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»Das Vergessen kennt keine Schuld und Schuld kennt kein Vergessen.« Rechtsanwältin Aenne Feddersen ermittelt mit zwanghaftem Scharfsinn und nordischem Charme dort, wo Gummistiefel und Fischbrötchen zum Kulturgut gehören. Aenne Feddersen kämpft als Strafverteidigerin nicht nur erbittert vor Gericht, sondern auch täglich gegen ihre manischen Zwänge an. Ihre neue Mandantin, Lisa Hellmann, leidet an einer Amnesie und ruft alte Erinnerungen in Aenne hervor. Hellmann wurde aus einem zertrümmerten Autowrack geborgen. Hatte sie versucht, sich umzubringen? Mühsam beginnt Aenne, sich in diesen Fall einzuarbeiten. Ein Leichenfund im Kranichmoor führt sie auf die Spur eines raffiniert ausgeklügelten Mordes. Die nordfriesischen Inseln bieten die perfekte Kulisse für Nordseekrimis, die unter die Haut gehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Krinke Rehberg
Aenne Feddersen
und der
vergessene Tod
Dieser Kriminalroman ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Sabine
Sie ist alles in oin!
ACH JA: NIEMAND IST PERFEKT!
Daher bitte ich, eventuelle Rechtschreibfehla zu entschuldigen ...; )
IMPRESSUM
© 2023 Krinke Rehberg
Alle Rechte an Cover/Logo/Text/Idee vorbehalten
Imprint: Independently published
Krinke Rehberg c/o Tomkins, Am Wald 39, 24229 Strande
»Das Vergessen kennt keine Schuld und die Schuld kennt kein Vergessen.«
Prolog
HEUTE
Sie wimmerte und rief um Hilfe, aber niemand kam. Die Angst ergriff Besitz von ihrem Körper. Ein eiserner Gürtel lag um ihren Brustkorb und nahm ihr die Luft zum Atmen. Vor ihren Augen waberten Bilder umher, aber wie bei einem Aquarellgemälde verschwammen die Konturen. Dann hörte sie die vertraute, männliche Stimme. Wie war noch mal sein Name? Verzweifelt versuchte sie, sich zu konzentrieren, aber die Angst lähmte ihren Geist, breitete sich in ihrem Körper aus und paralysierte jede einzelne Zelle. Ihr fiel nicht ein, zu wem die Stimme gehörte. Vor ihre Augen legte sich ein roter Schleier. Überall war Blut, sie ertrank in einem Meer aus Blut! Plötzlich streifte etwas Pelziges ihre Wange und das gleichmäßige Brummen eines Motors kam näher.
Panisch riss sie die Augen auf. Sie lag schweißgebadet in einem Bett und es war stockdunkel. Ihre Finger umklammerten das gestärkte Bettlaken. Warum konnte sie ihre Beine nicht bewegen? Wo war sie? Was war geschehen?
1
VOR 10 TAGEN
Er schmunzelte beim Anblick des Teichs, der den Namen Kranichmoorsee trug. Ein rostiges, vermoostes Schild der schleswig-holsteinischen Forstbehörde war an einen schief eingeschlagenen Pflock am Ufer genagelt.
Auf dem See ragten zwei kleine Erhebungen aus dem Wasser, die von dichten, jahrzehntealten Kiefern bewachsen waren. Er hatte durch Zufall die uneinsehbare Lichtung entdeckt. Ihm war sofort bewusst gewesen, dass dies der ideale Platz war. Das Holz für die kleine Hütte, die er dort errichtet hatte, war mühsam mit dem Floß herangeschafft worden. In zahllosen Nächten hatte er das Baumaterial auf die Insel gebracht, aber der Aufwand hatte sich gelohnt.
Zufrieden sah er auf sein Zuhause. Das Dach und die Seitenwände waren mit Grassoden, Sträuchern und Wurzelwerk bedeckt. Die wenigen Wanderer, Ornithologen und Forstarbeiter, die die Binnendünen bei Süderlügum aufsuchten, hatten sein Versteck bisher nicht entdeckt. Nur in mondlosen Nächten entzündete er ein Feuer. Der aufsteigende Rauch verschwand ungesehen in den Wolken.
Hier im Kranichmoor war er von der Welt abgeschnitten. Dieses kleine Eiland war sein Reich, niemand störte ihn.
In all den Wochen, die er schon hier wohnte, war er jede Nacht auf die Pirsch gegangen. Wie ein einsamer Wolf hatte er sein Revier erkundet. Lautlos war er durch die Wälder und Moore Nordfrieslands bis zur dänischen Grenze gezogen. Sein Blick wanderte zu dem Arm, der aus dem verwitterten Laub herausragte. »Fuchs, du hast den Arm gestohlen«, sang er leise.
Der Anblick des Toten ließ ihn kalt.
Sein Herzschlag setzte abrupt aus, als er Stimmen vernahm. In der Bewegung erstarrt und die Luft anhaltend, wartete er einige Sekunden. Dann atmete er erleichtert aus. Die Stimmen entfernten sich. Er war in Sicherheit, aber er brauchte Werkzeug. Werkzeug und eine Waffe.
2
Gemeinsame Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Flensburg und der Bezirkskriminalinspektion Flensburg
Flensburg: Am Mittwochnachmittag wurde im Kranichmoor bei Süderlügum eine männliche Leiche gefunden. Die Schüler einer Husumer Gesamtschulklasse entdeckten den Leichnam bei einer naturkundlichen Exkursion. Sie werden von Psychologen betreut, um den Schock zu verarbeiten.
Die polizeilichen Ermittlungen wurden aufgenommen und dauern derzeit an.
Aufgrund der fortgeschrittenen Verwesung konnte der Tote bisher nicht identifiziert werden. Weitergehende Angaben sind zu diesem Zeitpunkt nicht möglich.
Frank Guthoff, Erster Staatsanwalt, Flensburg
Christoph Koch, Pressestelle der Bezirkskriminalinspektion
3
HEUTE
Auf ihrer Brust saß Captain Kirk und schnurrte. Sein buschiger Schwanz fuhr ihr durchs Gesicht. »Danke, Captain, du hast mich gerettet!«, murmelte Aenne ergriffen. Es war nicht das erste Mal, dass der Kater sie aus einem Albtraum geweckt hatte. Offenbar stimmte es, dass Katzen nicht nur sieben Leben, sondern auch einen siebten Sinn hatten!
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie roch an der Bettwäsche und sog den Duft nach Weichspüler ein. Captain Kirk forderte sein Frühstück, indem er mit den Vorderpfoten gleichmäßig und sanft ihre Schulter bearbeitete. Aenne wusste, dass dieses Verhalten bei älteren Katzen von Wohlbefinden und Zuneigung zeugte, aber der Captain nutzte diesen Milchtritt ausschließlich, um seine Mahlzeit einzufordern!
Müde kraulte sie ihm die Ohren. Sofort drückte er seinen Kopf in ihre Hand. Das Schnurren wurde eine Nuance lauter. »Na, Captain auf der Brücke?«, blinzelte sie verschlafen. Der Kater kam nur morgens zu ihr ins Bett, nachdem er nachts in seinem Revier für Ordnung gesorgt hatte. Aenne war überzeugt davon, dass er seine Machtposition innerhalb des Katzenclans überschätzte, aber außer einem halben Ohr hatte er in den letzten elf Jahren keine Blessuren davongetragen. Sie wusste von Nachbarn, dass er in Kellerfenster einstieg und die Mülltonnen in den Hinterhöfen durchwühlte. Es machte sie stolz, dem Mafiaboss des Clans ein Zuhause zu geben!
Den Schlaf aus ihren Augen reibend, setzte sie sich aufrecht hin und strich mit einer Hand über das schwarzweiße Fell, während sie mit den Fingern der anderen Hand durch ihren blonden Schopf kämmte.
Captain Kirk war das letzte Bindeglied zu ihrem alten Leben. Er war elf Jahre alt und vor elf Jahren war der Unfall geschehen.
»Du willst dein Futter, deshalb bist du so nett! Denkst du, ich weiß das nicht?«, raunte sie ihm zu und schob ihn sachte von sich, um aufstehen zu können. Im Vorbeigehen stellte sie den Wasserkocher an, dann öffnete sie die Futterdose und beförderte den Inhalt in einen Napf. Gierig stürzte der Kater sich darauf und Aenne lauschte dem leisen Schmatzen. Das Geräusch übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Sie atmete tief ein und drückte die Daumen fest gegen die Nasenwurzel, um die aufsteigende Trauer zurückzudrängen.
Das Wasser kochte und sie goss es über das bereitstehende Teesieb in den Keramikbecher von der Nordstrander Töpferei, den sie letztes Weihnachten von ihrem Vater bekommen hatte. Der Duft frischer Teeblätter zog durch die Küche. Sie stellte sich vor das große Erkerfenster und beobachtete zwei Eichhörnchen, die in dem parkähnlichen Garten Fangen spielten.
Die alte Kaufmannsvilla in der Ludwig-Nissen-Straße lag nur wenige Gehminuten vom Marktplatz entfernt und trotzdem mitten im Grünen. Vom Ende des Gartens führte eine Pforte auf den Lämmerfennenweg, der nur von Fußgängern und Fahrradfahrern genutzt werden konnte.
Aenne fühlte sich wohl in dieser Wohnung, die sie vor einem Jahr angemietet hatte. Lotte Hinrichs, eine verwitwete, achtzigjährige Dame, war rüstig und gerade heraus. Es hatte zahlreiche Bewerber für die Altbauwohnung gegeben, aber bei einer Tasse Tee im Wintergarten war der Funke übergesprungen. Aenne hatte interessiert den Ausführungen über verschiedene Tomatenzüchtungen gelauscht und um eine Führung durch das Gewächshaus gebeten.
»Wussten Sie, Frau Feddersen, dass die Tomate als Paradiesfrucht bezeichnet wird? Die reife Frucht hat die leuchtend rote Farbe vom Saft des Lebens, und der Geschmack ist von einer Süße und Fruchtigkeit, dass niemand geringeres als Gott selbst sie erschaffen haben muss! Hier, probieren Sie mal diese!« Damit hatte sie ihr eine kleine, feste Tomate abgepflückt und gereicht. Spontan breitete sich bei der Erinnerung an diese Situation in Aennes Mund der Geschmack von dieser Tomate aus. Fasziniert von dieser Assoziation wandte sie sich um und suchte in der Schüssel mit verschiedenen Tomaten, die Lotte ihr gestern stolz überreicht hatte, die Sorte heraus. Sie biss hinein und seufzte glücklich. Schmunzelnd dachte sie zurück an die Verwunderung der alten Dame, als sie zum Ende der Führung einige Fragen zu den unterschiedlichen Züchtungen gestellt hatte. »Da lassen Sie mich die ganze Zeit reden, und dabei sind Sie vom Fach?«, hatte sie empört gerufen. Aenne hatte ihr erklärt, dass einmal Gehörtes oder Gesehenes sich in ihr Gehirn einbrannte und jederzeit abrufbar war. Es hatte einer Demonstration bedurft, aber als sie die richtige Anzahl eilig geernteter Tomaten auf einem Holztablett mit einem Blick erfasst hatte, war Lotte Hinrichs überzeugt gewesen. Fünf Minuten später hatten sie den Mietvertrag unterschrieben. Erst danach hatte sich herausgestellt, dass neben der Mietwohnung auch zwei Zimmer im Souterrain leer standen. Spontan hatte Aenne gefragt, ob sie dort ihr Büro einrichten dürfe. Es war wie ein Wink des Schicksals gewesen, sie hatte das erste Mal seit Jahren für einen kurzen Augenblick das Gefühl gehabt, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen.
Heute stellte sich dieses Gefühl nicht ein. Die Albträume raubten ihr nicht nur den Schlaf, sie bedeuteten auch, dass noch viele Therapiestunden vonnöten waren. Elf Jahre, und immer noch diese Angst!
Unwirsch drängte sie die trübsinnigen Gedanken beiseite und zog ein Desinfektionstuch aus dem Spender, der neben der Küchentür an der Wand hing. Nachdem sie ihre Hände penibel gereinigt hatte, nahm sie den Becher mit dem mittlerweile abgekühlten Friesentee und ging durch die doppelflügelige Verbindungstür in das lichtdurchflutete Wohnzimmer. Die Sonne ging auf und warf ihre ersten Strahlen auf das Sofa. Aenne hatte es zweieinhalb Meter von der Fensterfront mit Blick auf den Garten ausgerichtet. Es war der Goldene Schnitt dieses Raumes. Sie wickelte sich in eine Wolldecke und trank in kleinen Schlucken den Tee.
Das Bett musste frisch bezogen werden und der Steuerberater wartete auf die Belege des letzten Quartals, aber es war Samstag und noch nicht mal 6 Uhr, da konnte der Tag langsam beginnen! Der Captain war versorgt und sie hatte für dieses Wochenende keinen Plan. Ihre kleine Anwaltskanzlei lief dermaßen schlecht, dass sie sich dringend um Klientenakquise kümmern musste. Immerhin deckten die Einnahmen die Mietkosten ab. Lotte Hinrichs hatte die Miete spontan halbiert, als sie von Aennes Tätigkeit als Rechtsanwältin und dem Vorhaben, eine eigene kleine Kanzlei zu eröffnen, erfahren hatte. Das war eine halbe Stunde nach Unterschreiben des Mietvertrags gewesen, also noch vor der ersten Zahlung. Für lediglich 500 € bewohnte sie eine sanierte 3-Zimmer-Altbauwohnung in einer der schönsten Straßen Husums und musste nur zwei Treppen runter in ihr Büro gehen! Im Gegenzug hatte die alte Dame gefordert, dass eventuelle Rechtsstreitigkeiten von ihr übernommen würden, natürlich kostenlos. Aenne war sofort einverstanden gewesen, die eingesparte Miete bedeutete einen enormen Druckabfall ihre finanzielle Situation betreffend.
Als die alte Dame drei Monate nach ihrem Einzug mit einer fiebrigen Erkältung im Bett gelegen hatte, war sie mit einem Topf frischer Suppe zu ihr gegangen und hatte die Einkäufe für sie erledigt. Diese Nachbarschaftshilfe war in ihren Augen eine Selbstverständlichkeit, aber Lotte Hinrichs war unverhältnismäßig dankbar gewesen. Sie hatte ihr anvertraut, dass ihr Sohn Mark jeglichen Kontakt zu ihr eingestellt hatte, seit er zum zweiten Mal verheiratet gewesen war. Sie hatte in der Zeitung von seinem Tod nach langer und schwerer Krankheit erfahren. Die bis dato unbekannte Schwiegertochter hatte über einen Rechtsanwalt einen Erbanspruch für ihren Sohn, den Mark adoptiert hatte, geltend gemacht. Von der Existenz dieses mittlerweile volljährigen Enkels hatte sie bis zum Erhalt des Anwaltsbriefes nicht gewusst. Aenne war fassungslos gewesen, wusste aber seitdem, weshalb ihre Vermieterin die Miete so gering angesetzt hatte. »Schmarotzer und Erbschleicher!«, hatte sie hustend geschimpft.
Gedankenverloren streichelte sie Captain Kirk, der sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte und die Sonnenstrahlen genoss. Ihre anfängliche Sorge, die Rolle einer Art Ersatztochter für Lotte Hinrichs einnehmen zu müssen, hatte sich als unbegründet erwiesen. Nach dem grippalen Infekt war sie schnell wieder zu Kräften gekommen und schien voll ausgelastet zu sein. Aenne fragte sich manchmal, wer von ihnen die Ältere war. Sie selbst lebte zurückgezogen und bekam keinen Besuch. Lotte dagegen pflegte einen großen Bekanntenkreis, sie spielte Canasta mit Freundinnen und unternahm Tagestouren mit ihrem Golf Plus. Während Aenne in ihrem Zuhause meist in Jogginghosen herumlief, war Lotte immer stilvoll gekleidet, trug die hellgrauen Haare zu einem Pagenkopf geschnitten und besuchte im Vier-Wochen-Rhythmus ein Kosmetikstudio! Ihr faltiges Gesicht strahlte eine Lebenserfahrung und Energie aus, die Aenne oft genug an sich vermisste.
Sie blinzelte gegen die Sonnenstrahlen an und streckte sich auf dem Sofa aus. Captain Kirk grunzte unwillig, blieb aber auf ihrem Schoß liegen. Die Turmuhr der Marienkirche schlug zwei Mal. Es musste 6:30 Uhr sein, zu früh, um den Tag zu beginnen. Kundenakquise bedeutete, das Internet und die Zeitung zu durchforsten, beides war aufwändig und die Erfolgsaussichten gering. Es widersprach ihr zutiefst, sich ungefragt als Strafverteidigerin anzubieten, aber sie brauchte Mandanten! Die Fälle, die ihr vom Gericht zugewiesen wurden, waren zwar überlebensnotwendig, aber dafür hatte sie ihr Studium nicht mit der legendären Punktzahl von 16,2 abgeschlossen! Dieses Prädikatsexamen war das beste je erreichte Ergebnis in Deutschland. Die Angebote der renommierten Kanzleien hatte sie abgelehnt, um in ihrer Heimatstadt Husum eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Jeden Morgen, wenn sie ihren fünfundzwanzig Jahre alten Volvo Kombi startete, betete sie, dass er anspringen möge.
Der freundliche Inhaber der Hofwerkstatt hinter der Neustadt kannte den Wagen und hatte ihn erst vor wenigen Wochen ein weiteres Mal über den TÜV gebracht. »Der 940er schafft auch 400000 Kilometer, bestes Auto, was die Schweden da gebaut haben!«, hatte er gegrinst, als Aenne die Rechnung beglichen hatte.
Die Erinnerung an diese Worte brachte sie unweigerlich auf die beiden Autodiebe, die sie als Pflichtverteidigerin vertrat. Sie befanden sich in Untersuchungshaft in Flensburg, und bei ihrem ersten Termin hatte einer der jungen Männer den Volvoschlüssel registriert. Aenne hatte den flüchtigen Blick, den er seinem Kollegen zugeworfen hatte, mitbekommen. Würde sie ihre Verteidigung erfolgreich durchführen, wäre ihr Wagen der nächste, der geklaut würde! Das nannte sich Ironie des Schicksals!
Die Titelmelodie des Tatorts schreckte sie vom Sofa hoch. Es war der Klingelton ihres Handys. Auf dem Weg zur Diele hörte sie die Kirchturmuhr schlagen, erst vier helle Schläge, dann sieben dunkle. Sie sah auf das Display. Eine unbekannte Nummer rief die Büronummer an. Sie hatte die Anrufumleitung gestern Abend eingeschaltet, aber noch nie war die Büronummer an einem Wochenende angerufen worden!
»Rechtsanwältin Feddersen hier, moin!«
»Bitte helfen Sie mir!«
4
Aenne vernahm die Resignation, die in den Worten der Anruferin lag. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
»Indem Sie meine Anwältin werden!«, kam prompt die Antwort, diesmal mit fester Stimme.
»Gern, aber worum geht es?« Ganz ohne Akquise, dachte Aenne. Dieser Anruf kam wie gerufen!
»Das kann ich Ihnen nur persönlich sagen, also von Angesicht zu Angesicht. Sie müssten sich zu mir bemühen, Frau Feddersen.«
Die meisten Mandate wurden ihr über das Gericht als Pflichtverteidigerin zugewiesen. Aber die Wortwahl der Frau passte nicht zu dieser Klientel von Kleinkriminellen.
»Das ist kein Problem, aber ich brauche ein bisschen mehr Informationen, worin mein Auftrag besteht. Wie ist Ihr Name?«
»Wenn ich das wüsste, wäre mir schon geholfen«, seufzte die Frau.
»Sie wissen Ihren Namen nicht?«, hakte Aenne überrascht nach.
»Ja, hier in der Klinik heißt es, ich sei Lisa Hellmann.«
»Gut, Frau Hellmann, in welcher Klinik befinden Sie sich?«
»Reden Sie nicht mit mir, als säße ich in der Klapsmühle!«, rief sie ungehalten.
»Keineswegs, aber sie erwähnten, dass sie nicht zu mir in die Kanzlei kommen könnten.«
»Nein, ich sagte, sie müssten sich zu mir bemühen!«
Lisa Hellmanns Spitzfindigkeit wirkte verstörend und verursachte den Anflug einer Gänsehaut auf Aennes Unterarmen. Sie räusperte sich. »In welcher Angelegenheit benötigen Sie meine Dienste als Anwältin?«
»Versuchter Mord!«
Das saß. Aenne unterdrückte ein Stöhnen und wartete gespannt.
»Ich bin das Opfer!«, fuhr Hellmann fort.
»Haben Sie Anzeige bei der Polizei erstattet?«, fragte Aenne ruhig. Dieses Gespräch war bestenfalls verwirrend und es hatte den Anschein, dass Lisa Hellmann entweder unter Drogeneinfluss stand oder sich einen schlechten Scherz erlaubte!
»Die Polizei hat meine Aussage bereits zu Protokoll genommen.«
»Eine Aussage ist nicht eine Anzeige wegen versuchten Mordes«, erklärte Aenne nachsichtig. Sie hörte das tiefe Ein- und Ausatmen von Hellmann. Offenbar fiel es ihr schwer, die Ruhe zu bewahren. Schließlich sagte sie: »Ich bin Täter und Opfer zugleich!«
Aenne schluckte eine Erwiderung herunter, sah zu Captain Kirk und erklärte ihm augenrollend und mit dem Zeigefinger an die Stirn klopfend, dass diese Anruferin einen Vogel hatte.
»Ich erwarte, dass Sie keine voreiligen Schlüsse ziehen, Frau Feddersen!«
Ertappt starrte Aenne auf ihr Handydisplay. Es handelte sich bei diesem Telefonat nicht um einen Videocall, also konnte Lisa Hellmann ihre respektlose Geste nicht gesehen haben! Aber diese Frau war intelligent genug, um zu wissen, wie unglaubwürdig das Gesagte wirkte.
»Dann geben Sie mir eine Erklärung!«, forderte Aenne.
»Es heißt, ich hätte einen Suizidversuch unternommen, aber das entbehrt jeglicher Logik.«
»Warum?«
»Weil ich niemals Selbstmord begehen würde, schon gar nicht wegen eines Mannes!«
»Verstehe ich Sie richtig? Auf Sie ist ein Mordanschlag verübt worden, der als Selbstmord inszeniert wurde?«
»Ja! Sie begreifen schnell!«, erwiderte Hellmann überheblich. »Ich befinde mich in der Nordseeklinik Westfalen in Wyk auf Föhr.«
Aenne kannte das Gebäude direkt am Badestrand von Wyk. Sie hatte mit ihren Eltern die Sommerferien auf den nordfriesischen Inseln verbracht, immer abwechselnd nach Sylt, Föhr, Amrum, Langeneß, Hooge und Pellworm, zwölf Sommer lang, jede Insel zweimal für jeweils sechs Wochen. »Da genießen Sie ja phantastischen Meerblick.«
»Der Meerblick scheint das Wichtigste in dieser Einrichtung zu sein«, gab Hellmann gelangweilt von sich.
»Was genau erhoffen Sie sich von meinen Diensten?«
»Zu beweisen, dass ich nicht versucht habe, mich umzubringen!«
»Wer beschuldigt Sie denn?«
»Alle, und damit meine ich alle. Lesen Sie keine Zeitung, Frau Feddersen?«, fragte sie spöttisch. »Ich bin die Tochter von Friedemann Hauck.«
»DER Friedemann Hauck?«, rief Aenne überrascht.
»Ja, dem weißen Hai der Nordsee!«
Das war der Spitzname des Immobilienmoguls, der für seine Skrupellosigkeit und Verbindungen zum organisierten Verbrechen bekannt war. Die Bezeichnung wurde nur hinter vorgehaltener Hand verwendet, da er Dutzende Anwälte beschäftigte, die jede Verleumdung oder üble Nachrede mit saftigen Geldstrafen versahen.
»Sagten Sie nicht vor ein paar Minuten, dass Sie nicht wüssten, wer Sie sind?«
»Richtig, ich bin mir nicht sicher, aber meine Umgebung scheint sehr genau zu wissen, wer ich bin.«
»Ich gehe davon aus, dass Sie den Namen Ihres Ehemannes angenommen haben?«
»Anzunehmen, aber auch daran kann ich mich nicht ...« Mitten im Satz brach sie abrupt ab. Aenne vernahm ein kurzes Schnaufen, wie das Unterdrücken eines Schmerzes.
»Übernehmen Sie bitte meinen Fall, Frau Feddersen?«, fuhr sie schließlich mit weinerlicher Stimme fort.
Unwillkürlich dachte Aenne, dass diese hörbaren Tränen unecht waren. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir es hier mit einem Fall zu tun haben«, antwortete sie vorsichtig. »Gegen Sie wird weder ermittelt noch liegt eine Anklage vor ...«
»Ich habe Ihnen eingangs mitgeteilt, was ich von Ihnen erwarte. Wenn Sie damit überfordert sind, dann sehe ich mich wohl besser nach einem fähigeren Juristen um.« Sie klang beleidigt, aber auch angriffslustig.
»Ihr genauer Wortlaut war, zu beweisen, dass Sie sich nicht selbst umbringen wollten«, wiederholte Aenne ihre Worte. Auf ihr Gedächtnis konnte sie sich verlassen. Sie war seit dem Unfall in vielerlei Hinsicht verändert. Zum einen war sie seitdem manisch zwanghaft. Es war ihr nicht möglich, in einem Restaurant zu essen, weil sie die Zubereitung der Speisen nicht verfolgen konnte. Davon abgesehen, ertrug sie die Anwesenheit fremder Menschen nur über einen begrenzten Zeitraum. Dem Händeschütteln beim Kennenlernen wich sie gekonnt aus, indem sie zur Begrüßung in ein Papiertuch schnäuzte, und entschuldigend etwas von Ansteckungsgefahr murmelte.
Zudem hatte sich der Unfall auf ihre Gedächtnisleistung ausgewirkt. Sie konnte sich bis ins kleinste Detail an alle Eindrücke erinnern, ohne es zu wollen.
»Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich in Kürze einen Anwalt brauche, um mich zu verteidigen«, erklärte Hellmann.
»Das klingt sehr allgemein. Ich bin Strafverteidigerin, keine Privatdetektivin, die vielleicht geeigneter wäre, etwas über Ihren vermeintlichen Selbstmordversuch in Erfahrung zu bringen.«
»Die Ärzte haben mir eine vorübergehende Amnesie diagnostiziert. Offenbar bin ich mit meinem Wagen frontal auf eine Mauer zugerast, betrunken!«, erwiderte sie barsch.
Schockiert atmete Aenne tief durch und begann zu zittern. Woher wusste sie ...? Plötzlich tauchten die Bilder vor ihren Augen auf. Schreie, Panik, Sorge, Angst und das schmerzhafte Gefühl der Hilflosigkeit überrumpelten sie wie eine nächtliche Sturmflut. Was wurde hier gespielt? Warum rief Lisa Hellmann ausgerechnet sie an?
»Wie sind Sie auf mich gekommen?«, flüsterte sie.
»Sie sind mir empfohlen worden«, kam die schnelle Antwort. Zu schnell, dachte Aenne.
Eine Empfehlung von mittellosen Straftätern, deren Verteidigung sie übernommen hatte? Das war kaum vorstellbar, aber sie beschloss, nicht nachzuhaken. »Frau Hellmann, Sie erinnern sich weder an den Unfall noch an Ihre eigene Identität, weshalb sind Sie dann so sicher, keinen Suizidgedanken gehabt zu haben?« Aenne wägte ihre Worte sehr genau ab.
»Meine Erinnerung an die Vergangenheit ist vollständig, mir fehlt lediglich die Erinnerung an die Unfallnacht, aber auch das wird wiederkommen, sagt mein Arzt. Ich weiß nur, dass ich mich niemals betrinken würde!«, erklärte Hellmann nachdrücklich.
Aenne lief mit dem Handy am Ohr durch die Wohnung und richtete jeden einzelnen Gegenstand neu aus. Schließlich heftete sie den Blick auf den üppigen Strauß Wildrosen, der in einer Vase auf dem Esstisch stand. Sowohl der Platz auf dem Tisch als auch die Anordnung der Blütenblätter folgten dem Goldenen Schnitt. Der Anblick war beruhigend und half, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Die Bilder, die Hellmanns Bericht in ihr hervorgerufen hatten, wirbelten in ihren Gedanken, und es bedurfte großer Konzentration, sie zurückzudrängen.
»Als ich gegen diese Mauer auf dem alten Flugfeld gefahren sein soll, war ich ganz sicher nicht Herr meiner Sinne!«, fuhr Hellmann fort. »Ich träume jede Nacht, dass ich in einem Meer aus Blut ertrinke!«, schluchzte Hellmann. »Was, wenn ich etwas getan habe, von dem ich nichts mehr weiß? Etwas derart Schreckliches, dass ich es verdrängt habe?«
Wie gern würde ich mich nicht erinnern, dachte Aenne und starrte auf den Rosenstrauß. Aber es war vergebens, die Bilder brachen über sie herein. Elf Jahre Therapie hatten nichts bewirkt! Sie sah Henning neben sich auf dem Fahrersitz lachen und dann war da nur noch Blut. So viel Blut. Benommen von der Wucht der Erinnerung taumelte sie, bekam die Tischkante zu fassen und verhinderte im letzten Moment, dass sie zu Boden stürzte. Das Handy war ihr aus der Hand gefallen und lag auf dem Teppich. Sie hörte Hellmanns Stimme und fragte sich, woher diese Frau von ihrem Schicksal wusste. Oder konnte es sich tatsächlich um einen Zufall handeln?
Dr. Freud musste um 1900, als er seine bis heute umstrittenen Theorien veröffentlichte, ein früheres ich von ihr selbst als Versuchskaninchen gehabt haben. Ihre Wahnvorstellungen passten in sein Bild von Posttraumatischen Ereignissen und deren Folgen. Die manischen Zwänge waren ein Abwehrmechanismus, um das Verstörende von innen nach außen zu kehren. Sie halfen ihr, die Erinnerungen zu verschließen. Ging es Lisa Hellmann ähnlich? Die Parallelen waren nicht zu übersehen. Aber sie selbst versuchte, zu vergessen, Hellmann dagegen hatte vergessen und versuchte, sich zu erinnern. Waren sie womöglich gegensätzliche, magnetische Pole, die sich anzogen? Aenne hob das Handy auf. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung, ich musste kurz niesen«, erklärte sie.
»Ich sagte, dass ich natürlich für Ihre Spesen aufkommen werde.«
Aenne drehte sich um die eigene Achse, betrachtete ihre Wohnung und Captain Kirk, der eingerollt auf dem Sofa lag. Sie beschloss, nach Föhr zu fahren. Ein langer Strandspaziergang an der Nordsee war die beste Medizin gegen die Bilder aus der Vergangenheit! Sie sah auf die Uhr. »Ich bin gegen Mittag bei Ihnen. Ihnen ist klar, dass meine Anreise und unser Erstgespräch als anwaltliche Leistung abgerechnet werden?«
»Natürlich!«
»Ich benötige Ihre Zustimmung, mit dem behandelnden Arzt sprechen zu dürfen.«
»Das ist Dr. Brandt. Ich werde ihn über Ihr Kommen unterrichten. Bis später!«
Aenne setzte sich zu Captain Kirk auf das Sofa und kraulte ihn gedankenverloren. Das sonore Schnurren beruhigte sie. Akribisch zupfte sie jedes einzelne Katzenhaar von der Decke. Schließlich stand sie auf, ging ins Bad und griff zur Handwaschbürste. Mit viel Seife schrubbte sie die Hände ab, bis die Finger brannten. Sie sah in den Spiegel. Bilder von blutigen Händen tauchten vor ihren Augen auf. Sie widerstand der Versuchung, die Bürste erneut anzusetzen. Zu oft hatte sie sich die Hände wund geschrubbt. Dieses selbstverletzende Verhalten musste aufhören! Es änderte nichts.
Auf dem Handy suchte sie die Fährverbindung von Dagebüll nach Föhr heraus und speicherte mit einem Blick die Abfahrtzeiten während der Sommersaison, inklusive Sonn- und Feiertagen, ab.
5
Das Fährschiff Uthlande war für die Überfahrt von Dagebüll nach Amrum bis auf den letzten Platz besetzt. Aenne hatte ihren alten Volvo auf den Parkplatz gestellt und war mit dem Shuttlebus zum Anleger gefahren. Die wenigen Plätze auf dem Parkdeck waren besetzt, aber auch wenn Frau Hellmann den Preis für ihr Auto zahlen würde, war Aenne der Ansicht, dass Föhr und Amrum den Autoverkehr auf ein Höchstmaß einschränken sollten, ähnlich wie Hiddensee und Norderney. Sie würde sich für diesen Tagesausflug ein Fahrrad mieten. Bei dem Gedanken an gummierte Lenkergriffe, an denen sich der Schweiß von hunderten anderer Menschen befand, gruselte es sie. Mit einem Blick in den Rucksack beruhigte sie sich. Die neue Packung Desinfektionstücher reichte, um Sattel, Lenker und Schloss zu reinigen. Dieser Ekel vor Bakterien und Schmutz schränkte sie im Alltag ein, dessen war sie sich bewusst. Sie zog eine Tube aus der Tasche ihrer Daunenweste und massierte die Creme sanft in die gerötete Haut ihrer Hände ein.
Die Uthlande verließ den Hafen und Aenne beobachtete vom Oberdeck aus die vielen Möwen, die die Ausfahrt der Doppelendfähre kreischend begleiteten.