten Hand auf den Bauch, wo der Spurensicherungsoverall bereits sichtlich spannte.

Vibekes Blick glitt über die Kieseinfahrt und weiter zum Haus. Es hatte keine Nebengebäude.

»Es steht kein Auto hier«, stellte sie fest. »Die Dahlmanns werden doch sicher eins gehabt haben.«

Søren nickte. »Davon ist auszugehen. Ohne Auto ist man hier aufgeschmissen.«

Vibeke eilte zu dem Streifenwagen, in den Larissa Kerber gerade eingestiegen war, und klopfte gegen die Scheibe. Sie wurde heruntergelassen. »Frau Kerber, wissen Sie, ob die Dahlmanns ein Auto hatten?«

Sie nickte. »So ein schickes schwarzes von einer dieser Nobelmarken. Völlig unpassend für hier. Und noch ziemlich neu. Luise erzählte, Konrad hätte es erst vor zwei Monaten bekommen.« Ihr Blick glitt über die Kieseinfahrt. »Komisch. Es steht nicht hier. Das ist mir vorher gar nicht aufgefallen.«

»Danke, Frau Kerber. Der Kollege bringt Sie dann nach Hause.«

Das Fenster schloss sich wieder, und der Streifenwagen fuhr an. Vibeke drehte sich zu Søren um. »Merkwürdig.«

»Vielleicht ist das Auto in der Werkstatt.«

»Oder der Täter hat es mitgenommen.«

»Dann handelt es sich womöglich um Raubmord.«

Sie blickten dem davonfahrenden Streifenwagen hinterher.

Vibeke zog ihr Handy unter ihrem Spurensicherungsoverall hervor und wählte die Telefonnummer ihres Mitarbeiters Michael Wagner, der Bereitschaftsdienst hatte.

»Moin, Michael.« Sie kam ohne Umschweife zur Sache und berichtete ihm in knappen Worten von dem Doppelmord auf Als. »Ich benötige die Adressen der Kinder. Mirjam und Thomas Dahlmann. Und ich möchte wissen, was für ein Auto Konrad Dahlmann fährt. Möglicherweise ist es ein Firmenwagen. Er soll eine Immobilienfirma in Hamburg haben.«

Michael versprach, sich baldmöglichst zu melden.

Vibeke hatte ihr Handy gerade wieder verstaut, als ein schwarzer Kombi in die Kieseinfahrt bog.

»Wer ist das?«, kam es von Søren.

»Keine Ahnung.«

Eine große, schlanke Frau in einem camelfarbenen Mantel stieg aus und zeigte ihren Ausweis dem Uniformierten an der Absperrung vor. Sie trug ihr blondes Haar offen und schulterlang. Als sie näher kam, erkannte Vibeke fein geschnittene Gesichtszüge und einen entschlossenen Zug um ihren Mund.

»Hej. Maja Eriksen«, stellte sie sich mit einem flüchtigen Lächeln vor.

Die neue Vizepolizeiinspektorin, dachte Vibeke. Rasmus’ Chefin. Und seine Ex.

»Hej. Vibeke Boisen.« Sie unterdrückte den Drang, die Frau neugierig zu mustern, die vor rund dreieinhalb Monaten die Leitung der Mordkommission Esbjerg übernommen hatte.

»Du bist Eva-Karins Nachfolgerin«, stellte Søren neben ihr fest. »Ich bin Søren. Søren Molin.«

»Ich habe schon von dir gehört, Søren.« Maja Eriksen lächelte freundlich, und Vibeke bemerkte, dass sich ihr linker Schneidezahn leicht über den rechten schob, was ihrem Gesicht ein wenig die Härte nahm. »Und auch von dir, Vibeke. Es ist hoffentlich in Ordnung, wenn wir uns duzen.«

»Natürlich.« Vibeke hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass man sich in Dänemark duzte, und hatte die Anrede übernommen. Zudem hatte sie festgestellt, dass sie einen besseren Zugang zu den Menschen bekam, sobald die förmliche Barriere wegfiel. Nur wenn sie auf Landsleute traf, hatte sie eine Hemmschwelle und siezte ihr Gegenüber. So wie gerade Larissa Kerber.

»Könnt ihr mich auf Stand bringen?«, bat die Vizepolizeiinspektorin.

Søren fasste für sie die bisherigen Erkenntnisse zusammen. Gerade als er geendet hatte, kam Adam Larsen in seinem obligatorischen Schutzanzug aus dem Haus und lüpfte den Mundschutz.

»Hej, Adam«, begrüßte Vibeke ihn. Sie hatten in der Vergangenheit bereits miteinander zu tun gehabt.

»Guten Tag, die Herrschaften.« Der Rechtsmediziner nickte in die Runde.

»Kannst du schon etwas sagen?«, erkundigte sich Maja.

»Die Opfer sind bereits eine Weile tot. Mindestens achtundvierzig Stunden. Eine genauere Einschätzung kann ich euch nach der Obduktion geben.«

»Gibt es einen Hinweis auf die Tatwaffe?«

»Ich gehe von einem stumpfen Gegenstand aus«, sagte Adam. »Aber auch da müsst ihr euch für weitere Auskünfte ein wenig gedulden.« Sein Blick heftete sich auf Vibeke. »Gibt es Angehörige, mit denen wir die DNA abgleichen können, oder Zahnarztunterlagen?«

»Ich kümmere mich darum«, versprach Vibeke.

»Gut. Ich lasse die Leichname abholen, sobald mir die Spurensicherung das Okay dafür gibt. Die Obduktion findet heute noch statt. Voraussichtlich am späten Nachmittag.« Er machte auf dem Absatz kehrt und steuerte auf seinen Assistenten zu, der gerade aus dem Haus kam.

»Dann würde ich mir jetzt gerne ein Bild vom Tatort machen.« Maja Eriksen öffnete den Kofferraum ihres Kombis und entnahm ihm einen Satz Schutzkleidung.

Søren räusperte sich. »Wird es ein Fall für die Sondereinheit?«

»Davon ist auszugehen.« Die Vizepolizeiinspektorin zog ihren Mantel aus, und ein dicker Wollpullover über einem Hemdblusenkragen kam zum Vorschein. »Ich stimme mich gleich im Anschluss mit Kriminalrat Petersen ab und leite alles in die Wege.« Kriminalrat Hans Petersen war Vibekes direkter Vorgesetzter und der auf deutscher Seite Verantwortliche für den Einsatz der Sondereinheit.

Maja Eriksen legte ihren Mantel auf die Rückbank ihres Wagens und schlüpfte in den weißen Overall.

»Gut, dann nehme ich Kontakt zu den Angehörigen auf«, sagte Vibeke. »Sie sollen nicht durch die Presse oder die sozialen Medien vom Tod ihrer Eltern erfahren.«

»Du hältst mich bitte auf dem Laufenden.« Maja Eriksens blondes Haar verschwand unter der Kapuze. Anschließend stülpte sie sich Überschuhe über ihre Stiefeletten und ging zum Hauseingang.

»Die Frau scheint in Ordnung zu sein«, sagte Søren, sobald die Vizepolizeiinspektorin außer Hörweite war.

Vibeke nickte. Ihrem ersten Eindruck nach wirkte Maja Eriksen umgänglich und kompetent. Und wie es aussah, hatte sie nicht vor, ihre Abteilung ausschließlich vom Schreibtisch aus zu führen.

Vibekes Handy klingelte, und das Display zeigte die Nummer von Michael Wagner an.

Sie nahm den Anruf entgegen. »Hallo, Michael.«

»Hi. Ich habe jetzt die Kontaktdaten von Mirjam und Thomas Dahlmann. Beide leben in Hamburg. Soll ich dir die Adressen aufs Handy schicken?«

»Ja, bitte.« Vibeke überlegte. »Kannst du mich nach Hamburg begleiten?« Es gehörte zu den Vorschriften, dass Todesnachrichten immer persönlich und dazu von zwei Beamten überbracht wurden. Auch wenn wie in diesem Fall die endgültige Identifizierung noch ausstand.

»Natürlich.«

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Gut. Dann treffen wir uns in einer Dreiviertelstunde an der Polizeidirektion.«

»In Ordnung. Bis gleich.« Ihr Mitarbeiter legte auf.

»Michael begleitet mich nach Hamburg«, informierte sie Søren.

»Dann halte ich inzwischen hier die Stellung. Und ich versuche noch einmal, Rasmus zu erreichen. Mich würde ja schon interessieren, wo er sich herumtreibt.«

»Vielleicht hat er lange gefeiert.«

Søren lachte dröhnend. »Guter Witz.«

Sie beide wussten, dass Rasmus Nyborg in der Regel allem aus dem Weg ging, was in irgendeiner Form mit feiernden Menschen in Zusammenhang stand. Die einzige Ausnahme war Sørens Hochzeit gewesen, doch die lag auch schon weit über ein Jahr zurück, und Rasmus war Trauzeuge gewesen.

Vibeke straffte sich. »Dann fahre ich mal los. Wir hören voneinander. Hej hej.«

Sie ging die Kieseinfahrt entlang zur Straße, wo noch immer ihr Dienstwagen stand. Die Menschenansammlung hinter der Absperrung hatte sich in der Zwischenzeit weiter vergrößert. Eine Kamera klickte, und sie hob abwehrend die Hand. »Keine Fotos.«

Am Dienstwagen angekommen, warf sie noch einen Blick zurück. Zwei Leichname. Die Frau blutüberströmt, der Mann nahezu unversehrt, beide mit Kabelbindern an den Heizkörper fixiert. Weshalb mussten diese Menschen sterben?

Aarhus, Dänemark

Der Himmel spannte sich wie ein grauer Bogen über die Bucht von Aarhus. Der Wind frischte auf und trieb Wellen mit Schaumkronen über das Wasser.

Es waren knapp vier Grad, sowohl in der Luft als auch im Meer. Rund hundert Menschen standen dick eingepackt am Strand und schauten zu dem Mann mit Megafon, der leicht erhöht auf einem Stein stand und einige Begrüßungsworte sprach. Zwei kurze Sirenenstöße ertönten, und es kam Bewegung in die Menge. Dicke Mäntel und Daunenjacken wurden von den Körpern geschält, viel nackte Haut kam zum Vorschein, kurze und lange Badehosen, Einteiler und Bikinis, muskelbepackte Sixpacks und Bierbäuche. Ein weiteres Signal ertönte, und die Halbnackten rannten los und warfen sich unter viel Geschrei in die eisigen Wellen. Manche liefen Hand in Hand, die ganz Hartgesottenen tauchten kopfüber unter Wasser.

»Heilige Scheiße«, fluchte Rasmus Nyborg, sobald seine Zehen das unterirdisch kalte Nass berührten. Am liebsten hätte er gekniffen, doch vor ihm warf sich seine Schwester Jonna gerade kreischend ins Meer, während sein vierundsiebzigjähriger Vater Bo mit einem eleganten Hechtsprung unter die Wasseroberfläche glitt. Begleitet wurden sie von den Anfeuerungsrufen der zahlreichen Schaulustigen, die warm eingemummelt von Land aus zusahen.

Rasmus watete hüfttief ins Wasser, und erst als Jonna ein lautes »Feigling« in seine Richtung brüllte, biss er die Zähne zusammen und tauchte kopfüber ins Meer hinein. Die Kälte schnürte ihm förmlich die Luft ab, doch gleich im nächsten Moment kehrte er japsend zurück an die Wasseroberfläche und rannte am ganzen Körper zitternd zurück ans Ufer, wo bereits seine Mutter Freja und sein Schwager Arne lachend mit Bademänteln und Thermoskannen warteten. Auch die kleine Liv, Rasmus’ Patenkind, war in ihrem pinkfarbenen Schneeanzug mit dabei und hüpfte mit vor Kälte geröteten Wangen auf und ab.

»Rasmus ist wie immer am schnellsten aus dem Wasser«, feixte Arne, während Rasmus dankbar den Bademantel überzog, den ihm seine Mutter hinhielt.

»Du hast gut reden in deiner Daunenjacke«, erwiderte Rasmus zähneklappernd.

Jonna und ihr Vater kamen jetzt ebenfalls an den Strand zurück. Bo Nyborg rubbelte sich in Windeseile Körper und Haare ab und schlüpfte direkt im Anschluss wieder in seine Winterkleidung, während sich Jonna unter dem aufgeregten Juchzen von Liv zunächst in mehrere Schichten Handtücher wickelte und einen kräftigen Schluck heißen Kaffee nahm, ehe sie sich zeitgleich mit Rasmus die nassen Badesachen abstreifte und in ihre Klamotten stieg.

»Ich frage mich, warum ich mir das jedes Jahr antue«, murmelte Rasmus, während er versuchte, mit seinem sandverkrusteten Fuß in eine Socke zu gelangen.

»Weil du ein Nyborg bist«, sagte Freja. Sie war eine winzige Frau mit silberblondem Kurzhaarschnitt und warmherzigem Gemüt, die nicht nur die Kleinsten in der Familie wie eine Henne begluckte, sondern auch ihre längst erwachsenen Kinder. »Schau dir deinen Vater an. Wenn du Glück hast, bist du später noch genauso auf Zack wie er.« Sie betrachtete liebevoll ihren Mann. Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte Bo Nyborg noch immer eine durchtrainierte, athletische Figur, was wohl daran lag, dass er genau wie Rasmus mehrmals die Woche laufen ging. Auch sonst ähnelten sich Vater und Sohn. Sie hatten nicht nur die gleiche hoch aufgeschossene Gestalt, auch das kantige, fast schon hagere Gesicht und den zurückgehenden Haaransatz. Doch im Gegensatz zu seinem Vater, der im Laufe der Jahre vollständig ergraut war, zogen sich durch Rasmus’ dunkelblonde Haare erst vereinzelt graue Strähnen.

»Da braucht Rasmus aber sehr viel Glück«, sagte Jonna.

Alle lachten, und sie packten ihre Sachen zusammen.

Rund zwanzig Minuten später brachte Rasmus seinen hellblauen VW-Bus vor dem Vierseithof aus Fachwerk von 1872, den seine Eltern über Jahre liebevoll saniert hatten und in dem seine Schwester Jonna ein Bed and Breakfast betrieb, zum Stehen. Reetdach, weiß gekalkte Fassade. Fenster und Türen in leuchtendem Rot. Hinter den Scheiben hingen beleuchtete Weihnachtssterne, und um den Hauseingang war eine üppige Tannengirlande drapiert.

Rasmus stieg aus dem Bulli und folgte seiner Familie, die zeitgleich mit ihm im separaten Auto eingetroffen war, ins Haupthaus. Schon im Flur strömte ihm der Duft des deftigen Eintopfs entgegen, den seine Mutter gestern vorgekocht hatte. Grünkohl, gebräunte Kartoffeln und Kohlwürste. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und nachdem er seine Jacke an der Garderobe aufgehängt hatte, marschierte er direkt in die Küche. Es war der gemütlichste Raum des Hofes. Weiße Hochglanzfronten standen im Kontrast zur massiven Arbeitsplatte aus dunklem Holz, dazu kamen hochmoderne Geräte aus Edelstahl, freigelegte Deckenbalken und antike Kacheln im Delfter Design.

Rasmus half Jonna, den Tisch zu decken, während seine Mutter den Eintopf aufwärmte. Sein Schwager machte es sich zusammen mit Liv auf der Bank unterhalb des Fensters gemütlich und begann, seiner Tochter aus einem Bilderbuch vorzulesen. Er jeg lille? Bin ich klein?

Nur sein Vater fehlte. Er war wie immer nach dem Neujahrsbaden direkt unter die Dusche gegangen.

»In zehn Minuten ist das Essen fertig«, verkündete Freja.

»Rasmus, bitte bring doch noch schnell das Leergut raus.« Sie deutete mit dem Kopf zum Flur, wo die Sekt-, Wein- und Bierflaschen, die sie am vorigen Abend geleert hatten, in einem großen Pappkarton bereitstanden.

Es gehörte zur Familientradition, dass sie den Silvesterabend gemeinsam mit Freunden und Nachbarn feierten. Nach der Neujahrsansprache der Königin um achtzehn Uhr fand das alljährliche Dorschessen statt, gefolgt von reichlich Aquavit und noch mehr Gesang, ehe sie um Schlag Mitternacht von den Stühlen sprangen und sich im Anschluss mit Kransekage, einem turmhohen Marzipankuchen, und viel Sekt ein weiteres Mal die Bäuche vollschlugen.

Es war das erste Mal seit Antons Tod, dass Rasmus an dem alljährlichen Silvesterevent teilgenommen hatte, doch nicht nur bei ihm war die Stimmung getrübt gewesen. Vielmehr hatten sie sich alle in Schockstarre befunden, als Königin Margrethe in ihrer Neujahrsrede ihre Abdankung bekannt gegeben hatte. Rasmus hätte das niemals für möglich gehalten, und obwohl er kein leidenschaftlicher Monarchist war, so wie alle anderen Familienmitglieder, hatte auch er einen Kloß im Hals gehabt. Nach noch mehr Aquavit hatte die Partygesellschaft schließlich in Feierlaune zurückgefunden, nur Rasmus hatte sich direkt nach Mitternacht abgeseilt. Feiernde Menschen, auch wenn er die meisten von Kindesbeinen an kannte, bereiteten ihm nach wie vor Probleme. Zu groß war der Verlust und zu spürbar die Abwesenheit seiner eigenen Familie. Nicht nur Anton fehlte, auch seine Ex-Frau Camilla, die zusammen mit ihrer gemeinsamen Tochter Ida und ihrem Lebensgefährten in Kopenhagen lebte.

Doch er hatte sich vorgenommen, nach vorne zu blicken, und das Silvesterfest war ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

Rasmus trat in den Flur, und sein Blick fiel auf seine Jacke, die an der Garderobe hing. In der Innentasche steckte sein Handy. Er zog es heraus und stellte es an. Mehrere verpasste Anrufe sowie zwei neue Sprachnachrichten auf seiner Mailbox.

Die erste stammte von Søren Molin, seinem Freund und Kollegen von der Sondereinheit GZ Padborg, der ihm nach einem kurzen Neujahrsgruß von einem Doppelmord auf Als berichtete. Bei den Opfern handelte es sich offenbar um ein deutsches Ehepaar.

Rasmus runzelte die Stirn und hörte die zweite Nachricht ab, in der ihn seine Chefin Maja Eriksen darüber informierte, dass sie zum Tatort fuhr.

Ausgerechnet, dachte er. Wochenlang passierte nichts, und wenn er ausnahmsweise mal für einen Tag sein Handy ausschaltete, gab es gleich einen Doppelmord. Er beschloss, nach Als zu fahren, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Spätestens morgen würde der Fall ohnehin auf seinem Schreibtisch landen.

Rasmus ging zurück in die Küche. »Tut mir leid, aber ich muss los.« Er hielt sein Handy hoch. »Der Job.«

Freja seufzte, während sie weiter den Eintopf umrührte.

»Du wirst doch wohl noch mit uns essen können, oder?« Jonna verschränkte die Arme vor der Brust. Wie so häufig trug sie einen ihrer Norwegerpullover, an diesem Tag ein blaues Exemplar mit rot-weißem Muster. Ihre Augen unter den dunklen Ponyfransen blitzten ihn herausfordernd an.

Rasmus schüttelte bedauernd den Kopf.

»Seit Maja deine Chefin ist, springst du bei jedem Wort«, schob seine Schwester hinterher. Sie betrachtete ihn argwöhnisch. »Läuft da etwa wieder was?«

Auch seine Mutter und sein Schwager blickten ihn jetzt interessiert an.

»Ach, hört doch auf damit«, erwiderte Rasmus brüsk. »Was ihr immer gleich denkt. Das mit Maja ist doch alter Kaffee.«

»Soso.« Jonna sah ihn wissend an. »Ich wette, du magst sie noch immer. Wenn ich dir also einen Rat geben darf, dann halt dich ran. Das Leben ist zu kurz, um verpassten Chancen hinterherzutrauern.«

Rasmus verdrehte die Augen. »Ich bin dann jedenfalls weg.« Er schenkte seiner Mutter ein entschuldigendes Lächeln. »Danke, Mama, es war toll. Sagst du Papa noch einen Gruß von mir, wenn er aus der Dusche kommt?«

Seine Mutter nickte. »Fahr vorsichtig.«

»Das mache ich doch immer.« Rasmus grinste schief, warf noch ein »Hej hej!« in die Runde und zwinkerte Liv zu, ehe er zurück in den Flur ging. Dort schlüpfte er in seine Jacke, klemmte sich den Pappkarton mit den leeren Flaschen unter den Arm und schnappte sich mit der freien Hand seine Reisetasche, die fertig gepackt unterhalb der Garderobe stand.

Als er schließlich hinter dem Lenkrad seines Bullis saß und den Motor startete, ging noch einmal die Haustür auf und seine Mutter eilte heraus, in der Hand ein großes Stück Kuchen in einer Serviette.

Rasmus kurbelte lächelnd das Seitenfenster herunter.

Sarup, Dänemark

Rund zweieinhalb Stunden später stieg Rasmus an einem mit rot-weißem Flatterband abgesperrten Grundstück im südöstlichen Als wieder aus seinem VW-Bus. Gerade verließen zwei Leichenwagen unter den Blicken zahlreicher Schaulustiger die Kieseinfahrt.

Der Himmel über der Küste war bleigrau, und der Geruch nach Regen hing in der Luft. Kräftiger Wind fegte von Meer an Land, trug das Salz bis an seine Lippen. Obwohl er sich zweihundert Kilometer südlich von Aarhus befand, schien es ihm, als wäre es hier noch kälter.

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück höher und bahnte sich einen Weg an den Gaffern vorbei. An der Absperrung zeigte er dem Uniformierten seinen Dienstausweis und wurde durchgelassen.

Søren Molin stand in seinem Spurensicherungsoverall vor dem kleinen, weiß gekalkten Haus und sprach gerade mit Henrik Knudsen von der Spurensicherung. Beide hatte ihren Mundschutz heruntergezogen.

»Hej, Rasmus.« Søren schlug ihm zur Begrüßung mit seiner schaufelgroßen Hand freundlich auf die Schulter.

»Schön, dich zu sehen.« Rasmus lächelte angespannt und wandte sich dem Leiter der Spurensicherung zu. »Hej, Henrik. Den Jahresbeginn haben wir uns wohl alle anders vorgestellt, oder?«

»Du sagst es. Ich sollte jetzt eigentlich in Odense bei meiner Familie sitzen, aber wir haben uns den Job schließlich selbst ausgesucht.«

Rasmus deutete mit dem Kopf zum Hauseingang. »Gibt es irgendwelche Spuren?«

»Im Flur und in der Küche wimmelt es von Fußabdrücken, die möglicherweise von den Schuhen des Täters stammen«, erwiderte Knudsen, »aber versprich dir nicht zu viel davon. Die Qualität ist schlecht. Offenbar wurden sie nachträglich verwischt. Außerdem sind eine Zeugin und ein paar Kollegen mit Füßlingen durch den Flur marschiert.« Er verzog das Gesicht. »An DNA-Material ist ebenfalls einiges vorhanden, allerdings ist fraglich, ob etwas davon vom Täter stammt. Ihr bekommt Bescheid, sobald die Laboranalyse da ist.«

»Was ist mit der Tatwaffe?«

»Die wurde bislang noch nicht gefunden. Es gibt auch keine offensichtlichen Einbruchspuren an der Haustür, aber ich habe sicherheitshalber angeordnet, dass das Türschloss ausgebaut und untersucht wird.«

Rasmus’ Blick glitt zum Garten, wo gerade zwei Kriminaltechniker in Schutzanzügen die Gebüsche und Beete absuchten. »Wie lange braucht ihr noch?«

»Das wird wohl eine Weile dauern«, erwiderte Knudsen. Er deutete mit dem Kopf zum Gebäude. »Ich muss dann auch mal wieder.« Er zog den Mundschutz hoch und ging zurück ins Haus.

Søren räusperte sich. »Du hast deine Chefin verpasst. Und Vibeke. Sie war vorhin hier und hat sich den Tatort angesehen.«

»Ach, wie geht es ihr?«, fragte Rasmus. Es war einige Wochen her, seit er mit seiner Flensburger Kollegin gesprochen hatte. Seit ihrem letzten gemeinsamen Fall, bei dem eine junge Bankerin während eines Kundenevents auf einer Segelyacht über Bord gegangen war, hatten sie sporadisch Kontakt gehalten, und er wusste, dass sie im Dezember ihren Jahresurlaub genommen hatte, um dem ganzen Weihnachtstrubel zu entfliehen.

Damit war sie gefühlt der einzige Mensch in seinem Umfeld, der die hyggeligste Zeit des Jahres nicht liebte. Doch Vibeke Boisen war ohnehin nicht wie andere. Sie gehörte zu den zähesten Personen, die er kannte, und war eine hervorragende Ermittlerin, dazu emsig und regelkonform. Hinter ihrer oftmals spröden Fassade verbarg sie eine tiefe Verletzlichkeit, die sie nur ungern offenbarte, doch es war genau diese Eigenschaft, die sie miteinander teilten. Vermutlich war Vibeke Boisen neben seiner Familie und Camilla die Person, die ihn am besten kannte. 

»Sie sah erholt aus«, sagte Søren. »Ich glaube, sie ist endlich drüber hinweg.« Damit spielte er auf den Tod von Vibekes Freund Claas Behring und die Umstände an, die dazu geführt hatten.

»Das ist gut«, sagte Rasmus. Sie trugen alle ihr Gepäck, auch wenn das von einigen Menschen schwerer wog als das von anderen. Er wünschte Vibeke, dass sie künftig nachsichtiger war. Vor allem mit sich selbst.

Rasmus ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Nichts als Wiesen, Felder und ein paar Bäume. Am Horizont lag stahlgrau das Meer.

Gerade setzte Nieselregen ein, und die Konturen von Ufer und Wasser verschwammen. Er fröstelte. »Kommt da noch was?«

Søren zuckte die Achseln.

»Dann lass uns mal die Nachbarn abklappern.«

Hamburg, Deutschland

Das Wohnquartier Fischers Höfe lag im dicht bebauten Stadtteil Ottensen mit unzähligen kleinen Läden und Kneipen, prachtvollen Altbauten und zu Lofts umgebauten Industriegebäuden, in Fußnähe zur Elbe und zu großzügigen Parkanlagen.

Über einhundert Wohneinheiten in Form von Stadthäusern, Geschoss- und Maisonettewohnungen gruppierten sich auf über achttausend Quadratmetern um ruhige, begrünte Höfe. Klare Linien, Ziegelverkleidung oder weiß verputzte Außenwände, viel Glas.

Mirjam Dahlmann wohnte im obersten Stockwerk einer Mehrfamilienwohneinheit mit heller Klinkerfassade.

»Wusstest du, dass Ottensen und Altona früher mal unter dänischer Herrschaft standen?«, fragte Michael Wagner, als sie vor der Haustür darauf warteten, dass ihnen geöffnet wurde. Vibekes Mitarbeiter war ein junger Schlaks mit blondem Backenbart, tüchtig und engagiert, der das Zeug dazu hatte, es in seiner Polizeikarriere weit zu bringen. »Tatsächlich?«, fragte sie interessiert.

Michael nickte eifrig. »Von 1640 bis zum deutsch-dänischen Krieg 1864. Danach wurden …«

Der Summer ertönte, und Vibeke drückte die Eingangstür auf. »Erzähl mir gerne ein anderes Mal davon, ja?« Sie steuerte auf den Fahrstuhl zu und spürte eine leichte Anspannung. Das Überbringen von Todesnachrichten gehörte zu den schwersten Aufgaben ihres Jobs. Sobald sich die Tür öffnete, veränderte sich das Leben der Angehörigen mit einem Schlag.

Im dritten Stock wurden sie bereits in einer offen stehenden Haustür von einer schlanken, hochgewachsenen blonden Frau erwartet. Sie war lässig gekleidet, trug Jeans und eine helle Hemdbluse, deren seidener Stoff im Ton ihrer Haare schimmerte. Ihre Gesichtszüge wirkten ein wenig herb.

Ihr forscher Blick glitt von Vibeke zu Michael und wieder zurück. An ihren nackten Füßen glänzte roter Nagellack.

Vibeke zückte ihren Dienstausweis und stellte sich und ihren Mitarbeiter vor. »Dürfen wir vielleicht reinkommen?«

»Es ist ein wenig unordentlich, aber bitte.« Mirjam Dahlmann trat beiseite, um sie hineinzulassen. Sie hatte eine prägnante Stimme und wirkte nicht im Geringsten beunruhigt, so als gehörte es zu ihrem Alltag, dass die Polizei vor ihrer Haustür stand. Möglicherweise hing das mit ihrem Beruf als Rechtsanwältin zusammen. Michael hatte auf der Fahrt nach Hamburg erste Informationen über Mirjam Dahlmann eingeholt. Demnach war sie siebenunddreißig und arbeitete bei Hegebaum & Partner, einer internationalen Wirtschaftskanzlei mit weltweit fünfundzwanzig Standorten als Senior Associate. Fachgebiet Individual- und Kollektivarbeitsrecht.

Ihre Wohnung war großzügig geschnitten, die Einrichtung minimalistisch und in hellen Farben gehalten. Große Fensterflächen ließen viel Licht herein. Nirgends war auch nur ein Anflug von Unordnung oder ein Staubkorn zu sehen. Keinerlei Weihnachts- oder Silvesterdeko. Einzige Wohnaccessoires bildeten ein aschgraues Wollplaid und drei chromfarbene Kerzenhalter.

»Bitte.« Mirjam Dahlmann wies auf den Dreisitzer mit naturfarbenem Bezug, während sie selbst auf einem Lounge Chair mit geflochtener Sitzfläche Platz nahm.

Vibeke registrierte gepflegte Hände, schmucklose Finger. Kein Ehering. Sie setzte sich neben Michael auf die Couch.

»Heute Vormittag wurden in Sarup auf Als zwei Tote gefunden«, begann Vibeke das Gespräch ohne jegliches Vorgeplänkel. Sie hatte gelernt, dass man eine Todesnachricht am besten direkt überbrachte, ohne lange Einleitungen, da die Angehörigen sonst häufig dichtmachten und die eigentliche Nachricht nicht mehr aufnahmen. »Die endgültige Identifizierung steht noch aus, doch es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Ihre Eltern.«

Einen Moment blieb es vollkommen still im Raum. In der Nachbarwohnung schmetterte gerade Mariah Careys »All I Want for Christmas Is You«, und Vibeke schauderte innerlich.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit?«, wiederholte Mirjam Dahlmann. Sie wirkte vollkommen gefasst. »Also gibt es noch Hoffnung.«

Neben Vibeke rutschte Michael unruhig auf seinem Platz herum. Sie zog ihr Handy aus der Innentasche ihrer Winterjacke, holte ein Foto des toten Mannes aufs Display und hielt es der Rechtsanwältin hin. »Ist das Ihr Vater?«

Mirjam Dahlmann betrachtete es eingehend. »Ja, das ist er.« Sie war eine Spur blasser geworden. »Wie ist er gestorben? War es ein Herzinfarkt?«

Vor Vibekes geistigem Auge stiegen Bilder auf. Die an die Heizung gefesselten Leichen. Das entstellte Gesicht der Frau. Das viele Blut.

»Ihre Eltern sind keines natürlichen Todes gestorben.«

Mirjam Dahlmanns Augen weiteten sich. »Das heißt, sie wurden ermordet?«

Vibeke nickte.

Die Rechtsanwältin schlug für einen kurzen Moment die Hand vor den Mund. Einige Sekunden vergingen, ehe sie fragte: »Wie wurden meine Eltern umgebracht?« Sie wirkte wieder vollkommen kontrolliert.

»Zur genauen Todesursache kann ich Ihnen noch nichts sagen, dafür müssen wir die Obduktion abwarten«, hielt sich Vibeke bedeckt, »doch es hat den Anschein, als hätte man Ihre Mutter erschlagen.«

»Erschlagen«, wiederholte Mirjam Dahlmann. Ihre Schultern sackten herab. Ihr Kinn zitterte.

Vibeke ließ ihr einen Moment. »Was denken Sie, wer einen Grund gehabt haben könnte, Ihren Eltern Derartiges anzutun?«

Mirjam Dahlmann blickte zum Fenster. Regentropfen prasselten gegen die Scheiben und liefen in Rinnsalen hinab. Offenbar dachte sie gründlich nach.

»Ist Ihnen jemand eingefallen?« Vibeke zog Stift und Notizbuch aus ihrer Tasche.

Mirjam Dahlmann löste den Blick vom Fenster.