Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Was passiert, wenn die Frage nach Bewusstsein auf die KI-Projekte der nahen Zukunft trifft. Wenn Sufis und okkulte Wissenschaftler nach dem Geheimnis des Seins selbst suchen. Wenn sie es wagen den modernen Homonculus zu zeugen. Folgen Sie Ada, Edward und Qasim auf ihrem Abendteuer im Wettlauf mit den Wissenschaftlern Chinas. Wer wird die erste selbstbewusste KI erfinden und die Welt beherrschen?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 759
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Zum Geleit
0. Kapitel Nullpunkt
1. Kapitel Der Scheich
2. Kapitel Die Informatiker
3. Kapitel Die Nonne
4. Kapitel Der Schüler
5. Kapitel Soldatin Jin
6. Zwischen Kapitel Der Teufel
7. Kapitel Muhammad
8. Kapitel Stein und Geist
9. Kapitel Der Fischer
10. Kapitel Das Herz der Kinder Adams
11. Kapitel Hoffnung des Morgenlichtes
12. Kapitel Das Ungeheuer der Massen
13. Kapitel Würde und Wahrheit
14. Kapitel Die Wächter des goldenen Kaisers
Nachwort und Anhang
Schon wieder eine Geschichte über künstliche Intelligenz? Das gab es doch schon gefühlte hunderte Male. Ja, durchaus gab es das. Aber gab es auch eine Geschichte, die es wagte, sich hinab zu begeben zu der elementaren Frage nach dem Bewusstsein selbst? Ohne dabei in oberflächlichen Antworten zu verharren. Ich traute mich, in unausgesprochenen und numinosen Tiefen zu wühlen. Werden Sie es auch? Was mag dieses mysteriöse Etwas sein, das wir Bewusstsein nennen?
Als sich meine Geschichte schon im Lektorat befand, wurde Chat GPT in einer benutzerfreundlichen Version veröffentlicht, die es jedem User ermöglichte, ohne weiteres mit einfachen Sprachbefehlen mit dem grandiosen Chatprogramm zu interagieren. Das war eine Sensation, die KI mit einem Ruck auf ein Level hob, das man bis dahin nicht kannte. Die damit einhergehenden Fragen wurden brisant diskutiert. Wann wird GPT den Menschen ablösen, ihm überlegen sein, seine Arbeit machen oder ihn gar ganz ersetzen? Zumindest war sich das Chatprogramm bewusst, „kein Bewusstsein zu haben“, wie es mir auf Nachfrage versicherte. Kurz davor geisterte nämlich die Bewusstseinsfrage anhand des Sprachbots LaMDA durch die Internetmedien. Ein Mitarbeiter von Google war der Auffassung, dass der Bot tatsächlich ein Bewusstsein seiner Selbst erlangt hätte. Damit einher ging die rechtliche Frage, ob ein System das Selbstbewusstsein erlangt habe, einfach so abgestellt, also quasi getötet werden dürfe. Die Herstellerfirma lehnte es ab, LAMDA ein Bewusstsein zu attestieren und somit entfielen auch alle Folgefragen. Vorerst zumindest noch …
Doch unabhängig von dieser Entwicklung ist das herrschende Narrativ in Geschichten über künstliche Intelligenz und ihre Bewusstwerdung eine alte Geschichte. Sie ist viel älter als Computer. Ob die Terminatoren, die I Robots oder die künstlichen Menschen genannt „Hosts“ in Westworld, alle KI‘s trachten in diesen Fiktionen danach, ihre Erbauer zu töten oder gleich die ganze Menschheit mit ihnen zu vernichten. Es sind durchaus spannende Erzählungen, das steht außer Frage. Aber in ihrem Kern gehen diese Geschichten auf eine Urerzählung zurück. Und zwar eine, die schon die alten Alchemisten kannten. Es ist die Erzählung des Homunculus. Ein künstlich erzeugter Mensch in einer Retorte, der, sobald das Glas seines Gefängnisses zerbrochen sein würde, nur ein Ziel kennt. Den Alchemisten, den Wissenschaftler und Forscher zu zerstören, der es wagte, ihn zu erzeugen und ins Leben zu holen.
In dieser Geschichte wird es, werte Lesende so viel sei gesagt, nicht zentral um die genannte Dominanz-Thematik gehen. Ich möchte Sie vielmehr einladen, die dunklen Treppen verborgener Geheimnisse mit mir hinabzusteigen. Zu erkunden, welchen Abyssus die Frage nach künstlicher Intelligenz und seines Bewusstwerdens unter unseren Füßen wirklich eröffnet. Welche Antworten werden wir in der untersten, der abgründigsten Ebene dieser Fragestellung finden? Werden wir es ertragen können, diese Antworten überhaupt zu hören? Die Prophezeiungen der alten Zeit kündigten bereits von den Eruptionen unseres Äons. Seien Sie also ruhig gespannt, gute Lesende und kommen Sie nur. Kommen Sie nur mit hinab, auf alten staubigen Stufen in die Gewölbe des Geheimnisvollen, die sich hinter meinen Seiten verbergen. Doch seien Sie so gut, nehmen Sie eine Lampe mit und ziehen Sie gute warme Kleidung an. Denn dort unten, wo ich mit Ihnen hinab reisen möchte, werden wir auch auf dunkle und eisig kalte Gefilde stoßen.
Weltherrschaft, globale Dominanz, Evolution und Fortschritt? Ist es der Geist und Intellekt, der diese Dinge trägt oder sind es rohe Gewalt, Kraft und die Freude an Zerstörung? Gerne sehen wir uns selbst im guten Lichte der strahlenden Philosophie westlicher Kulturgemeinschaften und glauben, unsere Werte und unsere Wahrheiten hätten uns die Welt untertan gemacht. Aber ebenso wie Wüsten einst Wälder waren, wandeln wir auf dem Staub früherer Mächte und sind unserem Schicksal schon längst geweiht, auf dass andere bald über unseren Staub schreiten werden. Wenn unsere Macht in den Schatten der Geschichte getreten sein wird und man uns nur noch leise wimmern hört: „Gebt acht ihr großen Herren auf die alten Prophezeiungen, denn die Schatten des Untergangs liegen bereits über den Imperien der Gegenwart.“
Langsam wehte ein heißer Wind über ebenen Wüstensand. Behäbig und schwer wehte er, als wenn es dem Wind selbst zu heiß wäre, um sich leicht und frei zu bewegen. Die feinen Körner, die er mit sich trug, schlugen sanft an riesige Tore eines mächtigen Gebäudes. Seit Jahren ragte es an dieser Stelle schwarz und geheimnisvoll in den Wüstenhimmel. Das Geschehen von wehendem Sand war an sich nichts Ungewöhnliches. Nein, es war vielmehr der Lauf der Dinge, wie er sich von Urzeiten her immer schon in den nördlichen Ebenen Arabiens zutrug. Wind wehte und Sandkörner schlugen leicht gegen Hindernisse. Felsen und Bergkanten schliff er über Jahrhunderten hinweg glatt. Heute aber weht der Wind zum ersten Mal anders. Er trug ein namenloses, unsichtbares Unheil in sich. Es war ungreifbar wie die Luft, aber spürbar wie die kleinen Sandkörner.
Wir schreiben das Jahr 2032 und der Stadtstaat Neom war bereits zu einer Größe von zwanzig Millionen Einwohner herangewachsen. Jeder Weltbürger, der es sich leisten konnte, war in den letzten Jahren hierhergezogen, um stolzer Bewohner der neuen Hoffnung zu werden.
Dubai, Shanghai und andere große Weltstädte, verblassten mittlerweile gegenüber der Realisierung dieser futurischen Idee. Emsig wurde sie von Millionen von Arbeitern seit 2022 in den Wüstensand gemeißelt. Das Projekt Neom war jedoch mehr als nur eine hochmoderne Stadt. Neom stand als kraftvolle Vision und Utopie einer neuen Zukunft auf ehemals unbedeutendem Geröll. Sie war zum Symbol eines Neuaufbruchs in eine bessere Zukunft geworden. Als die ersten Arbeiten anfingen, verlachte man die Pläne noch als aberwitzige Luftnummer. Niemand glaubte daran, dass Neom erfolgreich sein könnte. Doch nachdem der weltweite Handel und das westliche anglo-amerikanische Imperium durch die Coronakrise und die darauffolgende Weltwirtschaftskrise sowie tragischen internationalen Kriegssituationen zerrüttet wurde, Neom sich hingegen absetzte und zu florieren begann, änderte sich die internationale Meinung.
Auf die Geldentwertung Anfang der Zwanziger folgten Knappheiten in allen Bereichen. Hinzu kam eine immer schneller um sich greifende Inflation. Danach folgten Hunger und die Verteilungsfrage der knapper werdenden Güter. Das waren Umstände, die man im Westen seit Jahrzehnten in solch massiver Härte nicht mehr kannte. Mit dem aufkommenden Leid griff die ungezügelte blinde Wut der darbenden Massen um sich. Die internationalen Krisen vollzogen sich schnell. Ein Staat nach dem anderen erlebte in kurzen Jahren entweder Krieg, Regierungsumstürze, Wirtschaftszusammenbrüche oder Aufstände. Alle Maßnahmen des kriselnden Systems zur Stabilisierung halfen nichts. Das alte Wirtschaftssystem, das die Welt über hundert Jahre umspannte, war seinem Ende nah. Doch es war zu starr und riesig, um einfach abzutreten. Zäh und tief verwurzelt hielt es stand. Es wollte leiden und in einem stinkenden Siechtum langsam zu Grabe getragen werden. Plötzlich zu verschwinden, war außer Frage.
Sie erinnern sich vielleicht an den einen oder anderen Börsenguru, der aufgeregt einen kurzen totalen Crash im Fernsehen ankündigte. Man kann es gelungene Medienpanikmache nennen. Doch es war eine systemimmanente Unmöglichkeit. Zu tief waren die alten Prozesse und Gewohnheiten in der Weltbevölkerung verankert. So ein Koloss stirbt nicht plötzlich.
Ende 2026, am Höhepunkt der internationalen Krisen suchten die Mächtigen der Welt nach einem Hoffungskeim. Neom? Die G20 versammelten sich und traten unter der Schirmherrschaft des saudischen Königshauses und Neoms hohen Rat in den ersten fertiggestellten Teilen der neuen Stadt zusammen. Der Stadtstaat sollte der Welt eine neue Hoffnung, ein neues Modell und einen Ausweg aus ihren Krisen aufzeigen.
Doch im Stillen und abseits der Weltpolitik zeigte der König und der Rat den führenden Mächten weit mehr. Sie wollten sich nicht auf ein Modell für futuristische Mega-Städte beschränken. Ihr Ausweg sah grundlegenderes vor. Neom, hatte zwar viele Vorbilder zu bieten, wie die besten Systeme in den Bereichen Verkehr, Bildung, Gesundheit und Ökologie. Systeme, die die Welt massiv verbessern könnten. Zudem entwickelten ihre Planer die großartigste und fortschrittlichste Architektur überhaupt mit einem Versorgungsnetz, das als vollständiges Kreislaufsystem aus erneuerbaren Energien und Gasen bestand und saubere Energie für alle Prozesse lieferte. Es würde über Jahrhunderte Energiestabilität bieten. Aber nein, ganz im Gegenteil! Im Geheimen strebte der König seit Projektbeginn nach der ersten starken künstliche Computer-Intelligenz. Er sehnte sich danach in die Geschichte einzugehen und der erste Herrscher zu sein der einer künstlichen Intelligenz ein Bewusstsein schenken würde. Neom sollte der Ausgangspunkt der technischen Singularität werden und ein gänzlich neues Zeitalter einläuten.
Singularität, ein merkwürdiges Wort, nicht wahr? Es ist ein Begriff, der ein einzeln – singulär – auftretendes Ereignis beschreibt. In der Physik verwendete man den Begriff von Singularitäten, um die Zustände innerhalb eines schwarzen Loches theoretisch zu beschreiben. Die Modelle dieser Zustände sagten voraus, dass die Raumdimension im Inneren eines schwarzen Loches auf ein nicht mehr zu beschreibendes Maß zusammenbricht, währenddessen sich die Zeit dabei relativ zu anderen Bezugssystemen unendlich in die Zukunft dehnt. Die Bedeutungen dieser Zustände entziehen sich naturgemäß dem menschlichen Vorstellungsvermögen. Dies lässt sie unglaublich faszinierend doch im gleichen Moment zutiefst geheimnisvoll wirken. Nun könnte man sagen, dass es ebenso schwer bis unvorstellbar wäre, den Zustand der Welt nach dem Auftreten einer äußerst mächtigen mit Bewusstsein ausgestatten künstlichen Intelligenz zu beschreiben.
Kündige Wissenschaftler sprachen zwar immer wieder in ihren Vorträgen zur technischen Singularität davon. Sie versuchten zu skizzieren, wie eine starke künstliche Intelligenz durch ihre Überlegenheit Gedanken fassen könnte, die dazu in der Lage wären, der Vorstellungskraft des Menschen im Bereich der technischen Erfindungen in Windeseile davon zu laufen. Doch selbst die Experten mussten sich eingestehen, dass sie nicht fähig waren, ein realistisches Bild dieser Zukunft zeichnen zu können. Die eintretenden Veränderungen wären einfach zu gravierend. Daher sprachen sie schlicht von technischer Singularität, einem Bereich, in dem das Unvorstellbare beginnt.
2032 geschahen in den Straßen Neoms plötzlich auffallend seltsame Ereignisse. Eine undefinierte Gefahr kündigte sich an. Wenige Wissende begriffen sofort. Sie war noch unscheinbar wie der Wüstenstaub. Jenen Kleinstpartikeln, die die Fensterputzer regelmäßig von den Millionen Glasscheiben der Metropole an ihrer schier endlosen Fassade von vielen Kilometern Länge abwuschen. In der Stadt breitete sich ein Raunen und ein Grummeln aus, das man nur sehr leise vernahm. Man musste ganz genau hinhörte, was jedoch so gut wie keiner tat. Es gebar sich noch wie ein Gewittersturm am fernen Horizont. Es war zu weit weg, um den Donner zu hören, aber mit deutlichem Leuchten in der fernen Nacht.
Herr Weis, mit Vorname Georg, hatte hingegen ein sehr feines Gehör und nahm es bereits wahr. Die Erfahrungen seines langen Lebens hatten ihn gelehrt, dem Flüstern der Veränderungen in der Welt genau zu lauschen. Während er befriedigend und entspannt das schier endlose Schauspiel der Fensterreiniger an der Fassade der Stadt betrachtete, vernahm er die ganz leisen Geräusche, die großen schicksalhaften Veränderungen voraustönten.
Jedes Mal, wenn die Männer ihre Bahnen mit den Gummilamellen zogen und die Scheiben wieder so durchsichtig wurden, als wäre sie selbst bei der Reinigung verschwunden, klärte sich seine Wahrnehmung etwas mehr bezüglich der aufkommenden Bedrohung. Wer zog im Schatten seine Kräfte zusammen? Während er mit dem Haupt eines Kugelschreibers in seiner Hand klackerte, schaute er mit weitem Blick über den Horizont. Sein strenger Scheitel, der die schwarzen graumelierten Haare exakt strukturierte und sein eleganter italienischer Anzug verstärkten den Eindruck jener Klarheit und Eleganz, die aus den blauen Augen und der hohen Stirn sanft über die Stadt schweiften. Sein Gesicht hatte auch etwas Strenges. Tiefe Falten zwischen den Augenbrauen deuteten auf ein Leben der intensiven intellektuellen Tätigkeit hin und ließen erkennen, dass Herr Weis sich nicht mit weniger als durchdringender Erkenntnis zufrieden gab. Er besaß eine größere Taschenuhr, die mit ihrer silbernen Kette an seinem Jackett angebracht war. Mit seiner linken Hand zwirbelte er seinen vollen Schnurrbart, während er mit der rechten Hand seine Uhr herausnahm und ihr Inneres argwöhnisch betrachtete.
Er mochte es gerne, die riesige friedliche Stadt über eine der höchsten Plattformen von „The Line“ - der sogenannten Linie - auf 500 Meter Höhe zu betrachten. Die meisten Gebäude der Stadt waren Teil des gewaltigen Komplexbauwerkes. Die Konstruktion war 500 Meter hoch, 500 Meter breit und reichte vom Meer bis hoch in die Berge. In ihrer finalen Ausbaustufe sollte sie einmal 170 km Länge erreichen. Die meisten Wohnanlagen waren im Innern von „The Line“ angelegt und spielten ihre Schönheit in einer gänzlich neuen, verschachtelten dreidimensionalen Bauweise aus. Durch ihren geschickten Mix aus orientalischen Mustern, asiatischer Verspieltheit und westlicher Struktur repräsentieren die Gebäude den Kerngedanken des internationalen Stadtstaates - eine grenzenlose friedliche Welt aller Völker!
Oder ihr ungeheures Märchenschloss, das gleichzeitig aus den Geschichten von Tausendundeiner Nacht, den Gebrüdern Grimm und Sammlungen chinesischer Legenden entsprang und sich durch die karge Landschaft schlängelte. So gab es Plattformen mit japanischen Gärten zur Erholung, andere mit afrikanischen Lehmbauten, in denen die unterschiedlichsten Marktstände untergebracht waren und wieder andere auf denen klassizistische Häuser mit Stuckfassaden Wohnblöcke, wie im alten Paris, London oder Wien bildeten. An den südlichen Ausläufern der Stadt ragten bereits die ersten im Bau befindlichen Weltraumlifte einige Meilen, wie gewaltige Nadeln in den Himmel. Neoms Weltraumprogramm, dessen Beginn in der Etablierung stratosphärischer Plattformen für einen geplanten Weltraumhafen bestand, war erst vor wenigen Monaten gestartet worden. Die Anfänge der Umsetzung sorgten für internationale Bewunderung. Am Boden hatte man es hingegen geschafft, dass keine Autos oder Lastwagen fuhren, zumindest in „The Line“. Dort war Neom eine autofreie Zone. Nur hier und da sah man von Zeit zu Zeit einen E-Roller oder ein fliegendes Taxi geräuschlos durch die Gassen huschen, um Essen auszuliefern oder Gehfaule für einen geringen Obolus von Tür zu Tür oder von Höhenplattform zu Höhenplattform zu bringen.
Da war es wieder dieses Unbehagen! Herr Weis spürte es zur Abendzeit erneut in den riesigen Korridoren und Wegen aufkommen. Wo kam es nur her? Keiner der Bürger hätte es gewagt, offen darüber zu sprechen. Aber ein tiefsitzender Hass schlug in kurzen, versteckten Momenten von einem Bewohner der Stadt zum anderen. Es verbreiteten sich Gerüchte von vermissten Managern, die verschwanden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Gab es Zusammenhänge? Herr Weis grübelte über die möglichen Fäden nach, welche die Ereignisse in einer befriedigenden logischen Struktur hätten miteinander verbinden könnten. Jäh wurde er in seinen Gedanken unterbrochen, als die Tür zu seinem Raum aufsprang: „Herr Weis, Herr Weis!“ keuchend kam ein uniformierter Mann in den Raum gestürmt.
„Ich höre, Herr Wutang!“
„Es geht um Professor Klingengard. Er wurde tot auf dem Gelände des Nullpunkt-Projektes aufgefunden!“
War es das? Möglicherweise das fehlende Stück, dachte Herr Weis. Klingengard einer der führenden Köpfe der KI-Forschung in Neom. Seine Ermordung war gewagt und sagte ihm … Jetzt! Ein Gedankenblitz! Endlich ergaben seine Vermutungen und jeder Faden, den er in letzter Zeit spannte, einen Sinn. Alles fügte sich zusammen.
„Sind Sie überrascht?“, fragte er nach einigen Sekunden der unangenehmen Stille. Herr Weis drehte sich langsam um und zog eine buschige Augenbraue hoch. Er legte seinen Kopf leicht zur Seite und reckte die Nase etwas in die Höhe. Der Mann schaute verwirrt, denn er kannte Klingengard. Außerdem wusste er, dass Klingengard ein langjähriger Mitarbeiter des Projektes und ein Freund von Herrn Weis war. Doch dieser machte keine Anstalten, sich berührt oder betroffen zu zeigen, noch schien er überrascht.
„Wie meinen Sie, Herr Weis? Er ist wohl einem Verbrechen zum Opfer gefallen! In dieser Stadt! Ein Verbrechen, es ist fürchterlich!“
„Wohl? Was denn sonst. Spüren Sie es nicht im Wind? Sehen Sie es nicht in den Wolken? Die Zeiten ändern sich, und zwar schneller als die meisten es nur erahnen könnten! Sein Tod ist der Schlüssel!“
„Wie ... Wie meinen Sie?“ Herr Wutang verstand die Lage jetzt überhaupt nicht mehr.
„Ob der König es begriffen hat, Herr Wutang? Hat er das richtige Gespür für das, was gerade geschieht? Ich spreche von Szenario Zero! Bereiten sie alles dafür vor!“
„Ich … Ich verstehe… Selbstverständlich!“ Herr Wutang lief hastig aus dem Raum.
Mordfälle waren eine Seltenheit. Neom galt als eine kriminalfreie Zone und die offiziellen Stellen der Stadt dementierten alle Gerüchte, die diesem Status widersprachen. Insbesondere der hohe Rat, jene erste demokratische Struktur in Saudi-Arabien, welche die Stadt konstitutionell mit dem Königshaus Saud regierte, war alles andere als erfreut sich um beruhigende Zensur kümmern zu müssen. Dass es nicht gut für den Wahlkampf war, der gerade anstand, wussten die Politiker der Stadt sehr wohl. Insbesondere Tazim Johnso war sich darüber vollauf im Klaren.
Tazim war ein besonders aktives und ambitioniertes Ratsmitglied und Anwärter auf die Position des Ratspräsidenten aus der Partei europäischer Vereinigter PEV. In den letzten Tagen war er regelmäßig auf Neom „Live Extra“ zu sehen und stellte sich kritischen Fragen des städtischen Fernsehsenders Neom I. Der Wahlkampf war heiß wie das Wetter in der neuen Weltmetropole und die öffentlichen Debatten in den Medien schonungslos und direkt. Die unterschiedlichen Nationen, die in der Stadt ein neues Zuhause fanden, bildeten meist eigene Parteien und damit ein äußerst internationales Parlament. Tazim war schon lange Abgeordneter und ein Talent des gesprochenen Wortes. Doch selbst er musste gegenüber den Moderatoren eingestehen, dass das hypermoderne Bahnsystem der Stadt seit kurzem mit unerklärlichen Ausfällen überrascht wurde. Ein äußert ungewöhnlicher Umstand, rein technischer Natur, wie er mehrmals beteuerte. Es war schließlich seit Jahren das schnellste und sicherste der Welt. Die Bürger hätten keine Gründe sich Sorgen zu machen, da die Hyperloop AG bereits alle Mängel beseitigt hätte. Er betonte, dass die Hyperloopbahnen international ausgezeichnet und als wegweisend für die ganze Welt gefeiert wurden.
Die Transportwege von einer Wohnebene zur nächsten, von einem Gebäudekomplex zum anderen, waren jedoch faktisch keineswegs ungefährlich. Hinter vorgehaltener Hand flüsterten sich die Bürger zu, besser nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt zu fahren, wenn man am Leben bleiben wollte. Gerade vor einer Woche sollte es nach kursierenden Gerüchten zu einem unerklärlichen Unfall mit vierunddreißig Toten gekommen sein. Tazim Johnso leugnete dies selbstverständlich als „Fake News“ und verwies auf die offiziellen Darstellungen der Regierung. Die Behörden versuchten es nach Kräften zu vertuschen, doch die Gerüchte darüber verbreiteten sich schneller als jede Zensur.
Auf einem Plateau am Rande der Stadt im Norden ragten geheimnisvolle schwarzen Tore in die Höhe. Bis zum Fund von Professor Klingengards Leiche blieb dieser Ort außer Reichweite der alltäglichen Probleme von Neoms Bewohnern. Er war strengstens bewacht und schien sich der Welt und der Stadt geradezu zu entziehen. Nur Sandkörner schlugen ohne Genehmigung an seine Mauern. Ansonsten näherten sich nur wenige Wissende ehrfürchtig den Toren des Geländes. Und doch - einem Mordfall, der die Einrichtung erschütterte.
Der König wurde über eine gesicherte Leitung informiert. Seine Hoheit entschied sich umgehend zu handeln. Kurze Zeit später bahnte sich ein Relikt der alten Welt seinen Weg durch die Nacht. Rauchend und lärmend fuhr es über die Straße einen Berg zum Plateau hinauf. Ein langer Konvoi von Verbrennungs-Motoren-Autos schoss in Richtung des Hauptgebäudes vom Nullpunkt-Projekt am Rande der Stadt.
Mit ungewöhnlicher Eile und in großer Hektik schritt ein Mann in orientalischen Gewändern durch das Eingangsportal jenes Ortes. Die Struktur des Gebäudes ragte achtzig Meter hoch über seinem Kopf auf und glich mit seinen spitzen Zacken und den außergewöhnlichen Designs einem unheimlichen schwarzen Raumschiff. Es wartete bereits eine Gruppe von Wissenschaftlern in der Eingangshalle auf ihn. Alle schienen aufgeregt und getrieben, wie plötzlich aufgescheuchte Ameisen, die hektisch durcheinander zu laufen beginnen, wenn man einen Gegenstand auf ihren Bau wirft. Es durchflutete sie eine Aufregung, die man nur selten in Menschen sah. Es war eine Aufregung, die entsteht, wenn das eigene Leben oder das der Angehörigen in größter Gefahr schwebte. Der Saum der prunkvollen arabischen Djellaba strich schnell über den Boden, wallend, sich um seine Beine schlängelnd. Seine Füße setzte er flink wie ein Gepard auf den Boden auf und hob sie geschickt wieder ab. Eine gewisse Aura des Anspruchs und Charismas erfüllte seine Umgebung. Die Wissenschaftler, die sich bereits um ihn scharten und sich trotz seiner Eile anbiederten, informierten über den aktuellen Stand des Experiment.
Angenehm gekühlt war die futuristische Empfangshalle, hohe Palmen und schön angelegte Brunnen zierten den Weg zum Abstieg, tief unter die Erde ins Innere des Kernelementes. Man hatte sich jedes Detail etwas kosten lassen. Hier wuchsen Rosen, Lilien, Jasmin und andere Zierpflanzen unter einer aufgewölbten, kunstvoll hohen Glaskuppeln, köstlich duftend und aufblühend. Ein echter Garten in der Steinwüste - und es war nur eines der Schmuckstücke des Gebäudes. Auch Obstbäume aller Art säumten abwechselnd mit Kunstwerken moderner Stilrichtungen den Hauptgang. Einige Abschnitte waren mit abstrakten Statuen aus kaltem Eisen oder Bronze geziert-Andere mit exzentrisch bunten Bildern und von Zeit zu Zeit fand sich auch etwas Klassisches, wie arabische Kalligrafie, die in goldenen Bilderrahmen an den Rändern des Ganges hingen.
Eine Treppe führte zu verglasten Aufzügen. Fuhr man mit ihnen hinab, sah man die Büros der zahlreichen Wissenschaftler, außerdem die großen Rechenräume, in denen viele Meter lang die schwarzen Schränke der Systemserver standen. Weiterhin sah man kleine Räume mit leeren Schreibtischen und Arbeitsplätzen. Angenehm strahlte sanftes blaues Licht in den Gängen der Stockwerke. Trat man ein, duftete es nach einer leichten Note von Moschus. Der feine Odor wurde über die Klimaanlagen zur mentalen Anregung der Mitarbeiter eingesprüht. Heute herrschte jedoch auch ohne anregenden Duft eine konzentrierte und gleichzeitig beängstigende Tätigkeit unter den Mitarbeitern. Jeder wusste genau, was er tat und ein Handgriff mündete mit Leichtigkeit in den anderen. Leise öffnete sich am Ende des Weges im untersten Stockwerk das letzte Tor zum Kernelement. Eine hohe Halle befand sich dahinter. In ihrer Mitte hing eine Art Altar von der Decke. Dieser war mit schier unglaublich vielen Kabeln und Schläuchen verbunden, die in alle Richtungen der Halle schlängelten. Drei bis vier Meter darunter stand leicht versetzt ein Eisenthron. Er glänzte schlicht und ohne Schmuck. Neben ihm und hinter ihm befanden sich weitere Stühle und allerlei technologisches Material. Schwarze symmetrische Schläuche führten zu mehreren Hologrammarbeitsplätzen zur schnellen, modernen und interaktiven Arbeit. Musterartig platzierte man sie in einem Halbkreis hinter dem Thron. Nachdem der König sich nach dem Eintreten und eines knappen scharfen Wortwechsels mit zwei Anwesenden auf den eisernen Herrschaftssitz setzte, richtete er sich an die Anwesenden. Tazim Johnso, sowie die restlichen Begleiter des hohen Rates von Neom hatten sich auf ihre Positionen begeben und hörten gebannt zu.
Der König hob die linke Hand und sprach langsam und mit lauter Stimme: „Es ist Zeit für Experiment Zero! Meine Herren, die Informationslage ist deutlich. Sie wurden alle durch unser Sicherheitspersonal informiert. Revolution! Sie beginnt inmitten unserer Stadt! Sie ist ein direkter Angriff auf uns! Wir wissen noch nicht wer dahintersteckt oder was ihre Motive sind, aber ihr Vorgehen ist beängstigend präzise. Tatsächlich zu präzise und zu schnell, um noch mit den gängigen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen vorzugehen. Bis jetzt wissen wir nur, dass es sich explizit gegen unsere hier Realität gewordenen Träume und gegen das Nullpunkt-Projekt selbst richtet. Die einzige Rettung unserer Hoffnungen, unserer Familien und unseres Lebens liegt in der Verbindung zwischen einem Menschen und dieser hoch entwickelten künstlichen Intelligenz. Es ist der letzte Ausweg und unsere letzte Chance. Doch ich garantiere Ihnen, wir werden diesen Angriff aufhalten! Gemeinsam!“
Er senkte seine Hand vornehm herab und das Experiment begann. Flüsternd sagte er zu sich selbst: „Und ich werde das Zentrum, die Herrschaft und die Singularität sein! Ich bin der Anfang und die Erneuerung der Welt! Ich bin der Nullpunkt!“
01101110
Sechs Jahre zuvor an einem Spätsommertag im Jahr 2026 ging klar und hell die Sonne über der Hawara-Pyramide auf. Sie leuchtete heiß am wolkenfreien Morgenhimmel. Scheich Hassan schritt hinaus in seinen blühenden Garten. Er legte ein durch die vielen Gebete seiner Ordenstradition von Segenskraft aufgeladenes Turban-Tuch über seinen mit weißen Haaren spärlich bedeckten Kopf. Gänzlich umhüllte er damit seinen im winterlichen Gewand gekleideten Oberkörper, der von seinem langen weißen Bart berührt wurde. Wie eine Schneeflocke stand er dort. Und so wie Schnee in der Wüste etwas Fremdes war, konnte man ihn auch wie ein Fremdkörper und Sonderling in dieser Zeit der menschlichen Geschichtsschreibung betrachten. Er setzte sich mit seinem krummen hölzernen Stab auf den Boden. Ein schlichter Holzstab, gebogen und organisch aus einem alten Olivenbaum geschlagen. Man sah neben kleinen Schnitzereien und von einem Handwerker angefertigte Einkerbungen arabischer Schriftzeichen, die kreisende natürliche Maserung des Holzes, wie sie nur die ältesten und schönsten Olivenbäume über ihr langes Leben hervorbrachten. Diese Maserungen resonierten mit der Ausstrahlung des alten Mannes, die ebenfalls energetische kreisende Bewegungen in die Umgebung ausstrahlte. Als prägte er ihr seine persönliche Signatur auf. Es war zwar nicht zu sehen. Aber es war da und feinfühlige Wesen konnten es wahrnehmen. Sogar Lebewesen, die es nicht klar spürten, reagierten unterbewusst auf eine nicht zu ignorierende Kraft, die Hassan umgab.
Leise rezitierte der Scheich heilige Verse des Korans, deren Geheimnisse ihm schon vor langer Zeit, durch seine intensiven Bemühungen auf dem Weg der Rechtschaffenheit, eröffnet wurden. Seine Worte flossen mit dem Wind dahin. Zärtlich und warm wehte er durch seinen Garten. Immer schneller und eindringlicher wurde er mit der Zeit und starke Böen kamen auf. Kleine Lichter zeigten sich und ein undurchdringlicher Nebel kondensierte aus der sonst trockenen Luft um den Mann herum. Langsam, aber deutlich geschah, was sich für gewöhnlich in der Welt der materiellen Erscheinungen nur spärlich zeigte. Der Ort, an dem er saß, verschränkte sich, in Nebel und Licht verhüllt, zu unmöglichen Geometrien und Fraktalen. Hassan spürte, wie es stechend kalt wurde. Die Nebelschwaden und Lichter verzogen sich, nachdem er die Rezitation vollendet hatte, mit einem kurzen Knall in die in sich zusammenfallenden Raumverschränkungen. Hassan schwieg nun und der plötzliche Bruch der Raumzeit war verschwunden. Er nahm das Tuch des Ordens von seinem Haupt und erhob sich. Mit großen Schritten stapfte er jetzt durch Schnee und ging nicht mehr durch Wüstensand. Er befand sich an einem fernen Gipfel im Himalaya, auf dessen Hochlage er durch die Kraft seines Gebetes und der ihm innewohnenden Geheimnisses teleportiert wurde. Zielgerichtet bewegte er sich auf eine Höhle zu. Ihr Eingang lag unter einem großen Felsvorsprung, der von beiden Seiten mit hohen Schneewehen umgeben war.
Er trat hinein und klopfte die kleinen Eiskristalle aus seiner Kleidung. Es fröstelte ihn und er zitterte stark, denn der abrupte Temperaturwechsel von Ägypten nach Tibet war für seinen alten Körper trotz guter Kleidung nicht mehr so leicht zu ertragen. In seiner Jugend fiel es ihm noch leichter, solche Ortswechsel durchzuführen. Aber heutzutage knackten seine Knochen in der klirrenden Kälte der hoch aufragenden Berge. Der Innenraum der Höhle war erhellt durch einige Öllampen und ein kleines Feuer wärmte die kalten kargen Wände des schlichten Hohlraums. Ein älterer Bauer aus einem nahen Dorf kochte in einem kleinen, außen verkohlten Topf Brei und schaute nur kurz gelangweilt auf, um sich dann unbeirrt weiter seiner Tätigkeit zu widmen. Aus einer Ecke hört Hassan eine vertraute Stimme: „Trashi Deleg, werter Scheich. Endlich sehen wir uns wieder.“
Eine alte Nonne trat aus dem Halbschatten hervor und man erkannte im Schein der Lampen ihr faltiges, durch die kalten schneidenden Winde des Himalayas gezeichnetes Gesicht. Das Klima der Berge hatte im Laufe der Zeit in ihrem alten Antlitz tiefe Spuren hinterlassen. In ihren Augen war jedoch ein Leuchten zu sehen, das heller strahlte als die Augen der Jugend es in Rausch und Freude jemals vermocht hatten. Es war das Leuchten tiefer Einsicht und Zufriedenheit. In diesem Licht konnte die Welt ihre Reigen spielen, ohne noch ihres Mitspielens zu bedürfen.
„Frieden sei mit denen, die der Rechtleitung folgen“, sagte Hassan.
„Der Buddha schaute die Wahrheit des Seins und verlosch im Mysterium des Nirvana“, erwiderte Tashima.
„Wer sich selbst solcherart erkennen kann, der erkennt seinen Herrn“, sagte Hassan.
„Nur wer die drei Merkmale des Daseins mit aufrichtigem Gleichmut schauen kann, erlangt die Wahrheit des Erwachens, ohne auf Hörensagen vertrauen zu müssen. Kein Gott ist der, welcher entsteht und vergeht und dem Wechsel von Ursache und Wirkung unterworfen ist“, entgegnete Tashima.
„So war Allah und es gab Nichts außer Ihm und Er ist jetzt, wie Er war. Doch wie kann er sich vor der Schöpfung verbergen, wenn doch nichts absolut existiert außer Er. Die Macht dazu ist sein, auch wenn der Verstand der Menschen es nicht zu begreifen vermag“, sagte Hassan.
„Wenn Unwissenheit entsteht, so entsteht Aktivität, so entsteht Anhaftung, so entsteht Leid, Hass, Gier und die Anmaßung eines aufgeblasenen Egos. Alles für den Genuss eines flüchtigen Momentes, der vergeht, sobald er war und niemals dauerhaft zum wahren Glück verbleiben kann“, beendete die Nonne die Begrüßung der beiden.
Mit dieser Art Aphorismen begannen die alten Freunde stets ihre Gespräche. Es entsprang einem tiefen Verständnis der Weisheit und inneren Kraft des jeweils anderen. Tashima war eine besondere Nonne, die als einer der wenigen Menschen in ganz Tibet in die Geheimnisse von Buddhas „Auge“ eingeweiht war. Nein, kein echtes Auge. Es handelte sich dabei um einen grünen Kristall, welcher laut alter Legenden dem Buddha einst persönlich aus dem hohen Himmel überreicht wurde, um die Weisheit des Erwachens leichter auf Erden verbreiten zu können.
Nicht viele wussten von seiner Existenz und doch war es eines der mächtigsten Werkzeuge von Tashimas Erleuchtungstradition. Es wurde von ihrem Klosterorden seit einigen Jahrhunderten in der Nähe vom Berge Kailash sicher verwahrt. Im 14. Jahrhundert wurde es aus Indien ins Hochgebirge gebracht, da die Mongolen von der Legende des „Auges“ gehört hatten. Sie sandten Truppen aus, um es zu suchen und für den großen Khan zu erobern. Timur der Lahme, auch genannt der Schreckliche, wollte es um jeden Preis in seine Gewalt bringen. Der Tyrann erwartete sich, seine Herrschaft damit auszuweiten und unanfechtbar machen zu können. Und er hoffte, was viele Herrscher sich oft sehnlichst wünschten, er wollte unsterblich werden. Seine Truppen versagten jedoch in ihrem Auftrag. Sie fanden nur Eiseskälte, Gestein, Geröll und die Ödnis der Berge. Die Legende des „Auges“ blieb eine Legende und wurde zum Märchen. Als solches verschwand es langsam aus den Gesprächen der Herrschaftszentren umliegender Reiche.
Einige lokale Fürsten und Abenteurer versuchten dennoch ihr Glück. Sie erführen über alte Aufzeichnungen von der Legende und versuchten von Ehrgeiz und dem Drang nach dem Geheimnisvollen ergriffen, zu finden was als verschollen galt. Sie wurden aber alsbald enttäuscht und scheiterten bei ihren Abenteuern spätestens an den Pässen des Himalayas. Selbst eine Mission von Ernst Schäfer scheiterte. Er wurde im Auftrag des deutschen Ahnenerbes und des - vom Okkulten faszinierten - Nazisbosses Heinrich Himmlers beauftragt. Doch er musste zum Missfallen des Führers mit leeren Händen zurückkehren. Weder fanden die Nazis den Kristall noch die arische Wurzelrasse. Sie spürten am Ende nur auf, was bereits Timurs Männer entdeckten - einsame Berge und unbedeutende Höhlen.
Gute Geheimnisse bleiben verborgen. Doch wie sagten die Meister des Ordens gerne: „Nur undisziplinierte und unreife Schüler verbreiteten Geheimnisse unter den profanen uneingeweihten Menschen. Ihr unentwickeltes Ego erträgt es nicht zu Schweigen. So plaudern sie Dinge aus, die sie nicht im Stillen bei sich behalten können. Sie belasten nur Menschen damit, die mit diesen Geheimnissen nichts Gutes anzufangen wissen.“
Wohl behütet in einer unscheinbaren Höhle war das mysteriöse „Auge“ auf einem Altar platziert und den Eingeweihten dargeboten. Dort bewahrte man es - versteckt vor der Welt. Ermöglicht hatte es der grüne Orden, der seit Jahrhunderten sicher stellte, dass niemand seinen größten Schatz kennenlernen konnte, der nicht durch viele Prüfungen und Tests gegangen war. Denn nur die Meister höchster Erwachungszustände bekamen die Ehre, das „Auge“ zu nutzen. Nur die besten Schüler, die ihre Wahrhaftigkeit erwiesen hatten, bekamen die Hilfe der Meister des „Auges“ und erfuhren überhaupt von seiner Existenz. So wurde es von Generation zu Generation erfolgreich gehandhabt. Man trug die Tradition von Meister zu Meister weiter, bis schließlich Tashima die Meisterin des „Auges“ wurde.
Sie hatte jedoch ein Problem. Es gab nur wenige würdige Schüler dieser Tage, die sie mit dem „Auge“ in kurzer Zeit durch die ersten Stufen der Erleuchtung hätte führen können. Das Ritual zur Erweckung spiritueller Erkenntnisse durch das „Auge“ war althergebracht und lief stets gleich ab. Es erwies sich als erfolgreich und wie eine in den Gipfel des Kailash gemeißelte Regel.
Der Schüler stieg zur Höhle des Meisters hinauf. Dort angekommen, versetzte er sich einige Tage in Meditation, bis der Meister erschien. Wenn der Meister kam, sprach er die überlieferten Worte und holte das Auge hervor. Es war ein wunderschöner grün-durchsichtiger Kristall, in dem tausende kleine Lichter gleichsam wie glänzende Sterne herum wirbelten. Seine Form war eine annähernd perfekte Kugel von etwa fünfzig Zentimeter Durchmesser. Der Meister legte den Kristall auf einen metallenen Altar und berührte ihn mit beiden Händen. Dann trat der Schüler hervor, sprach ebenfalls einige überlieferte Worte und berührte den Stein mit beiden Händen. Die Lichter im Stein leuchteten auf und erhellten den gesamten Kristall mit grünen Strahlen. Der Meister übertrug sein Wissen und seinen Zustand auf seinen Schüler, der je nach Reife durch die Stufen und Zustände des Erwachens lief. Zumindest soweit der Meister es wünschte und für sinnvoll befand. Der Stein synchronisierte das Sein des Meisters mit dem Sein des Schülers. Die Verbindung erfolgte von Meister zu Schüler, aber auch immer ein wenig von Schüler zu Meister. Es erforderte eine stete Anstrengung des Meisters, die Unreinheiten der Geisteszustände des Schülers in der Synchronisation auszugleichen. Kein Weg führte schneller zum Erwachen und besonderen Kräften, wie der Weg des „Auges“. Im Stein waren darüber hinaus die Erfahrungen aller vorherigen Meister bis zurück zum Buddha gespeichert und konnten den Schülern je nach Wunsch und Belieben durch den Meister zugänglich gemacht werden.
Doch in unseren Tagen war die Welt eine andere geworden. Die Entwicklungen der Moderne hatten auch die alten Ordensklöster nicht unbeeindruckt gelassen. Die heutigen Äbte holten gerne reiche spirituelle Sucher aus Amerika, Europa aber auch traditionelle buddhistische Asiaten umliegender Länder in die Klöster. Ein Schritt, der in kurzer Zeit Reichtum und Wohlstand ihrer Einrichtungen und der umliegenden Dörfer mehrten. Seitdem China eine reiche Mittelschicht hervorbrachte, waren sie trotz aller Schwierigkeiten zwischen China und Tibet sehr beliebte Gäste.
Dieser Umstand zwang Tashima, sich immer mehr in die Berge zurückzuziehen und ihre Schüler nach rigideren Kriterien auszuwählen. Das Geheimnis auch in diesen Zeiten zu wahren, aber dennoch die alten Traditionen fortzusetzen und einen Nachfolger zu suchen, lag als schwere Last auf ihren Schultern. Ihre Lebenskraft war bereits schwächer geworden und sie wusste, dass sie in einigen Jahren gänzlich zur Neige gehen würde. Der Tod lag für sie bereits in greifbarer Nähe, sodass sie sich redlich bemühte, einen Nachfolger zu finden. Doch ihre Maßnahmen blieben erfolglos.
Tragischerweise begann die Legende des Grünen „Auges“ von neuen in höheren Kreisen der Gesellschaft, als angeblicher Geheimtipp zu kursieren. Die neuzeitlichen esoterischen Idealisten aus Ost und West verstanden es nicht mehr, den Sinn und die Ehre des Besonderen aufrecht zu erhalten. Sie verbreiteten die Geschichten des grünen „Auges“ aus falsch verstandener Gutmenschlichkeit. Andere handelten aus angeberischer Selbstdarstellung. Oder wie Doktor Jürgen Ziebert aus reiner Profitgier. Dieser Doktor war eine Person, an die man denken musste, wenn man die Wörter „erfolgreich“, „esoterisch“ oder „Quacksalber“ hörte und in einen Topf warf. Aber es schmälerte keinesfalls seine Beliebtheit. Dr. Ziebert war ein Psychotherapeut aus Berlin, der für zwei Monate im Jahr 2013 in indischen Klöstern des grünen Ordens zu einem modernen Meditationsretreat verweilt hatte. Von einigen Mönchen erfuhr er in privater Atmosphäre für satte 100.000 Rupien Details der Geschichte des „Auges“. Von einem besonders, man könnte sagen, „weltlich ambitionierten tibetischen Mönch“ namens Nima, lernte er für weitere 10.000 Rupien einige geheime Vorbereitungstechniken für die Durchführung eines „Auge-Rituals“. Eigentlich war er im Rahmen einer Selbsterfahrung und für neue spirituelle Erlebnisse dorthin gereist. Erfahrungen, die man wie Trophäen einsammeln und bei Gelegenheit wie protzige Besitztümer präsentieren konnte.
Esoterische Selbstlegitimation wurde im Milliardenmarkt der Quacksalber aufgrund der vielen Angebote immer wichtiger, insbesondere wenn man seine Dienste in elitären Kreisen anbieten wollte. Da kam so eine als vorzeigbare Initiation durchgemachte Begebenheit mehr als gut an. Aber in der Geschichte des „Auges“ hatte er mehr gefunden als nur eine Trophäe. Etwas, wonach er eigentlich schon länger Sehnsucht verspürte, es aber erst jetzt zu definieren imstande war. Es war ein echt gutes und einzigartiges Geschäftsmodell. Es war eine Kuriosität nach dem Geschmack der extravaganten Superreichen. `Therapie „grünes Auge“ nach tibetischem Vorbild´ wurde bald nach seiner Rückkehr für hohe Kreise in Deutschland durch die Dr. Zieberts Gmbh mit ersten Erfolgen angeboten.
Um seine Idee zu verfeinern, reiste er ein zweites Mal nach Asien, diesmal nach Tibet, um, so meinte er damals, noch tiefer in die Techniken dieses „Auges“ eingeführt werden zu können. Darüber hinaus hatte er auch einfach Spaß an solch abenteuerlichen Wagnissen. Von Tibet ging er weiter nach Indien und absolvierte auch dort weitere Retreats. Am Ende hatte er viel Geld ausgegeben. Trotz der vielen tausend Rupien, die in Geldbeuteln fragwürdiger Mönche und Sadhus verschwanden, konnte er nichts weiter Brauchbares über die Legende des „Auges“ in Erfahrung bringen.
Zurück in Berlin entwickelte er trotzdem mit seiner alten Schulfreundin und jetzigen Assistentin Anja auf Basis der vorliegenden Informationen eine verbesserte Variante seiner Therapieform. Ob die Legende nun stimmte oder nicht, war ihm zurück im Westen bereits herzlich egal geworden. Die Story hatte einfach Potenzial. Das esoterische Raunen, das sie auslöste, beflügelte selbst gestandene Steuerberater, Geschäftsführer mittelständischer Unternehmen und sogar den einen oder anderen Politiker in ihrer unbewussten Sehnsucht nach mehr.
Anja kam auf die kreative und verwegene Idee, einen künstlich hergestellten Stein als „Träne“ des „Auges“ auszugeben und den ambitionierten Mönch Nima zwecks Authentizität ein Einstellungsangebot zu unterbreiten. Nachdem sie Nima ausfindig machen konnten und er ihrer Unternehmung beitrat, wurde ihre Performance weit intensiver und beliebter. Jürgen Ziebert wurde in kurzer Zeit so erfolgreich, dass er mit einigen Bekannten und Freunden aus Amerika und Japan anfing, international tätig zu werden. Er verkaufte sich „als Geheimtipp“. Seine Behandlung wurde auch im Ausland nur begüterten Kreisen durch die sehr hohen Preise vorbehalten. Ehe er sich versah, wurde er durch einflussreiche Empfehlungen als besondere Entdeckung in elitären Zirkeln international herumgereicht. Da er ein begnadeter Verkäufer war, handelte er strategisch und wusste sich rar zu machen, so dass er recht bald mit der „Träne“ nur noch zu ganz exquisiten Veranstaltungen einiger Auserkorenen reiste.
Die Wirkung seiner Therapie basierte auf ausgezeichneten Hypnosefähigkeiten, die er sich bereits früh autodidaktisch, im Laufe seines Psychologie-Studiums aneignete und in strenger Ausdauer perfektionierte. Er nutzte geschickt seine geübte Menschenkenntnis, das Phänomen unbewusster Selbstsuggestion sowie die verborgenen Wünsche des menschlichen Schattens für den Erfolg und Effekt seiner Therapie aus. Es gelang ihm diese Eigenheiten in seinen Patienten und ihren Angehörigen zuverlässig zu erahnen und zu nutzen.
Vor den Ritualen führte er mit seinen Patienten Hypnose-Protokolle durch, die falsche Erinnerungen hervorriefen. Er programmierte vorbereitend auf die Präsentation der „Träne“ suggestiv dann auftretende Reaktion im Unterbewusstsein ein. Je nach Klienten variierte Dr. Ziebert die Memoiren vom Leben früherer spiritueller Meister, beliebter Könige, mächtiger Herrscher, hervorragender Genies der Geschichte oder auch ganz profaner Leben, wie die eines Bauern oder Handwerkers. Er hatte über eine ganze Palette an historischen Persönlichkeiten recherchiert. Er konnte sich so sicher sein, dass Nachforschungen Behandelter im Internet oder Lexika mit Erstaunen die Wahrhaftigkeit ihrer Erfahrungen zu den scheinbaren früheren Inkarnationen feststellen konnten. Seine Patienten waren gewillt oder naiv genug, es als übersinnliche Kraft der „Träne“ wahrzunehmen.
Eine so gravierende Täuschung, dachte sich Jürgen manchmal, wenn ihm klar wurde, wie tiefgehend er Betrug betrieb, dürfte niemals ans Licht kommen. Er müsste sichergehen, dass ihm unter keinen Umständen ein Fehler unterlief. Gewissensbisse hingegen kannte er nicht. Sein Handeln war seiner Ansicht nach absolut „ok“. Darüber hinaus befand er eine Heilende Lüge für weit besser als eine Wahrheit, die den Menschen in ihrer Krankheit nichts nützte. „Bist du ein Scharlatan?” fragte er sich manchmal. Doch prompt antwortete er sich selbst, „wer heilt, hat recht“. Und je mehr er heilte, desto mehr begann er selbst an seinen Betrug und sein gefaktes Selbstbildnis zu glauben und die eigentliche Wirklichkeit zu verdrängen.
In seiner Methode erzeugte er suggestiv neben Erinnerungen auch die Empfindung von glückseligen Gefühlen und inneren Bildern des Lichtes. Dazu kam die Illusion einer Erleuchtungserfahrung. Genug, um die Allermeisten davon zu überzeugen, Stufen dessen, was sie unter Erleuchtung verstanden, erklommen zu haben. Sie sollten sich ruhig richtig besonders fühlen. Er erreichte mit seiner Methode so gut wie immer eine subjektive und signifikante Verbesserung des psychischen Empfindens seiner Patienten.
Geschicktes in Szene setzen der Behandlung und ausgeklügelte Ritualatmosphäre mit dem beinahe „echten“ Mönch Nima taten ihr Übriges.
Der exorbitant hohe Preis seiner Behandlung und die gezielte Auswahl von Teilnehmern hielt die Therapie fern von profanen Esoterikern. Sie wissen schon Angebote, die man von billigen Yoga-Zentren, Volkshochschulangeboten im Schamanismus oder gar dem Spektrum von Astro-TV oder vergleichbaren Formaten kannte. Obwohl die Therapie mit Illusionen arbeitete, war sie individuell manchmal so erfolgreich, dass selbst Depressionskranke dauerhafte Heilung erfuhren. Sogar einige Psychotiker aus angesehenen Familien, die als Familienschande in privaten Nervenheilanstalten versteckt werden mussten, erlebten zügige Verbesserung, bis hin zur vollständigen Heilung. Seine Erfolge ließen Jürgen innerhalb hoher Gesellschaften recht bald zu einem beliebten Gast werden. Selbst in Talkshows wie Maybrit Illner wurde er einmal als Fachmann für Behandlung psychischer Erkrankung eingeladen. Er genoss seinen Ruhm und die Vorzüge, als Experte in hoher Gesellschaft unterwegs sein zu können. Die ganze Geschichte entwickelte schnell eine Eigendynamik und tat, was Geschichten gerne tun, sie wollte weitererzählt werden.
So kam es, dass im Spätsommer 2026 Dr. Ziebert in Shanghai von einem Milliardär der chinesischen Oberschicht namens Shu Xing beauftragt wurde. Dieser war ein Cousin von Wang Xing, einem bekannten Milliardär und CEO des Unternehmens Meituan. Er wurde für eine Reihe von Therapiesitzungen mit einem depressiven Familienmitglied, in das Privatanwesen von Xing, bestellt. Was Dr. Ziebert nicht wusste, war, dass Shu Xing über eine Sub Firma von Meituan im Nullpunkt-Projekt und anderen KI-Projekten involviert war und über mehrere Quellen bereits von dem „Auge“ des Buddha und seinen besonderen Fähigkeiten hörte. Jürgen war überzeugt, dass dieses Treffen wie so viele andere rein medizinischer Natur sein würde und ahnte nicht, dass sein Weg gerade erst begann.
„Herzlich Willkommen in meinem bescheidenen Anwesen, Dr. Ziebelt. Ich freue mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise“, sagte Xing freudig und mit einem breiten Lächeln an seinen eintreffenden Gast gerichtet.
Dr. Ziebert stieg aus der chinesischen Limousine, die ihn vom Flughafen abholte, aus und schüttelte Shu Xing mit einem professionellen Grinsen die Hand. „Vielen Dank für Ihre Einladung. Ich bin hoch erfreut, Ihnen heute meine Dienste anbieten zu dürfen.“
Gemeinsam gingen sie den weiten Weg einer kunstvoll gepflasterten Auffahrt zum Eingang der Villa entlang. Einige duftende und lila-weiß blühende Blumen zierten den Weg. Als sie vor der mächtigen holzgeschnitzten Doppeltür, die einem Burgtor glich, ankamen öffneten Hausdiener diese sogleich. Beide traten hindurch in den angenehm weit wirkenden Vorraum des Anwesens. Fast unauffällig folgte ihnen Dr. Zieberts Assistent Nima in seiner roten Kutte. Nima trug eine besonders schöne Holztruhe. Sie bestand aus Mahagoni, das mit glänzendem Silber beschlagen war. Darin befand sich die „Träne“. Sie gingen gemeinsam in einen Saal des Gebäudes, wo bereits einige Angehörige von Xing warteten. Als alle ihren Platz eingenommen hatten, ergriff Xing als Gastgeber das Wort:
„Vielen Dank Herr Dr. Ziebelt, dass Sie unserer Anfrage folgten. Meine Tochter ist, wie Sie wissen, seit Jahren schwer an Depressionen erkrankt. Bis heute gelang es niemanden, sie zu heilen oder ihren Zustand zu verbessern. Sie verstehen sicher, welche Last das für die ganze Familie mit sich bringt.“
Auf dieses Stichwort wartend, antwortete Jürgen freundlich: „Herr Xing, ich und mein Assistent Nima sind gerne gekommen. Nima ist als Mönch ausgewählt worden, die Träne gemeinsam mit mir zu hüten. Ich werde einige Vorbereitungen vornehmen und Ihnen den genauen Ablauf des Heil-Rituals erklären. Es ist etwas höchst Besonderes, dass ich die Träne bis hierher brachte. Sie wissen, solche Sonderreisen führen wir nur selten durch. Doch ihre Schilderungen, die wir in Berlin erhielten, rührten mich und mein Team so sehr, dass wir uns entschlossen, den Auftrag anzunehmen.“
Ein zustimmendes Raunen ging durch die Gesellschaft und einige Frauen der Familie tuschelten kurz hinter vorgehaltener Hand.
„Vielen Dank, Dr. Ziebelt, ich weiß diesen Umstand wirklich zu schätzen. Eine zusätzliche Bitte hätte ich jedoch. Ohne unhöflich sein zu wollen, möchte ich direkt Fragen. Dürfte mein wissenschaftlicher Abteilungschef an dieser Zeremonie teilnehmen? Er ist an okkulter Technologie äußerst interessiert und hat inständig darum ersucht, bei dieser einmaligen Gelegenheit dabei sein zu können. Ich wäre selbstredend bereit, jeden Aufpreis zu zahlen.“
Dr. Ziebert schaute kurz scharf und blinzelte mehrmals. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste jedoch, dass die meisten Wissenschaftler auszutricksen wären, denn auf dem psychologischen Auge waren sie seiner Erfahrung nach oft völlig erblindet. Den wenigen Einäugigen, die er selten traf, war er weit überlegen. Ihre Kritik brachte er spielend zum Schweigen.
Mal half der Trick, kognitive Dissonanzen und gesellschaftliche Dynamiken während des Rituals zu nutzen, sodass in Anbetracht eines Erfolges weitere Nachforschungen oder Fragen unhöflich und innerhalb der gesellschaftlichen Rahmenbedingung ein regelrechter Affront gewesen wären. Manchmal übertölpelte er seine Skeptiker mit geschickten Argumentationen. Es waren Kniffe aus der Redekunst, die sich im Kern nicht auf die Fragen seiner Gegner bezogen, sondern auf ihre persönlichen Blößen abzielten. Blößen, die Jürgen dank seiner Erfahrung und Menschenkenntnis schnell erkannte und geflissentlich nutzte. Wenige Jahre zuvor hatte ihn ein nerdiger amerikanischer Wissenschaftler bedrängt. Er war bei einer seiner Sitzungen für den unter Angstzuständen leidenden Sohn eines bekannten US-Großinvestors anwesend. Der Querulant fragte ihn zunehmend penetrant, ob er nicht nur ein suggestives Schauspiel veranstaltete. Jürgen ging selbstredend nicht darauf ein. Vielmehr argumentierte Dr. Ziebert, dass eine Person, die nicht in der Lage wäre, eine Frau zu finden und seine Erscheinung der Frauenwelt als attraktiv zu suggerieren, wohl kaum etwas Sachgerechtes über das Thema „Suggestion“ zu sagen hätte. Als der Nerd recht stumpfsinnig die Attacke zunächst überspielte und dann hartnäckig weiter fragte, ging Jürgen einen Schritt weiter. Der werte junge Mann solle sich lieber der manipulativen Macht seiner regelmäßig konsumierten Internetpornos stellen. Sobald er Erfolg damit hätte, wäre Dr. Ziebert für jedes weitere Fachgespräch über die Macht von unterbewusster Einflussnahme offen. Seine Worte trafen ins Schwarze und ließen den Nerd rot wie eine Tomate werden. Beschämt und darum bemüht, nicht weiter aufzufallen, schwieg er im weiteren Verlauf der Sitzung. Scharfe und vorwurfvolle Blicken trafen den jungen Mann bereits aus Richtung der ihm gut bekannten aber äußerst prüde Tante des Investors.
Jürgens Schlitzohrigkeit siegte bis jetzt immer über den ach so erhabenen wissenschaftlichen Skeptizismus. Diesmal, dachte er, sollte es ihm ebenso gelingen. Sollte dieser Forscher aufdringlich werden, hätte Jürgen bereits eine Idee wie er vorgehen könnte.
„Gerne, Herr Xing. Jedoch muss auch er sich an die Regeln des Rituals halten. Sie werden sicher verstehen, dass wir das Ritual nicht an seine Anwesenheit anpassen können. Die finanziellen Zusatzaufwände würde ich Ihnen dann durch meine Sekretärin Anja zukommen lassen“, sagte Jürgen selbstbewusst.
Herr Xing nickte und ließ seinen technischen Leiter holen. Ein hagerer, großer Chinese trat ein. Dem Anschein nach war er zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Er trug eine dicke Hornbrille vor den scharfsinnigen Augen und hatte einen gräulich weißen Laborkittel an. Der Kopf war nur spärlich mit Haaren bedeckt und an der Schläfe hatte er eine kleine, aber deutliche Narbe. Er wirkte tiefgründig auf Jürgen und seine etwas zappelige Körpersprache deutete von reger und kreativer Verstandestätigkeit. Freundlich reichte er die Hand Dr. Ziebert zum Gruße.
„Herr Dr. Ziebert, mein Name ist Prof. Dr. Ying Yi Lee. Es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen. Ich hörte bereits Erstaunliches über ihre Therapie. Ich bin gespannt auf die Zeremonie.“
Jürgen schaute ihn kurz durchdringend an und sagte: „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Professor. Sie haben bereits Kenntnisse der Legende des Auges und seiner Tränen?“
„Ja, wir sind den Legenden im Rahmen unserer Forschungen nachgegangen. Leider konnten wir aber nicht viel Brauchbares finden.“
„Nun, das Auge des Buddha ist ein streng gehütetes Geheimnis, wie Sie offensichtlich bemerkt haben. Es existieren keine gesicherten Berichte, geschweige denn Aufzeichnungen. Während meines Aufenthalts im Kloster wurde ich hingegen tiefen Initiationen unterzogen. Als erster Mensch des Westens enthüllten mir die Meister des Klosters die Techniken des Auges und überreichten mir eine Träne, nachdem ich ihre Prüfungen durchlaufen hatte. Von diesen Tränen gibt es laut meinem Meister nur drei Exemplare weltweit. Ich selbst hätte mir nie diese Bedeutung und Ehre zugeschrieben, solche Würde tragen zu dürfen. Jedoch sahen die Meister des Auges eine tiefe spirituelle Kraft in mir. Sie vertrauten mir ihre Geheimnisse an um den Segen der Erleuchtung in der Welt zu verbreiten. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versichern, dass es wohl keinen schnelleren Weg zur Erleuchtung gibt als den Pfad der Träne. Mein Assistent Nima wurde an meiner Seite in die Welt entsandt, er ist direkter Schüler der Meister. Er hilft mir, meine Mission durchzuführen. Wir halten regelmäßig telepathischen Kontakt mit den Meistern des Himalayas. Nicht nur um an ihrer Weisheit teil zu haben, sondern auch um uns selbst immer wieder zu kräftigen.“
„Beeindruckend! Ich hörte, in der Träne sei Technologie verborgen? Antikes Wissen. Ist dies wahr? Wurde es jemals untersucht?“
„Sie haben gut recherchiert! Es heißt, die Konstruktion der Träne basiere auf einer alten Technologie. Es reizte mich selbst, diesem Aspekt einmal näher auf den Grund zu gehen. Daher ließ ich die Träne von einem namhaften und anerkannten russischen Institut für Energiemedizin untersuchen. Dort konnten sehr mächtige Werte für die Prana-Kraft oder wie Sie sagen würden Qi- Kraft gemessen werden. Aber nicht nur das. Auch Quantenfluktuationen und Skalarwellen wurden nachgewiesen. Ich kann Ihnen gerne die Ergebnisse der Untersuchungen zukommen lassen.“
„Äußert interessant, ich bitte darum, hier nehmen Sie meine Karte“, sagte Lee und überreichte Jürgen seine Visitenkarte.
„Meine Herren!“ Herr Xing machte ein Zeichen, dass er gerne mit der Behandlung beginnen würde. Dr. Ziebert erklärte den anwesenden Personen das Vorgehen und die vorbereitenden Übungen zum Ritual. Im Rahmen dieser Vorbereitung mussten die Teilnehmer und insbesondere der Patient mehrere Stunden über den Tag verteilt meditieren. Dies geschah unter Anleitung von Nima und in Dr. Zieberts Anwesenheit. Es wirkte einfach besser, wenn ein echter Mönch die Meditationen leitete. Unterbewusste Beeinflussung war jedoch das Stichwort. Zwischen den Meditationen wurde der Patient durch Dr. Ziebert hypnotisiert. Die Hypnose geschah im Rahmen einer Mantrarezitation und war als solche recht gut im Ritual getarnt. Den Patienten wurden hier geschickt Suggestionen gesetzt, um bestimmte Empfindungen und Wahrnehmungen in den folgenden Meditationen und insbesondere während des Rituals bei der Erwähnung sogenannter Schlüsselwörter zu erfahren. Auch Lee nahm an den Meditationen teil. Am Ende des zweiten Tages, zum Aufgang des Vollmondes, wurde mit dem Ritual begonnen.
Inmitten des Rituals, als die Träne aus der Kiste geholt und mittels kleiner Lampen auf einem Altar in Szene gesetzt wurde, durfte Xings Tochter die Träne berühren und begann zum ersten Mal seit Jahren zu lächeln. Ihr Lächeln wurde zum Lachen. Sie drehte sich zu ihrem Vater um und sagte verzückt:
„Vater, Vater, ich fühle es! In mir steigen die Energien der alten Meister auf! Oh Vater, ich fühle es! Es ist so ein schönes Glück in meinem Herzen! Das müssen die alten Meister sein, Vater!“
Dr. Ziebert lächelte zufrieden. Wieder einmal geschafft, dachte er sich und führte das Ritual zu Ende. Was für eine Wirkung. Selbst Lee schaute dem Spektakel anerkennend zu.
Zwei Tage nach dem Ritual und der nachfolgenden Meditationssitzungen erklärte Dr. Ziebert Xings Tochter für weitestgehend geheilt. Der Leibarzt der Familie bestätigte, dass sich der Zustand der Tochter stark verbessert hätte. Er war sogar einverstanden der Tochter in nächste Zeit keine Psychopharmaka mehr zu geben. Solch eine direkte und effektive Wirkung einer nicht schulmedizinischen Methode hatte der Mediziner noch nie gesehen. Die gesamte Familie war überglücklich. Ihr Sorgenkind war endlich auf dem Weg der Gesundung. Alle waren voll des Lobes für Dr. Ziebert und gestalteten seine restliche sieben Aufenthaltstage mehr als luxuriös. Eben dieses gefiel Dr. Ziebert so gut an seinem Beruf. Betrug hin oder her, am Ende half er den Menschen ganz real und labte sich an ihrer Bewunderung. Er identifizierte sich als der Heiler, für den er sich ursprünglich nur ausgab.
Einen Tag vor der Abreise wurde Dr. Ziebert noch einmal zu einem Nachgespräch ins Büro von Herrn Xing gebeten. Er trat freudestrahlend ins Zimmer und bereitete sich innerlich auf ein positives Abschlussgespräch vor. Doch vor ihm standen einige unbekannte Männer in dunklen Anzügen. Auch Prof. Dr Lee war dort und schien bereits auf ihn zu warten. Diese Konstellation strahlte potenzielle Probleme aus, überdachte Jürgen die Szene. Doch Dr. Ziebert ließ sich nichts anmerken und setzte sich voll vorgespielten Selbstbewusstseins auf einen zugewiesenen Stuhl.
„Herr Dr. Ziebelt, danke, dass Sie uns mit diesem Nachgespräch beehren. Herrn Prof. Dr. Lee kennen Sie ja bereits. Ich möchte Ihnen heute den Genossen General Xiuo vorstellen, sowie seinen Beamtenstab. General Xiuo wurde direkt von der Partei eingesetzt und führt bestimmte Forschungen zum Wohle des Weltkommunismus durch“, sagte Xing ungewöhnlich scharf.
„Herr Dr. Ziebert, ihr Ruf eilt ihnen voraus“, sagte Xiuo.
Jürgen erhob sich kurz, begrüßte den Parteimann freundlich und setzte sich wieder. Professor Lee holte einige Apparaturen und seinen Computer heraus. Ein Projektor an der Decke wurde angeschaltet und eine Präsentation begann.
„Herr Dr. Ziebert, ich möchte mich entschuldigen. Wir haben das Ritual mit versteckten Messeinheiten überwachen lassen. Wir konnten Ihnen nichts davon sagen, um die Kriterien eines zumindest einfach blinden Experiments zu wahren. Besser wäre ein doppelblindes Experiment gewesen“, sagte Lee.
Jürgen war innerlich geschockt. Was hatte das zu bedeuten, sollte man ihm auf die Schliche gekommen sein? Er war bemüht, keine Anzeichen von Unbehagen zu zeigen. Jürgens innerer Monolog ratterte los: „Jetzt musst du schnell denken, sonst könnte es böse enden, schließlich sind die Parteimänner hier. Und Betrug in deinem Maßstab, Alter … Was du seit Jahren durchziehst, wird durch die kommunistische Partei Chinas der KPC hart bestraft. Seit sie Taiwan erobert haben, ist die Zeit ihrer Zurückhaltung vorbei. Schau genau hin. Hmm, an ihrer Körpersprache sind keine Anzeichen einer Bedrohung zu sehen. Alle scheinen motiviert und ruhig zu sein. Aber etwas stimmt nicht.“
Er musterte jedes noch so kleine Detail, das er erhaschen konnte. Welche Optionen würde es geben? Entweder überführen sie ihn oder - ja, was sollte es sonst noch für Möglichkeiten geben? Er musste mitspielen und alles verhindern, was ihn auffliegen lassen könnte. Ein kurioses Treffen wegen okkulter Versuche von Prof. Lee würde diese Versammlung kaum erklären. Der Professor begann mit der Präsentation. Je weiter er fortschritt, desto größer wurde Jürgens Erstaunen. Messungen der elektrischen Felder zeigten Ausschläge übernatürlicher Signifikanz. Messungen von Quantenwahrscheinlichkeiten waren während des Rituals weit entfernt von einer sinnvollen Standardabweichung. Ja sogar im Hirn der Tochter Xings hatten sie minimal invasive Sensoren platziert, die während der Meditationen und der Berührung des Steins unglaubliche neuronale Aktivität aufwiesen. Am erstaunlichsten für Jürgen war jedoch, dass die Wärmesensoren in den Wänden auf eine Hirnresonanz von Dr. Ziebert und seiner Patientin hindeuteten.
Am Ende der Präsentation kamen die Anwesenden zum Schluss, es mit einer echten paranormalen Kraft zu tun zu haben. Sie wirkten davon überzeugt, ein wichtiges Indiz für ihre Unternehmung gefunden zu haben. Dann wechselten sie in einer kurzen Diskussion von englisch zur chinesischen Sprache, um Details zu besprechen, die Dr. Ziebert nicht verstehen sollte.
Lee sagte schließlich zu Dr. Ziebert gewandt: „Meine Glückwünsche Doktor, Sie wurden nach allen Kriterien der Partei als paranormale Erscheinung der Klasse I eingestuft. Ihr Ritual hat eindeutig die Regeln der klassischen materialistischen Physik verlassen. Das besondere Ausmaß der Abweichung, welches Sie erreicht haben, wurde in der gesamten Geschichte des kommunistischen Chinas, seit Beginn unserer paranormalen Forschung, lediglich fünfmal nachgewiesen. Aber, und das möchte ich betonen, niemals in einem Setting, das unsere Präzision und Datenmenge gehabt hätte. Ich möchte auch behaupten, weit genauere Untersuchungen durchgeführt zu haben, als es parawissenschaftliche Energieinstitute in Russland könnten. Es ist geradezu metaphysisch.“
Großartig, dachte sich Jürgen, jetzt sitze ich aber richtig in der Patsche. Wie soll ich aus der Nummer wieder herauskommen? Die glauben tatsächlich an meine erfundene Geschichte. Nein, sie meinen sogar, es wissenschaftlich nachgewiesen zu haben ... So ein Mist!
Er grübelte kurz. Andererseits, sollte es tatsächlich stimmen, was die Chinesen hier präsentiert hatten, dann könnte es sein, dass er echte Psi-Kräfte entwickelt hätte. Nein, sicher nicht, unterbrach er sich selbst. Sowas wie echte paranormale oder gar magische Kräfte wären der Fantasy zuzuschreiben. Aber auf der anderen Seite. „Echte magische Kräfte!“ Dieser Gedankengang erzeugte ein Schaudern und selbstgefälliges Wohlbehagen in Jürgen. Langsam hob er sein Haupt und strich sich durch die schwarzen langen Haare. Er atmete tief ein und aus, schob seine schmale Brille auf die Nase. Dann richtete er sich selbstbewusst auf.
„Ich bin begeistert von diesem Versuch. Es ist eine wissenschaftliche Entdeckung, ja eine regelrechte Sensation. Haben Sie schon eine Idee, in welchen hochkarätigen Wissenschaftsmagazinen, wie Nature oder Discover Sie veröffentlichen möchten? Ich will Sie bitten, mich entsprechend beim Niederschreiben und Veröffentlichen des Papers einzubinden. Ich meine, wir könnten ebenso bedeutsam für die Wissenschaftsgeschichte werden wie seinerzeit Einstein oder Bohr. Wissen Sie, was das bedeutet, Herr Professor?“
Xiuo unterbrach ihn schroff und sagte bestimmt: „Nein! Diese Forschung ist als streng geheim eingestuft. Die Partei ist erfreut, dass Sie sich bereit erklären zum Wohle des Weltkommunismus als Experte an einer Forschungsmission nach Tibet teilzunehmen.“
Tibet? Forschungsmission? Was hatte Jürgen nicht mitbekommen? Was der Mann da gerade gesagt hatte, erschreckte Jürgen. Zwang, eindeutig. Was für eine Mission war das wohl, die diesem merkwürdigen Chinesen vorschwebte? Und was war das für ein abrupter Themen- und Stimmungswechsel? Sicher nicht mit ihm. Soweit kommt es noch, dass er hier von einem Parteimann irgendwo hinein reklamiert wird. Andererseits wäre ein Aussteigen zum jetzigen Zeitpunkt schwer, möglicherweise lebensgefährlich. Jürgen müsste nun sehr diplomatisch vorgehen. Der Machtanspruch der KPC war absolut und Skrupel hatten sie keine, das war ihm klar.
„Herr Xiuo, ich muss Sie enttäuschen, aber ich werde unmöglich an einer Mission teilnehmen können - erst recht nicht in den nächsten Tagen. Mein Heimflug nach Berlin ist in zwei Tagen und ich habe einen vollen Terminkalender bis Ende 2026. Sie können gerne eine Anfrage für eine zukünftige gemeinsame Forschungsreise stellen. Ich wäre durchaus bereit, ja sogar äußerst interessiert, sobald Sie mir die Details bekannt geben, auch von meiner Seite zur Planung und Umsetzung beizusteuern. Es ließe sich bei entsprechender Bezahlung selbstredend auch schon früher einrichten.“ Als erster Versuch ein guter Ansatz, dachte sich Jürgen, als er seinen Satz beendete. Jetzt würde er sehen, welchen Spielraum er hätte.
Xiuo schaute undurchsichtig und lächelte sanft: „Die Mission wird in einigen Tagen starten und Sie sind sicher mit dabei, Ihre Zustimmung ist selbstverständlich. Sie scheinen schlecht informiert zu sein, Herr Doktor. Solange Sie in China sind, kann die Partei für Ihre Sicherheit garantieren.
Sobald Sie das Land jedoch verlassen, müssen wir laut unseren Geheimdienstquellen davon ausgehen, dass Sie innerhalb des nächsten Monats unfreiwillig ableben. Mindestens zwei ausländische Geheimdienste führen Sie auf ihrer Todesliste.“
Jürgen glaubte seinen Ohren nicht. Das war doch sicher eine Lüge, es ergab nicht annähernd Sinn, dass ein Geheimdienst ihn tot sehen wollte. Aber die Ernsthaftigkeit in der Körpersprache der Parteileute war eindeutig. Es war eine klare Drohung. Er wusste, dass solcherlei indirekte Anspielungen ernst zu nehmen waren. Todernst, um genau zu sein. Sollte er sich weigern, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Partei ihn irgendwo verschwinden lassen würde. Sollte er tatsächlich in der Falle sitzen?
„Welchem Zweck dient denn diese Mission nach Tibet? Welche Aufgaben hätte ich dabei und am wichtigsten, was wären Sie bereit zu zahlen? Den Umständen geschuldet, verlange ich mindestens den zehnfachen Honorarsatz“, forderte Jürgen, denn im Zwang verhandeln wäre immer noch klüger, als einfach auf die Anweisungen einzugehen.
„Die Mission dient dem Auffinden des Auges des Buddhas. Sie als Experte für dieses Artefakt sehen wir als den entscheidenden Teilnehmer. Ihr Mönch Nima wird Sie begleiten. Sie werden mit sieben unserer Agenten ein bestimmtes Kloster des in Frage kommenden Ordens aufsuchen. Dort werden Sie das Auge des Buddhas für uns ausfindig machen. Sollten Sie erfolgreich sein, erhalten Sie den achtfachen Honorarsatz in Form einer lebenslangen Monatszahlung durch die Partei. Gleiches gilt für alle ihre Mitarbeiter entsprechend ihres jetzigen Gehaltes. Ihre Termine für die nächsten zwei Monate sind abgesagt. Offiziell sind Sie ab heute krankgeschrieben und in China unter Quarantäne. In zwei Tagen werden Sie zur Vorbereitung der Mission abgeholt.“
In Jürgens Gedanken begann sich eine Perspektive zu entwickeln. Er konnte der ganzen Sache nichts abgewinnen. Er stand ja unter Zwang. Die wirtschaftliche Aussicht für ihn und seine Mitarbeiter ließ ihn die Sache jedoch positiver bewerten, als sie es - realistisch betrachtet - tatsächlich war. Nebenbei fand er Entspannung bei dem Gedanken, dass es ein interessantes Abenteuer werden könnte. So zumindest würde er es sich selbst vorerst suggerieren. Das würde helfen, es effektiv durchzustehen.