Offen für alles und nicht ganz dicht - Florian Schroeder - E-Book

Offen für alles und nicht ganz dicht E-Book

Florian Schroeder

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Beschreibung

«Kinder ja, aber bloß nicht jetzt. Zusammenwohnen gerne, aber bitte mit getrennten Schlafzimmern. Fünf-Gänge-Menü und Traumfigur. Grün wählen, schwarz leben...» Florian Schroeder geht hart ins Gericht mit sich und allen anderen, haut drauf, schüttelt den Kopf und kann die Welt nicht mehr verstehen. Mit viel Humor beschreibt er das Leben zwischen Facebook und Starbucks: «Wir sind unglaublich mobil, ungeheuer flexibel und unfassbar kreativ...» Liebevoll wirbt er um Verständnis, mit Geschichten, die das Leben der 30-Jährigen schreibt. Und der 40-Jährigen. Und der 50-Jährigen. Das Alter spielt keine Rolle. Es ist die Generation, die sich entschieden hat, sich nicht mehr entscheiden zu wollen. So kreist sie um sich selbst – mit Vollgas im Leerlauf. Aber mit viel Spaß dabei. «Der Wahnsinn einer ganzen Generation brillant analysiert. Coole Schreibe.» (Markus Lanz) «Genialer Beobachter. Witzig und pointiert. Lesenswert!» (Gaby Hauptmann) «Jung, klug, sexy. Und dabei ist der Mann noch nicht mal Physiker...» (Vince Ebert)

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Seitenzahl: 289

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Inhaltsverzeichnis

Steigen Sie ein! Bleiben Sie dran!

1. Gefangene der Möglichkeiten

2. Das erste Date

3. Fototerror

4. Topfschlagen gegen Studiengebühren

5. Irgendwas-mit-Medien

6. Kohls Enkel

7. Erfolgreich abgebrochen

8. Digitalien und Analogistan

9. Gefällt mir!

10. Leben in Anführungszeichen

11. Silbermond

12. Das Arbeits-Abc

13. Coaches

14. Ab heute Superstar

15. Fitnesstaliban

16. Dickes Kind

17. Die besten Freunde

18. Berlinhamburgmünchen

19. iGitt

20. Aufschiebehaft

21. Ich wird Wir

22. Schwarz-Grün

23. Rochegebiete

24. Meine erste Hochzeit

25. Loungefeeling

26. Kindergarten

27. Das letzte Date

Nichts!

Dank

Fußnote

Liebe Leser,

Glückwunsch! Sie haben es geschafft, sich zu entscheiden. Sie haben sich entschieden, dieses Buch zu kaufen oder zumindest hier in der Buchhandlung das Vorwort zu lesen. Das ist nicht selbstverständlich. Entscheidungen zu treffen – das ist eine Entscheidung, für die sich keiner mehr entscheiden will.

Ich werde mich darum auch bemühen, schon in der Einleitung die zentralen Begrife einmal fallenzulassen. Denn wenn Sie am Ende des Vorworts das Gefühl haben, das Wichtigste schon zu kennen, können Sie das Buch zielgerichteter verschenken.

Falls Sie es eilig haben, hier schnell der Inhalt: Wenn du unter 39Jahre alt bist, wirst du dich und deine Altersgenossen nach der Lektüre besser verstanden haben. Wenn Sie älter als 39 sind, werden Sie am Schluss endlich Ihre Kinder, Neffen, Nichten, Halbschwestern, Halbbrüder und anderes Patchwork-Gesocks besser verstehen. Also ab zur Kasse und kaufen gehen!

Wenn Sie noch nicht entschieden sind, lesen Sie einfach weiter. Machen Sie es sich gemütlich, stellen Sie sich entspannt hin und lesen Sie einfach weiter.

In diesem Buch geht es um meine Generation. Eine Generation, die nicht einmal einen einheitlichen Namen hat, auf den sich alle Betroffenen einigen können. Ich nenne uns «Irgendwas-mit-Medien», andere sprechen von der Generation «Praktikum», «Krise», «Casting», «Fernbeziehung», «Youporn», «2.0», «3.0», «18.4», «123 1/​3».

Wir alle leben in der Diktatur von Mobilität und Flexibilität. Andauernd auf dem Sprung trinken wir Kaffee to go und versteigern gleichzeitig unseren alten Walkman bei eBay. Wir sollen offen für alles bleiben und heiraten uns doch schneller denn je gegenseitig vom Markt weg. Wir bekommen Nachwuchs, aber ohne Eltern zu werden. Wir sind erwachsen, benehmen uns aber wie Kinder; sind Kinder und benehmen uns wie Erwachsene. Wir arbeiten in unserer Freizeit und machen die Arbeit zu unserer Freizeit.

Kurz: Wir sind offen für alles – und nicht ganz dicht. Wir sagen nicht mehr ja und nein, wir sagen jein. Sowohl-als-auch.

Dieses Buch passt sich den Anforderungen mobiler und flexibler Menschen also in hohem Maße an: Ich habe mich für ein Taschenbuch entschieden, es ist also auch bus-, friseur- und waschsalontauglich. Einmal waschen, legen, schleudern, und schon ist wieder ein Kapitel gelesen. Flexibel ist es vor allem inhaltlich. Es werden hier alle wichtigen Themen unseres Lebens verhandelt: Es gibt Tipps für die beste Intimfrisur, beantwortet die Frage, warum wir uns ständig selbst fotografieren und warum wir fleischessende Vegetarier sind. Kurz: Es gibt praktische Lebenshilfe – ganz ohne Jakobsweg.

Außerdem werden Sie hier nicht durch Werbung gestört oder durch grinsende Moderatoren, die «Sonne satt» voraussagen, nicht durch lästige Gewinnspiele und vor allem nicht durch Hörer, die unter Androhung der besten Hits der 80er und 90er minutenlang ins Telefon kreischen, weil sie eine Reise an den Chiemsee gewonnen haben.

Der Nachteil eines Buches ist allerdings, dass es so verdammt endgültig ist. Schon deshalb ist es, trotz der obengenannten Vorteile, gemeinhin nicht das Medium meiner Generation. Wir twittern und posten lieber. Und geben Statusmeldungen ab. Das ist die Kommunikation unserer Zeit, die sagen will: Jetzt bin ich Vegetarier, schon in zwei Stunden habe ich aber vielleicht wieder Hunger und sehe die Welt doch fleischfarben. Ein Buch dagegen ist eine Entscheidung. Und deshalb schwierig. Entscheidungen sind out. Denn Entscheidungen sind Ja oder Nein – ganz ohne Jein.

Dieses Büchlein wendet sich also an Sie, der Sie noch mit Wählscheibe telefonieren gelernt haben, genauso wie an dich, der du immer noch unentschlossen in der Buchhandlung stehst und jetzt schnell entscheiden musst zwischen diesem Werk und dem eines Durchgeknallten, der mal wieder Deutschland abschaffen will.

Mein Tipp: Stoppt das Abschaffen – geht anschaffen! Und zwar jetzt und hier – dieses Buch. Ihr werdet einfach fröhlicher sein danach.

An einem kalten Novembermorgen laufe ich in eine Starbucks-Filiale. Nur kurz, für einen schnellen Kaffee. So schnell, wie ich gern eine Tasse hätte, geht es hier aber nicht. Im Coffee-Shop stehen einfach zu viele nervöse, koffeingeile Leute. Gerade will ich schreien: «Mehr Personal!», da erkenne ich den Sinn des Schlangestehens: Nur durch sehr langes Anstehen in sehr langen Reihen kann ich die sehr lange Getränkekarte wirklich so eingehend studieren, dass ich anschließend professionell bestellen kann. Im Moment stehen noch fünf Kunden vor mir. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Wird es mir gelingen, die gesamte Karte gelesen – und vor allem verstanden – zu haben, bevor ich an der Reihe bin? Ich bin ein bisschen aufgeregt.

Sämtliche Getränke gibt es hier in tall, grande und venti. Das soll klein, mittel und groß heißen. Tall ist Englisch und bedeutet groß, der Becher ist aber der kleinste von allen. Grande ist spanisch und bedeutet ebenfalls groß, wenn ich den bestelle, bekomme ich aber nur einen mittelgroßen Becher. Venti ist italienisch und heißt zwanzig, klingt irgendwie klein, ist aber der größte Becher, also tall und grande in einem.

Auf Englisch (tall), Spanisch (grande) oder Italienisch (venti) könnte ich also Filterkaffee (deutsch), Cafè Latte (italienisch), Cappuccino (auch italienisch) und Espresso (original italienisch) bestellen. Hinzu kommen Caramel macchiato. Caramel – ist das arabisch? Dann gibt es noch Chocolate Mocha (mit dunkler Schokolade), White Chocolate Mocha (mit weißer Schokolade) und Vanilla Latte (ganz ohne Schokolade, dafür aber mit Vanillesirup).

Es sind nur noch drei Kunden vor mir. So schnell, wie die hier alle bestellen, sind die sicher Profis. Kann man das? Hier Profi werden? Und was muss ich dafür tun? Abends im Bett die Karte auswendig lernen, wie für den Vokabeltest in der Schule? Oder einfach immer das Gleiche bestellen? So wie die meisten Großstadtbewohner, die stets allen erzählen, dass sie in Berlin, Hamburg oder München wohnen wegen der großen Auswahl: der geradezu unglaublichen Auswahl an Restaurants, Museen, Theatern, Clubs und Szenen. Nutzen tun sie sie zwar nicht – außer den Stammitaliener um die Ecke–, aber sie könnten, wenn sie wollten. Und darum geht es doch: Möglichkeiten zu haben. Zu können, wenn man wollte. Aber wollen wir noch?

Je mehr Möglichkeiten, je größer die Wahl, desto verlorener komme ich mir manchmal vor. Aber wenn ich mich im Coffee-Shop schon nicht entscheiden kann zwischen tall und grande und venti, zwischen Macchiato und Mocha und Vanilla – wie soll ich dann jemals mein Leben auf die Reihe kriegen?

Ich bin inzwischen ziemlich gestresst und überfliege hastig die Karte. Hinter dem Kaffee folgt die Abteilung «Chocolate and Tea». Da steht Premium Hot Chocolate. Das ist wohl supergute heiße Schokolade. Gibt es dann auch mittelmäßige und schlechte heiße Schokolade? Und heißt die schlechteste dann Premium auf Italienisch und die mittelmäßige Premium auf Spanisch? Und überhaupt: Kann ich mich hier bewerben, als Kaffeenamen-Erfinder?

Wie auch immer – Hauptsache Premium. Ein Superlativ. Das passt zu mir. Ich liebe Superlative. Bin ich von etwas angetan, dann finde ich es gleich «sensationell», «abgefahren» und «fett». Was will man auch erwarten, wenn man seit Kindertagen zugedröhnt wird mit dem besten Mix und den größten Superhits aller Zeiten? Alles auf einmal – und das gleich doppelt. Das ist doppelt Premium. Das liebe ich.

Nur noch ein Teenie vor mir. Wie bei den meisten 15-Jährigen heute kann ich nicht genau sagen, ob es auf dem Weg zu einem Mann oder zu einer Frau ist. Es bestellt jedenfalls ganz cool einen «Grande Chai Tea Latte to go». Korrekte Aussprache des Getränks, korrekte Größenangabe und vor allem mit der klaren Ansage: zum Mitnehmen.

Das schaffe ich nie. Ich werde spicken müssen. Beim Bestellen werde ich stets die Karte über der Verkäuferin anstarren und stammeln. Wie ein schlechter Fernsehmoderator, der ständig auf die Pappen über der Kamera guckt – nur nicht ins Gesicht der Zuschauer.

Chai Tea Latte werde ich garantiert nicht bestellen. Schon wegen des Namens nicht. Chai ist das südasiatische Wort für Tee. Tea ist das englische Wort für Tee. Wir trinken also übersetzt eine Teeteemilch. Bald auch im Angebot: das Cheese-Käsesandwich und das CarCarAuto. Alles auf einmal und das auch noch abgefahren sensationell doppelt – krassfett!

Was soll ich bloß sagen, wenn ich meinen Kaffee hier im Laden trinken will? «For here»? Oder besser auf Deutsch: «Zum hier»? Oder lieber: «Für zum hier»?

Ich fange an, meine Bestellung zu üben. Ich brabble sie halblaut vor mich hin, wie ein Schauspieler seinen Text vor der Premiere. Die Leute um mich herum sehen mich an wie einen, der gleich mit weit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen ausruft: «Jesus lebt! Und Elvis ist sein Bruder!» Ich übe still weiter.

Nach fast zehn Minuten in der Schlange ist Showtime. Ich bin überzeugt, selbstsicher und weiß, dass ich meinen Text fließend beherrsche. Also sage ich: «Einen kleinen Kaffee, bitte.» Die Kassenkraft ruft schrill über die Schulter: «Tall Coffee to go.»

To go? Wieso to go? Habe ich das gesagt? Ist hier alles nur noch to go? Weil es schnell gehen muss? Oder will sie mich loswerden, weil ich nicht korrekt bestellen kann? Ich sage: «Nein, zum hier… äh, für zum hier!»

Aber es ist zu spät. Der Pappbecher hat seinen Weg unter die Kaffeemaschine schon gefunden.

Mit dem Becher in der Hand falle ich erschöpft in einen leeren Ohrensessel und schaue mich um. Die Möbel hier erinnern mich an die Cafés meiner Kindheit. Damals gab es nur Oma-Cafés. Wenn Oma nachmittags um drei derbe einen draufmachen wollte und einen O-Saft springen ließ, fand ich mich in Cafés mit einer Einrichtung wie dieser hier ein. Oma verdrückte ein Stück Sahnetorte und bestellte mir unaufgefordert drei.

Im Oma-Café bediente immer eine Oma oder wenigstens eine ältere Dame, die kurz davor war, Oma zu werden. Zu ihrem Look gehörte eine blumenbestickte Schürze und ein knielanger Rock. Bestellte man bei ihr einen Cappuccino, bekam man einen bitteren schwarzen Kaffee mit einer dicken Portion Sprühsahne drauf. Italienische Wirte nennen das mit großer Verachtung Cappuccino für «die Deutsche». Warum gibt’s den eigentlich nicht bei Starbucks? «Einen Grande Grandma German Cappuccino to go!»

Neben meinem Starbucks-Oma-Ohrensessel stehen unbequeme Holzstühle mit zu kleinen Holztischen davor. Es ist ein unheimlicher Stilmix hier. Ziel der Innenarchitekten war offenbar, zwischen die verratzten Oma-Café-Sessel noch ein wenig zeitgemäße chillige Lounge-Atmo zu bringen. Ein bisschen Oma und ein bisschen cool, ein bisschen alt und ein bisschen neu. Beide Stile zusammen wirken allerdings eher etwas hilflos. Im Grunde ist der Möbel-Mix hier wie ich: von allem etwas und nix richtig. Nur nicht festlegen. Auf den Kaffee nicht und auch sonst auf nix. Mit dem Ergebnis: Lounge und Oma passen einfach nicht zusammen. Wer geht schon in eine Oma-Lounge?

Ein junger Anzugträger, der auch mit mir in der Schlange stand, sucht offenbar Kontakt. Er hat sich mir gegenüber in einen Sessel fallen lassen. Ich versuche ihn zu beobachten, ohne ihn anzuschauen – er könnte meinen Blick als Aufforderung zum Talk begreifen. Zu spät. «Also diese Preise hier», meckert er laut, als wären er und seine Anzugträger-Firma nach einem Getränk pleite. «Und dieses ewige Anstehen! Also sooo toll schmeckt der Kaffee ja nun auch wieder nicht. Ich versteh diesen Hype, der um diese Coffee-Shops gemacht wird, echt nicht!»

Er sagt dann noch, dass man da doch vielleicht mal irgendwie eigentlich echt was machen müsse.

Das sind auch meine Lieblingsworte: irgendwie, eigentlich, vielleicht. Das ist die Sprache des Konjunktivs, die Sprache der unzähligen Möglichkeiten, in der alles offen bleiben kann und soll.

Als ich den Laden verlasse, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie der Meckerprofi schon wieder in der Schlange steht und in bestem Italo-Spanisch-Englisch einen «Venti Strawberry Cream Frappuccino to go» bestellt.

Er ist wie ich. Er beschwert sich lautstark über die herrschenden Verhältnisse und will im nächsten Augenblick der Erste, Schnellste und Beste in diesen Verhältnissen sein.

Hier in den Kaffeeketten spiegelt sich mein Leben: Es soll alles geben, in allen Größen, mit Sirup und ohne, fett, halbfett, fettarm, ganz ohne Fett. Aber wenn es drauf ankommt, stehe ich hilflos vor der endlosen Auswahl und wünsche mir Oma und eine Kellnerin mit Blümchenschürze zurück.

Jedes erste Date ist eine Premiere. Umso wichtiger ist es, alles richtig zu machen. Dazu gehört auch, dass ich mich darum kümmere, wie dieses erste Treffen abläuft. Ein bisschen kennen wir uns ja schon – aus der Ringvorlesung an der Uni zum Thema «Medien als Medien in den Medien» oder so. Auf jeden Fall drehten wir uns schnell im Kreis. Anne sitzt immer in der letzten Reihe, ich immer in der zweiten. Letztes Mal saß ich bei ihr hinten. Danach haben wir uns verabredet. Was also tun? Kino? Nein. Kino ist tabu. Stumpfsinnig nebeneinandersitzen und einen Film gucken, danach noch was trinken, und dann geht jeder zu sich nach Hause – nee, das kenne ich von früher. Wenn Frauen ins Kino wollen, dann wollen sie einen höchstens als guten Freund. Die Phase habe ich hinter mir, ausgiebig und mit allen Konsequenzen. Fünf Jahre lang, zwischen 14 und 19.

Ich habe den Liebeskummer von Mädchen aus meiner Klasse geheilt, in die ich selbst verliebt war. Geduldig habe ich ihnen Tipps gegeben. Das Erstaunliche war: Ich gab Tipps für bessere Beziehungen, obwohl ich selbst nie eine gehabt hatte. Beste Voraussetzungen für eine Coach-Karriere: Nie was zustande gebracht, aber anderen zeigen, wie man’s macht.

Am Anfang habe ich Sorge, dass auch Anne mich schon für die Rolle des besten Freundes vorgesehen hat: Ursprünglich hatte sie vorgeschlagen, wir könnten ja mal Käsekuchen essen gehen, nachmittags um 3.Ich dachte: Wie ist die denn drauf? Käsekuchen essen – das ist in etwa so erotisch wie Sex mit Socken. Ich lehne ab. Vorher würde ich eher noch ins Kino gehen.

Jetzt ist es an mir, den ultimativen Vorschlag zu machen. Anne sagt, sie sei offen für alles. Das klingt doch schon mal gut.

Also schlage ich vor, essen zu gehen. Da kann ich am Ende sehr männlich wirken, indem ich zahle. Von meinem Geld. Na ja, um genau zu sein, von Mamas Geld, aber das muss Anne ja nicht wissen.

Ein weiterer Vorteil: Das Eintreten der drei großen Gs ist beim Essengehen sehr wahrscheinlich: Genuss, Gespräch, Geknutsche.

Die Wahl des Restaurants war die zweite große Herausforderung. Ich hatte den Anspruch, eines zu finden, das alles bietet: gehoben, aber nicht schickimicki, edel, aber nicht schnieke, gemütlich, aber nicht eng. Alles auf einmal, aber von nichts zu viel. Das Ergebnis meiner Suche: nichts. Wahrscheinlich muss ich dieses ultimative Restaurant erst noch selbst eröffnen.

Ich bin in puncto Restaurantwahl ein gebranntes Kind: Meiner Kurzzeit-Ex-Freundin Nina konnte man es diesbezüglich nie recht machen. Entweder war das Restaurant zu klein, oder es war zu groß, zu eng oder zu plüschig, zu voll oder zu leer. Häufig checkten wir fünf Locations, bis sie endlich erlaubte, dass wir uns in einer niederließen.

Den Laden, den ich schließlich für Anne und mich wähle, heißt Godot und erfüllt fast alle Kriterien. Ich reserviere sogar einen Tisch. Das habe ich noch nie gemacht. Damit hätte ich mich ja festlegen müssen. Um Himmels willen! Eine Wahl, die eine andere ausschließt! Ich hoffe, das Date wirkt durch die Reservierung nicht allzu sehr durchgestylt, so, als hätte ich jeden Schritt geplant wie ein Drehbuch.

Godot klingt toll, irgendwie französisch. Und was französisch klingt, kann nur gut sein. Und schlau. Godot klingt wahnsinnig schlau. Wahrscheinlich stehen alte Bücher im Fenster, und überhaupt wird alles ein bisschen verratzt sein und doch chic. Godot – da denke ich an Pfeifenrauchen und Late Night Whisky trinken. Also nach allem, was ich noch nie gemacht habe. Aber es klingt danach, und das reicht doch.

Wir sind um 20Uhr verabredet. Ich bin um 19.57Uhr da. So pünktlich war ich noch nie. Leider ist Anne noch pünktlicher.

Ich finde, sie sieht verdammt gut aus. Sie ist geschminkt – aber so, dass man’s nicht sieht. Dieser Satz ist Blödsinn, denke ich, nachdem ich ihn gedacht habe. Entweder man sieht’s, oder sie ist nicht geschminkt. Beides wollen nur Leute wie ich, die Kneipen suchen, die groß und klein, eng und weit, stylish und gemütlich zugleich sind. Pflege und Schminke, ja, aber bitte so, dass man’s nicht sieht. Ich finde mich irgendwie anstrengend. Gut, dass Anne das nicht merkt. Ihre Haare trägt sie offen, ein gutes Zeichen – das habe ich jedenfalls in einem Buch über Körpersprache gelesen. Wenn sie jetzt noch den Kopf leicht schief legt und mit ihren Haaren spielt, ist der Abend so gut wie im Sack…

Ich bin ein bisschen stolz auf dieses Date. Anne ist eine von den Frauen, die mich früher nicht mit dem Arsch angeguckt hätten. Allerhöchstens hätte sie mich mit zusammengeknoteten Haaren im Zuhause-Schlabberlook empfangen, um sich bei mir auszuheulen und sich von mir Beziehungstipps geben zu lassen. Vielleicht hätten uns ihre Eltern auch Käsekuchen aufs Zimmer gebracht.

Anne hat keine Ahnung von Wein. Das freut mich, denn ich finde es ungeheuer männlich, den Wein auszusuchen. Zugegeben, ich habe auch keine Ahnung, kann aber ganz gut so tun, als ob. Ich wähle einen Merlot. Ein Merlot im Godot. Ob sie diese feinsinnige Anspielung versteht? Eigentlich kenne ich nur Merlot. Und Cabernet Sauvignon, aber das wäre mir jetzt sprachlich zu affig gewesen. Das ist was für Kaschmirschal-Träger, die mit der Kellnerin eine Diskussion darüber anfangen, ob der 2007er Jahrgang besser oder schlechter ist als der 2006er und warum sie hier nur den 2005er haben, der doch, wie man weiß, der allerschlechteste ist. Unschuldige Lehramtsstudentinnen, die nebenher bedienen, werden in ihrem Leben nie wieder Wein sehen können, ohne weinen zu müssen.

Anne hat einen Spinatsalat bestellt. Wahrscheinlich weil sie sowohl ihrer Waage als auch meiner Geldbörse nicht zur Last fallen will. Ich esse Tortellini in Gorgonzolasauce. Vorzügliches italienisches Essen bei einem französisch klingenden Restaurant, das ist mal Cross-over. Der Abend läuft gut. Wir unterhalten uns, und es entstehen kaum peinliche Pausen. Ich finde aber auch, dass ich ausgesprochen interessiert nachfrage. Das kann ich wahrscheinlich noch aus der Zeit, als ich Beziehungscoach war. Trotzdem liegt über allem die entscheidende Prise Flirt.

Relativ schnell kommt es zur ersten Prüfung des Abends: Wir reden über Beziehungen. Annes Bilanz fällt gleich dreifach bescheiden aus. Anzahl, Qualität und Dauer sind allesamt ausbaufähig, wie ein cooler Coach an dieser Stelle vermerken würde. Ich überlege kurz, ob ich meine Bilanz ein wenig frisieren – also nach unten korrigieren – soll. Es gilt schließlich die Faustregel: Weniger ist mehr. Je weniger Beziehungen, desto besser. Alles über drei Jahre macht einen guten Eindruck. Alles unter einem Jahr einen sehr schlechten. Viele kurze Beziehungen wirken schnell halodrimäßig, unzuverlässig, sprunghaft, unentschieden, draufgängerhaft und alles, was man sonst noch Schlechtes über einen Mann sagen kann.

Im Lauf der Zeit habe ich gemerkt: Am besten kommt bei Frauen immer noch eine Beziehung vom 16. bis zum 26.Lebensjahr. Mit Fernbeziehung, Zusammenwohnen, Verlobung und dem ganzen Hokuspokus. In der Zehn-Jahres-Beziehung steckt alles: Romantik, Ausdauer, Verlässlichkeit, Kampfbereitschaft im Hinblick auf den immer gleichen Gegner, Toleranz und Leidensfähigkeit.

Wer andauernd Kaffee ohne Koffein und Milch ohne Fett bestellt, braucht wohl auch ein Leben ohne Abenteuer. Ich habe mir vorgenommen, bei der Aufarbeitung der Liebesvergangenheit immer drei lange Beziehungen gehabt zu haben. Bei Nina hat das nur halb hingehauen. Ich habe damals den Fehler gemacht, zu behaupten, dass jede einzelne sieben Jahre gedauert hat. Das hätte bedeutet, dass ich mit vier Jahren meine erste Freundin gehabt hätte. Ich habe den Abend dann notdürftig gerettet mit der Ausrede, ich habe eine angeborene Rechenschwäche.

Heute geht alles glatt – auch mathematisch.

Dennoch merke ich, wie Anne innerlich ihre Checkliste abarbeitet. Raucher ja/​nein, treu ja/​nein, selbständig und fürsorglich, Vater und Lover. Ich spüre eine gewisse Erwartungshaltung.

Plötzlich erinnert sie mich an Nina. Nina war die einzige ältere Frau in meinem Leben. Ich war 25, sie 29.Also gefährlich nahe an der gefürchteten 30er-Grenze.

Männer und Frauen um die 30 sind die Mensch gewordene Hölle auf Erden: Sie bauen nur Mist: Reihenendhäuser und spießige Familien. Sie hören Uhren ticken, zeugen ohne Not ein Kind, schließen Bausparverträge ab, oder melden sich bei PARSHIP an. Jetzt muss was Großes passieren, sagen sie sich.

Anne ist da wesentlich cooler. Anne weiß vor allem, was sie nicht will. Zum Beispiel eine Beziehung. Schnell sind wir uns einig, dass wir eine Beziehung weder wollen noch brauchen. Das hindert Anne aber nicht, in den nächsten Minuten zu fragen, ob ich mir irgendwann mal vorstellen könnte, Kinder zu haben. Natürlich! So, wie ich mir auch vorstellen kann, irgendwann mal nach Papua Neuguinea auszuwandern oder auf einem Bauernhof in Brandenburg zu leben. Welche Antwort erwarten Frauen auf diese Frage? Ich sage also ganz unverbindlich: «Och, irgendwann mal vielleicht bestimmt.» Damit mache ich wohl nichts falsch. Ich verspreche nichts, schließe aber auch nichts aus.

Als es ans Bezahlen geht, zücke ich souverän meine EC-Karte. Ich finde, mit Karte zahlen kommt so professionell, wie Merlot mit langgezogenem O zu bestellen.

Wir ziehen weiter in eine Bar. Ich setze mich jetzt neben Anne. Es geht jetzt darum, unaufdringlichen, aber doch spürbaren Körperkontakt aufzubauen. Eine Phase höchster Konzentration steht bevor. Ich werde im Angesicht der vorgerückten Stunde etwas müde, darf mir aber nichts anmerken lassen. Es wird jetzt heißer und heißer. Die Gespräche werden kürzer, die Pausen länger, die Blicke auch. Es ist nun an mir, Fakten zu schaffen, und so beschließe ich, Anne jetzt gleich zu küssen – bevor sie noch fragt, ob ich mir Küssen irgendwann vielleicht mal vorstellen könnte. Der erste Kuss ist mein Job. Ich bin der Mann.

Ich versuche, den richtigen Moment zu erwischen. Welchen Blödsinn man denken kann! Es gibt keinen richtigen Moment für einen Kuss. Genau wie es keine Frauen gibt, die sich schminken, ohne dass man es sieht. Entweder ich küsse sie jetzt, oder ich lade sie für morgen Nachmittag auf ein Stück Kuchen ein. Kurz darauf sorge ich dafür, dass es passiert. Jetzt wird die Nacht spannend, der Abend hat sich gelohnt. Nach längerem Knutschen unterbricht Anne abrupt, rückt ein paar Zentimeter von mir weg und fragt:

«Hast du das geplant?»

«Was?»

«Na, diesen Abend.»

«Wie – geplant?»

«Na, so, das alles hier, zuerst essen gehen, dann in eine Bar und jetzt das hier.»

Es klingt, als hätte ich Anne vorsätzlich und heimtückisch in einen Hinterhalt gelockt, um sie jetzt auszurauben. Mir wird klar, dass das mit der Reservierung eine Scheißidee war. Das wirkt alles zu perfekt. Ich fange an zu stottern:

«Nein, ich habe…»

«Machst du das öfter?»

Ich versuche es mit Ironie: «Nein, keine Sorge. So was mache ich sonst nie. Normalerweise esse und trinke ich nicht, spreche nie und Körperkontakt widert mich an. Egal, mit wem.»

Anne muss kurz lachen. Ich freue mich, dass ihr das noch gelingt. Man wird genügsam im Besprechungsraum Beziehung.

«Also, ich mache so was normalerweise eigentlich nicht», sagt Anne, als sei sie gerade von der Polizei beim Koksen erwischt worden.

«Ah, du isst, trinkst und redest auch nie. Das ist toll, dann passen wir ja phantastisch zusammen», kommentiere ich sarkastisch.

«Nein, ich meine, einfach so mit einem Typen rumknutschen.»

Ich bin selbst überrascht, welche bekloppten Diskussionen ich aushalte, nur, weil ich diese Frau so höllisch heiß finde. Eigentlich müsste ich jetzt aufspringen und sagen: «Führ doch deine spaßfreien Dialoge, mit wem du willst, aber nicht mit mir. Ich will leben, nicht quatschen.» Aber ich mache es nicht. Ich bin wie ein dressierter Dackel, dem man den Tennisball ein wenig zu hoch vor die Schnauze hält. Ich weiß, wenn ich jetzt dranbleibe und vertrauenerweckend wirke, kann das noch was werden heute Nacht. Warum eigentlich heute Nacht? Warum muss alles jetzt sein? Warum habe ich keine Zeit? Die Jahre als Freund-Coach haben Spuren hinterlassen. Einmal habe ich gelesen: Man bleibt immer der Waisenjunge der Jugendlieben, die man nie hatte. Und ich erinnere mich auch an den Satz: Wer ficken will, muss freundlich sein. Für Anne scheint zu gelten: Wer ficken will, muss diskutieren wollen.

«Das Problem ist, ich kenne dich ja nicht.»

«Ja, das ist natürlich ein Problem», sage ich mit ironischer Betroffenheit. «Vielleicht sollten wir uns noch ein paar Monate treffen und erst mal besprechen, ob wir uns kennen, und dann einen Termin ausmachen, um uns zu berühren.»

Anne scheint zu bemerken, dass ihr Geplapper nervt.

«Ich wollte jetzt nicht unterbrechen. Ich wollte es nur sagen.»

«Na klar! Du wolltest auch nicht diskutieren, nur mal drüber reden.»

«Ich bin nicht eine von denen, eine, die einfach so am ersten Abend mitgeht. Das habe ich nicht nötig.»

Ich habe schon fast wieder so etwas wie Respekt vor ihr. Dass sie ihr Geschwätz so selbstbewusst durchzieht – so ganz ohne Sorge, dass ich gehe. Hatten wir nicht die sexuelle Revolution längst hinter uns? Waren wir nicht aufgeklärt? Stattdessen benehmen wir uns wie Prinz und Prinzessin, versichern uns, dass wir uns nicht brauchen und nicht wollen und so unglaublich unabhängig sind. Es ist ein trostloses Kammerspiel. Alles müssen wir kontrollieren – vor allem uns selbst. Leben ohne Spaß.

Sex ist etwas, das man bloß nicht nötig haben darf. Im Grunde genommen sind wir unfähig zum Sex. Wir kennen ihn nur noch als Freak-Show aus dem Fernsehen. In Doku-, Reality- und anderen Soaps sehen wir Bauer Kasuppke, der erzählt, dass er gerne mal seine Ziege vögeln wolle, während seine Frau dabei zuguckt – wenn er eine hätte. Warum er keine hat, wird klar, wenn man ihn sieht.

So ist der Sex zu einer Veranstaltung von Unterschichten-Zombies geworden, die wir anschauen wie Affen im Zoo. Über alldem steht die permanente Abstiegsangst, die stille Drohung: Auch du kannst so werden wie die, wenn du dich nicht anstrengst. Also sieh zu, dass du weiter von oben mit dem Finger auf sie zeigen kannst. Der Schritt vom Sofa zu Hause aufs Talksofa im Studio ist kleiner, als du denkst. Werde bloß nicht so wie die, die es nötig haben.

Den täglichen Talkshow-Terror haben wir inzwischen privat übernommen: Statt Sex zu haben, zerreden wir ihn – politisch korrekt, moralisch, langweilig, angeekelt, bieder. Wer redet, ist schon mal per se eine Stufe über denen da unten.

Die sexuelle Befreiung hat nicht in die Freiheit geführt, sondern in eine neue Sklaverei. Eine krude Mischung aus jungfräulichem unschuldigem Kleinmädchen-Gehabe mit gleichzeitigem Selbstbewusstsein bei Frauen und selbstverliebtem metrosexuellem Gutaussehen bei Männern. Beide genügen sich selbst und haben nur ein Ziel: möglichst clean und rein zu wirken. Sex ist aber nicht clean.

Was Mann und Frau heute noch verbindet: Wir machen Versprechungen, die wir nicht halten wollen. Wir wollen aufreizend wirken, aufreizend sein wollen wir nicht. Der Spaß kommt erst nach der Sicherheit. Uns reichen die Blicke, die uns sagen, wir könnten, wenn wir wollten. Aber wir wollen nicht mehr.

Anne ist mit dem Taxi nach Hause gefahren. Wir haben uns wieder verabredet für nächste Woche. Zum Kuchenessen. Und danach wollen wir ins Kino. Vielleicht.

Anne und ich sind jetzt seit einem halben Jahr zusammen. Es wird Zeit, Annes Freunde und Freunde der Freunde in aller Welt kennenzulernen. Los geht’s mit Freunden in Hamburg. Aber nur für ein Wochenende. Wir stehen am Hauptbahnhof, es ist frühmorgens, ich bin noch todmüde.

Nichtsdestotrotz möchte Anne jeden Moment unserer Reise dokumentieren. Darum müssen wir vor der Abfahrt noch ein Foto von uns machen. Ich erwidere, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass ich jetzt um diese verdammte Uhrzeit an diesem verdammt kalten Morgen auf diesem verdammt kalten Hauptbahnhof das Zeug zum Fotomodel habe. Und außerdem komme doch gleich der Zug.

Doch Anne kennt keine Gnade und beginnt zu kramen. Genau genommen haben wir jetzt zwei Probleme: Das eine ist, das Handyfoto zu machen, das andere ist, das dazu notwendige Fotohandy zu finden.

Anne weiß immer ganz genau, wo sie ihr Handy hingepackt hat, findet es dort nur leider nie. In der Tasche, ruft sie, müsse es sein. Ganz sicher. Die Stimme auf dem Bahnhof sagt, dass der ICE in Richtung Hamburg jetzt gleich einfahren wird. Ich sehe uns schon über den Bahnsteig hechten und den Zug verpassen, nur wegen eines Handyfotos, das wir dann trotzdem nicht gemacht haben. Anne ignoriert die Durchsage und verteilt den Inhalt ihrer Tasche auf dem Bahnsteig. Ich schlage vor, dass wir Spürhunde einsetzen. Dann sagt sie den Satz schlechthin: «Ruf mich mal an!» Ich soll sie also anrufen, obwohl sie neben mir steht, damit sie mich anschließend nach unserem Telefonat, das nicht stattfinden wird, fotografieren kann. Die moderne Technik macht das Leben nicht immer einfacher. Ich rufe Anne also an, in der Hoffnung, dass sie das Handy findet, weil sie das Klingeln hört. Freizeichen. Kein Klingeln, nirgends. «Ich glaub, ich hab’s auf lautlos gestellt!» Na toll.

Der Zug fährt ein. Es bleiben zwei Minuten, um 1.) Annes Haushalt in die Tasche zurückzufüllen, 2.) die Tasche und all ihre Reißverschlüsse wieder zu verschließen und 3.) in den Zug einzusteigen, ohne einen der vier Koffer stehen zu lassen. Ob wir an diesem Wochenende noch nach Hamburg kommen? Plötzlich fasst sich Anne an den Kopf: Zielsicher greift sie in die Außentasche ihres großen Koffers. Da ist es. Normalerweise steckt sie es da nie hin, nur heute. Der Zug steht abfahrbereit im Gleis, viele aufgetakelte Business-Pendler steigen ein, es dauert. Wir gewinnen Zeit, die Anne nutzen möchte, um uns vor einer ganz besonderen Kulisse zu fotografieren: der geöffneten ICE-Tür. Beim Einsteigen. Es gelingt uns, einen Stau zu verursachen. Ich spüre den kommenden Aufstand mehrerer Dutzend Blackberrys auf dem Bahnsteig. Ich versuche, Anne abzuhalten, aber es ist zu spät. Sie hat schon abgedrückt.

Wir sind zwar beide nur verschwommen zu sehen auf dem Bild, aber das ist egal. Hauptsache, es gibt ein Bild. Wir schießen nicht mehr Fotos, um Augenblicke festzuhalten, wir schaffen Augenblicke, um sie auf Fotos festzuhalten.

Es ist wie neulich auf Annes Geburtstagsparty. Auch da musste sie alles fotografieren, vor allem sich selbst. Verlässlich zu erkennen am nach oben ausgestreckten rechten Arm. Viele ältere Mitbürger müssen denken: Die macht den Hitlergruß und beherrscht ihn nicht! Aber es ist auf viel harmlosere Art tragisch. Nachdem Anne den rechten Arm ausgefahren hat, kommt auch noch der linke zum Einsatz. Sie wedelt und fuchtelt wild durch die Gegend, damit auch all die Freunde, die gerade um sie herumstehen, auch noch mit aufs Foto kommen. Da Anne sehr viele Freunde hat, wird es meist eng auf dem Bild. Wenn alle auf ein Foto sollen, ist eben am Ende keiner mehr zu erkennen.

Fünf Leute auf ein Foto. Sie streckt also den rechten Arm aus, drückt ab, überprüft das Foto auf dem Display. Und ist entrüstet: Es sind nur zweieinhalb zu sehen! Sie drückt wieder ab, wieder sind nur zweieinhalb auf dem Bild. Nun choreographiert Anne alles neu: zwei Leute nach rechts, zwei nach links und insgesamt alle enger zusammen. Es blitzt. Anne guckt wieder auf ihr Display, wieder ist nichts zu sehen, dieses Mal hat sie sogar von den zweieinhalb Leuten dem Halben nochmal eine Hälfte abgeschnitten. Und weiter geht’s: horizontal, vertikal, von oben, von unten, von rechts, von links. Jedes Mal unterbrochen von dem Satz: «Mann, schon wieder nicht alle drauf!» Irgendwann sage ich: «Bitte lass es! Dein Arm ist zu kurz für fünf Freunde!» Aber ich habe keine Chance.

Beim gefühlt achtzehnten Versuch haut es endlich hin. Es sind alle Auserwählten auf dem Bild. Die Meute stürmt auf Anne zu, um sich selbst anzuschauen. Sie wird fast überrannt – wie ein Löwe, der die letzte Hyäne des Jahres erlegt hat. Schnell beginnt der Protest: «Boah, wie sehe ich denn aus?» «Und ich erst!» «Ich guck voll doof!» «Bei mir ist der Mund schief! Hab ich etwa immer so ’nen schiefen Mund?» «Lösch das sofort!» Anne findet sich auch «nicht so prickelnd», wie sie in solchen Momenten gerne bemerkt. Was soll ich da erst sagen? Ich habe auf dem Foto beide Augen zu. Aber ich halte die Klappe, es ist mir egal. Ich will nur verhindern, dass es von vorne losgeht. Aber es ist zu spät. «Also nochmal!», ruft Anne. Es reicht nicht, einen Schnappschuss zu machen – nein, er muss perfekt sein. Die richtigen Klamotten, der richtige Blick, der richtige Mund und vor allem: die richtigen Leute. In unserem Anspruch an die Handykamera spiegelt sich unser Anspruch ans Leben: Es hat perfekt zu sein.

Weil ich keinen Ärger mit Anne will, stelle ich mich brav wieder mit dazu und lasse es über mich ergehen. Ich muss an meine Kindheit und den alljährlichen Urlaub an der Nordsee denken. Wie ich Fotos gemacht habe mit einem Fotoapparat, nicht mit einer Kamera. Mit einem 24er- oder einem 36er-Film drin. Wie ich schon vor Ort die Motive auswählen musste, weil wir höchstens zwei 36er-Filme für zwei Wochen mitgenommen hatten. Auswählen – das Wort habe ich schon lange nicht mehr benutzt. Gibt es den Begrif überhaupt noch? Auswählen – das klingt nach Entscheidung. Das ist jetzt nicht so mein Ding. Lieber nehme ich alles mit, so wie Anne hier. Löschen kann man immer noch, irgendwann. Vielleicht.

Nach dem Urlaub brachte ich die Bilder zum Entwickeln. Es kostete Geld und dauerte Monate, bis sie fertig waren. Matt oder glänzend – das war hier die Frage. 9x 13 war die Größe der Wahl. 10x 15 wirkte prollig. Aufgeregt lief ich zu «Foto Horst», dem Fotoentwickler unseres Vertrauens, um noch im Geschäft zu gucken, welche Bilder etwas geworden waren und welche nicht. Meist war ausgerechnet auf dem einen, an das ich mein Herz gehängt hatte, nichts zu erkennen. Die besten wanderten ins Fotoalbum, sauber eingeklebt mit dem gelben UHU-Stift.

Wenn Anne zum ersten Mal meine Mutter kennenlernt, werde ich Fotoalben auspacken, noch bevor das Gespräch ins Stocken geraten kann. Wenn Annes Kinder mit ihrem ersten Freund ankommen werden, wird sie die Handyfotos der letzten drei Tage zeigen.

Zwischen analogem und digitalem Foto kam noch die Polaroid-Kamera. Polaroid war der letzte Dreck. Da fiel das Bild unten aus der Kamera raus wie ein Wurmfortsatz, und ganz langsam wurden die Umrisse der Personen darauf sichtbar. Ein paar ganz Schlaue glaubten, sich schneller erkennen zu können, wenn sie das Foto durch die Luft schüttelten und wedelten. Gebracht hat es nichts, aber wir hatten das Gefühl, etwas getan zu haben. Heute kriegen wir diese Befriedigung nur noch, wenn wir im Lift die «Tür zu»-Taste drücken und danach glauben dürfen, wir seien schneller am Ziel. Das ist natürlich Quatsch – die Taste ist nur dazu da, die ungeduldigen Beschwerden verrückter Hektiker zu verringern. Aber schneller geht nix.