Numbers - Den Tod im Blick (Numbers 1) - Rachel Ward - E-Book
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Numbers - Den Tod im Blick (Numbers 1) E-Book

Rachel Ward

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Beschreibung

Wenn Jem in fremde Augen blickt, sieht sie eine Zahl. Genauer gesagt: ein Datum. Das Datum, an dem ihr Gegenüber sterben wird. Seit Jem das weiß, ist sie am liebsten allein. Bis sie Spinne kennenlernt – und mit ihm das Leben. Sie ist glücklich, zum ersten Mal. Doch als die beiden zum London Eye, dem Riesenrad, fahren, passiert es: Um sie herum tragen alle dieselbe Zahl. Jem weiß: Etwas Furchtbares wird passieren. Heute. Hier. Fluchtartig verlassen Spinne und sie das Gelände – und werden zu Gejagten … Ein atemberaubender Thriller mit Tiefgang, nominiert für den Jugendliteraturpreis

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CARLSEN Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.Ein Chicken House-Buch im Carlsen Verlag © der deutschen Erstausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2010 © der englischen Originalausgabe by The Chicken House, 2 Palmer Street, Frome, Somerset, BA11 1DS Text © Rachel Ward The author has asserted her moral rights. All rights reserved. Originaltitel: Numbers Umschlaggestaltung: Gundula Hißmann und Andreas Heilmann, Hamburg Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn Layout und Herstellung: Steffen Meier Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-646-92006-2 Alle Bücher im Internet unterwww.chickenhouse.de und www.carlsen.de

KAPITEL 01

Es gibt bestimmte Orte, wo wir uns rumtreiben. Traurige Jugendliche, schäbige Jugendliche, gelangweilte Jugendliche, einsame Jugendliche; Jugendliche, die anders sind. Wenn du weißt, wo du suchen musst, kannst du uns dort an jedem Tag der Woche finden: auf der Rückseite von Geschäften, in irgendwelchen Hintergassen, unter Brücken an Kanälen und Flüssen, in der Nähe von Tankstellen, in Bretterschuppen und Schrebergärten. Es gibt Tausende von uns. Das heißt, wenn du uns finden willst – die meisten Menschen wollen das ja gar nicht. Wenn die uns sehen, schauen sie weg, tun so, als ob wir nicht da wären. Das ist leichter. Vergiss die ganze Scheiße von wegen, jeder bekommt seine Chance – wenn sie uns sehen, sind sie froh, dass wir nicht mit ihren Kindern auf dieselbe Schule gehen, den Unterricht stören und ihnen das Leben zur Hölle machen. Genau das denken auch die Lehrer. Glaubst du, die sind enttäuscht, wenn wir morgens nicht im Unterricht erscheinen? Einen größeren Gefallen können die mir doch gar nicht tun, sagen die Lehrer – sie wollen uns nicht in ihren Klassen haben und wir wollen auch gar nicht hin.

Die meisten hängen in kleinen Gruppen zusammen, zu zweit oder dritt, und vertreiben sich die Zeit. Ich, ich bin lieber allein. Ich mag das, Orte zu finden, wo niemand ist – wo ich niemanden anschauen und seine Zahl sehen muss.

Deshalb war ich sauer, als ich zu meinem Lieblingsplatz unten am Kanal kam und feststellen musste, dass da schon jemand war. Wenn es bloß irgendein Fremder gewesen wär, irgendein alter Penner oder Junkie, wär ich woanders hingegangen, kein Problem, aber leider war es einer aus Mr McNultys »Spezialklasse«: der ruhelose, schlaksige, großmäulige Typ, den alle Spinne nannten.

Er lachte, als er mich sah, kam sofort auf mich zu und fuchtelte mir mit dem Finger vor dem Gesicht rum: »Schlimmes Mädchen! Was machst du denn hier?«

Ich zuckte die Schultern und sah auf den Boden.

Er redete weiter auf mich ein. »Konntest wohl den Nuller keinen Tag länger ertragen. Mach dir nichts draus, Jem – der ist ein Psycho. Der dürfte gar nicht frei rumlaufen, dieser Typ, stimmt’s?«

Spinne ist groß, riesig. So einer, der dir zu dicht auf die Pelle rückt und nicht merkt, wann es besser ist, sich zurückzuziehen. Ich nehm an, deshalb ist er auch in der Schule ständig in irgendwelche Schlägereien verwickelt. Die ganze Zeit hängt er dir vorm Gesicht rum und du riechst ihn. Selbst wenn du dich wegduckst und umdrehst, ist er noch da – er versteht keine Andeutungen, nimmt keine Zeichen wahr. Die Kapuze schränkte meine Sicht ein, doch als er direkt vor mir auftauchte und ich instinktiv den Kopf von ihm wegdrehte, trafen sich einen Moment lang unsere Blicke und da war sie. Seine Zahl. 15122010. Das war der zweite Grund, warum ich mich in seiner Nähe unwohl fühlte. Arme Sau – damit hat er doch null Chancen.

Jeder hat eine Zahl, ich glaub nur, dass ich die Einzige bin, die sie sieht. Na ja, richtig »sehen« kann ich sie eigentlich nicht; die Zahlen tauchen irgendwie in meinem Kopf auf. Ich fühl sie, irgendwo hinter den Augen. Doch sie sind wahr. Ist mir egal, ob du’s glaubst oder nicht – mach, was du willst, aber ich weiß, dass sie stimmen. Und ich weiß, was sie bedeuten. Der Groschen fiel, als meine Mutter starb.

Die Zahlen hatte ich schon immer gesehen, solange ich mich erinnern kann. Ich hatte gedacht, jeder würde sie sehen. Wenn ich die Straße entlangging und jemandem in die Augen sah, tauchte sie plötzlich auf, seine Zahl. Ich plapperte die Zahlen vor mich hin, als meine Ma mich im Buggy durch die Gegend schob. Ich dachte, es würde ihr gefallen. Sie würde mich für klug halten. Ja, echt.

Wir waren also auf der High Street unterwegs zum Sozialamt, um die wöchentliche Stütze abzuholen. Donnerstag war gewöhnlich ein guter Tag. Bald würde sie in dem verbarrikadierten Haus bei uns in der Straße einkaufen und dann für ein paar Stunden glücklich sein. Sämtliche verkrampften Muskeln in ihrem Körper würden sich entspannen, sie würde mit mir reden, mir vielleicht sogar vorlesen. Ich rief also, während wir die Straße entlangliefen, fröhlich die Zahlen der Leute aus. »Zwei, eins, null, vier, zwei, null, eins, neun! Null, sieben, null, zwei, zwei, null, vier, sechs!«

Plötzlich hielt sie den Buggy abrupt an und schwang ihn herum in ihre Richtung. Sie ging in die Hocke, hielt beide Seiten des Rahmens mit ihren Händen umklammert und bildete mit ihrem Körper einen Käfig, der mich so eng umschloss, dass ihre Adern stärker hervorstachen und ich die blauen Flecken und Einstiche deutlicher erkennen konnte als je zuvor. Sie schaute mir scharf in die Augen, die Wut stand ihr klar ins Gesicht geschrieben. »Hör zu, Jem«, sie spuckte die Worte aus. »Ich weiß nicht, was du da brabbelst. Aber hör auf. Es macht mich wahnsinnig, ich kann das heute nicht brauchen. Kapiert? Ich kann es nicht brauchen, also verdammt noch mal … halt … die … Klappe.« Ihre Silben stachen wie wild gewordene Wespen, das Gift sprühte nur so. Und die ganze Zeit, die wir uns Auge in Auge anstarrten, war ihre Zahl da, eingeprägt auf der Innenseite meines Schädels: 10102002.

Vier Jahre später sah ich, wie ein Mann in schmuddeligem Anzug auf ein Blatt Papier schrieb: Datum des Todes: 10. 10. 2002. Ich hatte Ma morgens gefunden. Ich war aufgestanden wie jeden Morgen, hatte mein Schulzeug angezogen und mir ein bisschen Müsli zurechtgemacht. Ohne Milch, denn die stank, als ich sie aus dem Kühlschrank nahm. Ich ließ den Karton draußen stehen, setzte den Kessel auf und aß meine Kokosflocken, während das Wasser heiß wurde. Dann machte ich Ma einen schwarzen Kaffee und trug ihn vorsichtig zu ihr ins Zimmer. Sie lag noch im Bett, hing aber irgendwie halb raus. Die Augen standen offen, ihr Körper und die Decke waren voll Zeug – Erbrochenem. Ich stellte den Kaffee auf den Boden, direkt neben die Spritze.

»Ma?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass sie nicht antworten würde. Es war niemand mehr da. Sie war tot. Und ihre Zahl war auch weg. Ich erinnerte mich an die Zahl, aber sehen konnte ich sie nicht mehr, wenn ich in Mas trübe, leere Augen blickte.

Ich stand ein paar Minuten da, ein paar Stunden – keine Ahnung –, dann ging ich runter und sagte der Frau in der Wohnung einen Stock tiefer Bescheid. Sie ging nach oben, um nachzuschauen. Ließ mich draußen vor der Wohnung warten, als ob ich es nicht längst gesehen hätte, dumme Kuh. Sie war höchstens dreißig Sekunden verschwunden, dann spurtete sie an mir vorbei und übergab sich im Hausflur. Als sie fertig war, wischte sie sich mit ihrem Taschentuch den Mund ab, nahm mich mit in ihre Wohnung und rief einen Krankenwagen. Danach kamen all diese Menschen: Leute in Uniform – Polizei, Sanitäter; Leute in Anzügen – wie der Mann mit dem Klemmbrett und dem Blatt Papier und eine Frau, die mit mir sprach, als wär ich dämlich, und mich wegbrachte, einfach so, von dem einzigen Ort, den ich bis dahin kannte.

In ihrem Wagen, als wir wer weiß wohin fuhren, musste ich immer wieder dran denken. Diesmal nicht an die Zahlen, sondern an die Wörter. Drei Wörter. Datum des Todes. Datum des Todes. Wenn ich die Bedeutung doch bloß gekannt hätte, vielleicht hätte ich es ihr ja sagen, sie dazu bringen können, aufzuhören, was weiß ich. Was hätte es genützt? Wenn sie gewusst hätte, dass wir bloß sieben gemeinsame Jahre hatten? Hätte es was gebracht? Scheiße, verdammt – sie war ein Junkie. Es gab nichts auf der Welt, was sie dazu hätte bringen können, aufzuhören. Sie war süchtig.

Es gefiel mir nicht, mit Spinne da unter der Brücke zu sein. Klar, wir waren draußen, trotzdem fühlte ich mich irgendwie eingeschlossen, gefangen mit ihm. Er füllte alles mit seinen schlaksigen Armen und Beinen, die dauernd – fast zuckend – in Bewegung waren, und mit seinem Gestank. Ich duckte mich an ihm vorbei und lief auf den Treidelpfad.

»Wo willste denn hin?«, rief er mir nach und seine Stimme hallte von den Betonwänden zurück.

»Einfach rumlaufen«, murmelte ich.

»Genau«, sagte er, während er aufholte. »Rumlaufen und quatschen. Rumlaufen und quatschen.« Und rückte heran, dicht an meine Schulter, berührte mich. Ich ging weiter, den Kopf gesenkt, die Kapuze über dem Kopf, mit eingeschränkter Sicht auf Kieselsteine und Müll, die sich unter den Turnschuhen bemerkbar machten. Er ging neben mir. Wir müssen total bescheuert ausgesehen haben, ich ziemlich klein für meine fünfzehn Jahre und er wie eine schwarze Giraffe auf Speed. Er versuchte ein bisschen zu reden, ich ignorierte ihn. Hoffte, er würde aufgeben und verschwinden. Aber keine Chance. Ich hätte vermutlich sagen müssen: »Verpiss dich!«, um ihn loszuwerden, doch selbst dann wär er wahrscheinlich nicht abgehauen.

»Du bist also neu hier in der Gegend, ja?«

Ich zuckte die Schultern.

»Von deiner alten Schule geflogen?

Böses Mädchen gewesen, was?«

Von der Schule geflogen, aus meinem letzten »Zuhause« geflogen, genau wie aus dem davor und aus dem davor auch. Die Leute scheinen nicht zu begreifen, was mit mir los ist. Nicht zu verstehen, dass ich ein bisschen Platz brauche. Ständig sagen sie mir, was ich tun soll. Sie glauben, wenn du die Regeln befolgst, saubere Finger hast und dich anständig benimmst, wird alles gut. Die haben doch keine Ahnung.

Er griff in seine Tasche. »Willste ’ne Kippe? Ich hab welche, hier.«

Ich blieb stehen und schaute zu, wie er eine zerknitterte Packung herauszog. »Na gut.«

Er reichte mir eine Zigarette und gab mir Feuer. Ich beugte mich vor, zog, bis sie brannte, und sog gleichzeitig etwas von seinem Gestank ein. So schnell es nur ging, fuhr ich zurück und atmete wieder aus. »Danke«, murmelte ich.

Er zog an seiner Zigarette, als ob es das Schönste auf der Welt wär, dann blies er den Rauch demonstrativ aus und lächelte. Und ich dachte: Nur noch weniger als drei Monate, dann ist alles vorbei. Und das Einzige, was der arme Scheißkerl hat, ist Schule schwänzen und rauchen am Kanal. Nicht gerade das, was man Leben nennt, oder?

Ich setzte mich auf einen Stapel alter Eisenbahnschwellen. Durch das Nikotin fühlte ich mich etwas weniger gereizt, aber Spinne brachte nichts zur Ruhe. Er stand auf, setzte sich wieder, kletterte auf die Schwellen, sprang herunter, balancierte auf den Fußballen am Kanalrand und sprang wieder zurück. Ich dachte: Genauso wird er sterben, das arme Schwein. Er springt von irgendwas runter und bricht sich dabei den Hals.

»Sitzt du eigentlich nie still?«, fragte ich ihn.

»Nee, bin doch keine Statue. Keine Wachsfigur wie bei Madame Tussaud. Ich hab echt ’n Haufen Energie, Mann.« Und er führte einen kleinen Tanz vor. Was mich zu einem Lächeln zwang. Konnte nichts dagegen tun. War wie das erste Mal seit Jahren. Er grinste zurück.

»Hast echt ’n hübsches Lächeln«, meinte er.

Das war’s. Ich mag keine persönlichen Kommentare. »Verpiss dich, Spinne«, sagte ich. »Verpiss dich einfach.«

»Entspann dich, Mann. Hab’s nicht so gemeint.«

»Ja, gut … ich mag’s einfach nicht.«

»Und du magst auch keine Leute angucken, stimmt’s?«

Ich zuckte die Schultern.

»Die Leute denken, du hältst dich für was Besonderes, so wie du immer nach unten siehst und nie jemandem in die Augen.«

»Ist auch persönlich. Ich hab meine Gründe.«

Er drehte sich um und kickte einen Stein in den Kanal. »Von mir aus. Hör zu, ich werd nie wieder was Nettes zu dir sagen, einverstanden?«

»Einverstanden«, antwortete ich. In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Ein Teil von mir wollte es mehr als alles andere auf der Welt – jemanden haben, mit dem ich rumhängen, mit dem ich für eine Weile wie alle andern sein konnte. Doch der Rest schrie, ich sollte verdammt noch mal abhauen und mich nicht einlullen lassen. Du gewöhnst dich an ihn – fängst sogar an ihn zu mögen – und dann verlässt er dich. Am Ende machen sie alle die Fliege. Ich sah Spinne an, wie er rastlos von einem Fuß auf den andern hüpfte, plötzlich nach ein paar Steinen griff und sie ins Wasser warf. Lass dich nicht drauf ein, Jem, dachte ich. In ein paar Monaten ist er tot.

Während er mir den Rücken zuwandte, erhob ich mich leise von den Eisenbahnschwellen und rannte los. Ohne Erklärung, ohne Abschied.

Ich hörte, wie er mir hinterherrief: »Hey, wo willste denn hin?« Ich wollte, dass er zurückblieb und mir nicht folgte. Seine Stimme verlor sich, als ich ein Stück weit von ihm weg war. »Okay, wie du willst. Dann bis morgen, Mann.«

KAPITEL 02

Nuller ließ die Peitsche knallen. Jemand musste ihm ans Bein gepinkelt haben – wie auch immer, er hatte uns jedenfalls eindeutig auf dem Kieker. Kein Rumlamentieren, keine Widerworte, Köpfe runter. Englischtest, dreißig Minuten. Das Dumme ist, wenn jemand sagt, ich soll etwas machen, hab ich ein Problem. Ich möchte am liebsten antworten, verpiss dich, ich mach es, wann ich’s für richtig halte. Selbst wenn es was ist, was ich wirklich tun möchte. Wozu das hier nicht zählte. Versteh mich nicht falsch, ich kann lesen, mehr oder weniger, aber es geht nicht sonderlich schnell. Mein Kopf braucht irgendwie Zeit, die Wörter zu ordnen. Wenn ich versuche schnell zu lesen, verheddert sich alles und die Wörter haben keine Bedeutung.

Wie auch immer, ich versuchte jedenfalls diesmal mein Bestes zu geben. Wirklich. Karen, meine Pflegemutter, hatte mir den Kopf gewaschen von wegen Schule schwänzen. Du weißt ja sicher, wie das so läuft. »Wird Zeit, dass du dich endlich mal auf deinen Hintern setzt … Ist doch wichtig, dass du gute Noten bekommst … Das Leben ist kein Zuckerschlecken …« Sie hatte mit der Schule gesprochen, mit dem Sozialarbeiter – den üblichen Verdächtigen – und mir war klar, dass ich das ganze Theater nicht schon wieder wollte. Ich würde alles mitmachen, eine Weile den Kopf einziehen und mir ein bisschen Luft zum Atmen verschaffen.

Die andern waren ausnahmsweise auch ruhig. Sie hatten Nullers schlechte Laune erkannt und beschlossen, ihn nicht noch zu reizen. Es gab ein bisschen Gescharre und Gestöhne, aber im Grunde saßen alle still und arbeiteten – oder taten zumindest so –, als plötzlich, ohne jede Vorwarnung, jemand in den Klassenraum platzte. Die Tür schwang auf, knallte gegen die Wand und Spinne krachte herein, als ob er aus einer Kanone abgefeuert worden wäre. Er stolperte über seine eigenen Füße und flog fast hin. Sofort war die Arbeitsatmosphäre dahin. Sie johlten, jubelten und brüllten ihm entgegen.

Nuller blieb unbeeindruckt. »Was denkst du dir dabei, hier so reinzuplatzen? Geh wieder raus auf den Flur und komm in die Klasse zurück wie ein zivilisiertes menschliches Wesen.«

Spinne sackte mit einem übertriebenen Seufzer nach vorn und verdrehte die Augen in Richtung Decke. »Ach, kommen Sie, Sir. Jetzt bin ich doch schon drin, oder? Hier bin ich.«

McNulty sprach leise, aber mit Nachdruck, wenn du verstehst, was ich meine, so als ob er gerade dabei wär, den Deckel auf etwas zu halten. »Tu einfach, was ich dir sage, und wir fangen noch mal von vorn an.«

»Wieso tun Sie das, Sir? Ich muss nicht hier sein, aber ich bin trotzdem da. Ich bin bereit zu lernen, Sir.« Ein ironischer Blick auf den Rest von uns und ein Gejohle brach los. »Wieso müssen Sie mich fertigmachen?«

Nuller holte tief Luft. »Ich weiß zwar nicht, was dich bewogen hat, heute herzukommen, aber irgendeinen Grund wird es wohl geben. Wenn du also mitmachen willst, und ich hoffe, das ist der Fall, wirst du jetzt noch mal hinausgehen, leise wieder hereinkommen, wie ich es von dir verlangt habe, und danach können wir den Unterricht fortsetzen.«

Es gab eine lange Pause, in der sie sich gegenseitig ins Visier nahmen. Wir anderen warteten, wie es ausgehen würde. Ausnahmsweise hielt Spinne mal still, stand nur da, starrte Nuller an und wippte mit dem einen Fuß. Dann drehte er sich um und ging hinaus, einfach so. Alle in der Klasse sahen zu, wie er verschwand, und starrten auf den Türrahmen. War er endgültig gegangen? Ein leises Raunen erhob sich, als er wieder erschien, aufrecht in voller Größe und cool wie sonst was. Auf der Schwelle blieb er stehen. »Guten Morgen, Sir«, sagte er und nickte in Nullers Richtung.

»Guten Morgen, Dawson.« In McNultys Blick lag Argwohn, er war sich nicht sicher, wie er Spinnes vermeintlichen Rückzieher aufnehmen sollte. Er machte sich Sorgen, weil der Sieg so einfach gewesen war. Dann legte er das Blatt mit dem Test, Stift und Papier auf Spinnes Tisch. »Setz dich, Junge, und mach das Beste draus.« Spinne schlenderte hinüber zu seinem Platz, während McNulty wieder nach vorn ging, dastand und uns beobachtete. »Okay, beruhigt euch wieder. Noch fünfundzwanzig Minuten. Mal sehen, was ihr könnt.«

Aber Spinnes unerwartete Rückkehr hatte die Stimmung gekippt. Wir waren jetzt fahrig, eine gewisse Erregung lag in der Luft. Alle zappelten herum; es gab Widerworte, Stuhlbeine scharrten über den Boden. McNulty meckerte ständig an den Leuten rum und versuchte wieder die Oberhand zu gewinnen. »Augen aufs Papier, bitte«, »Behaltet die Hände bei euch.« Er führte einen aussichtslosen Kampf.

Was mich anging, so schwammen und tanzten die Worte vor meinen Augen. Sie waren bedeutungslos, ein Muster, nicht mehr, wie Chinesisch oder Arabisch. Denn ich konnte nicht aufhören mich zu fragen, ob ich der Grund für Spinnes Rückkehr war. Unten am Kanal glaubte ich so was wie Sympathie zu spüren, das hatte mich abgeschreckt. Seitdem hatte ich ihn gemieden, aber es gab auch keinen Grund anzunehmen, dass er noch einen weiteren Gedanken an mich verschwendet hatte, bis jetzt. Denn ich hätte schwören können, dass er mir zublinzelte, als er zu seinem Platz schlenderte. Dreister Arsch. Was glaubte der eigentlich, wer er war?

Nach dem Mittagessen hatte Nuller die Schnauze voll. Angesichts des ganzen Hintergrundgetöses, Gelächters und allgemeinen Geplappers blieb er plötzlich stehen. »Okay, Bücher weg, Stifte weg, Papier weg. Alle. Sofort!« Was hatte er vor? »Los, macht schon. Sämtliche Sachen vom Tisch. Wir müssen reden.« Verdrehte Augen, Gähnen – ja, wir haben’s kapiert, jetzt kommt mal wieder eine Predigt. Wir steckten unsere Sachen in die Mappen oder stopften sie in irgendwelche Hosentaschen und warteten auf die übliche Standpauke. »Inakzeptables Verhalten … macht euch nur selbst zum Idioten … mangelnder Respekt …« Aber sie kam nicht.

Stattdessen lief er zwischen den Tischen entlang, blieb bei jedem von uns stehen und sagte irgendwas, bevor er zum Nächsten ging. »Arbeitslos.« – »Kassiererin.« – »Müllabfuhr.« Als er zu mir kam, blieb er nicht einmal stehen. »Putzfrau«, sagte er im Vorbeigehen. Er marschierte wieder nach vorn, drehte sich um und sah uns an. »Okay, was war das für ein Gefühl?«

Wir starrten auf unseren Tisch oder aus dem Fenster. Wir fühlten uns genau so, wie er es wollte. Wie Scheiße. Wir wussten, was uns erwartete, wenn wir die Schule verließen, wir brauchten keinen aufgeblasenen Arsch, um uns daran zu erinnern.

Dann platzte Spinne heraus: »Ich fühl mich gut, Sir. Ist doch bloß Ihre Meinung, oder nicht? Scheiß drauf. Ich kann alles machen, was ich will.«

»Nein, Dawson, genau das ist der Punkt, und ich will, dass mir jeder genau zuhört. Mit dieser Haltung, die ihr zurzeit an den Tag legt, werdet ihr genau dort enden. Aber wenn ihr euch ein bisschen mehr anstrengt, euch konzentriert und wirklich etwas aus eurem letzten Jahr hier macht, könnte es vielleicht anders werden. Wenn ihr euren Abschluss macht und die Schule euch ein gutes Zeugnis ausstellt, könnt ihr weitaus mehr erreichen.«

»Meine Ma sitzt auch an der Kasse.« Das war Charmaine, zwei Plätze von mir entfernt.

»Ja, und daran ist nichts auszusetzen, aber du, Charmaine, könntest die Filialleiterin werden, wenn du nur wolltest. Ihr müsst alle ein bisschen weiterdenken und sehen, was ihr erreichen könntet. Wie sieht eure Vorstellung von der Zukunft aus? Na los, was werdet ihr in einem, in zwei, in fünf Jahren tun? Laura, du beginnst.«

Er ging durch den Klassenraum. Die meisten hatten keine Ahnung. Oder vielmehr, sie wussten, dass seine erste Einschätzung ziemlich korrekt war. Als er zu Spinne kam, hielt ich den Atem an. Der Junge ohne Zukunft, was würde er sagen?

Natürlich stellte sich Spinne dieser Herausforderung. Er saß auf der Rücklehne seines Stuhls, als würde er zu einer größeren Menge sprechen. »In fünf Jahren, da fahr ich in meinem schwarzen BMW durch die Straßen, hab ’nen heißen Sound in der Anlage und jede Menge Zaster.« Die andern Jungs johlten.

McNulty sah ihn mit einem vernichtenden Blick an. »Und wie willst du das schaffen, Dawson?«

»Bisschen hier was, bisschen da was, Sir. Kaufen und verkaufen.«

McNultys Gesicht veränderte sich. »Diebstahl, Dawson? Drogenhandel?«, fragte er frostig. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin wirklich sprachlos, Dawson. Das Gesetz brechen, dealen. Ist das alles, was dir einfällt?«

»Es ist der einzige Weg, wie unsereins an Geld kommt, Mann. Was fahren Sie für ’ne Karre, Sir? Den kleinen roten Astra da draußen auf dem Parkplatz? Als Lehrer? Nach zwanzig Jahren Unterricht? Ich sag Ihnen was, ich werd garantiert nie ’nen Astra fahren.«

»Setz dich hin, Dawson, und halt den Mund. Noch jemand? Was ist mit dir, Jem?«

Woher sollte ich wissen, was aus mir wird? Ich wusste ja nicht mal, wo ich in einem Jahr wohnen würde. Warum tyrannisierte uns dieser Mann, warum ließ er zu, dass wir uns derart quälten? Ich holte tief Luft und sagte so freundlich, wie ich nur konnte: »Ich, Sir? Ich weiß, was ich will.«

»Oh, gut, erzähl.«

Ich zwang mich, ihm scharf in die Augen zu sehen. 25122024. Wie alt war er jetzt? Achtundvierzig? Neunundvierzig? Er würde also um die Zeit seiner Pensionierung abtreten. Auch noch am ersten Weihnachtstag. Das Leben ist grausam. Für den Rest der Familie wäre Weihnachten auf immer versaut. Geschieht ihm recht, diesem grausamen Scheißkerl.

»Sir«, sagte ich, »ich möchte genauso sein … wie … Sie.«

Einen Moment lang hellte sich sein Gesicht auf und ein leichtes Lächeln trat hervor, dann merkte er, dass ich ihn verarschte. Sein Gesicht versteinerte und er schüttelte den Kopf. Sein Mund bildete eine scharfe Linie, du konntest genau sehen, wie die Knochen hervorstachen, als er die Zähne zusammenbiss.

»Holt eure Mathebücher heraus«, bellte er. »Ich vergeude bloß meine Zeit«, murmelte er vor sich hin. »Vergeude bloß meine Zeit.«

Als wir die Klasse verließen, klatschte mich Spinne ab. Normalerweise machte ich so was nicht, doch meine Hand hatte ihren eigenen Willen und fuhr nach oben, um seine zu berühren.

»Gefällt mir, deine Art, Mann«, sagte er und nickte zur Bestätigung. »Den haste echt fertiggemacht. Klarer Sieg.«

»Danke«, antwortete ich. »Spinne?«

»Ja.«

»Du nimmst doch keine Drogen, oder?«

»Nee, keine harten. Hab ihn nur verarscht. Geht manchmal echt einfach, was? Läufste nach Hause?«

»Nein, muss noch nachsitzen.« Ich wollte mich ein paar Minuten zurückziehen, die Massen von Jugendlichen ausdünnen lassen. Karen würde draußen vor dem Schultor warten. Sie brachte mich zurzeit jeden Tag zur Schule und holte mich auch wieder ab, so lange, bis ich mir »ihr Vertrauen verdient« hatte. Auf gar keinen Fall sollte mich irgendwer mit ihr zusammen sehen.

»Bis dann.«

»Ja, bis dann.« Er ließ seine Tasche fallen, kickte sie durch die Klassentür und folgte ihr. Und während ich ihn beobachtete, dachte ich: Verdammt, halt dich bloß von Drogen fern, Spinne. Die sind gefährlich.

KAPITEL03

Es war einer dieser grauen Novembertage, an denen es überhaupt nicht richtig hell wird. Der Regen fiel nicht wirklich– er war einfach da, hing in der Luft, legte sich aufs Gesicht und löschte alles. Ich spürte, wie er in mein Kapuzenshirt drang, weil die Schultern und der ganze obere Teil des Rückens kalt wurden. Wir standen hinter dem Einkaufszentrum, wo die grauen Betonplatten der Wände auf das triste grüne Band des Kanals stießen.

»Wir sollten reingehen, da ist es wenigstens trocken«, schlug ich vor. Spinne zuckte die Schultern und schniefte. Selbst seine Bewegungen waren heute reduziert, als ob das Wetter ihn schwächte.

»Kein Geld. Außerdem sind die Wachleute hinter mir her.«

»Hier bleib ich jedenfalls nicht. Ist mir zu kalt, zu unangenehm und zu langweilig.«

Spinne fing meinen Blick auf. »Und sonst?«

»Ist es scheiße.«

Er schnaubte anerkennend, dann wirbelte er herum und lief den Treidelpfad entlang. »Los, komm, wir gehn zu mir. Ist nur meine Oma zu Hause und die ist okay.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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