Nur ein paar Nächte - Fabian Neidhardt - E-Book

Nur ein paar Nächte E-Book

Fabian Neidhardt

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Beschreibung

Dafür aber 1000 Liebe Von einem alleinerziehenden Vater und einer Tochter, die sich kaum bändigen lässt, von Nähe und Loslassen, von Entscheidungen, die das Leben verlangt. Ben ist Mitte dreißig, er zieht allein seine 12-jährige Tochter Mia groß – und: er hat sich in seinem Leben eingerichtet. Was aber, wenn sich plötzlich alles verändert? Denn: Bens Vater steht vor der Tür und muss für ein paar Nächte bei ihm unterkommen, weil er seine Frau, Bens Mutter, betrogen hat. Außerdem bringt die Polizei Mia nach Hause, die auf eigene Faust nach Hamburg reisen wollte. Um ihre Mutter zu suchen. Um endlich Antworten zu finden. Was bedeutet es, als Frau keine Mutter werden zu wollen? Auf der anderen Seite – und für Mia nicht greifbar: Orna. Bens große Liebe und Mias Mama. Die Beziehung zu Ben war gerade beendet, als Orna den Test macht. Sie: wollte nie Kinder. Er: konnte keine bekommen, eigentlich. Was für Ben eine einmalige Chance war, Vater zu werden, war für Orna die Idee von einem Leben, für das sie sich nie entschieden hat. Die beiden machen einen Deal: Orna behält das Baby, bringt es zur Welt; Ben wird das Kind großziehen. So war es seit Beginn der Schwangerschaft vereinbart. Ein rauschender Text über die Beschaffenheit von Beziehungen, über Gefühle für- und zueinander, über Familie Mit dem eigenen Vater im Haus muss Ben sich nun dagegen wehren, automatisch wieder Kind zu werden. Und er muss gleichzeitig selbst der beste Vater sein, weil seine Tochter gerade nicht da, nicht bei ihm, sein will. Ein Wochenende bleibt Zeit, um Generationen an Unausgesprochenem zu artikulieren, um Fehler zu akzeptieren, neue zu machen und sich zu entschuldigen. Sich einzugestehen, dass es kein Versagen auf ganzer Linie ist, zuerst das verletzte Kind in sich selbst heilen zu müssen, um sich besser um das eigene kümmern zu können. *** "Fabian Neidhardt schreibt wie geschnitzt und schafft es dennoch, dabei nie hölzern zu werden: In großer Wärme erzählt er von den Ecken und Kanten seiner Protagonist:innen, von dem Monstrum und Glück, das sich Familie nennt." Marie Gamillscheg, Autorin ***

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Seitenzahl: 284

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Fabian Neidhardt

Nur ein paar Nächte

Roman

Inhalt

Umschlag

Titel

Widmung

Motto

Vorspann

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Abspann

Über den Autor

Hinweis zu möglichen Triggern

Impressum

Für Elsa, Lin und Alma

Die Zukunft ist schon da – sie ist nur noch nicht sauber verteilt.

– William Gibson

Vögel benutzen nicht nur ihre Schnäbel, um zu bauen. Sie pressen ihre Brust gegen die Innenwand, um sie rund zu machen, und prägen damit ihrem Zuhause ihre Umrisse auf: ein Interieur, geformt vom beständigen Rhythmus ihrer schlagenden Herzen.

– Janine Burke in „Nest“

Vorspann

Ihre Periode war ein paar Tage überfällig, was schon ein paar Mal passiert war, wenn sie Stress hatte oder es ihr nicht gutging. Aber jetzt fühlte es sich anders an. Sie hatte eine Ahnung gehabt und an nichts anderes denken können, bis sie den Schwangerschaftstest gekauft hatte, zurück nach Hause gelaufen und ins Klo gestürmt war, um auf den Streifen zu pinkeln.

Sie starrte das Plastik an, sah dem ersten blauen Strich zu, wie er stärker wurde, und schaute dann so lange auf das andere Feld, bis der zweite eindeutig zu erkennen war.

Dann saß sie auf der Toilette und schaute durch die offene Tür in den Flur und die leere Wohnung, ein Kribbeln auf der ganzen Haut, und zu allen Versionen der Zukunft mit einem Kind sagte sie Nein.

1

Die Musik geht aus, das Handy leuchtet auf und all die Konzentration ist weg. Ben atmet aus und schüttelt den Kopf. Auf dem Display steht Mama und Papa und der Pfeil fordert ihn auf, den Anruf anzunehmen.

Er redet gern mit seiner Mutter. Aber er kann später noch erzählen, dass alles okay ist und er genug isst und es Mia gut geht. Ben starrt das Handy an, bis das Display dunkel wird und die Musik wieder einsetzt. Dann dreht er es um. Nur um gleich darauf nochmal auf die Uhr zu schauen.

Es ist Freitag, er hat noch etwa eine Viertelstunde, bis Mia von der Schule kommt. Dann werden sie gemeinsam kochen. Was bedeutet, dass er kocht und Mia danebensitzt und von der Schule erzählt und hofft, dass er vergisst, nach dem Essen mit ihr die Hausaufgaben zu machen, damit sie mit Tamay spielen gehen kann.

Vorher will Ben anfangen, den ersten Schnitt in dieses neue Holz zu setzen. Noch könnte aus diesem länglichen Stück Eiche alles werden. Eine hochgewachsene Kriegerin. Ein Junge mit einem Luftballon. Vielleicht auch Pikachu oder doch ein weiterer verzierter Löffel. Das wird er dann wissen, wenn er den ersten Schnitt gemacht hat und sieht, wohin ihn das Holz führt. Was in ihm steckt. Noch ist alles offen und Ben kann keine Fehler machen. Das ist der schwerste Teil.

Er atmet ein, lässt das Messer über der rauen Oberfläche schweben. Und die Musik geht wieder aus. Ben bläst die Luft geräuschvoll aus, spürt sie an seiner Zunge entlanggleiten und greift nach dem Handy. Erst lächeln, dann abheben.

„Mama, alles in Ordnung? Kann ich dich später zurückrufen? Ich muss noch was fertig machen für morgen.“

Das Messer kreist über dem Holz und bleibt dann über der perfekten Stelle hängen. Er setzt die Spitze sanft auf und wie von alleine arbeitet sie sich ein kleines Stück in das Holz. Jetzt muss er nur noch schnell auflegen. Aber Ben hört die Tränen, bevor sie spricht.

„Dein Vater hat mit einer anderen geschlafen.“

Es klingelt an der Tür. Ben lässt das Messer los. Für einen Moment steht es im Holz, dann kippt es heraus und reißt ein Loch hinein. Eigentlich kann Mia noch nicht da sein. Aber vielleicht hat Rita sie mitgenommen. Er kann es wirklich nicht leiden, wenn sie zu faul ist, den Schlüssel aus dem Rucksack zu kramen, und stattdessen klingelt. Dafür muss er dann jedes Mal seine Arbeit unterbrechen und ihr die Tür öffnen, nur damit sie ihn ignorieren kann. Pubertät ist das Schlimmste. Dabei ist sie erst zwölf und da kommen noch ein paar anstrengende Jahre. Alles Gedanken, die im Hintergrund durch seinen Kopf gehen, während er zu verarbeiten versucht, was seine Mutter gerade gesagt hat.

„Was?“

„Thekla, seine Arbeitskollegin. Du kennst sie, sie hat uns manchmal besucht.“

Sie macht eine Pause, aber Ben sieht den Film, der auch vor ihrem Auge ablaufen muss. Sein Vater, der andere Leute zum Lachen bringt und gern unterhält. Der andern gern Dinge beibringt, sich dazusetzt und ganz begeistert zeigt, wie dies oder das funktioniert. Und diese Frau, die für Ben nur noch eine verblasste Erinnerung ist. Der Schemen eines Menschen, den er als Kind zwei- oder dreimal gesehen hat.

Seine Mutter atmet ein und der Film stockt, wirft Blasen und verbrennt.

„Er hat es mir vorhin gesagt. Wollte sich entschuldigen, aber das konnte ich nicht. Das wollte ich mir nicht anhören.“

Sie weint sich durch die Worte und hört sich an, als könne sie sich selbst nicht glauben.

„Was?“

„Ich habe ihn rausgeworfen.“

In den flirrenden Fetzen seiner Erinnerung hört Ben das Lachen der Frau, sieht seinen Vater, wie er sie zur Tür bringt und selbst auf eine Art lacht, die Ben selten gehört hat. Und da ist der Blick seiner Mutter, den er damals nicht verstanden hat, aber der jetzt Sinn ergibt. Es klingelt nochmal und für einen Moment fragt Ben sich, ob die Frau was vergessen hat. Dann schält sich die Erinnerung ab und er weiß wieder, dass das Mia ist. Die Haustür ist ein paar Räume weit entfernt, aber als sein Vater damals die Gebäude renoviert hat, hat er dafür gesorgt, dass die Klingel überall zu hören ist.

Bens Ärger kommt automatisch, wie er immer kommt, wenn ihn jemand bei der Arbeit stört. Er steht auf, geht durch den langen Flur zurück ins Haus und zur Tür. Und versucht gleichzeitig, zu begreifen.

„Papa hat dich betrogen?“

Milena schluchzt auf und Ben weiß nicht, wann er seine Mutter das letzte Mal hat weinen sehen. Aus Schmerz. Ob er das jemals gesehen hat. Oder gehört. Gänsehaut läuft seinen Rücken entlang und seine Kehle wird eng.

„Und wo ist er jetzt?“

Ein drittes Klingeln. Als ob Mia nicht wüsste, wie lang der Weg von der Werkstatt bis zur Haustür ist.

„Keine Ahnung. Ist mir egal.“

Ben spürt ihren Trotz durch die Trauer und die Tränen hindurch und er spannt sich an. Bereitet sich darauf vor, dass der Tag anders laufen wird, als er bis gerade eben gedacht hat.

„Soll ich kommen?“

Nimmt er Mia mit? Sie wird viele Fragen stellen und er hat keine Ahnung, wie er sie beantworten kann. Aber sie könnte Milena am besten trösten. Niemand umarmt so gut wie Mia.

„Nein. Ich brauche Zeit für mich. Ich wollte nur kurz anrufen. Sagst du Salome Bescheid? Danke.“

Ben hat die tote Leitung noch am Ohr, als er die Tür öffnet und sein Vater vor ihm steht. In der Hand der Aktenkoffer, den er schon vor 35 Jahren verwendet hat. Abgewetzt, die Schlüssel der kleinen Schlösser schon ewig verloren. Wie ein Vertreter, denkt Ben, wenn da nicht die Tasche in der anderen Hand wäre. Eine längliche Sporttasche, die Ben noch nie gesehen hat, und er weigert sich, jetzt darüber nachzudenken, wo diese Tasche bisher gewesen ist.

Emil nickt ihm zu, als komme er aus einer anderen Welt. Einer, in der er nicht gerade rausgeworfen wurde.

„Hallo Benaja. Kann ich für ein paar Tage hier wohnen?“

***

Vor zwölf Jahren war es andersherum gewesen. Ein düsterer Dienstagnachmittag, strömender Regen und Ben hielt seine Tochter fest an den Körper gedrückt. Mia streckte das Gesicht nach oben, lachte in den Regen und versuchte mit ihren kleinen Fingern, die Regentropfen in Bens Haaren zu greifen.

Fröhliche Geräusche an seinem Ohr, während er die Tränen zurückhielt.

Sein Vater öffnete die Tür und musterte Ben mit gerunzelten Augenbrauen. Wie er dastand, das nasse Gesicht, die brennenden Augen, das Kind auf seinem Arm, die hastig gepackte Tasche in der Hand.

Bis heute ist Ben sich nicht sicher, ob sein Vater einen Moment gezögert hat, bevor er ihn hat eintreten lassen. Er hat auch vergessen, ob er selbst etwas gesagt hat, bevor sein Vater es tat.

„Hätte ich dir auch gleich sagen können, dass das so endet. Komm rein.“

***

Ben lässt seinen Vater vorbei, schließt die Tür hinter ihm, folgt ihm mit steifen Beinen ins Wohnzimmer. Sein ganzer Körper ist starr und in seinem Kopf liegt ein Schatten auf seinen Gedanken. Er versucht, diese neuen Informationen irgendwie mit dem Mann vor sich zusammenzubringen.

„Ich will dich gar nicht stören, Junge. Ich musste nur schnell …“

Er zuckt mit den Schultern und Ben nickt.

„Deine Mutter, sie … Ich …“

Ben winkt ab, so schnell, dass sein Vater verstummt. Er sieht das Handy, das Ben immer noch in der Hand hat, versteht und starrt dann auf den Boden. Ben spürt sein Herz pochen, eine Mischung aus neuer Wut und alter Verletzung und brennenden Fragen, die er stellen will, obwohl er sich nicht sicher ist, ob er die Antworten überhaupt hören kann. Ob er diesen Film, den sein Vater gerade abspult, überhaupt sehen will.

Emil wendet sich ab und zeigt auf das Sofa, die Tasche immer noch in der Hand. Solche Taschen haben nur junge Menschen, die Sport machen, und sowieso passt hier nichts zusammen.

„Ich schlafe auf dem Sofa, ich will dir …“

Aber Ben schüttelt den Kopf.

„Du kannst mein Bett haben. Mein Rücken ist jünger als deiner.“

***

Er war klein, jünger als Mia jetzt. Onkel Heinrich und Onkel Zyga hatten seinen Papa ins Haus geschleppt, die Tür zur Speisekammer ausgehängt und ihn damit ins Bett gelegt. Bandscheibenvorfall. Jahrelang konnte Ben sich das nicht richtig vorstellen, das mit der Wirbelsäule und den gummiartigen Scheiben dazwischen und den Nerven, die sich durch den ganzen Körper ziehen. Papa verbrachte die Sommerferien auf der Tür. Die ganze Zeit lag er dort, die Beine mit einem Stuhl im rechten Winkel gehalten, weil er so weniger Schmerzen hatte. Und neben sich eine komisch geformte Plastikflasche, damit er zum Pinkeln nicht aufs Klo musste. Vielleicht war das das erste Mal, dass Ben klar wurde, dass sein Vater nicht alles konnte und alles wusste, sondern auch nur ein Mensch war, mit Schmerzen und Scheitern und Scham. Und irgendwo ganz tief drin war Ben dankbar für dieses Wissen. Erleichtert, dass nicht nur er Fehler machte.

***

Es klingelt wieder an der Tür. Ben schließt die Augen, schiebt den Ärger nach hinten, versucht, die Gefühle irgendwie auseinanderzuhalten und sich selbst irgendwie zusammen. Er zeigt auf den Koffer.

„Soll ich dir helfen? Hast du noch mehr Sachen?“

Wieder die Klingel, länger diesmal. Emil wirft einen Blick zur Tür.

„Willst du nicht aufmachen?“

Ben holt Luft, bevor er es verhindern kann.

„Benutz deinen Schlüssel!“

Der Schrei ist lauter und wütender, als Mia es verdient hat. Ben bereut ihn jetzt schon. Er wird sich später entschuldigen, aber gerade ist sein Kopf voller Chaos und er kann sich nicht auch noch darum kümmern.

Für einen Moment ist es still, sein Vater macht den Weg zwischen Ben und der Tür frei. Dann klopft es. Starke, bestimmte Schläge, die mit Sicherheit nicht von Mia kommen. Ben runzelt die Stirn und öffnet die Tür.

Mia schaut ihn betreten über den Rand ihrer dicken roten Brille an, als schäme sie sich für ihn. Neben ihr steht Tamay und sieht ziemlich erstaunt aus. Es kommt nicht oft vor, dass Ben laut wird, besonders Mia gegenüber nicht. Die Polizistin neben den beiden nickt Ben zu.

„Sind Sie Herr Berger? Wir haben die beiden am Busbahnhof eingesammelt. Sie wollten nach Hamburg.“

Mia umrundet Ben und wirft sich auf Emil, der aufkeucht. Dann zieht sie ihn die Treppe hoch und ignoriert Ben, der ihr hinterherruft. Er dreht sich wieder zur Polizistin.

„Tut mir leid. Das passiert gerade zum ersten Mal.“

Er zeigt auf Tamay.

„Soll ich ihn nach Hause bringen?“

Die Polizistin ist fast einen Kopf kleiner als er, ihre blonden Haare zu einem festen Knoten gebunden. Aber die Uniform und die Haltung flößen ihm automatisch Respekt ein. Sie schüttelt den Kopf auf eine Art, dass Ben sein Angebot nicht wiederholen will.

„Wir machen das schon.“

„Danke. Tamay, sag deiner Mum, ich melde mich später. Und dass es mir leidtut.“

Tamay zuckt mit den Schultern.

„Ich wollte schon immer mal Polizeiauto fahren. Sie hat sogar das Blaulicht angemacht.“

Die Polizistin lächelt zu Tamay hinunter, dann nickt sie Ben zu und dreht sich um.

Als Ben die Treppe nach oben geht, kommt ihm Emil entgegen. Stellt sich ihm nicht in den Weg, aber schüttelt den Kopf, mit dem betretenen Gesicht eines Menschen, der die schlechten Nachrichten überbringen muss. Früher hat er Ben so ins Haus gerufen, wenn es dunkel wurde und Rita und Anna und er noch mitten im Spiel waren. Auch da war er nie der strenge Vater, sondern überbrachte nur die schlechten Nachrichten der Mutter.

„Du kannst jetzt nicht mit ihr reden. Sie hat gesagt, sie muss jetzt Musik hören. Und ich soll die Tür zumachen.“

„Als ob das dich jemals davon abgehalten hat, in mein Zimmer zu kommen.“

***

Mia sitzt am Schreibtisch, mit dem Rücken zu Ben, sie hat ihre Kopfhörer übergezogen. Uralte riesige Ohrensofas, die eigentlich mal seinem Vater gehört haben und alles aushalten. Wut, Rucksäcke, Regen, die Rocky Horror Picture Show, einen Hund, Kinder. Mehrere Generationen.

Die Musik ist so laut gedreht, dass Ben sie durch die Polster hören kann. Der Time Warp. In besseren Zeiten haben sie ihn gemeinsam laut mitgesungen, sind durchs Wohnzimmer gehüpft und haben versucht, den Boden nicht zu berühren. Er hat ihr erst vor kurzem den Film gezeigt und er versucht, irgendwas hineinzulesen in die Tatsache, dass sie jetzt genau diese Musik hört. Er weiß, dass es bisher niemals eine Situation gegeben hat, in der es in Ordnung war, Mia die Kopfhörer von den Ohren zu ziehen. Er klopft auf ihre Schulter und sie dreht sich zu ihm, schaut ihn trotzig an.

Ben streicht sich mit den Fingern über den Rücken der linken Hand.

Entschuldigung. Ich wollte nicht schreien.

Mia hebt ungläubig die Brauen. Ben zeigt auf sich und dann auf seinen Kopf.

Ich dachte, du bist faul, willst deinen Schlüssel nicht nehmen. Die Polizei denkt jetzt, du hast einen bösen Papa.

Mia schmunzelt und zuckt mit den Schultern. Ben streicht sich mit den Fingerspitzen über die Brust, schüttelt den Finger und ballt die Faust.

Ich will nicht böse sein. Du weißt, ich liebe dich.

Sie verdreht die Augen.

Warum Hamburg?

Hamburg muss er buchstabieren. Wenn er das jemals in Gebärdensprache konnte, hat er es vergessen. Mia zieht die Kopfhörer ab, schiebt die Brille mit dem Zeigefinger wieder richtig auf die Nase.

„Warum ist Opa da?“

Weil er meine Mutter betrogen hat und irgendwie auch mich, oder zumindest das Kind in mir, und jetzt ist er so frech, einfach hier aufzutauchen und mich da mit reinzuziehen. Und überhaupt, was zum Teufel fällt dir ein, einfach in einen Bus steigen zu wollen? Und warum bitte Hamburg?

Nichts davon spricht Ben aus. Er spürt die Wut auf seinen Vater, den Ärger auf Mia, die Sorge um seine Mutter, seine eigene Verletzung, alles auf einmal und unkontrolliert. Mia hat nicht verdient, all das abzubekommen.

„Ich tausche meine Antwort gegen deine Antwort.“

Mia legt einen Finger an die Stirn, als müsse sie über das Angebot nachdenken. Sein Vater macht das auch, sie hat es sich vor Jahren bei ihm abgeguckt. Dann nickt sie, verschränkt die Arme.

„Du zuerst.“

„Okay. Opa wird für ein paar Tage hier wohnen.“

„Warum?“

Ben schüttelt den Kopf und beißt die Zähne zusammen, damit nicht einfach ein Schwall Emotionen herauskommt, der darin mündet, dass er immer lauter wird, bis Mia zu weinen anfängt und dann zurückbrüllt, ihn aus dem Zimmer schiebt und tagelang nicht mit ihm spricht. Er hebt den Finger.

„Nur eine Antwort. Jetzt du. Warum wolltest du nach Hamburg?“

Mia starrt an ihm vorbei und bewegt lautlos die Lippen, als würde sie Antworten ausprobieren.

„Ein bisschen lauter, bitte.“

„Ich wollte meine Mama sehen. Sie wohnt dort.“

Etwas sehr Kaltes zieht Ben den Rücken hinauf und er spürt die Gänsehaut auf Nacken und Armen. Ganz andere Erinnerungen schütteln sich den Staub ab. Echos lang verhallter Schreie, noch mehr Wut und Verzweiflung und Verletzung. Er legt den Kopf schief, schließt für einen Moment die Augen und massiert sich die Nasenwurzel, aber er kriegt diese Stimme nicht stumm.

„Woher weißt du, dass … dass deine Mutter in Hamburg ist?“

Mia presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Sie betrachtet die Dielen zwischen ihnen. Voller Kratzer und Dellen und dunkleren Flecken, mit Ausrutschern von Stiften, und immer liegt irgendwo ein bisschen Lego. Die blaue Düse eines Raumschiffes, der grüne Kopf eines Triceratops. Dann hebt auch sie den Finger.

„Nur eine Antwort.“

„Okay, Opa ist hier, weil …“

„Nein! Lalalala! Ich will keine neue Antwort!“

Sie zieht die Kopfhörer wieder auf und dreht sich um.

***

Ben klopft auf die Arbeitsplatte der Insel, die die Küche vom Wohnzimmer trennt. Sein Vater hebt kurz den Kopf, dann schmiert er weiter sein Brot.

„Ich hoffe, es ist okay, dass ich mich einfach bediene.“

„Klar.“

Ben versucht, so ruhig zu tun, wie sein Vater es scheinbar ist. Aber wie nur?

„Ich musste ein bisschen suchen, bis ich das Brot gefunden habe. Wer legt denn das Brot ganz unten in den Schrank?“

„Mia. Sie ist früher nicht rangekommen, und seitdem ist das so.“

Ben antwortet, ist mit den Gedanken aber woanders. Bei Orna. Und seiner Mutter. Und all den Fragen. Sein Vater atmet tief ein, aber er sagt nichts mehr. Zumindest nicht mit Worten. Ben kennt dieses Atmen, weiß, dass er findet, dass das Brot nach oben gehört, am besten dahin, wo es früher immer war.

„Ich habe ihr gesagt, dass du ein paar Tage hier wohnen wirst. Wenn sie mehr wissen will, soll sie dich selbst fragen. Guten Hunger.“

Sein Vater nickt, arrangiert die Tomatenscheibe und das Stück Gurke, streut ein wenig Kräutersalz darüber, lehnt sich an die Arbeitsplatte und beißt in die Stulle. Ben sieht ihm dabei zu und überlegt, ob er die offensichtliche Frage, die in seinem Satz gerade lag, nicht beantworten will oder wirklich nicht hört. Seine Mutter hätte schon lange zu reden angefangen. Und ihm auch ein Brot angeboten. Es geschmiert, selbst, wenn er abgelehnt hätte.

„Sie wollte nach Hamburg, um ihre Mutter zu finden.“

Sein Vater kaut bedächtig und bewegt den Kopf zu einem ganz langsamen Takt, den nur er hören kann.

„Okay.“

Ben wartet, aber mehr kommt nicht. Kein Warum, auf das er selbst gern eine Antwort hätte. Keine Frage, wie es ihm damit geht. Keine Möglichkeit, dem inneren Sturm mehr Raum zu geben, damit er sich beruhigen kann. Er schnaubt aus, alles andere bleibt drin.

„Gut. Ich muss für morgen noch was fertig machen. Falls sie dir mehr erzählt, sag Bescheid.“

„Okay.“

Nach kurzem Schweigen dreht Ben sich um und gleich wieder zurück.

„Morgen habe ich einen Workshop. In der Zeit kannst du also nicht in die Werkstatt.“

„Ben, das ist schon lange nicht mehr mein Haus. Du musst mir nicht sagen, was du hier tust.“

„Auch gut.“

„Ist es okay, wenn ich das Brot dahin tue, wo es früher war? Dann muss ich mich nicht so bücken.“

„Klär das mit Mia.“

2

Ben erkannte kaum etwas durch den Regen und die Windschutzscheibe, aber die Frau rannte aus dem Schutz der Haltestelle auf sie zu, riss die Beifahrertür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Sie schüttelte sich den Regen aus den kurzen Haaren, lachte erleichtert auf und warf Ben einen langen, offenen Blick zu. Er versank in den braunen Augen, die aussahen, als ob sie nie genug haben konnten. Die immer noch mehr aufnehmen wollten.

„Hi! Ich bin Orna.“

Sie sagte Danke und Ben war schockverliebt. Hatte gar keine Chance. Das bemerkten auch die beiden Jungs auf der Rückbank, die sich wissende Blicke zuwarfen und ihn über den Rückspiegel angrinsten. Er kannte sie genauso wenig wie Orna, alle drei hatten seine Fahrt online gebucht und er war froh gewesen, dass auch wirklich alle aufgetaucht waren. Ein bisschen Smalltalk, er bekam sein Benzingeld zurück und das war’s. Hatte er sich gedacht. Aber jetzt.

Er fragte die beiden auf der Rückbank, was sie so taten und warum sie in den Süden wollten, aber er hatte ihre Namen wieder vergessen, bevor sie auf die Autobahn fuhren.

Mit Orna dagegen redete er ein bisschen mehr als sieben Stunden, unterbrochen nur von Pinkelpausen und gelegentlichen Fragen von der Rückbank. Orna war nicht nur interessant. Auf ihre Antworten folgte immer eine Frage, und nach knapp fünf Stunden beendeten sie gegenseitig ihre Sätze. Nachdem er die beiden Jungs abgesetzt hatte, sah er Orna an.

„Und wo soll ich dich rauslassen?“

„Wie wäre es bei dir?“

Sie saß aufrecht im Sitz, den Kopf zu ihm gedreht, wieder dieser tiefe Blick. Er konnte nicht sehen, wo ihre Iris in die Pupille überging. Ben zögerte, wartete darauf, dass sie grinste oder den Kopf schüttelte. Dann verstand er, dass sie es ernst meinte, und diese Fantasie einer wilden Reise durch die gemeinsame Nacht durchströmte ihn, bevor er entschuldigend das Gesicht verzog und die Fantasie losließ. Loslassen musste.

„Ich bin gerade auf dem Weg zu meinen Eltern.“

Orna lachte laut auf und Ben fühlte sich nur ein ganz kleines bisschen ausgelacht. Sie lachte mehr über die Situation und vielleicht auch über die Vorstellung, trotzdem mit ihm da hinzufahren. Ben liebte dieses Lachen. Er spürte die Gänsehaut auf seinen Armen und das Rot seiner Wangen. Wie warm und voller Herz konnte ein Lachen bitte sein?

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich denke, dafür ist es noch ein wenig zu früh.“

Ben fixierte den Punkt unter der Nase, die kleine Vertiefung, die in die Lippe überging, und fragte sich, ob es ein Wort für das Heimweh nach einem Ort gibt, an dem man noch nie war, aber von dem man weiß, dass er ein tolles Zuhause gewesen wäre. Sie bewegte ihren Kopf ein wenig nach unten, bis ihre Augen seinen Blick fingen und ihn zurück ins Auto holten.

„Willst du stattdessen mit zu mir?“

3

Ben sitzt an seiner Werkbank, sein Schuh tippt zur Musik auf den Boden, er hält einen Rohling nach dem anderen in der Hand, lässt das Messer darüber kreisen und wartet darauf, dass er den richtigen Punkt für den ersten Schnitt findet. Aber obwohl der Stream von Lofi Girl läuft und er jetzt schon seit ein paar Stunden für sich ist, kann er keinen einzigen Schnitt setzen. Alles zieht ihn zu Mia. Die Vorstellung, dass sie von ihm wegwill, frisst sich in sein Herz und lenkt ihn von allem ab, nimmt ihm jede Ruhe und taucht alles in Angst.

Er betrachtet die Narbe, die sich einmal um die Fingerkuppe seines linken Mittelfingers zieht, eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass Wut und scharfe Messer keine gute Kombination sind. Er legt den Rohling weg, um den nächsten vorzubereiten.

Eigentlich wollte er noch an der Hochzeitseule weitermachen. Und einen Rohling so weit vorarbeiten, dass er der Klasse morgen zeigen kann, was aus diesen Holzstücken alles werden kann. Aber wenn er schon beim Rohling nicht den richtigen Schnitt findet, sollte er sich die Eule nicht versauen. Ben sortiert seine Messer, drapiert sie ordentlich auf einem Tuch, fegt die Späne zusammen, leert sie in den Mülleimer, schiebt den Stuhl an die Werkbank und stoppt die Musik. Er kann noch so viel zu tun haben, manchmal muss er akzeptieren, dass das heute nichts mehr wird.

Und das Abendessen muss heute nicht nur gut werden. Es muss Mia so zufrieden machen, dass sie hoffentlich mit ihm redet.

Aber als er die Tür öffnet, riecht er schon angeröstete Zwiebeln, hört die Melodie von Anne Kaffeekanne und das raue Lachen seiner Tochter. Er muss lächeln, weil das immer passiert, wenn Mia lacht. Aber jetzt, mit entstaubten Erinnerungen an Orna und ihr Lachen, das so ähnlich war, gefriert das Lächeln um seine Lippen.

***

Als er ins Wohnzimmer kommt, tanzt Mia um ihren Großvater herum und stößt ihre Hüfte im Rhythmus gegen seine Schenkel, während er Tofu in kleine Quadrate schneidet und sich nicht beirren lässt. Emil sieht Ben und stockt kurz, zeigt mit dem Messer auf das Essen.

„Ich dachte, ich nehme dir ein bisschen Arbeit ab, wenn ich schon hier bin. Ich hoffe, das ist okay.“

Ben zuckt mit den Schultern und stützt sich an der Insel ab, hält sich an der Platte fest, um sein Inneres zu beruhigen. Mia wirft ihm einen forschenden Blick zu und er weiß, dass sie etwas ahnt. Sie ist gut in sowas. Er atmet ein, um dort anzusetzen, wo sie vorher aufgehört hat, aber sie dreht den Kopf weg. Eine weitere Prise Ablehnung in den brodelnden Topf voller Gefühle in ihm. Er sieht an seinem Vater vorbei.

„Was gibt’s?“

„Gemüse im Wok.“

„Mit Tofu!“

„Mit Tofu.“

„Und Chili!“

„Und Chili.“

„Und Mais!“

„Und Mais.“

Mia spielt mittlerweile Luftgitarre. Bens Vater nickt leicht und wiederholt stoisch, was Mia ruft.

„Und Bohnen!“

„Und Bohnen.“

An den Wochenenden und wenn sein Vater früh genug nach Hause gekommen ist, hat er immer gekocht. Auch nach all den Jahren ist es für Ben vollkommen normal, ihn in der Küche zu sehen. Und gleichzeitig ist er wieder Kind und schaut seinem Vater über die Schulter.

„Mexikanisch also.“

„Ja, aber eigentlich indisch.“

„Und Schokolade!“

„Ich habe ein bisschen Kakao hinzugegeben. Der reagiert so schön mit Chili.“

„Und Himbeeren!“

„Ich glaube, die essen wir lieber danach.“

Die Tofustückchen brutzeln mit den Zwiebeln. Emil greift nach der Flasche, zögert dann und hält sie Mia hin.

„Willst du die Sojasoße dazugeben?“

„Naklar!“

Die Soße zischt und dampft und Mia kichert, während Anne schon wieder davonfliegt. Mia sieht fasziniert zu, wie Opa den Tofu gut anbrät.

„Kannst du die Kartoffeln klein schneiden?“

„Naklar!“

„Wenn ich in der Küche stehe, kann ich lange warten, dass sie mir hilft.“

Emil schaut ihn über den Rand seiner Brille an und schmunzelt auf diese wissende Art, die Ben viel zu oft an sich entdeckt. Er fragt sich, wie das geht, wie sie mit all den Sachen, die gerade in der Luft hängen, einfach so über Essen reden können. Wie er selbst das kann.

„Dich hab ich damals auch nicht dazu gebracht, mir zu helfen.“

„Damals musste ich auch immer nur Kartoffeln schälen und diese komische italienische Salami superdünn abschneiden. Und nie war’s dünn genug.“

Mia hat die Kartoffeln abgewaschen und produziert mehr oder weniger kleine Würfel.

Emil zuckt mit den Schultern.

„Hab’s nicht besser gewusst.“

„Schon okay. Was kann ich helfen?“

„Gar nichts. Mach du ruhig dein Zeug. Wir rufen dich dann.“

„Ja, mach nur dein Zeug, Papa. Wir rufen dich dann!“

4

Emil dreht die Flamme unter dem Reis kleiner und drückt Mia den Löffel in die Hand. Früher stand Ben auch neben ihm in der Küche, aber irgendwann war sein Sohn zu genervt gewesen, dass er es Emil nicht hatte recht machen können. Seitdem will er nicht mehr mit seinem Vater kochen. Vielleicht hat Emil diese Jahrzehnte gebraucht, um selbst loslassen zu können. Kann Ben das nicht sehen? Dass er es jetzt mit Mia besser macht?

„Rühre ihn immer wieder um, damit er nicht anbrennt. Bis das Wasser weg ist.“

Mia runzelt die Stirn, guckt aber weiter in den Topf.

„Naklar. Aber Wasser ist nie weg. Nur woanders.“

Emil nickt und pustet auf den Löffel mit dem Essen, das er aus dem Wok geholt hat.

„Stimmt.“

Er hält ihn Mia unter die Nase, sie zieht das Kartoffelstück mit den Zähnen vom Löffel.

„Und?“

„Ist heiß.“

„Und ist es auch gut?“

Sie nickt und behält den Blick unten.

„Papa ha’ gesag’, ich soll ’ich fragen, waru’ ’u ’a ’is’.“

„Erst schlucken, bevor du sprichst. Mir hat er gesagt, ich soll dich fragen, wieso du nach Hamburg willst.“

Sie rührt mit dem Holzlöffel langsam im Topf. Emil stellt auch die Flamme unter dem Wok klein. Anne fliegt in den Schwarzwald. Schon so oft heute, dass Emil den Text bald mitsprechen kann. Mia zuckt mit den Schultern.

„Rita hat mir gesagt, wie sie heißt. Meine Mama. Ich hab sie gegoogelt, mit Tamay. Gibt nicht so viele Orna Schneider.“

Sie nimmt ihre Brille ab, haucht die beschlagenen Gläser an und säubert sie mit dem Rand ihres T-Shirts. Emil fragt sich, bei wem sie sich das abgeguckt hat.

„Die in Hamburg war nicht zu alt und Tamay sagt, sie sieht mir ähnlich. Also hab ich mich auf den Weg gemacht. Also, wir uns.“

„Und Ben hätte nur nein gesagt, wenn du ihn gefragt hättest.“

„Naklar. Wasser wird langsam weniger.“

Sie stockt, als Emil mehr Wasser in den Topf gießt, kichert, als er sie gespielt böse von der Seite betrachtet, und rührt dann weiter im Reis, während Emil das Gemüse wendet.

„Und warum bist du da?“

„Oma will mich gerade nicht sehen.“

„Hast du Scheiße gebaut?“

„Würde ich nie so sagen. Aber ja.“

Mia nickt wissend. Sie zieht den Löffel aus dem Reis und hält ihn Emil unter die Nase. Er pustet und probiert. Mia wartet.

„Bisschen noch.“

„Was für Scheiße eigentlich?“

Emil kippt ein wenig mehr Wasser in den Reis und rührt das Essen im Wok um. Schmeckt nochmal ab und spürt ihr Warten.

„Da will ich nicht drüber reden.“

„Oh. Liebesscheiße also.“

„Vielleicht auch gerade nicht. Vielleicht ist die Liebe weg.“

„Liebe ist nie weg. Immer nur woanders.“

Emil wirft seiner Enkelin, die sich wieder auf den Reis konzentriert, einen kurzen Blick zu, dann starrt er an die Wand hinter ihr. Vor seinem inneren Auge Schnappschüsse in grellen, viel zu intensiven Farben. Der Geschmack von fremden Lippen, die er schon ewig hatte küssen wollen. Das kribbelnde Gefühl fremder Haut unter seinen Fingern, und er saugt die Empfindung auf. Die Panik, er hätte nach all den Jahrzehnten vergessen, wie man ein Kondom verwendet. Und dann das blasse Gesicht von Milena, die er niemals hatte verletzen wollen.

„Wem sagst du das.“

„Uns.“

5

Sie hatten nie darüber geredet, aber als Orna Ben auf einer Party als ihren Freund vorstellte, strahlte er den ganzen Abend. Knapp vier Monate lang war Ben noch in Hamburg im Praktikum. 667 Kilometer zwischen ihnen, wenn Ben nicht gerade bei Orna in Stuttgart war, oder sie bei ihm. Kurz vor dem Ende des Praktikums hing Ben immer öfter am Rechner, scrollte sich entnervt durch WG-gesucht und Immobilienscout, den Kopf in die Hand gelegt.

„Ich dachte ja, Hamburg ist teuer, aber in Stuttgart sieht’s ehrlich gesagt genauso schlimm aus.“

Orna war insgeheim froh, dass er bei den Zimmern, die er bisher gesehen hatte, gescheitert war. Wie konnten so viele Menschen so verzweifelt auf der Suche nach einer Bleibe sein, dass Ben bei einem Zimmer ohne echtes Fenster, nur mit Lichtschacht, den man nicht öffnen konnte, Konkurrenz gehabt hatte?

Ben tippte die nächste Nachricht, schickte sie ab und klappte den Laptop zu. Verschränkte die Arme, drehte sich resigniert zu ihr.

„Vielleicht muss ich doch zurück zu meinen Eltern.“

Orna lag auf dem Boden, die Beine auf dem Sofa, und sah nicht mal vom Buch auf.

„Auf keinen Fall. Es ist eine Sache, wenn uns in einer WG Leute beim Sex hören. Aber ich will mir keine Gedanken darüber machen müssen, dass deine Eltern ein Stockwerk unter uns schlafen.“

Ben grinste und schüttelte den Kopf.

„Die liegen nur zwei Türen weiter links. Gleicher Stock.“

Orna stöhnte auf und ließ sich das Buch aufs Gesicht fallen, Ben lachte. Sie spürte, wie er sich neben sie kniete und das Buch sanft zur Seite schob, sein Gesicht nah an ihrem.

„Dann werd ich wohl eine andere Lösung finden.“

„Ich bitte darum.“

Er küsste sie, feste Lippen auf ihren, eine sanfte und neugierige Zunge. Ihre Hand wanderte an seinen Hals, schob sich in sein Haar, dann hob Ben seufzend den Kopf.

„Ich suche weiter.“

Sie legte das Buch zur Seite und beobachtete ihn, wie er den Rechner wieder aufklappte. Hätten sie sich auf einer Party oder sonst wo getroffen, wahrscheinlich wäre Ben ihr gar nicht aufgefallen. Auch, weil er es gar nicht darauf anlegte. In der Psychologie und in der Physik gibt es den Beobachter-Effekt. Dinge verhalten sich anders, wenn sie beobachtet werden, Menschen verhalten sich anders, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Ben schien nicht darüber nachzudenken, dass jemand ihm zusehen könnte. Und gerade das machte ihn und sein Verhalten so interessant. Er wusste nicht, wie gern ihm Orna zusah. Keine Ahnung, wohin das mit ihm führte, aber sie fühlte sich in seiner Nähe wohl, und wenn sie eine Idee hatte, war er erstmal dabei. Sie setzte sich auf.

„Ben.“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, scrollte dann aber weiter durch die Anzeige, die er gerade gefunden hatte. Wahrscheinlich ein Durchgangszimmer. Oder es lag über einer Raucherkneipe.

„Was hältst du davon, direkt bei mir einzuziehen?“

Sie würden noch ein paar Tage darüber reden und Ben würde sich das durch den Kopf gehen lassen, bevor sie eine Woche später offiziell beschlossen, dass das eine gute Idee war. Aber Orna wusste im Moment nach ihrer Frage, als Ben ein Grinsen unterdrückte und für einen kurzen Moment die Augen schloss, bevor er sich zu ihr auf den Boden setzte, dass er diese Version der Zukunft vor sich sah und sich schon entschieden hatte.

6