Not Worth Saving - Marie Niebler - E-Book

Not Worth Saving E-Book

Marie Niebler

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Beschreibung

Some things are not worth saving... Noah könnte ihren Sommer retten. Das ist zumindest Brookes Hoffnung, als sie nach zwei Jahren notgedrungen in ihre Heimatstadt an der Westküste Neuseelands zurückkehrt. Der attraktive Fremde wäre die perfekte Ablenkung von ihren Problemen – wäre er nicht der beste Freund ihres Bruders und somit tabu. Ausgerechnet mit den beiden soll Brooke sich drei Monate lang um das Repair-Café ihres Vaters kümmern. Und während zwischen ihr und ihrem Bruder die Fetzen fliegen, sprühen bei Noah trotz aller guten Vorsätze verbotene Funken. Erst recht, wenn er der Einzige ist, der versteht, warum Brooke damals die Flucht ergriffen hat.

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Seitenzahl: 435

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Originalausgabe

© 2024 by reverie in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich unter Verwendung von Motiven von ©shutterstock.com E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783745704211

www.reverie.de

Liebe Leser: innen,

diese Reihe enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser Geschichte.

Euer Team von reverie

Für mein Herz, das du so hemmungslos zerrissen hast.

PLAYLIST

BANKS – Trainwreck

Isabel LaRosa – butterflies

Rihanna – Desperado

BANKS – Skinnydipped

228k – Heartless

BLOODY, Madalen Duke – ORCHID

BANKS, Francis and the Lights – Look What You’re Doing To Me

Tate McRae – rubberband

Britton – To My Younger Self

BANKS – Gimme

RAYE, 070 Shake – Escapism

Mountain Bird – Hiding Under Water

flora cash – i’m tired

BANKS – Till Now

Labrinth – Power Couple

Britton – dandelions and daffodils

FINNEAS – Lost My Mind

Winona Oak – Lonely Hearts Club

CLOVES – Kiss Me In The Dark

Charity Vance – Wake up in the Sky

Oliver Tree, Robin Schulz – Miss You

Bea Miller – like that

Akine – Foster Fear

BANKS – Gemini Feed

flora cash – OVER

KAPITEL 1

brooke

»Da wären wir.« Russell hält den Wagen direkt vor der Haustür meines Vaters. Noch bevor wir wirklich stehen, liegt meine Hand bereits am Türgriff. Seit Tagen graust es mir vor diesem Moment, und trotzdem bin ich jetzt einfach nur erleichtert, dieses Auto verlassen zu können.

Die Fahrt in dem schrottreifen Toyota hätte auch als neumodische Foltermethode durchgehen können. Ich weiß jetzt wieder sehr genau, warum ich meinen ehemaligen Nachbarn in den letzten Jahren kein bisschen vermisst habe. Aber Dad musste ja darauf bestehen, dass Russell mich vom Flughafen abholt.

Eigentlich ist das für ihn kein Umweg. Er pendelt ohnehin regelmäßig nach New Plymouth, und ich habe meinen Flug extra auf seine Arbeitszeiten abgestimmt. Was ihn natürlich nicht davon abhält, sich als der Gönner schlechthin darzustellen. Mein Retter in der Not. Blablabla.

Wäre es nach mir gegangen, wäre ich lieber drei Stunden lang mit dem Bus durch die neuseeländische Pampa getuckert. Mir egal, dass es mit dem Auto schneller und weitaus komfortabler ist. Das wiegt nicht auf, dass ich so eine Stunde lang das Gesabbel eines fünfzigjährigen Besserwissers ertragen musste. Zusammen mit einer Menge an Seitenhieben, die ich schon nicht mehr zählen kann.

»Brauchst du Hilfe mit dem Koffer?«, will Russell wissen, und ich schüttle schnell den Kopf.

»Nein. Aber danke fürs Mitnehmen.« Dass ich diese Worte über die Lippen bringe, grenzt an ein Wunder. Seit wann habe ich so viel Selbstbeherrschung? Ich steige aus dem Wagen, bevor ich doch noch auf die Idee komme, ihm umständlich auf die Füße zu spucken.

»Ich lass doch Nigels Töchterchen nicht im Stich«, behauptet Russell in seinem Gönnertonfall, und ich verdrehe innerlich die Augen. Ich wette, Dad musste ihn für den Gefallen mit irgendwas bestechen. Würde mich nicht wundern, wenn er irgendwann verkündet, dass Russell hierfür später mal mein Erbe kriegt. »Dass du aber deinem Bruder nicht wieder Ärger machst, hörst du?«

In mir gefriert alles zu Eis. Mein Herz beginnt zu rasen, und meine Kehle schnürt sich zu. Er kann froh sein, dass ich schon ausgestiegen bin. Von dem Todesblick, mit dem ich nun das Dach seiner verfluchten Karre durchbohre, hätte er Albträume bekommen. Wie kann er es wagen, so was zu sagen? Er kennt mich nicht. Er hat keine Scheißahnung, wovon er eigentlich redet.

»Aha«, sage ich nur, schlage die Tür zu und stapfe um das Auto herum zum Kofferraum. Flüchtig schaue ich dabei zum Haus. Die Tür bleibt geschlossen, und ich weiß nicht, ob mich das erleichtert oder noch mehr beunruhigt.

Russell ist natürlich noch nicht fertig. Kaum dass ich die Klappe öffne, belabert er mich schon wieder. »Ist ja nicht böse gemeint«, dringt seine Stimme aus dem Innenraum. »Aber dein Bruder hat gerade schon genug Sorgen. Mach du ihm nicht auch noch das Leben schwer.«

Ich zerre meinen Koffer aus dem Auto und presse so fest die Lippen zusammen, dass es wehtut. Jetzt nicht beleidigend werden. Genau das erwartet er doch von dir.

»Danke«, sage ich wieder, diesmal deutlich frostiger, und schlage die Klappe so fest zu, wie es geht. Ohne einen Blick zurück zerre ich mein Gepäck zur Veranda. Ich höre, wie er hinter mir wieder vom Hof fährt. Zurück bleiben eine Staubwolke und das wütende Schwelen, das seine Worte in meiner Magengrube verursacht haben.

Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, wieder zu gehen. Ich finde in Auckland sicher jemanden, bei dem ich übernachten kann. Ein Bus nach New Plymouth fährt heute bestimmt auch noch. Vielleicht erwische ich für heute Nacht noch einen Flug …

Nein.

Es ist zu spät für einen Rückzieher. Und wenn ich jetzt flüchte, komme ich nicht mehr zurück, das weiß ich. Noch mal überwinde ich mich nicht, die Reise hierher anzutreten. Dann wäre es endgültig vorbei zwischen meiner Familie und mir. Und genau deswegen bin ich doch hergekommen: weil ich den Gedanken nicht ertrage, allein zu sein.

Leider habe ich dabei verdrängt, dass ich es ebenso wenig ertrage, zu Hause zu sein. Fuck …

Ich stehe eine gefühlte Ewigkeit vor der Haustür und starre sie einfach nur an. Bei der Lautstärke von Russells Auspuff weiß mittlerweile sicher die halbe Stadt, dass ich hier bin. Trotzdem kommt niemand, um die Tür zu öffnen. Ist mein Bruder gar nicht da? Oder wartet er, bis ich mich selbst dazu durchringe, mich anzukündigen?

Zum tausendsten Mal stelle ich mir vor, was er wohl sagen wird, wenn er mich sieht. Ich habe schon etwa eine Milliarde Szenarien durchgespielt. Alle davon glichen einem Albtraum. Und trotzdem bin ich mir sicher, dass die Realität noch schlimmer wird.

In einem Anflug von Entschlossenheit drücke ich die Klingel. Halte den Atem an. Warte.

Hinter der Tür bleibt es still.

Geht er mir aus dem Weg? Er wusste, dass ich komme. Also warum ist er nicht da?

Auch beim zweiten Mal klingeln tut sich nichts, und ich schaue mich etwas unschlüssig um.

Das Grundstück hat sich wenig verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Der Hof wird gesäumt von sattgrünen Büschen und Bäumen, vereinzelt ragt eine Palme zwischen dem Laub hervor. Gras wächst am Wegesrand, pinke und gelbe Blumen blühen in den Kübeln vor der Veranda. In der Entfernung höre ich Dads Hühner gackern.

Obwohl das Grundstück am Stadtrand Hāweras liegt, hat man hier das Gefühl, als wäre man mitten in der neuseeländischen Wildnis. Hinter dem Haus tut sich ein Labyrinth aus Beeten, Wiese und Hühnergehege auf. Ein Teil davon war früher die Koppel für Mums Pferde, aber in den Jahren, seit sie weg ist, ist er verwildert. Dad hat immer davon geredet, dort noch mehr Ferienwohnungen zu bauen, seinen Plan aber nie durchgezogen. Stattdessen haben sich Wekarallen und zahllose andere Wildtiere das hohe Gras zu eigen gemacht.

Ein seltsames Gefühl von Wehmut überkommt mich, wenn ich daran zurückdenke, wie ich hier als Kind gespielt habe. Greysen und ich sind mit Stöcken bewaffnet über das Grundstück gejagt, haben Polizei gespielt, Hühner eingefangen und Dad beim Erbsenernten geholfen. Früher habe ich mich hier so sicher gefühlt wie nirgendwo sonst. Jetzt hingegen kribbelt meine Haut, als würde ein fremder Blick auf mir liegen, und Angst sitzt mir immerzu im Nacken.

Ich schaue mich noch mal um, entdecke aber niemanden und mustere schließlich die Veranda.

Neben mir befindet sich eine Sitzecke mit unseren uralten Gartenmöbeln. Zwei leere Bierflaschen stehen auf dem Tisch. Hatte Grey etwa Besuch? Wenn ja, wie viel Schmerzensgeld hat er der Person bezahlt?

Ich runzle die Stirn und ziehe meine Sweatjacke enger um meinen Körper. Obwohl die Sonne scheint, ist es hier kühler als in Auckland. Dort waren es in den letzten Tagen bis zu vierundzwanzig Grad. Hier sind es heute gerade mal siebzehn. Und mein Bruder lässt mich ohne Schlüssel hier stehen.

Ich lasse mein Gepäck kurzerhand auf der Veranda und folge der Einfahrt zum vorderen Teil des Grundstücks. Sträucher und Bäume trennen Dads Haus von dem kleinen Neubau, den er vor zehn Jahren mit Grandpas Erbe hat bauen lassen. Auf der Rückseite befinden sich zwei kleine Ferienapartments. Vorne begrüßt mich die hübsche Glasfront des Repair-Cafés, beklebt mit Dads heiß geliebtem Logo.

Lifesaver Café steht dort in schlichten, eleganten Lettern. Hinter der Schrift wogen dezente hellgrüne Wellen, darüber ragt in sattem Dunkelgrün Mount Taranaki in die Höhe. Der Vulkan mit seinem schneebedeckten Gipfel ist der Namensgeber der Region und von beinahe überall sichtbar. Ihn auf der Fahrt hierher aus der Nähe zu sehen, hat ein befremdliches Gefühl von Nachhausekommen in mir ausgelöst, das sich nur verstärkt, als ich nun durch die Glastür trete und die vertraute Duftmischung aus Kaffee, Maschinenöl und Dads Aftershave rieche. Es hängt in der Luft, obwohl er seit Tagen nicht hier war. Und irgendwie war ich dafür ebenso wenig gewappnet wie für das Wiedersehen mit ihm oder Greysen.

Tief durchatmend lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Die Bar rechts von mir ist leer, ebenso wie die Cafétische mit den bequemen Stühlen und Sofas, die dort vor der Fensterfront stehen. Wundern tut mich das nicht, denn unter der Woche ist nie viel los. Die Leute kommen lieber am Wochenende, wenn sie genug Zeit haben, um bei einem Kaffee und einem Plausch ihre mitgebrachten Sachen zu reparieren. Fahrräder, Toaster, teilweise sogar Klamotten – es gibt nichts, was hier noch kein zweites Leben geschenkt bekommen hat. Doch vor den Werkzeugschränken auf der linken Seite des Raumes stehen ein groß gewachsener, trainierter Typ und ein Junge über eine Werkbank gebeugt.

»Pass auf!«, beschwert sich der Kleine gerade. »Du machst ihn kaputt!«

»Er ist schon kaputt«, murmelt der Mann zerknirscht. Er steht mit dem Rücken zu mir, aber seine breiten Schultern wecken dennoch mein Interesse. Seine Stimme klingt tief, allerdings nicht alt. Er ist höchstens dreißig, würde ich raten. Leise trete ich näher an die beiden heran. Sie haben mich wohl noch nicht bemerkt.

»Pass auf!«, jammert der Junge schon wieder und zerrt am Unterarm des Fremden. Der rührt sich kein bisschen, doch seine Muskeln spannen sich an, und ich starre ein wenig zu lang auf seine trainierten Arme. Seit wann gibt es in Hāwera attraktive Fremde?

»Wackel doch nicht! Willst du jetzt, dass ich dir helfe, oder nicht?«

Der Junge lässt ihn los und verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust. Sein Gesicht ist rundlich, und seine glatten schwarzen Haare könnten einen moderneren Haarschnitt vertragen. Ist dieser Topfschnitt nicht schon seit fünfzehn Jahren out? So oder so, ich schätze ihn auf höchstens sieben. Offenbar bemerkt er mich aus dem Augenwinkel, denn er dreht den Kopf, und sein Blick findet mich.

»Hi«, grüße ich und trete ganz an die beiden heran, sodass ich dem Mann über die Schulter schauen kann. »Woran arbeitet ihr?«

Der Typ dreht den Kopf und starrt mich einen Moment lang völlig verdattert an. Allerdings kann ich ihm das nicht übel nehmen, denn ich schaue vermutlich ebenso verwirrt.

Er sieht wirklich gut aus. Seine grünen Augen bilden einen Kontrast zu den kurzen dunklen Haaren, die ihm in die Stirn fallen. Ein leichter Bartschatten bedeckt sein Kinn und seine Wangen. Und er ist deutlich jünger, als ich dachte. Mitte zwanzig vielleicht?

»Ähm«, macht er. Er mustert mich flüchtig, dann sieht er hinunter auf seine Hände. Ich folge seinem Blick, bleibe jedoch wieder an seinen Armen hängen. Feine dunkle Härchen ziehen sich über seine sonnengebräunte helle Haut. Darunter zeichnen sich seine Muskeln ab. »Wir versuchen, den Akku von diesem Nintendo auszutauschen«, erklärt er mir.

»Und Noah macht ihn kaputt!«, wirft der Junge ein.

Noah dreht entnervt den Kopf. »Wenn du mich die Klappe nicht aufmachen lässt, können wir schlecht daran arbeiten! Ich kann nichts dafür, dass sie nicht von selbst aufspringt.«

»Die Schrauben hast du gelöst?«, hake ich nach und besehe mir die Rückseite des Nintendo 3DS. Ein Teil meiner Gedanken hängt noch bei dem bevorstehenden Wiedersehen mit Grey, aber wenn Noah mich noch mal so anschaut, könnte er mich glatt von meinen Sorgen ablenken. Ich bin auf jeden Fall mehr als bereit, sie für ein paar Minuten zu vergessen. Oder vielleicht auch für eine Nacht …

»Kein Kommentar«, murmelt er und wirft mir einen missmutigen Blick zu. Dabei mustert er wieder flüchtig mein Gesicht, bevor er es schafft, sich abzuwenden.

Ich grinse. »Sorry. Gewohnheit.«

»Theoretisch müsste sich der Deckel jetzt mit ein bisschen Kraft runterlösen lassen. Wenn er nicht klemmen würde.« Noah hakt die Fingernägel an den Seiten in das Gehäuse und versucht, die Klappe vom Rest des Geräts zu lösen. Es bildet sich zwar ein Spalt und das Plastik biegt sich, doch tatsächlich scheint es irgendwo zu hängen.

Der Junge schlägt sich die Hände über die Augen und zappelt unruhig auf seinem Stuhl herum.

»Da unten stößt er an«, stelle ich fest. »Nimm mal den Stift und das Spiel raus.«

Sofort schießen zwei Kinderhände über die Werkbank und folgen meiner Aufforderung. Noah schaut den Jungen an und hebt vielsagend eine Augenbraue, bevor er sich wieder dem Gerät widmet. Wer weiß, wie lange die beiden schon hieran verzweifeln. Die Stimmung wirkt etwas geladen, und vor dem Jungen steht eine Tasse, in der nur noch ein kleiner Rest Kakao übrig ist.

Als Noah diesmal versucht, die Klappe zu lösen, funktioniert es ohne Probleme. »Respekt«, sagt er und wirft mir einen Seitenblick zu. »Auf die Idee sind wir nicht gekommen.«

Verschmitzt zucke ich mit den Schultern und schaue wieder hinunter auf unser Projekt. Noah macht bereits Anstalten, den alten Akku aus dem Gerät zu nehmen, doch ich lege meine Hand auf seine und halte ihn zurück. »Vorsicht, der ist schon total aufgebläht.«

Er stockt. Einen Moment lang starren wir beide hinunter auf unsere Finger. Hastig ziehe ich meinen Arm zurück, doch Noahs Wärme hat sich bereits durch meine Haut gebrannt und hinterlässt ein Kribbeln in meinen Fingerspitzen. Verdammt, er ist viel zu anziehend. Einer dieser seltenen Typen, die man nur einmal treffen muss, um sich monatelang an sie zu erinnern. Aber was macht er in einem kleinen Ort wie Hāwera? Und dann auch noch ausgerechnet in unserem Repair-Café? Ein Touri vielleicht. Perfekt. Es gibt nichts Besseres als Männer, die gezwungen sind, dich in ein paar Wochen wieder in Ruhe zu lassen.

Er räuspert sich. Seine grünen Augen mustern mich, und Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. »Ich nehme an, das ist schlecht?«, fragt er ironisch.

Unruhig streiche ich mir eine meiner Locken hinters Ohr. »Ich glaube, du kannst ihn rausnehmen, ohne dass etwas passiert. Aber bei einem aufgeblähten Akku ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass er einem um die Ohren fliegt.«

Noahs Mundwinkel zuckt. Ich bin mir nicht sicher, ob vor Belustigung oder Besorgnis. »Verstehe ich das richtig – ich soll das Ding jetzt da rausnehmen, aber es könnte sein, dass es in meiner Hand explodiert?«

Ich muss grinsen. »Soll ich es machen?«, biete ich an.

»Ich hole Handschuhe«, entscheidet er und will sich abwenden.

»Kein Stress.« Ich nehme bereits den aufgeblähten Akku aus dem Gerät. Noah verzieht unzufrieden das Gesicht, doch ich zucke mit den Schultern. »So schlimm ist es auch wieder nicht. Ich wollte dir nur sagen, dass du vorsichtig damit sein …«

»Peng!«, brüllt der Junge zu meiner Rechten, und ich zucke zusammen. Vor Schreck hätte ich beinahe den Akku fallen gelassen. Entgeistert drehe ich mich zu ihm um und starre ihn an.

»Geht’s noch?«, entfährt es mir.

Noah räuspert sich und kaschiert damit ein Lachen. Der Junge kriegt sich unterdessen nicht mehr ein und kringelt sich auf seinem Stuhl.

»Der wird mal ein großes Arschloch«, raunt Noah mir kaum hörbar ins Ohr und greift an mir vorbei nach dem neuen Akku, den er einsetzt. »Leg die Bombe vor seine Nase, vielleicht gibt er dann endlich Ruhe.«

»Bring mich nicht in Versuchung«, murmle ich, lege den aufgeblähten Akku aber sicherheitshalber hinter uns auf einer der anderen Werkbänke ab. Dass ich direkt an meinem ersten Tag einen Krankenwagen rufen muss, fehlt mir noch.

Noah schließt unterdessen das Gehäuse und dreht die Schrauben fest. Das Gerät lässt sich problemlos einschalten. »Hier.« Er gibt dem Jungen den Nintendo zurück. »Was sagt man?«

»Danke«, brummt dieser, grinst uns verschmitzt an und huscht ohne ein Wort des Abschieds aus dem Café. Dabei lässt er einen zotteligen weiß-braunen Hund zur Tür herein, der bellend auf mich zustürmt.

Noah flucht. »Columbo, aus!«, ruft er, doch ich werde bereits angesprungen. Ich stoße mit der Hüfte gegen die Tischplatte, weil Columbo so schwer ist. Er reibt freudig seinen Kopf an meinem Bauch und winselt mich an. Noah greift an sein Halsband und versucht, ihn zurückzuziehen, aber auch das beeindruckt den Guten wenig. »Lass sie in Ruhe!«, fordert er vergeblich. »Sitz!«

Lachend kraule ich Columbo hinter den Ohren. »Er hört ja wirklich überhaupt nicht auf dich«, stelle ich fest. Wobei mich das auch nicht wundert, wenn Noah so ein Durcheinander an Kommandos benutzt.

»Wir freunden uns erst noch an«, behauptet Noah mit gerunzelter Stirn. »Tut mir echt leid, er macht deine Jacke dreckig.«

Belustigt hebe ich die Brauen. Warum entschuldigt er sich eigentlich dafür, dass mein Hund mich anspringt? Ich schaue mich im Café um. Greysen ist nicht hier. Das ist zwar nicht so ungewöhnlich – die Kaffeebar ist meist zur Selbstbedienung, und wenn nicht viel los ist, sind die Gäste oft unbeaufsichtigt –, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Noah nicht nur zum Kaffeetrinken hier ist. Vor allem, da ich nirgendwo eine zweite Tasse sehe und der Junge ohne ihn abgezischt ist.

»Hilfst du hier etwa aus?«, frage ich irritiert. Columbo beginnt, meine Hand abzulecken, doch ich merke es kaum.

»So in der Art, ja. Ich bin nur für den Sommer hier.«

Vielleicht macht er Work and Travel. Aber … sein Englisch klingt nicht, als wäre er aus Großbritannien oder sonst wo von Übersee. »Das erklärt, warum ich dich nicht kenne«, stelle ich fest und drücke Columbos Kopf sanft nach unten, damit er sich beruhigt. Er lässt von meiner Hand ab, setzt sich neben mich auf den Boden und wedelt aufgeregt mit seinem flauschigen Schweif. Ich begegne Noahs Blick. »An dich hätte ich mich erinnert.«

Noah mustert mich einen Moment, als müsste er erst sichergehen, dass er meine Aussage richtig deutet. Dann schiebt sich ein Schmunzeln auf seine Lippen. »Wieso genau?«

Ich grinse ihn an. »Lass mich überlegen. Groß, sportlich, gut aussehend, hat Angst vor aufgeblähten Akkus …«

»Hättest du nichts gesagt, hätte ich das nicht mal bemerkt«, beschwert er sich, doch sein Tonfall bleibt amüsiert.

»Und mit welcher Qualifikation genau arbeitest du in einem Repair-Café?«, ziehe ich ihn auf.

»Vielleicht mache ich verdammt guten Kaffee?«

»Da ist ein Vollautomat.«

Er schmunzelt. »Okay, Frau Neunmalklug. Warum kennst du dich so gut aus? Kommst du öfter her?«

Mir entweicht ein belustigtes Schnauben. Ich könnte ihm jetzt sagen, dass ich hier wohne. Aber ich will das Spielchen noch nicht beenden. Sobald er merkt, dass er für meine Familie arbeitet, hat dieser Flirt bestimmt ein Ende. »Ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns noch mal sehen, ist hoch«, weiche ich aus.

Noah hebt eine Braue. »Ungefähr so hoch wie die, dass uns der aufgeblähte Akku um die Ohren fliegt?«

»Höher«, versichere ich ihm.

»Das ist gut. Ich weiß auf jeden Fall, was davon ich lieber erleben würde.« Er grinst mich an, und ich erwidere es.

»Geht mir genauso. Um mich anzufassen, brauchst du aber keine Handschuhe.« Ich zwinkere ihm zu, und mir entgeht nicht, wie Noahs Augen sich kurz vor Überraschung weiten. Es ist jedes Mal dasselbe. Männer rechnen nicht damit, dass eine Frau so direkt ist, und viele schreckt es ab. Ihn offensichtlich nicht. Er kommt näher und hebt kaum merklich die Brauen. Ich kann sein Parfüm riechen. Frisch und minzig, mit einer herben Basisnote.

»Hast du was Bestimmtes im Sinn?«, will er leise wissen. Seine Stimme verursacht ein warmes Kribbeln in meinem Unterleib.

»Mir fallen da ein paar Sachen ein«, erwidere ich verschmitzt.

Noah hält meinem Blick stand. Es kostet mich einiges an Selbstbeherrschung, ihm nicht die Hände auf die Brust zu legen und ihn an seinem Shirt näher zu mir zu ziehen. Ich bezweifle zwar, dass er etwas dagegen hätte, und er wirkt wie der perfekte Mann, um meinen Sommer hier etwas erträglicher zu gestalten, aber …

Ich sollte wirklich nicht mit Dads Angestellten flirten. Nur … Dad ist nicht hier, und es ist auch nicht so, als könnte ich bei einer Aushilfe allzu großen Schaden damit anrichten. Oder?

»Wo kommst du her?«, will ich wissen. »Und was bringt jemanden wie dich nach Hāwera?«

Noah lehnt sich lässig mit der Hüfte gegen die Werkbank und stützt die Hände auf der Tischkante ab. Ich lasse den Blick über seinen Körper schweifen. Das schwarze Shirt spannt an seinen breiten Schultern, seine dunklen Jeans sitzen locker auf seinen Hüften. Er mustert mich ebenso, aber das ist mir recht. Ich will gar nicht erst den Anschein erwecken, irgendetwas Ernstes zu wollen.

»Ich studiere in Wellington an der Massey«, beantwortet er den ersten Teil meiner Frage.

»Oh«, mache ich. Ausgerechnet. »Und was?«

Er verzieht leicht das Gesicht. »Wirtschaft. Studierst du auch?«

»Maschinenbau«, bestätige ich. »Allerdings in Auckland. Aber Wellington ist echt schön, oder?«

»Ja, auf jeden Fall. Warst du schon mal dort?«

»Nein«, gestehe ich. »Aber mein Bruder studiert da, also vielleicht irgendwann mal.« Falls wir uns je wieder vertragen …

Noah legt den Kopf schief und runzelt die Stirn. »Warte … dein Bruder?«

Wie auf Kommando geht die Cafétür auf, und wir drehen die Köpfe.

Greysen steht im Eingang. Obwohl ich ihn so lang nicht mehr gesehen habe, erkenne ich ihn sofort. Seine braunen Haare sind kürzer als damals, und er ist deutlich breiter geworden. Offenbar hat er neben der Uni zu viel Zeit übrig und verbringt diese vorzugsweise auf einer Hantelbank oder so. Er trägt eine Jeans sowie ein graues Shirt und mustert die Szenerie mit unverkennbarer Skepsis. Der Blick seiner grauen Augen huscht über uns und bleibt schließlich an mir hängen. Einen gefühlt endlosen Moment lang starrt er mich einfach nur an, und aus irgendeinem Grund tut das mehr weh als alles, was er hätte sagen können. Mit einem Mal bin ich wieder siebzehn und stehe ihm und Dad gegenüber im Wohnzimmer. Meine Kehle schmerzt vom Schreien. Mein Herz vom Rest. Und obwohl das drei Jahre her ist, bin ich heute nicht weniger verloren als damals.

Ich hasse dich.

Die Worte klingen so laut in meinen Ohren, als würden sie noch heute auf diesem Hof widerhallen.

Columbo ist es, der uns aus unserer Starre löst. Er kläfft ein Mal, springt auf und stürmt auf meinen Bruder zu. Aufgeregt reibt er sich an seinem Bein und versucht so, ihn in meine Richtung zu drängen. Erfolglos. Greysen rührt sich kein Stück.

»Dann war das doch Russells Toyota, den ich da vorhin gehört habe«, stellt er fest. Es ist keine Begrüßung. Aber es ist auch keine Anschuldigung, und das rechne ich ihm hoch an. Weh tut es trotzdem.

»Die Schrottkarre ist ja auch nicht zu überhören«, gebe ich gespielt locker zurück. Ich bin mir Noahs Blick nur allzu bewusst, traue mich jedoch nicht, zu ihm zu schauen. Ob Grey ihm von mir erzählt hat? Davon, was ich getan habe?

Mein Bruder atmet tief durch, dann kommt er endlich näher. Knapp vor mir bleibt er stehen, und kurz glaube ich ernsthaft, er würde mich umarmen. Stattdessen verschränkt er die Arme vor der Brust und schaut Noah an. »Ihr habt also schon Bekanntschaft miteinander gemacht?«

Dieser wirkt sichtlich irritiert. »Warte … Du bist Greysens Schwester?«, fragt er mich. Ich kann den Unterton in seiner Stimme nicht deuten, aber von unserem seichten Flirt eben ist nichts mehr übrig.

Ich nicke knapp. »Brooke«, stelle ich mich vor, hebe zum Gruß die Hand und meine, ein stilles Fuck auf Noahs Lippen zu erkennen.

»Das ist Noah«, erklärt Grey unnötigerweise und legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Mein bester Freund und Mitbewohner. Er ist den Sommer über hier, um auf dem Hof zu helfen.«

Nun ist es an mir, verwirrt zu schauen. »Warte, was?«, entkommt es mir. »Er wohnt hier?«

»Ja. Als er von Dads Unfall gehört hat, hat er angeboten, mitzukommen.«

Okay, so war das nicht geplant. Der Typ, den ich eben angebaggert habe, ist nicht nur Greys bester Freund, sondern wohnt auch noch drei Monate im gleichen Haus? Oder hat Dad ihm eine der Ferienwohnungen überlassen? »Wo schläft er?«, platze ich heraus.

Grey runzelt die Stirn. »In meinem alten Zimmer. Ich schlafe in Dads. Wieso? Ist das ein Problem?«

Ich starre Noah an. Er hat ein Pokerface aufgesetzt, aber ich glaube, er würde mir zustimmen, würde ich jetzt Ja antworten. Nur lasse ich das schön bleiben. Allein schon, weil Grey mit Sicherheit eher mich rauswerfen würde als seinen Kumpel. Und weil ich gehofft hatte, diesen Sommer Frieden mit ihm schließen zu können.

»Nein, alles gut«, behaupte ich. »Ich wusste nur nicht, dass Fremde bei uns wohnen.« Erst recht keine extrem heißen Fremden, mit denen ich eben noch schlafen wollte! Super. Für ein paar naive Minuten dachte ich doch wirklich, Noah könnte mich von meinen Problemen ablenken und die Zeit hier erträglicher machen. Stattdessen verschlimmert seine Anwesenheit nur alles.

»Noah ist auch nicht fremder hier als du«, behauptet Grey, und die Worte versetzen mir einen Stich. Falls er es bemerkt, ignoriert er es. »Ihr kommt bestimmt miteinander klar.«

Ich atme tief durch und lächle scheinheilig. Jetzt nicht die Fassung verlieren. Genau darauf wartet Greysen doch. Ich wette, er sucht nur nach einem Grund, um mich zurück nach Auckland zu schicken. Aber den werde ich ihm nicht liefern. Ich schaffe das. Irgendwie …

»Na dann«, sage ich an Noah gewandt. »Willkommen in der Familie oder so.«

Noah verzieht leicht den Mund. »Danke«, erwidert er nur trocken, und ich muss zugeben, dass der Spruch eventuell etwas zu geschmacklos war. Aber Greys Anwesenheit bringt mich völlig aus dem Gleichgewicht, und ich weiß nicht mehr, ob ich jetzt patzig, freundlich oder einfach nur verdammt traurig sein soll.

»Ihr könnt euch ja später unterhalten«, schlägt Grey vor und geht wieder zurück zur Tür. Er bedeutet mir, ihm zu folgen. »Bringen wir erst mal dein Gepäck rein.«

»Bis später«, meint Noah und sammelt die Kakaotasse des Jungen vom Tisch. Wir tauschen einen flüchtigen Blick, und ich versuche, das Kribbeln zu ignorieren, das seine grünen Augen in mir auslösen. Grundsätzlich sind mir meine Flirts nie peinlich. Und ich habe auch nichts dagegen, drei Monate mit jemandem wie ihm zu verbringen. Aber dass wir uns ein Haus mit meinem großen Bruder teilen, macht die Sache etwas kompliziert. Wenn nicht sogar unangenehm.

»Bis später«, wiederhole ich und folge Grey nach draußen. Columbo schaut kurz irritiert zwischen uns hin und her, dann setzt er mir hechelnd nach.

Wir lassen Noah allein im Café zurück und gehen den Weg entlang zurück zum Wohnhaus. Grey schaut mich dabei nicht an. Offenbar setzt er auf Verdrängung statt darauf, Fragen zu stellen. Und das ist mir nur recht, denn auch nach fast drei Jahren habe ich keine Antworten für ihn.

»Wie war der Flug?«, will er wissen und nimmt den Hund am Halsband, damit er uns nicht ständig zwischen die Beine läuft.

»Unspektakulär«, erwidere ich knapp. Ich habe keine Lust auf Small Talk. Es kostet mich viel zu viel Energie, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Gar nicht reden wäre mir lieber. Von hier zu verschwinden, wäre mir am liebsten. So ein Mist. »Dad hat mir gar nicht gesagt, dass Noah hier ist«, bemerke ich.

»Hat er wohl vergessen«, meint Grey. »Er hat ja gerade andere Sorgen.«

Ich verziehe das Gesicht. Dad wurde letztens bei einem Sturm von einem umstürzenden Baum getroffen. Jetzt liegt er im Krankenhaus. Und obwohl sich bei dem Gedanken an ein Wiedersehen mit ihm alles in mir zusammenzieht, hätte ich den Sommer lieber mit ihm verbracht als mit Grey. Mieses Timing, schätze ich.

»Ja, wahrscheinlich«, lenke ich ein. Und dann halte ich es doch nicht aus, den Rest des Weges bis zum Haus zu schweigen. »Noah wirkt nett.«

»Er ist ja nicht umsonst mein bester Freund.«

»Und wusste er, dass ich …«

»Mach ihm einfach keinen Ärger, okay?«, fällt Grey mir ins Wort. Ich presse frustriert die Lippen zusammen. Brooke und Ärger in einem Satz ist hier offenbar ein ähnlich ikonisches Pärchen wie Pest und Cholera.

»Mach ich nicht«, verspreche ich leise und erklimme neben Greysen die Stufen zur Veranda.

Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Dann ist ja gut.« Als wäre damit alles gesagt, zieht er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und sperrt die Haustür auf.

Ich sollte einfach die Klappe halten. Aber mir brennen noch zu viele Fragen auf der Zunge. »Wie geht’s Dad jetzt?«

Grey hält inne. »Ganz in Ordnung, glaube ich. Er braucht eine Reha, sobald das Schlimmste überstanden ist. Und sie wollen ihn erst mal noch ein paar Wochen im Krankenhaus behalten. Der Bruch ist verdammt kompliziert. Aber er sieht es gelassen. Hauptsache, den Scheißhühnern geht’s gut …«

»Den Hühnern?«, wiederhole ich irritiert.

Grey schüttelt den Kopf und schaut mich wieder an. Sein Blick ist noch finsterer als eben, aber diesmal liegt es ausnahmsweise nicht an mir. »Deswegen war er überhaupt bei dem Wetter draußen. Er hatte Angst, dass der Hühnerstall den Sturm nicht übersteht, weil das Dach sich schon leicht gelöst hatte. Tja. Dank dem umgestürzten Baum ist der Stall jetzt ein Schrotthaufen, unser Vater wäre fast gestorben, und wir dürfen uns um die Viecher kümmern. Bester Zeitpunkt, um sie loszuwerden, wenn du mich fragst.«

»Du kannst Dad nicht die Hühner wegnehmen!«, empöre ich mich.

»Ich weiß. Leider. Aber das heißt nicht, dass ich sie gutheiße. Genauso wie dieses halbe Feld, das er da hinten bestellt. Wenn er sich einfach einen normalen Job suchen würde, statt hier den selbst ernannten Biobauern zu spielen, hätten wir ein Problem weniger.« Er sagt es mit einer solchen Bitterkeit in der Stimme, dass ich mir fröstelnd die Jacke enger um den Körper ziehe. In Greys Worten schwingt die Frustration von zehn, vielleicht auch schon zwanzig Jahren der Enttäuschung mit. Er und Dad – das war schon immer schwierig. Erst recht, nachdem Mum uns verlassen hatte. Trotzdem tut er alles für unseren Vater. Lässt nicht zu, dass seine Gefühle seine Beziehung zu ihm zerstören.

Ich habe nie verstanden, wie er das macht.

Und noch weniger, warum er das bei mir nicht kann.

Meine Augen brennen plötzlich verdächtig, und ich blinzle hektisch.

»Wie auch immer«, meint Grey, der mich nur noch halbherzig beachtet. Er hat sich wieder der Haustür gewidmet und öffnet sie. »Wie geht’s Mum?«

»Gut«, behaupte ich und klammere mich an meinem Koffer fest. »Lässt dich grüßen.«

Die Lüge geht mir so leicht von den Lippen, dass Grey nicht mal mit der Wimper zuckt. Völlig ahnungslos nimmt er mir den Koffer ab und betritt vor mir das Haus.

Mein Herz schlägt trotzdem schneller. Ich sollte ihm erzählen, was mit Mum passiert ist. Warum ich wirklich hier bin. Aber gerade können wir wenigstens halbwegs normal miteinander reden. Das wäre dann vorbei. Irgendwann werde ich diese Entscheidung bereuen, doch ich bringe es einfach nicht über mich, ihm die Wahrheit zu sagen. Mal wieder.

Ich folge Grey über die Schwelle. Erneut schlägt mir der vertraute Duft von zu Hause entgegen, und mein Herz wird seltsam schwer. Weil der Begriff so abstrakt geworden ist. Weil das hier kein Zuhause mehr ist, sondern nur noch die Erinnerung an eines.

Ich lasse den Blick über das offene Wohnzimmer mit der großen dunkelroten Couch schweifen und verkneife mir ein Seufzen.

»Ich hab dein Bett frisch bezogen und dir Handtücher hingelegt«, verkündet Grey. »Kann aber sein, dass Columbo heimlich darauf geschlafen hat. Heute Morgen stand deine Zimmertür offen.«

Er mustert den Hund tadelnd. Ich hingegen kraule Columbo hinter den Ohren. »Hast du mich so vermisst, Großer?«, frage ich, und er antwortet mit einem Kläffen.

»Nicht nur er«, murmelt Grey, und ich schaue überrascht zu ihm auf. Mein Blick trifft auf seinen, doch er wendet sich eilig ab. »Dad wird sich freuen, dich zu sehen.«

Natürlich. Nicht er hat mich vermisst, sondern nur unser Vater. Aber selbst da bin ich mir nicht sicher.

»Ich koche heute Abend. Oder hast du schon Hunger?«, will Grey wissen, als ich nichts sage.

»Nein, später ist gut.«

»Okay. Falls du mich suchst, ich bin im Garten. Auf deinem Schreibtisch liegt ein Haustürschlüssel für dich.«

Ein »Danke« ist alles, was mir darauf einfällt. Es gäbe so viel zu sagen. Aber nichts davon kann ich auch aussprechen.

Grey nickt nur knapp und wendet sich ab. Bevor ich ein weiteres Wort herausbringe, ist er mit Columbo wieder nach draußen verschwunden und lässt mich mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube zurück.

KAPITEL 2

noah

Ich glaube, ich hatte kein so unangenehmes Abendessen mehr, seit ich das letzte Mal die Pflegefamilie gewechselt habe. Alles hieran ist … schräg. Dass Grey eine Schwester hat, wusste ich, aber nicht, wie sie aussieht. Und vor allem hat er mir nicht gesagt, dass sie hier auftauchen würde. Zumindest nicht heute. Er hat zwar angedeutet, dass sie zu Besuch kommen würde, aber nicht wann.

Ich hatte keine Chance, mich auf das hier vorzubereiten. Und ich habe keine beschissene Ahnung, warum die beiden sich anschweigen, als wäre jemand gestorben. Zugegeben, Grey hat mich vor ihr gewarnt. Laut ihm ist seine Schwester schwierig. Aber aus meiner Sicht war bisher das einzig Schwierige an ihr, meinen Blick von ihr loszureißen.

Brookes direkte Art vorhin hat mich derart angefixt, dass ich den ganzen Nachmittag an unsere Unterhaltung denken musste. Sie übt eine seltsame Faszination auf mich aus. Eine Anziehungskraft, die ich bisher nur bei wenigen Frauen verspürt habe – und noch nie in solch einem Ausmaß.

Vielleicht ist es auch die Tatsache, dass Brooke tabu ist, die sie so interessant macht. Denn jedes Mal, wenn sich unsere Blicke treffen, schaue ich in graublaue Augen, die Greysens nur allzu ähnlich sind. Warum habe ich das nicht gleich erkannt? Stattdessen habe ich nichts ahnend mit ihr geflirtet und mich damit noch tiefer in die Scheiße geritten. Denn jetzt will ich mehr. Aber Greys finstere Miene sagt mir, dass das absolut außer Frage steht.

Nur mies, dass wir drei Monate lang zusammenwohnen werden. Und dass Brooke ihrem Ruf als Unruhestifterin jetzt schon ziemlich gerecht wird. Zumindest, wenn man meinen Puls fragt.

Sie sitzt mir am Esstisch gegenüber und wirft mir immer wieder verstohlene Blicke zu. Vermutlich ist ihr die Situation genauso unangenehm wie mir. Hoffe ich, denn sonst wäre ich der Einzige, der sich bei unserem Flirt vorhin versehentlich mehr Blöße gegeben hat als geplant.

Um mich anzufassen, brauchst du aber keine Handschuhe.

Dieser Scheißsatz. Ich höre ihn auf Endlosschleife in meinem Kopf widerhallen.

»Also, wer will was übernehmen?«, fragt Grey, der im Verlauf des Abendessens sämtliche Aufgaben, die auf dem Hof erledigt werden müssen, heruntergerattert hat. »Am besten, wir machen jede Woche einen Plan mit der genauen Verteilung, dann weiß jeder, was er zu tun hat.«

Brooke wendet ihm genervt das Gesicht zu. »Können wir nicht einfach spontan schauen, wer worauf Lust hat? Warum muss das so durchgetaktet sein?«

»Damit die Hühner nicht verhungern?«, schlägt er vor. »Oder der arme Columbo.«

Unter mir erklingt ein Winseln. Der zottelige Hund sitzt schon die ganze Zeit über zwischen meinen Beinen und schaut bettelnd zu mir hoch. Sorry, Kumpel. Aber ich bezweifle, dass Gnocchi ihm so gut bekommen.

»Ich glaube, das kriegen wir auch so hin«, wirft Brooke ein. »Oder hast du Lust darauf, Buch zu führen, Noah?«

Ich schüttle den Kopf. »Sicher nicht. Ich wehre mich seit zwei Jahren erfolgreich gegen unseren WG-Putzplan.«

Greys Blick verfinstert sich. »Du müsstest nur einen Haken setzen.«

»Inwiefern ist das einfacher, als wenn ich dir Bescheid gebe, dass ich geputzt habe?«, feixe ich.

»Ist es nicht«, wirft Brooke ein.

Ihr Bruder verdreht die Augen. »Schön. Dann eben kein Plan. Aber wenn das nicht funktioniert …«

»Jaja«, unterbricht sie ihn. »Du kontrollierst doch sowieso alles, was wir machen, doppelt und dreifach.« Sie zwinkert mir zu, und mein Herzschlag beschleunigt sich. »Falls du ihn bei den Hühnern im Dreck knien siehst, liegt es daran, dass er nachzählt, ob wir genug Körner reingeworfen haben.«

Ich muss grinsen. »Ach so. Und ich hab mich schon gewundert.«

»Haha«, macht Grey, steht vom Tisch auf und räumt unsere Teller ab. Er wirkt angespannter, als ich ihn sonst kenne. »Soll ich gehen? Dann könnt ihr euch bei einer schönen Lästerstunde besser kennenlernen.«

»Gute Idee, aber bringst du mir vorher noch ein Bier?«, säuselt Brooke.

Ich muss lachen. »Mir auch, bitte.«

Grey stellt die Teller auf die Küchenzeile und wirft uns einen abschätzigen Blick zu. Dass Brookes Scherz bei ihm nicht gut ankam, ist mehr als offensichtlich. Und auch sie wirkt, als würde sie sich zwingen, die Stimmung möglichst locker zu halten. Ich muss mich davon abhalten, hier und jetzt zu fragen, was eigentlich los ist. Erstens geht es mich nichts an, und zweitens habe ich keine Lust, mittendrin zu stehen, wenn diese Bombe hochgeht.

Ich fürchte, es wird nicht einfach werden, diesen Sommer mit den beiden zusammenzuleben. Aber trotzdem besser, als allein mit meinen kreisenden Gedanken in der WG zu sitzen, schätze ich.

»Ich gehe uns jetzt einen Film aussuchen, während ihr den Abwasch macht«, verkündet Grey und wendet sich der Tür zu.

»Nicht schon wieder Taxi Driver!«, flehe ich und fasse mir an die Brust.

»Hm.« Er grinst mich halbherzig an. »Vielleicht bin ich gnädig und suche was anderes aus, wenn du mir ein Bier holst. Oder auch nicht.« Mit diesen Worten schließt er die Tür hinter sich und lässt Brooke und mich in der Küche allein. Großartig. Doch vermutlich muss ich mich daran gewöhnen.

Kopfschüttelnd stehe ich auf und lasse Wasser ins Spülbecken.

»Und du erträgst ihn wirklich jeden Tag?«, will Brooke scherzhaft wissen und tritt mit dem restlichen Geschirr neben mich.

Ich werfe ihr einen Seitenblick zu, unschlüssig, ob ich ehrlich oder mit einem Witz antworten soll. Ich entscheide mich für eine Mischung aus beidem. »Wenn er nicht gerade Körner zählt, ist er ganz in Ordnung.«

Sie mustert mich von der Seite, und ich bleibe einen Moment lang wieder an ihren grauen Augen und ihrem Gesicht hängen. Ihre helle Haut ist voller Sommersprossen, eine Strähne ihrer roten Locken hängt ihr in die Stirn, und diesmal kann ich nicht anders, als ihr Nasenpiercing genauer zu mustern. Keine Ahnung, warum ich den kleinen goldenen Ring so sexy finde. Vielleicht, weil er ihr verdammt gut steht. Oder weil sie generell unglaublich hübsch ist. Und jetzt starre ich sie an. Super, Noah.

Ich räuspere mich und wende mich eilig dem Spülbecken zu. Mittlerweile quillt der Schaum fast aus der Wanne, also drehe ich schnell das Wasser ab.

Brooke hält mir kommentarlos einen Teller hin, den ich dankend entgegennehme. Während ich ihn abspüle, schnappt sie sich ein frisches Geschirrtuch aus einer Schublade und positioniert sich zum Abtrocknen auf meiner anderen Seite.

»Also, wir tun jetzt einfach so, als würden wir uns nicht heiß finden, habe ich das richtig verstanden?«

Mir rutscht der Teller aus der Hand, so sehr überrumpelt mich ihre Frage. Schaum spritzt mir ins Gesicht, und ich blinzle verdattert.

Brooke lacht. »Sorry. Habe ich unsere unausgesprochene Abmachung damit schon gebrochen?«

»Scheint so«, keuche ich und reibe meine Wange an meinem Oberarm trocken. »Ähm …« Mir fehlen die Worte. Ich kann auch gar nichts Richtiges sagen, oder?

»Ich dachte, es wäre besser, es einmal anzusprechen, bevor wir drei Monate peinlich berührt umeinander rumschleichen«, verteidigt sie sich.

Ich wage einen Blick zu ihr. »Das kann sein«, stimme ich widerwillig zu.

»Aber?«, will sie wissen.

Mir entweicht ein Schnauben. »Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass du so direkt bist.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Bin ich immer, gewöhn dich dran. Nicht, dass du dich jedes Mal so erschrickst.« Ihr Blick wandert über meinen Oberkörper und die dunklen Wasserspritzer auf meinem Shirt. Warum fühlt es sich an, als würde sie mich damit ausziehen?

Einbildung. Gott, ich habe das Bedürfnis, meinen Kopf gegen eine Wand zu schlagen.

»Ist notiert«, murmle ich, reiche ihr den Teller weiter und greife nach dem Nächsten.

»Wir sagen Grey nichts davon, oder?«

Fast rutscht mir auch dieser aus der Hand, so absurd ist die Frage. »Natürlich nicht«, schnaube ich und schaue Brooke ernst an. »Falls er dich jemals fragt, du findest mich hässlich wie die Nacht.«

Sie zieht die Brauen zusammen. »Ja, das glaubt er mir bestimmt. Und danach erzähle ich ihm, dass ich ins Kloster gehe.«

»Soll das ein Kompliment werden?«, frage ich belustigt.

»Eigentlich nicht, aber wenn du unbedingt eins hören möchtest …«

Ich stoße sie sanft mit dem Ellbogen.

Ursprünglich sollte es eine rein platonische Geste sein, aber jetzt kribbelt mein Arm, als hätte ich damit nicht Brooke, sondern einen Elektrozaun angestupst. »Dein Bruder hat nicht zu viel versprochen«, bemerke ich.

Sie wird hellhörig. »Was hat er denn versprochen?«

Ach, fuck. Fettnäpfchen, oder? Ich weiche ihrem wachsamen Blick aus. »Dass du es faustdick hinter den Ohren hast«, winde ich mich heraus.

»Das waren jetzt deine Worte?«, schlussfolgert Brooke. »Und lass mich raten, seine waren eher so etwas wie …« Sie verstellt die Stimme. »Pass auf, Noah, sie wird dein Leben zerstören.«

Ich lache auf. »Viel Erfolg dabei.« Viel zu zerstören gibt es ja nun wirklich nicht. Und was von mir übrig ist, ist mit allen Wassern gewaschen. Dafür braucht es mehr als einen rothaarigen Wirbelsturm.

»Fordere mich nicht heraus«, warnt sie scherzhaft.

»Uuuh«, ziehe ich sie auf. »Das Kätzchen beißt?«

Brooke hebt die Brauen. »Nenn mich noch einmal Kätzchen und ich rasiere dir im Schlaf den Kopf.«

Schon wieder muss ich lachen. »Fordere mich nicht heraus«, ahme ich sie nach, und diesmal ernte ich einen Ellbogen in die Seite. Sie versucht, ihr Grinsen zu verbergen, aber mir entgeht es nicht.

»Na gut, es wäre ziemlich schade um deine Haare«, gesteht sie. »Wobei du mit Buzzcut sicher auch gut aussehen würdest.«

Wir flirten schon wieder, oder? Ist es zu viel verlangt, dass wir uns normal unterhalten?

»Themawechsel«, schlage ich vor. »Und hoffen wir einfach, dass Grey uns nie fragt, wie gut aussehend wir uns finden. Ich persönlich bin nämlich ziemlich schlecht im Lügen.«

»Hm«, macht sie nur, und irgendetwas klingt dabei in ihrer Stimme mit.

Ich würde gerne nachhaken. Einen Blick unter ihre lockere Fassade werfen. Aber nein. Wir müssen diese Unterhaltung irgendwie in seichtere Gewässer lenken.

Ja, genau, Noah. Super Metapher. Hol die Augenklappe und den Säbel raus.

Ich widme mich wieder den Tellern, und weil mir spontan nichts einfällt, was ich sagen könnte, schweige ich. Doch ich spüre Brookes Blick auf mir. Sie mustert mich von der Seite, während ich abspüle, und mein gesamter Körper beginnt zu kribbeln. Nach ein paar Minuten halte ich es nicht mehr aus.

»Hör auf damit«, murmle ich, und sie versteift sich.

»Womit?«

Ich zögere. Aber wenn sie so direkt ist, kann ich es auch sein, oder? Das ist nur fair. »Mich mit deinem Blick auszuziehen.«

Diesmal schaue ich dabei nicht zu ihr. Brooke ist einen Moment lang ruhig, und ich rechne schon halb damit, dass sie mir eine Beleidigung an den Kopf knallt. Dann sehe ich aus dem Augenwinkel ihr Schulterzucken. »Sorry«, meint sie unbeteiligt, und mir entweicht ein Schnauben.

Gott steh mir bei.

»Das war ein Scherz«, behaupte ich und kann nicht anders, als noch einmal zu ihr zu sehen.

»Von mir natürlich auch«, erwidert sie, doch es klingt so feixend, dass sich meine Nackenhärchen aufstellen.

Scheiße, wir haben dieses Gespräch überhaupt nicht unter Kontrolle. Und wenn Grey das mitbekommt, verfrachtet er mich höchstpersönlich in die Hölle. Freundschaft hin oder her.

»Gut«, sage ich etwas ruppiger als geplant und starre wieder stur in das Spülwasser. Kein Raum mehr für irgendwelche zweideutigen Erwiderungen.

Auch Brooke konzentriert sich endlich auf das Abtrocknen der Teller statt auf mich. Dennoch habe ich das Gefühl, als würde die Luft zwischen uns knistern. Vielleicht ist es aber auch nur der Schaum im Waschbecken, der sich langsam auflöst.

Wir erledigen den restlichen Abwasch schweigend, und während Brooke noch mit dem letzten Teller beschäftigt ist, gehe ich bereits zur Tür, um ein wenig dringend benötigten Abstand zwischen uns zu bringen. »Ich hole Grey ein Bier aus der Garage. Willst du auch eins?«

Sie schaut mich flüchtig an und nickt.

Als ich kurz darauf ins Wohnzimmer komme, ist Brooke bereits dort. Sie lümmelt in einer Ecke des großen Sofas, Grey in der anderen, locker zwei Meter Abstand zwischen ihnen. Sie schweigen sich an, während Grey sich durch die Netflix-Auswahl scrollt.

Ich setze mich mit meinem Bier genau in die Mitte. Ein bisschen zu nah an Brooke für meinen Geschmack. Und gleichzeitig viel zu weit weg.

»Wir könnten The Witcher schauen«, schlägt sie soeben vor, da Grey offenbar Entscheidungsschwierigkeiten hat. Wie immer.

»Haben wir schon gesehen«, brummt er.

»Na und?«, will sie wissen. »Ich auch.«

Er verzieht das Gesicht und schüttelt nur den Kopf. Ich halte mich raus und öffne mein Bier.

»365Tage?«, schlägt sie nun leiser vor, und ich verschlucke mich prompt. Prustend beuge ich mich vor. Brooke klopft mir auf den Rücken und verkneift sich offenbar ein Lachen.

»Was ist denn jetzt los?«, will Grey wissen und mustert uns skeptisch.

Ich ringe nach Luft und winke nur halbherzig ab. »Alles gut«, krächze ich.

»Brauchst du einen Latz?«, zieht Brooke mich auf.

Ich funkle sie an.

Grey seufzt. »Wenn du nur hergekommen bist, um Ärger zu machen, kannst du gleich wieder gehen.«

Sofort wandelt sich die Stimmung. Brooke presst die Lippen zusammen, und die beiden liefern sich über meinen Kopf hinweg einen Starrwettkampf.

Irgendwie wirkt das zu ernst. Grey will sie nicht ernsthaft rausschmeißen, oder? Wegen so einem dahergesagten Spruch? Was ist eigentlich los mit ihm?

»War doch nur ein Scherz«, schalte ich mich ein und wische mir über die Brust. Ein paar Tropfen Bier sind auf meinem Shirt gelandet. Nach dem Spüldebakel vorhin wäre es vielleicht langsam Zeit, mich umzuziehen, aber ich will die beiden nicht allein lassen. Am Ende gehen sie sich wie Wölfe an die Gurgel.

Ein Winseln ertönt. Columbo liegt unter dem Couchtisch und schaut flehend zu uns hoch.

Ja, Kumpel. Ich will auch nicht, dass sie streiten.

»Wir könnten wirklich noch mal Witcher schauen«, versuche ich es weiter. »Soll beim zweiten Mal schauen sogar noch besser sein, weil man dann die ganzen Zeitebenen versteht.«

»Hm«, macht Grey und löst endlich den Blick von seiner Schwester. »Was war der andere Vorschlag eben? Den hab ich über dein Geröchel nicht verstanden.«

»Ähm …« Panisch schaue ich zu Brooke. Die verkneift sich ein Grinsen.

»Taxi Driver«, sagt sie voller Überzeugung.

Grey verdreht die Augen. »Okay, ihr habt ja gewonnen.«

Er gibt The Witcher in die Suchleiste ein, und ich lehne mich erschöpft zurück. Mein Herz rast ein bisschen. Und es nimmt erneut an Fahrt auf, als ich nun Brookes zierliche Füße an meinem Oberschenkel spüre.

Verwirrt schaue ich zu ihr rüber. Doch sie stupst mir nur sanft gegen das Bein, formt mit den Lippen ein stilles Danke und zieht die Knie an die Brust. Ich starre sie an, mein Kopf kurz überfordert mit … allem. Ihr. Ihrer Art. Der Aussicht auf die nächsten Monate.

Verdammt.

Wir haben gerade mal ein paar Worte miteinander gewechselt, und ich mag sie jetzt schon.

KAPITEL 3

brooke

Ich weiß nicht, ob es Fluch oder Segen ist, Noah bei uns im Haus zu haben. Er schafft es auf jeden Fall, die angespannte Stimmung zwischen Grey und mir ein wenig zu lockern. Aber schon am ersten Morgen weiß ich, dass ich ihn nicht nur heiß finde, sondern ihn auch mag. Und das ist eine Kombination, vor der ich normalerweise nach spätestens einer Woche die Flucht ergreife.

Im Gegensatz zu meinem Bruder schaut Noah mich nicht ständig an, als würde er mich am liebsten mitsamt meinem Koffer vor die Tür setzen. Was auch immer Grey ihm von mir erzählt hat, scheint ihn nicht zu interessieren. Stattdessen wirkt er mir gegenüber völlig unvoreingenommen. Er lacht, wenn ich einen Scherz mache. Er lächelt, wenn ich es tue. Und er macht die verdammt noch mal besten Blaubeerpancakes, die ich je gegessen habe.

Doch allein seine Anwesenheit bringt meine Haut zum Kribbeln. Und ich muss ständig aufpassen, ihn nicht anzugaffen – besonders, wenn er mir so wie jetzt mit vom Schlaf zerzausten Haaren und Mehl am Shirtkragen gegenübersitzt.

»Du platzt bald«, warnt Grey mich, als ich mir Pancake Nummer acht auf den Teller hebe. Er sitzt neben mir am Frühstückstisch und liest Zeitung, als wäre er sechzig oder so.

Auch wenn mich seine wichtigtuerische Art nervt – ganz unrecht hat er leider nicht. Ich habe schon Bauchschmerzen. »Sie sind aber so gut«, jammere ich.

»Es wird nicht das letzte Mal sein, dass du Pancakes kriegst. Noah macht die ständig.«

»Er hat gesagt, die sind nur für besondere Anlässe!«, beschwere ich mich und wende mich anklagend Noah zu. Der schaut amüsiert von seinem Smartphone auf, sagt jedoch nichts.

»Ja«, murmelt Grey. »Wenn Dienstag ein besonderer Anlass ist …«

»Hey«, räumt Noah ein. »Das sind Willkommenspancakes.«

Grey schüttelt den Kopf, faltet die Zeitung zusammen und steht auf. »Ich sehe schon mal nach den Hühnern.« Mit diesen Worten lässt er mich und Noah allein in der Küche zurück.

Der tut unberührt und tippt weiter auf seinem Smartphone herum. Ich zerstochere meinen Pancake und mustere ihn verstohlen.

Gestern Abend hatte ich Angst, er wäre vielleicht sauer, weil ich meine Sprüche nicht mal Grey gegenüber zurückhalten konnte. Aber er hat sich nichts anmerken lassen, und die Pancakes fühlen sich an wie ein Friedensangebot. Nur ungünstig, dass sie ihn noch attraktiver machen. Denn wer will bitte keinen Mann, der so göttlich kochen kann?

Ich seufze auf.

Es ist nicht so, als könnte ich mich nicht beherrschen. Normalerweise kann ich das. Ich baggere ja auch keine Professoren an oder die Partner meiner Freundinnen. Aber ich sehne mich so sehr nach Ablenkung, dass es wehtut. Und dazu kommt, dass Noah einer dieser Menschen ist, bei denen man sofort weiß, dass man sich ihnen nicht entziehen kann. Weil sie einfach viel zu gut zu einem passen.

Irgendetwas ist besonders an ihm. Und ich glaube nicht, dass es nur an seinem Aussehen liegt oder an seinen verflucht noch mal viel zu attraktiven Armen. Es ist irgendwas in seinem Blick, seiner Stimme, seinem Lachen, das mich wie magisch anzieht.

»Schaffst du den noch?«, will er wissen, und ich schaue zu ihm auf. Er wirkt belustigt. Vielleicht auch ein bisschen selbstzufrieden. Wetten, er ist insgeheim total stolz, dass ich seine Pancakes gelobt habe?

»Ich muss noch überlegen, ob es die Bauchschmerzen wert ist«, erwidere ich.

»Vermutlich nicht, wenn man bedenkt, dass ich dir jederzeit Pancakes machen könnte.«

»Könnte«, wiederhole ich vielsagend und spieße ein Stück auf meine Gabel auf.

Noah schmunzelt. »Wenn du lieb fragst … und aufhörst, Grey gegenüber meinen Kopf zu riskieren.« Er stupst unter dem Tisch mein Bein mit seinem Fuß an.

»Das ist mir rausgerutscht!«, verteidige ich mich. »Und er hat es nicht mal verstanden.«

»Dir rutscht öfter so was raus, kann das sein?«

Ich zucke nur verschmitzt grinsend mit den Schultern. Noah schüttelt den Kopf und senkt den Blick auf sein Smartphone.

»Stört dich das?«, will ich wissen.

»Nein.«

»Aber?«

»Nichts aber. Ich sehe das als kumpelhafte Neckerei.«

»Kumpelhaft«, wiederhole ich spöttisch, und er sieht auf, um mir voller Ernst in die Augen zu schauen.

»Genau.«

»Okay, Kumpel«, erwidere ich belustigt. Ich sollte mir keinen Spaß daraus machen, ihn aufzuziehen. Aber es ist schon ein bisschen süß, wie Noah krampfhaft versucht, Abstand zwischen uns zu bringen. »Hilfst du mir gleich mit dem Kompost, Kumpel?«

Grey hat mir aufgetragen, heute den Kompost durchzusieben und auf die Beete zu verteilen. Die körperlich schwerste Arbeit für die zierlichste Person auf dem Hof, schon klar. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass er das mit Absicht macht?

»Sorry, Kumpelinchen, ich wollte heute zum Strand.«

Ich runzle die Stirn. »Hat Grey das erlaubt?«

Er schnaubt. »Wie genau, glaubst du, funktioniert unsere Freundschaft?«

»Keine Ahnung, er sagt dir morgens, du sollst dein Zimmer aufräumen, und schmiert dir so lang ein Pausenbrot für die Uni?«

Noah lacht. »Das würde ich gern sehen. Und nein, Grey hat das nicht erlaubt. Ich habe ihm gesagt, dass ich heute eine Pause mache, und er hat mir viel Spaß gewünscht.«

»Super, also bin ich hier die Einzige, die er bemuttern wird?«

»Mehr Pausenbrote für dich«, gibt er zu bedenken und steht vom Tisch auf.

»Wenn du mir mit dem Kompost hilfst, könnten wir danach gemeinsam zum Strand«, schlage ich vor.