Unter Wahnsinnigen - Florian Schroeder - E-Book

Unter Wahnsinnigen E-Book

Florian Schroeder

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Beschreibung

Ich habe die Nähe des Dunklen gesucht. ›Unter Wahnsinnigen‹ ist eine Zustandsbeschreibung unserer Zeit. Wie gerne würden wir leicht in Freund und Feind trennen, liken oder bashen. Aber so einfach ist der Mensch nicht. Schroeder folgt seinem Drang und seiner Neugier, das Böse zu verstehen. Auf dem Pfad des Bösen trifft er einen Holocaust-Leugner im Gefängnis, begegnet einem Sexualstraftäter auf seinem Weg nach draußen, erlebt einen Mann, der ein Doppelleben geführt hat, ist mit der Letzten Generation unterwegs und besucht NATO-Soldaten in Litauen, die sich darauf vorbereiten, dem Bösen zu begegnen. Seine Recherchen führen ihn zu Psychologen und Kriminologen, zu den Tätern und Opfern, zu Philosophen und Aktivisten – und immer wieder zu sich selbst und seiner eigenen Geschichte. Er trifft einen Teil von jener Kraft, die nur das Gute will und so das Böse schafft. Florian Schroeder besucht die Abgründe dieser Welt und zeigt, dass sie nur unser Spiegel sind, in dem wir uns selbst erkennen können – wenn wir es wollen. Die Wahnsinnigen sind wir alle.

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Über das Buch

UMUNSHERUMTOBTDERWAHNSINN.

›Unter Wahnsinnigen‹ ist eine Zustandsbeschreibung unserer Zeit. Wie gerne würden wir leicht in Freund und Feind trennen, liken oder bashen. Aber so einfach ist der Mensch nicht. Schroeder folgt seinem Drang und seiner Neugier, das Böse zu verstehen. Auf dem Pfad des Bösen trifft er einen Holocaust-Leugner im Gefängnis, begegnet einem Sexualstraftäter auf seinem Weg nach draußen, erlebt einen Mann, der ein Doppelleben geführt hat, ist mit der Letzten Generation unterwegs und besucht NATO-Soldaten in Litauen, die sich darauf vorbereiten, dem Bösen zu begegnen.

Seine Recherchen führen ihn zu Psychologen und Kriminologen, zu den Tätern und Opfern, zu Philosophen und Aktivisten – und immer wieder zu sich selbst und seiner eigenen Geschichte. Er trifft einen Teil von jener Kraft, die nur das Gute will und so das Böse schafft. Florian Schroeder besucht die Abgründe dieser Welt und zeigt, dass sie nur unser Spiegel sind, in dem wir uns selbst erkennen können – wenn wir es wollen.

Die Wahnsinnigen sind wir alle.

Florian Schroeder

Unter Wahnsinnigen

Warum wir das Böse brauchen

»Annäherung wird durch Eintretendes bestätigt, Anwesendes durch Abwesendes ergänzt. Sie treffen sich im Spiegel, der Zeit und Unbehagen löscht. Nie war der Spiegel so leer, so ohne Staub und bildlos [...] der Vorhang wird durchsichtig; die Bühne ist frei.«

Ernst Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch[1]

Vorwort – Wie ich zum Bösen kam

Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede große Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires.

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse[1]

Das Böse erlebt eine gewaltige Renaissance: Freund und Feind, richtig und falsch, für mich oder gegen mich. Es gibt kaum noch Grautöne, dafür fast nur schwarz oder weiß. Die Welt wird auf diese Weise sehr einfach und übersichtlich – aber eben nur scheinbar. Die Kategorien Gut und Böse lassen uns denken, wir hätten die Sache unter Kontrolle. Solange wir nicht böse sind, sind wir immer die Guten. Wir können uns einrichten in einer Schaukelstuhl-Behaglichkeit des »Wir haben’s doch nur gut gemeint!«. Wir können richten und hängen, strafen und verfolgen – wir können andere ein- und ausgrenzen und dabei garantiert auf der richtigen Seite stehen. Das Schönste dabei: Wir brauchen keine Verantwortung mehr zu tragen, wenn die Ursache allen Übels stets woanders liegt, wenn die Bösen immer die anderen sind.

Dadurch gibt es nur zwei Möglichkeiten: Die Nachrichten sind wahr oder fake, Putin ist Hitler oder Held, Deutschland ist am Ende oder größer und geiler denn je. Kaum geschieht ein Verbrechen, fordern die üblichen Verdächtigen endlich schärfere Gesetze angesichts dieser Explosion der Gewalt. Dabei erleben wir heute so wenig Kriminalität wie noch nie in den vergangenen fünfzig Jahren. Das ist die Krankheit unserer Zeit, sie reduziert unsere Spielräume auf dramatische Weise: Entweder wir liken das Gute oder wir canceln das Böse.

Diese Krankheit macht uns gleichzeitig immun gegen den ehrlichen Blick auf uns selbst. Zu ihren Symptomen gehört, dass wir uns darüber etwas vormachen, wie wir sind. Wir sind nicht nur Engel oder Teufel, Herr oder Knecht, Heilige oder Verräter. Wir sind beides – und vielleicht auch manchmal keines von beiden. Doch je besser wir uns fühlen, je mehr wir die Guten sein wollen, desto verhängnisvoller können wir dem Bösen verfallen. Denn wir sind, wie die Psychologie sagt, Meister im Externalisieren. Wir verlagern Gefühle, Motive und Absichten nach außen, statt sie in uns selbst zu suchen. Und rufen laut: »Dafür kann ich nichts!« Wir verabscheuen das Verbrechen und hören – scheinbar paradoxerweise – leidenschaftlich True Crime Podcasts, schauen Tatort und lesen Krimis am Strand.

Wir verlagern das Böse in uns nach außen. Hier spreche ich nicht als Therapeut, sondern als Patient. Ich bin damit großgeworden. Ich komme aus einer Welt, in der das Böse zum Alltag gehörte und darum verschwiegen werden musste: Mein Vater war kriminell, er saß mehrere Jahre im Gefängnis. Mein Vater war ein klassischer Betrüger: gelernter Antiquar, belesen, talentiert, doch statt wertvolle Bücher zu verkaufen, stahl er sie und verkaufte sie teurer weiter. Er zog es vor, in Hotels erfundene Namen anzugeben, statt sich mit der eigenen Unterschrift zu erkennen zu geben. Im Fernverkehr löste er grundsätzlich keine Tickets, weswegen ich mich bei der Fahrkartenkontrolle stets schlafend stellen musste – vielleicht meine erste große schauspielerische Herausforderung. Früh wollte er auch mich ans kriminelle Geschäft heranführen, indem er mich aufforderte, Bananen auf seine Weise vom Markt mitzubringen: sie einstecken, wenn keiner schaut, und dann schnell weglaufen. Mein Vater war ein Hochstapler, eine Art Felix Krull des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Am Ende starb er vereinsamt in einer dunklen Ecke des Schwarzwaldes. Er, der alle Möglichkeiten gehabt hätte, ein gutes Leben zu führen, entschied sich bewusst dagegen und bewegte sich stattdessen am Rand der Gesellschaft. Dafür muss man schon eine Menge destruktiven Enthusiasmus und Aggression in sich haben. War er aber wirklich böse?

Das war der dunkle Fleck meiner Jugend – es galt zu schweigen, nichts zu erzählen, um bloß nicht mit seinen kriminellen Aktivitäten in Verbindung gebracht zu werden. Als Kind einer alleinerziehenden Mutter war die Stigmatisierung ohnehin schon groß. Über meiner Jugend schwebte das große Horrorbild, ich könnte so werden wie er und am Ende genauso vereinsamt, genauso allein, so beleidigt und resigniert sterben – und erst nach zehn Tagen Liegezeit an einem sehr warmen Frühlingsmorgen gefunden werden, weil sich Nachbarn über den Geruch verwesenden Fleisches beschwert hatten. Mein Vater war ein hochtalentierter Taugenichts – einer, an dessen Schicksal nie er selbst, sondern immer nur die anderen schuld waren.

Ich wurde also groß mit einem bösen Antihelden, und das Lebensziel war schon erreicht, wenn ich ihm nicht nacheiferte. So lernte ich auf der einen Seite tatsächlich eine frühe Form der Selbstverantwortung, auch des Ehrgeizes. Erst sehr viel später stellte ich fest, dass dieses für so fest und sicher gehaltene Ufer auf der anderen Seite des Flusses umso brüchiger war, mich nicht zu schützen vermochte vor meinen eigenen Dämonen. Da ich alles, was er war, nur abgespalten und nicht integriert hatte, lebte es fort und wucherte vor sich hin wie ein Tumor. So habe ich mir, während ich alltäglich sehr funktionsfähig war, oftmals in meinen Umfeldern genau die Menschen wieder gesucht, die das mitbrachten, was ihn ausgemacht hatte – es waren Figuren der Wiederholung, die das Vergangene in der Gegenwart lebendig werden ließen und mich herausforderten –, zumeist warfen sie mich zurück auf gewohnte Reiz-Reaktions-Schemata: Um all diese Gremlins, die wie Schatten der Vergangenheit im Heute wirkten, abzuwehren, verhielt ich mich wie er – herablassend, arrogant, verletzend, selbstgefällig, kalt und vor allem: externalisierend. Ich lud also alles zu mir ein, was ich mit großer Kraft von mir fernhalten wollte. Schuld waren auch bei mir oft die anderen.

Wenn ich dieses Buch also Unter Wahnsinnigen genannt habe, so bedeutet das auch: Ich bin einer von ihnen – nicht, weil ich mich selbst dämonisieren oder die Protagonisten heroisieren oder verharmlosen möchte, sondern schlicht, weil ich sie als den anderen, den väterlichen Teil meiner selbst sehe, als Menschen, die in einem bestimmten Moment eine andere Abfahrt genommen haben als ich. Der Unterschied zwischen mir und ihnen, zwischen Gut und Böse, mag riesig scheinen, ist aber vielleicht nur marginal. Der entscheidende Kronzeuge dieses Buches ist wahrscheinlich Michel Foucault. Als ich beschloss, es zu schreiben, dachte ich oft an einen seiner schönsten Texte, der Wahnsinn – das abwesende Werk überschrieben ist. Darin gibt es einen Satz, der eine Art Grundfrage, eine Art Betriebsanleitung für dieses Buch ist: »Warum verstieß die abendländische Kultur genau das an ihre Grenzen, worin sie sich ebenso gut hätte erkennen können – worin sie sich de facto verzerrt selbst erkannt hat?«[2] Es ist doch erstaunlich: Ein Zeitalter, das sich rund um die Uhr selbst bespiegelt – von Insta-Reels über Feedback-Schleifen bis zu Achtsamkeits-Workshops –, ist vor lauter Selbstoptimierung blind für die Wunden und Narben, die Brüche und Risse, die Schwellen und Abgründe, in die zu schauen wirklich heilend sein könnte. Darum ist die Frage dieses Buchs: Wer sind die Ausgeschlossenen, die Fremden, die anderen? Warum verunsichern sie uns, oder besser: Warum lassen wir uns von ihnen verunsichern? Wen haben wir zum Bösen erklärt und vor wem möchten wir Angst haben? Neben dem Bösen spielt die Angst in diesem Buch eine große Rolle. Das war auch für mich eine überraschende Erkenntnis: Wir haben Angst vor dem Bösen, aber auch die sogenannten Bösen haben häufig mehr Angst, als wir glauben – vor sich oder der Welt, manchmal vielleicht vor beidem. Wie ist das möglich? Die Antworten helfen uns zu verstehen, warum wir das Böse brauchen und welche Leerstelle es füllt. Wenn wir den Blick in diese Richtung verschieben, könnte das der erste Schritt sein, das Böse anzuerkennen, ihm Platz am Tisch einzuräumen und es nicht länger als irre, wahnsinnig oder bestialisch wegzusperren. Wir brauchen das Böse, weil es unsere Angst, unsere Lügen, unsere Doppelmoral erklärt. Das Böse ist unsere Krücke. Es geht in diesem Buch auch um die Frage, wie unser Leben ohne diese Krücke aussehen könnte.

Als Komiker und Satiriker höre ich seit Jahren, meine Show sei dann besonders gut, wenn sie richtig böse ist. Ich habe mich immer gefragt, was das bedeutet: Die meisten Freunde des bösen, bissigen Kabaretts wünschen sich, dass man das sagt, was sie schon immer dachten, nur eben besser, zugespitzter formuliert. Das ist aber das Gegenteil von böse: Das ist meist näher am Evangelischen Kirchentag als an messerscharfer Gesellschaftsanalyse.

Das Böse hat mannigfaltige Gesichter – es stößt uns ab, zieht uns in seinen Bann, lässt uns staunen und erschaudern, erzwingt, dass wir angewidert zuschauen oder mit einer ängstlichen Lüsternheit ambivalent bleiben. Aber es ist stets interessanter als das Gute, es fordert uns immer heraus. Böse sein, sofern man diesen abgedroschenen Begriff in Stellung bringen kann, heißt in der Satire gerade das Gegenteil von dem, was emsige Absitzer des Kleinkunst-Abonnements glauben: Nämlich gerade nicht dem Publikum nach dem Mund reden, sondern es kontraintuitiv verwirren, auf die falsche Fährte führen, sich selbst zum Bösen zu machen, zum bigotten Arschloch. Nur bitte nicht zum Prediger des Guten, der im Gewand des Enttäuschten sich bequem einrichtet in der Haltung, die Welt sowieso nicht ändern zu können.

In diesem Buch geht es um diese Konfrontation, darum, das Böse zu zeigen, so, wie es ist. Ohne die billige faszinierte, fast schon voyeuristische Lust am Bösen, aber auch ohne falsche Rücksichtnahmen. Darum habe ich mich entschlossen, teils auch harte, an die Grenze des Erträglichen gehende Handlungen und Taten so detailliert wie nötig zu beschreiben – weil sie das Innere des Bösen ausmachen. Ich bin dorthin gegangen, wo das Böse ist, habe mit denen gesprochen, die mutmaßlich Böses getan haben oder es tun könnten. Ich habe die Nähe des Dunklen gesucht – und zwar, um es aus der größtmöglichen Nähe heraus zu verstehen, zu beobachten, ihm zuzusehen und zuzuhören. So flankieren dieses Buch Porträts und Reportagen, in denen ich weniger versuche, das Rätsel der potenziellen Täter zu entschlüsseln, um mich zum Richter aufzuschwingen – als das Böse vielmehr in seiner Rätselhaftigkeit und Mehrdimensionalität zu zeigen und damit die Kategorie des Bösen selbst aus den Angeln zu heben.

Darüber schwebt stets die Frage: Wie haben wir, die abendländischen Menschen, die Philosophie, die Psychologie, die Politik, im Lauf der Zeit das Böse zu fassen versucht? Welche Versuche gab es und warum gingen sie oft in die Irre? Das Kleine, das Persönliche, zeige ich also vor der Folie des großen Ganzen. Nähe braucht Distanz, Intimes braucht Abstand, der Vordergrund wird scharf nur durch seinen Hintergrund. Wer das eine ohne das andere haben will, wird bei einer vorhersehbar langweiligen Haltung ankommen, in der die Faszination des Bösen alles wäre und ich als Autor mit Gafferaugen voller Angstlust auf Verkehrsunfälle starrte. Insofern ist der Blick des Buches eher ein chirurgischer, hoffentlich präziser, nachdem das lauttönende Tatütata sein Werk getan hat.

Es sind Geschichten von Menschen und ihren Leben, die ich anders verstehe, seit ich ihnen nahegekommen bin.

Krieg – Putin, der geliebte Feind

Annäherung an den Feind

Ich bewege mich hier auf neuem Terrain. Im Grunde war mir Krieg immer egal. Er war weit weg, ohne Zweifel schrecklich, aber für alles, was damit im Detail zusammenhängt, habe ich mich nie interessiert. Den Kriegsdienst habe ich selbstverständlich verweigert – so wie sich das für jemanden gehört, der sich mit seinem Zwei-Komma-irgendwas-Abi für einen Intellektuellen hält. Das Kreiswehrersatzamt Freiburg im Breisgau stufte mich mit T3 ein, also mittelmäßig tauglich. Ich hatte gehofft, aufgrund meines Heuschnupfens für untauglich erklärt zu werden, aber das reichte dann doch nicht. So endete ich als Zivi beim Patientenradio der Uniklinik Freiburg – faktisch war ich Radiomoderator. Man kann also sagen: Im Grunde habe ich auch den Zivildienst verweigert. Den Soldatenberuf hatte ich aufgrund der Befehls-Gehorsams-Struktur immer heimlich verachtet – aber eher aus überheblichem Desinteresse denn aus fundiertem Wissen.

Vor diesem Hintergrund bin ich dankbar, dass mir die Bundeswehr in Litauen zwei Presseoffiziere zur Seite gestellt hat, die mich auf Schritt und Tritt begleiten. So ist das üblich, wenn ziviler Besuch kommt. Beide fungieren hier nicht als Zensoren oder Überwacher, oft helfen sie, all die Fachwörter zu übersetzen, die mir, dem feinen Herrn Ex-Zivi, sonst unverständlich geblieben wären.

Gaižiūnai heißt der Truppenübungsplatz irgendwo im litauischen Niemandsland, wo die neun Scharfschützen des Panzergrenadier-Bataillons 401 aus Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern eine Annäherungsübung durchführen. Sechs Scharfschützen müssen es schaffen, sich über gute zwei Kilometer an zwei Kameraden, die als feindlicher Beobachter fungieren, anzunähern. Werden sie entdeckt und rausgeschossen, gibt es Punktabzug. Im Gefecht wären sie wahrscheinlich tot. Im Unterschied zu den Schützen sehen die Beobachter mit ihren Ferngläsern die Landschaft nur zweidimensional. »Das ist eine völlig andere Sichtweise.« Gerster, 35 Jahre alt, der Zugführer, ist mit seinen acht Kameraden für sechs Monate hier in Rukla – einem 2000-Seelen-Dorf mitten in Litauen, etwa eineinhalb Autostunden nördlich von der Hauptstadt Vilnius. eFP-Battlegroup heißt die NATO-Kampfgruppe, die hier seit 2017 stationiert ist. Das steht für Enhanced Forward Presence, was etwas wackelig übersetzt so viel bedeutet wie »Verstärkte Vorwärtspräsenz«. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine sind hier 1700 Soldaten stationiert – ein Drittel mehr als vor dem Angriff. Die Bundeswehr hat die Führung, sie stellt mehr als die Hälfte der Kräfte. Neben Deutschland rotieren Einheiten aus Norwegen, Belgien, Frankreich, Kroatien, Luxemburg und den Niederlanden. Faktisch soll die Gruppe Putin abschrecken, die Grenze zu überqueren; Putin wiederum sieht in der westlichen Präsenz eine Provokation. Greift Putin hier an, sind die Deutschen im Krieg. Das, was sie nie wieder sein wollten.

Drei Tage Anfang Mai 2023 verbringe ich hier – nach etlichen Mails, Telefonaten und einem persönlichen Vorstellungsgespräch beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam. Dort war man anfangs skeptisch: ein Scharfschütze der Bundeswehr inmitten von Gewalttätern und anderen Wahnsinnigen, gemeinsam in einem Buch? Da sei aber der Soldat schon etwas anderes. Ich habe erklärt, worum es gehen soll: natürlich um den Ukraine-Krieg, um Putin als den Bösen, um Pazifismus, Terrorismus und die Frage, ob Soldaten das Böse brauchen – und ob das Böse Soldaten braucht.

»Hier habe ich als Erstes mit einem Sumpf Bekanntschaft gemacht«, sagt Gerster, nachdem wir die Freifläche des Truppenübungsplatzes hinter uns gelassen haben. Die Annäherung an den Feind führt unter zwei Stromtrassen durch eine sumpfige Graslandschaft, die von zwei Baumreihen umgrenzt wird. So wirkt der Weg wie eine riesige Allee mitten im Feld. Mit einem Marder sei er damals, gerade angekommen, bei Schnee munter losgefahren und nach achtzig Metern stecken geblieben. Schließlich musste ein Bergepanzer kommen, der ebenfalls stecken blieb. Man habe lange Drahtseile gespannt, um erst den Bergepanzer zu bergen und dann den richtigen Panzer.

Neben uns sitzen zwei Scharfschützen zwischen Bäumen im Gras und suchen nach dem richtigen Weg zum Feind. Für die Beobachter ist es kaum möglich, sie zu sehen. »Tarnung ist die Lebensversicherung des Schützen«, hatte Gerster noch im Wald gesagt. Der Scharfschütze hat keinen Helm und keine Schutzweste und auch nicht die Feuerkraft eines Grenadierzugs mit 36 Mann. Ghillie suits heißen die Tarnanzüge, mit denen sie stattdessen unterwegs sind. Das Wort kommt aus dem Schottischen. Bis zu 90 Arbeitsstunden gehen drauf, bis der Schütze seinen Tarnanzug angefertigt hat: Er muss aus Jutesäcken einzelne Fäden zupfen, einfärben und einzeln in den Ghillie hineinflechten. In Form und Farbe soll sich der Schütze jederzeit der Landschaft anpassen können, Tarnschminke im Gesicht kommt hinzu. Alle menschlichen Konturen müssen gebrochen werden. Im Rucksack, der zwischen vierzig und sechzig Kilo wiegt: Scharfschützengewehr, Sturmgewehr, Pistole, Munition für alle drei, Laser-Entfernungsmesser – das ist ein Fernglas, mit dem sich auf Knopfdruck die Entfernung zum Ziel anzeigen lässt, achtfach vergrößert. Maximal 1,4 Kilometer weit kann das Scharfschützengewehr G22A2 im Kaliber 300 Winchester Magnum schießen. Aus dieser Entfernung kann es einen Menschen treffen, aus 800 Metern eine Brust und aus 600 Metern einen Kopf. 880 Meter pro Sekunde legt das Geschoss zurück, es durchschießt Schutzwesten und gepanzerte Fahrzeuge. Trifft eine solche Patrone ein Reh, ist es danach Ragout. Scharfschützen werden ausgebildet, um zu schießen, im Zweifel zu töten, das ist ihr Job. Gerster widerspricht, das stimme so nicht. Sie sollten in erster Linie den Feind verletzen, nicht umbringen. »Das Ziel ist, noch mehr Soldaten an den Verletzten zu binden, sodass die gegnerischen Kräfte den regulären Kampfhandlungen nicht mehr nachkommen können, weil sie Verwundete versorgen müssen.« Getötet habe er noch niemanden, nicht einmal geschossen. Er will das auch nicht. Es ist die Frage, die Scharfschützen hassen. Sie ist der Grund, warum niemand in Gersters Umfeld weiß, dass er Scharfschütze ist, nicht einmal sein Versicherungsvertreter. Er ist eben bei der Bundeswehr und häufig weg von zu Hause.

Wie alle Zivilisten kenne ich den Krieg nur aus Büchern und Filmen. Und so verbringe ich, während Gerster und seine Kameraden wieder in der Kaserne sind, die Abende in Kaunas, einer malerischen Stadt an der Memel, mit Kriegsliteratur. Mit Ernst Jünger, dem Ästheten des Krieges. Offizier im Ersten Weltkrieg, mindestens siebenmal verwundet, bekam er so ziemlich alle Auszeichnungen und war der jüngste Soldat, dem der Orden Pour le Mériteverliehen wurde. Jünger beschreibt den Krieg als Rausch, als Erweckung. Es geht um den Kampf um des Kampfes willen. Der Feind wird nicht als Feind gesehen, den der Soldat vernichten muss, er ist schlicht auf der anderen Seite, einer, der gebraucht wird, um die lebendige Lust des Kampfes erleben zu können. »Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche.«[1] Mit diesen Worten beginnt Jünger sein Kriegstagebuch In Stahlgewittern. Krieg ist ihm ein männlich-orgiastisches Ereignis. Zwar spricht er vom Schrecken, vom Grauen und von der Gefahr. Aber all das ist stets nur Antrieb, um es ins Kraftvoll-Ekstatische zu wenden: »Gewiss, es ist bitter ernst. Aber das Abenteuer ist der Glanz, der über der Drohung liegt. Die Aufgabe ist das Leben, aber das Abenteuer ist die Poesie. Die Pflicht macht die Aufgabe erträglich, aber die Lust an der Gefahr macht sie leicht.«[2] Da Jünger die wissenschaftliche Psychologie, wie alle anderen Naturwissenschaften, ablehnt, kann Krieg zum Kriegsspiel werden wie ein Theaterstück oder ein Film. Leben und Tod werden zu Kunst. Damit lagert er auch die Frage nach dem Bösen aus in eine äußere, dämonisierte, unhinterfragte Notwendigkeit des Krieges.

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat sich auch in Deutschland etwas verändert. Manche sagen, das Land sei wieder nah an der Kriegsbegeisterung eines Ernst Jünger, so, als seien wir dankbar, dass es plötzlich wieder ums Ganze, um Leben und Tod geht. Das ist sicher Quatsch. Was aber hat sich verändert? In meinen Tagen in Litauen trendet auf Twitter der #Bundeswehr. Die üblichen Verdächtigen erregen sich vorhersehbar über eine neue Werbekampagne der Armee. Plakate säumen deutsche Straßen, auf denen eine Soldatin mit Tarnschminke im Gesicht auf einem Panzer mit einem Laser-Entfernungsmesser sitzt. In großen Buchstaben ist zu lesen: »Was zählt, wenn wir wieder Stärke zeigen müssen?« Auf Twitter brüllen ein paar Leute, die Bundeswehr sei geschichtsvergessen und kurz davor, wieder zur Wehrmacht zu mutieren. Auch das ist das gewohnte Gekeife der sozialen Medien, aber irritierend scheint es schon: Plötzlich ist all das wieder da, was für immer erledigt schien: Waffen, Munition, Panzer, Kampfjets, Soldaten. Am 1. April 2022 gingen Bilder eines Massakers um die Welt, das russische Soldaten im ukrainischen Butscha verübt hatten. Vermutlich waren sie es, die alles verändert haben: Bilder des Grauens von toten Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, verstümmelt und verbrannt, gefoltert und vergewaltigt. Der erste Reflex auf diese Bilder ist meist eine Enthumanisierung der Täter: »Das sind keine Menschen!« Damit behandeln wir die Täter aber kaum anders, als sie ihre Opfer behandelt haben: als Menschen ohne Würde und ohne Rechte. Zugleich externalisieren wir das Böse: Das sind fremde Dämonen, die mit uns nichts zu tun haben. Wir sind die Guten, die Humanen – und zwar einfach nur deshalb, weil wir so etwas nicht tun würden oder nicht tun könnten. Also müssen wir uns weder mit denen noch mit uns wirklich beschäftigen. Mit der dunklen Tatsache zum Beispiel, dass deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg nur zwanzig Kilometer von Butscha entfernt, in Babyn Jar, unfassbare Kriegsverbrechen begangen haben.

Sigmund Freud waren diese infantilen Abwehrmechanismen des Dunklen im Menschen sehr vertraut. »In Wirklichkeit gibt es keine ›Ausrottung‹ des Bösen«, schrieb er in Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Die Psychologie zeige »vielmehr, daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur sind, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse.«[3] Das ist zunächst eine Blaupause für all die martialischen Schreie nach Rache und Vergeltung. Freud geht nun davon aus, dass Menschen sich entwickeln, indem sie sich gleichsam auf jeder Entwicklungsstufe selbst mitnehmen – also das, was früher war, was wir einmal erlebt haben, wird durch neues Erleben nicht getilgt, sondern verändert mitgeführt. Im Krieg nun zeigt sich »der frühere seelische Zustand«, der überwunden und irgendwo in den Kellern der Vergangenheit konserviert schien, erneut wie unter einem Vergrößerungsglas – und zwar so, »als ob alle späteren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht worden wären«.[4] Freud hat diese Neigung später polemisch aufgegriffen: »Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ›Bösen‹, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird.«[5]

Draußen im Feld, auf dem Weg zum Feind, inmitten der Annäherung, sind wir abgebogen. Wir laufen auf einem breiteren Weg, ohne Gras und ohne Sumpf. Es ist noch ein Kilometer bis zum Ziel. Der Weg scheint uns vom Feind, den Beobachtern, wegzuführen. Das Dach des dunkelgrünen Transporters, gerade eben noch deutlich zu sehen, ist jetzt irgendwo dort oben auf einer Anhöhe verschwunden. Gerster ist eigentlich gelernter Tischler. Früh entschied er sich für eine Laufbahn bei den Streitkräften. Erst als Zeitsoldat, heute als Berufssoldat. Überall, wo die Bundeswehr in den vergangenen Jahren war, war er auch. Einmal in Mali und zweimal in Afghanistan. Dort ist er einmal unter Beschuss geraten. Zusammen mit amerikanischen Kräften war er unterwegs, als aufständische Taliban das US-Fahrzeug mit einer Sprengfalle fast völlig zerstörten. Als die Deutschen die verwundeten Amerikaner versorgt hatten, beschossen die Aufständischen sie mit Maschinengewehren und Mörsern. Den ganzen Tag lag er in Stellung mit seiner Waffe, von morgens bis abends um 21 Uhr. Geschossen hat er nicht, getroffen wurde er auch nicht. Wie hat er das erlebt? »Der Tag ist im Nachhinein relativ schnell vergangen.« Erst ein halbes Jahr danach, wieder zu Hause, habe er Albträume gehabt, immer wieder, immer dieselbe Geschichte: »Dass ein Aufständischer mit einer Waffe auf mich zukommt, den Feuerkampf gegen mich führt, ich selbst eine Waffe habe, aber einfach nicht schießen kann.« Psychologen nennen das posttraumatische Belastungsstörung. Damals war er 24 Jahre alt, jünger, naiver und abenteuerlustiger. Heute hat sich vieles verändert. Er ist seit sechs Jahren mit einer Frau zusammen, sie haben geheiratet und ein Kind, eine eineinhalbjährige Tochter. Er telefoniert täglich mit ihr, meist auch mit Video, damit er wenigstens ein bisschen mitbekommen kann, wie sie sich entwickelt. Gersters Leben ist ein Widerspruch, gelebte Zerrissenheit – damit wird er auch zu unserem Spiegel, dem Spiegel unserer zwiespältigen Haltung zum Krieg. Er ist Schütze, möchte aber nicht schießen müssen; er möchte zu Hause sein, Familienvater sein, und doch seinen Auftrag wahrnehmen. So wie wir keinen Krieg wollen und doch beschützt sein wollen, solange es Leute wie Putin gibt.

Hatte er in Afghanistan das Gefühl, in einer Umgebung zu sein, die böse ist? »Ja, dadurch, dass ein Menschenleben dort gefühlt nicht so viel wert ist wie in unseren Normen. Für die Aufständischen sind wir die Bösen, weil wir in ihr Land eingedrungen sind und unsere Werte und Normen verbreiten wollen.« Alles immer eine Frage der Perspektive. Und das Böse, was ist das? »Das, was bewusst versucht, Schaden anzurichten.« Somit konnten die Taliban ihm auch zum Feind werden. Es sei eben eine andere Kultur, die auch aggressiv gewirkt habe auf ihn. Immer wieder seien sie mit Steinen beworfen worden. »Dann fragt man sich auch: Okay, wir sind doch jetzt eigentlich hier, um für euch Sicherheit herzustellen, und warum seid ihr uns gegenüber jetzt so negativ gesinnt?« Es ist ihm bis heute schleierhaft, dass er und damit wir, der Westen, anders als gut wahrgenommen werden könne.

Das Wichtigste für den Scharfschützen sei neben dem Blick nach vorne, aufs Ziel gerichtet, der nach hinten. Gerster sagt, die entscheidende Frage sei: »Wie wirke ich in der Landschaft, die hinter mir liegt?«

Der Dämon des Westens

Ob ich Putins Geschichte mit der Ratte kenne, fragt Storm, der Truppenpsychologe in seinem abgedunkelten Containerkasten. Er sitzt auf der Couch, auf dem sonst seine Klienten sitzen. Die Rattenstory geht so: In ärmlichen Verhältnissen sei er aufgewachsen, der Vater war in einer Fabrik, seine Mutter Hausmeisterin. Als Junge trieb er sich mit Kameraden auf den Hinterhöfen herum. Im Hausaufgang hausten Ratten. Seine Freunde und er jagten sie immer mit Stöcken. Einmal entdeckte er eine riesige Ratte und fing an, sie zu verfolgen, bis er sie in die Ecke getrieben hatte. Da bäumte sie sich plötzlich auf und ging auf ihn los. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht und jagte ihn. Diese Geschichte hat Wladimir Putin immer wieder über sich erzählt, insbesondere in Interviews zu Beginn seines Aufstiegs.[1] Für Storm ist diese Geschichte der Schlüssel zum Verständnis dessen, was Putin tut. Der Morgen des 24. Februar 2022, der Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine, habe ihn darum auch wenig überrascht. Er musste sofort an die Ratte denken.

Ist Putin die Ratte? Hat er Grund, sich gedemütigt, in die Ecke gedrängt zu fühlen? Tatsächlich ist die NATO-Osterweiterung eine der großen Fragen rund um diesen Krieg. Der damalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow sagte noch 2014, es sei ein Mythos, dass er betrogen worden sei. Es hat also faktisch kein Versprechen an Moskau gegeben, dass die Grenzen Deutschlands auch die Grenzen der NATO bleiben würden.[2] Nachdem der Eiserne Vorhang gefallen und der Warschauer Pakt Geschichte war, ergriffen die mitteleuropäischen und baltischen Staaten die Initiative und wollten möglichst sofort der NATO beitreten – auch, weil Mitte der 1990er-Jahre wieder neoimperiale Stimmen aus Russland zu hören waren, die dort »große Ängste hervorgerufen haben«, wie der Osteuropa-Experte Klaus Gestwa von der Universität Tübingen sagt. Dabei habe die NATO durchaus die Sicherheitsbedenken Russlands berücksichtigt. Sie verpflichtete sich dazu, östlich der Elbe keine Militärstützpunkte zu errichten und auch nicht mehr als 5000 NATO-Soldaten in den beitretenden Staaten zu stationieren. »Das bedeutet, dass wir es hier mit einer politischen, nicht mit einer militärischen Erweiterung zu tun haben«, sagt Gestwa. Selbst nach der Annexion der Krim 2014 waren höchstens 8000 NATO-Soldaten auf dem Gebiet der neuen Beitrittsländer stationiert. »Meines Erachtens ist die herbeifantasierte Bedrohung Russlands durch die NATO ein Zerrbild, um den eigenen Angriffskrieg als Präventivkrieg darzustellen«,[3] bilanziert Gestwa.

So gut wie alles, was Putin bis heute tut, speist sich aus einem Trauma jener Zeit, 1991, als die UdSSR zusammenbrach. In der Folge nannte Putin dies »die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts«.[4] Ein Zerfall ohne Gewalt, ohne Putsch und ohne Revolution – schon der Mauerfall 1989 hatte Putin erschüttert, der damals in Deutschland als sowjetischer Spion arbeitete. Putins Frage war die der Scharfschützen: Wie werde ich vom Feind gesehen und wie verhindere ich, dass er mich überhaupt beobachten und aufklären, also verraten kann. Der Politologe Ivan Krastev, der Putin persönlich getroffen hat, beschreibt ihn so: »Wenn er Menschen sieht, die demonstrieren, fragt er nicht: ›Warum sind sie da?‹ Seine Frage ist: ›Wer hat sie geschickt?‹«[5] Überall dunkle, böse Mächte, die im Hintergrund die Strippen ziehen.

Putins Weg zum Dämon des Westens lässt sich in drei Phasen einteilen. Es ist die Geschichte einer gegenseitigen Entfremdung. In der ersten Phase seiner Regentschaft gab er den Imitator des Westens. In den Tagen, nachdem in New York zwei Hochhäuser eingeäschert worden waren und die Welt unter Schock stand, sprach er im Deutschen Bundestag. Er hielt damals eine Rede, die hiesige Politiker und Journalisten nachhaltig beeindruckte. »Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf«, sagte er und sprach vom gemeinsamen »Aufbau des europäischen Hauses«.[6] Beim damaligen Kanzler Gerhard Schröder verfing das, er übernahm Putins Deutung: Der Tschetschenien-Krieg ist ein Teil des Kriegs gegen den Terror, dem sich die westliche Welt verschrieben hatte.

2007 gab er auf der Münchener Sicherheitskonferenz erstmals auf großer Bühne den Angreifer im Gewand des Opfers. Jetzt attackierte Putin: Sein Feind waren die heuchlerischen USA, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Welt zu bekehren, indem sie sich in die inneren Angelegenheiten fremder Länder einmischten, dabei ihre eigenen geopolitischen Interessen vorantrieben und in die eigene Tasche wirtschafteten.

Als Russland 2008 Südossetien und Abchasien besetzte, bezog sich Putin wesentlich auf den aus seiner Sicht Inbegriff westlicher Heuchelei: die Menschenrechte.[7] In seiner Erklärung zur Annexion der Krim bediente er sich in Teilen fast wortgleich der vom Westen unterstützten Unabhängigkeitserklärung des Kosovo.

Mit der Annexion der Krim 2014 zündete Putin die zweite Eskalationsstufe. Er ließ den halben Kreml seinen neuen, längst verstorbenen Lieblingsautor Iwan Iljin lesen – diesen aus seiner Sicht geradezu visionären russischen Philosophen, der ihm die Stichworte für die kommenden Jahre liefern sollte. Iljins These war, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus werde es ein »einige Jahre währendes Chaos« in den Republiken der ehemaligen UdSSR geben, das nur eine »nationale Diktatur« beenden könne. Nur so könne das russische Imperium dem Westen widerstehen, dessen einziges Ziel es sei, »Russland zu zerstückeln, um es unter westliche Kontrolle zu bringen, es aufzulösen und schließlich verschwinden zu lassen«.[8] Der klassische Verschwörungsmythos: Wenn wir untergehen, wird es die Schuld des Feindes sein. Früher oder später wird das Rattengift wirken.

In dieser Zeit beginnt auch Putins Kampf gegen das, was er die westliche Dekadenz nennt: die liberale Haltung gegenüber Minderheiten, offen gelebte Homosexualität, Schwangerschaftsabbrüche, Zugang zu Pornografie. All das führt aus seiner Sicht unweigerlich zur Zerstörung der Familie und in einen alles zersetzenden Relativismus. Worte, die auch vom Papst sein könnten.

Die Reaktion des Westens hilft ihm, sich in dieser Rolle weiter zu inszenieren. Als viele westliche Staatenlenker 2014 die Olympischen Spiele in Sotschi boykottieren, einige mit der Begründung, das sei, als führen sie 1936 zu Hitlers Olympiaspektakel nach Berlin, hatte der Westen höchstpersönlich Putin zu dem gemacht, was man die böse Fee nennt – die ungeliebte Tante lädt zum Tanztee zu sich nach Hause ein und keiner geht hin.

Aus dem (selbst)viktimisierten Aggressor war nun ein politischer Mephisto geworden. Der Teufel hat im Unterschied zu seinen Gegenmächten auf der Seite des Guten größere Freiheiten – und diese erweiterte Mephisto Putin zielstrebig. So feierte Russland den Brexit wie Amerika zuvor den Zerfall der Sowjetunion. So wie der Westen liberale NGOs in Russland unterstützte, finanzierten Russen rechts- und linksextreme Gruppen im Ausland. Und wie sich die USA immer wieder in russische Wahlen eingemischt haben – wie etwa 1996, als ein von Bill Clinton arrangiertes Darlehen die Wiederwahl Boris Jelzins ermöglichte –, mischte sich Russland 2016 in den US-Wahlkampf ein und unterstützte Donald Trump.[9] Mit den Sankt Petersburger Trollarmeen des späteren Wagner-Chefs Prigoschin zeigte Russland auch, dass die angeblich so freien Wahlen der USA ähnlich manipulierbar sind wie die eigenen; und das Internet, dieses von der westlichen Welt noch im Arabischen Frühling glorifizierte Medium der Freiheit, war nun plötzlich das Instrument der Manipulation geworden.

Putin war damit endgültig der Antiwestler. Und einer der offiziellen Gründe für den Einmarsch in die Ukraine, Putins dritte Eskalationsstufe, war, so einem Angriff des Westens auf Russland zuvorkommen zu wollen.

Was aber ist Putins Ziel? Eine Restauration des Russischen Reichs? Zwei Monate vor Beginn des Krieges, im Dezember 2021, schickte der Kreml zwei »Vertragsentwürfe« ans Weiße Haus in Washington und die NATO in Brüssel. Darin stand: Westeuropa solle sich militärisch neutralisieren, die USA mögen sich aus Europa zurückziehen und die demokratische Entwicklung Osteuropas soll zurückgedreht werden. Das hätte bedeutet: Kontinentaleuropa unterläge dem Einfluss Russlands. Die US-Sicherheitsberaterin Fiona Hill gab daraufhin zu Protokoll, dass, im Fall eines russischen Siegs in diesem Konflikt, »die baltischen Staaten, Finnland, Polen und viele andere Staaten, die einst Teil des russischen Imperiums waren, der Gefahr eines Angriffs oder eines Umsturzes von innen ausgesetzt« wären.[10] Ambitionierte Restauratoren sind oft Fanatiker. Sie können nicht lockerlassen, bis alles wieder genauso aussieht, wie es einmal war. Oder noch schlimmer: wie sie glauben, dass es einmal gewesen sein muss. Paradoxerweise dürften dabei auch die Sanktionen, die der Westen nun gegen Russland verhängt hat, Putins Geschmack treffen. Damit kann er sich weiter zur Opferratte machen. Mehr noch als um Restauration scheint es ihm um eine ethnische Säuberung zu gehen – um eine Reinigung von allem Westlichen –, und es funktioniert: Kaum hatte sich McDonald’s aus Russland zurückgezogen, eröffnete ein russisches McDonald’s – mit demselben Personal und fast identischen Produkten, nur in russischen Lettern. Die Namen ändern sich, die Kopien bleiben. Erst wenn dort alles Westliche getilgt ist, wenn die Reinheit des Russischen wiederhergestellt ist, kann der russische Geist wieder erstrahlen. Dann wäre die Wunde von 1991 geheilt. Es scheint paradox: Der Westen, namentlich die USA, war der erklärte Feind Russlands, das personifizierte Böse. Zugleich imitierte Russland die ganze Zeit genau diese Vereinigten Staaten. Wenn Amerika in Syrien interveniert, kann Russland das auch tun. Wenn Amerika im Irak über Massenvernichtungswaffen lügt, kann Russland auch eine Entnazifizierung der Ukraine als Vorwand für einen Angriffskrieg ins Feld führen. Wenn die Amerikaner 1999 in Belgrad zunächst den Fernsehturm angreifen konnten, kann Russland auch den Ukraine-Krieg eröffnen, indem es den Kiewer Fernsehturm angreift. Wenn Amerika ein imperialer Staat ist, kann auch Russland imperial auftreten. Warum aber imitiert man den, den man verachtet?

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1991 war die Botschaft des selbsterklärten Siegers der Geschichte – des Westens – an die Weltgemeinschaft: Wenn Ihr unser Spiel akzeptiert, mit all den Regeln, die wir aufstellen, dann könnt Ihr mitspielen. Also strengt Euch an. In Osteuropa genau wie in Russland gab es eine Phase, in der diese Staaten versuchten, so zu sein, wie sie sein sollten. Russland war sogar in Putins erster Phase als Präsident eine Art Musterschüler der Imitation. Gute Nachahmer wollen zwar meist gefallen, zugleich aber auch im Schatten derer bleiben, denen sie gefallen wollen. Da ihnen das Eigene fehlt, kommt zum Streberhaften auch immer ein Stück Hass auf die, denen sie so eifrig nacheifern.[11]

Friedensverhandlungen jetzt!

Für Ivan Krastev ist der Ukraine-Krieg so etwas wie Putins Identitätspolitik, ausgeführt auf dem Schlachtfeld.[1] Identitätspolitik ist in unserem Alltag der nervige Streit, der spätestens nach fünf Minuten beim Thema Gendern hoffnungslos eskaliert und nach zehn Minuten bei Hitler ankommt. Die Älteren sagen dann, sie dürften nichts mehr sagen, während sie gerade Applaus dafür bekommen, dass sie das lautstark sagen, was sie nicht mehr sagen dürfen. Die anderen wollen festlegen, wer in wessen Namen sprechen darf – oder besser schweigen sollte. Was beide Seiten eint: Sie sehen sich als Opfer der jeweils anderen Seite – und scheinen alles dafür zu tun, dass das so bleibt.

Die Auseinandersetzung mit Putin ist Identitätspolitik auf großer Bühne, die den Rest der Welt zwingt, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Ein abwägendes Dazwischen scheint unmöglich. Entweder Kriegstreiber, also Bellizist, oder »Waffenstillstand jetzt!« brüllender Pazifist, der doch nur Frieden will. Zur Radikalisierung der Lager trägt ihre Unübersichtlichkeit bei. Ehemals selbst ernannte linke und grüne Parteien und viele ihrer Wähler sind für Waffenlieferungen, um die Ukraine bestmöglich zu unterstützen und Putin in seine Schranken zu weisen. Auf der anderen Seite eine irritierende Querfront aus Links- und Rechtspopulisten, die sich Friedensverhandlungen schon seit vorgestern wünschen. Sie müssen sich vorwerfen lassen, Putins Trolle zu sein. Zu diesem Lager gehört der Rechtspopulist Roger Köppel aus der Schweiz.

Köppel, Verleger und Politiker, saß acht Jahre für die Schweizerische Volkspartei, so etwas wie die eidgenössische Schwester der AfD, im Nationalrat. Seine Zeitung, die Weltwoche, hat er seine eigene Entwicklung nachvollziehen lassen: vom linksliberalen Blatt zum rechtspopulistischen Magazin. Köppels Karriere fußt darauf, ein Querulant zu sein. Immer dagegen statt nur dabei. Das ist seine Währung in der viel beschworenen Aufmerksamkeitsökonomie: Er hat Trumps früheren Chefideologen Steve Bannon auf die Bühne in Zürich gebracht, in Berlin und Wien veranstaltete er ein »Gipfeltreffen der freien Rede« mit Thilo Sarrazin. In der Corona-Pandemie schloss er sich den Maßnahmengegnern an. »Ich bin auf den Giftschrank abonniert«, sagt er. »Ich habe immer versucht, eine Technik zu entwickeln, wie ich den Gottesdienst stören kann.«

Köppel sitzt in Zollikon unter einer Dachschräge und schaut in seine Zoom-Kamera. Wenige Wochen vor diesem Gespräch war er nach Moskau gefahren, ins »Epizentrum des angeblich Bösen«, wie er schrieb. Eine publizistische Annäherungsübung auf mehreren Seiten, eine ausgeschmückte Verneigung vor dem Feind des Westens. In der Weltwoche schrieb er: »Mediterrane Unbeschwertheit herrscht, Fröhlichkeit in überfüllten Restaurants, aber auch Ordnung und Sauberkeit beeindrucken, freundliche Polizisten, keine Klima-Vandalen.«[2] Beim Lesen war ich unsicher, ob er wirklich über Russland schreibt oder doch über die Schweiz.

Die Frage, wie seine Haltung zum Ukraine-Krieg sei, lässt ihn augenscheinlich schlingern. Er fühlt sich gezwungen, sich für seine Reise zu rechtfertigen. Er bringt ein Argument vor, um es sofort zu relativieren. »Im Grunde haben wir es mit einem Krieg zwischen zwei ehemaligen Sowjetrepubliken zu tun. Mit einem mutmaßlich völkerrechtswidrigen Einmarsch. Aber es gibt keinen völkerrechtskonformen Krieg, mir ist keiner bekannt.« Sein Trick: Indem er den Skeptiker gibt, spielt er Putins Spiel. Die Rede von den zwei Sowjetrepubliken ist exakt dessen Narrativ. In seinem Essay, in dem Putin schon im Sommer 2021 die Ukraine als Brudervolk bezeichnet hatte, nahm er den Ukrainern faktisch das Recht zu entscheiden, wer sie sind und sein wollen.

Je länger wir sprechen, desto mehr verstärkt sich mein Eindruck, dass die Fraktion Köppel genau die Guten sind, die sie keinesfalls werden wollen. Sie sprechen blumig von Frieden, das ist einfach. Möglicherweise sollte aber, wer das Gute so bedingungslos fordert, sich zunächst mit dem Bösen auseinandersetzen – und das ist in diesem Falle die dunkle Seite des Kriegs. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler unterscheidet zwischen zwei Kriegsformen – Niederwerfungskriegen und Erschöpfungskriegen.[3] Landmächte wie Russland neigten zu kurzen und intensiven Niederwerfungskriegen – ein kurzer Krieg, der den Gegner wehrlos macht. Das war augenscheinlich auch Putins Strategie. Scheitert sie, öffnet sich ein kurzes Fenster für Gespräche. Das dürfte in der Ukraine im April 2022 gewesen sein. Nur selten sind sich die Kriegsparteien über diesen magischen Moment des Friedens einig. Darum münden viele Kriege danach in Erschöpfungskriege – jenen langen, quälenden Krieg, den wir nun erleben. Das Ziel: die angegriffene Seite so lange zu unterstützen, bis der Aggressor einsieht, dass er gescheitert ist. Damit kann sich das angegriffene Land zunächst auf einen Waffenstillstand einlassen, auf den dann Verhandlungen folgen können, die dann wiederum zu einem Friedensabkommen führen können. Kommen Waffenstillstand und die Verhandlungen zu früh, wird der unterlegene Teil – in diesem Fall die Ukraine – Sicherheitsgarantien von anderen Ländern fordern. Sollte der Angreifer erneut angreifen, wäre der Westen Kriegspartei.

Köppel ist ein Rechtspopulist, aber seine Thesen sind auch ganz links anschlussfähig. Hier, auf der stets guten Seite der Macht, hängt man sich gerne noch die Pazifismus-Girlande um, damit man sich des eigenen Gutseins versichern kann. Prominenteste deutsche Beispiele sind Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, die sich mit offenen Briefen und Friedensmanifesten regelmäßig zu Putins nützlichen Idiotinnen machen.

Es sind sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die diese beiden unterstützen: alte Friedensbewegte aus den 1980er-Jahren, junge Linke und – wie Köppel – (mittel)alte Rechte, auch ein paar Neonazis marschieren mit, ebenso ehemalige Querdenker und vollkommen unverdächtige Menschen, die einfach nur Angst haben vor dem Dritten Weltkrieg. Es gibt eine geheime Komplizenschaft zwischen der Fraktion Köppel-Wagenknecht-Schwarzer und Wladimir Putin: Sie stehen identitätspolitisch auf derselben Seite. Was sie verbindet, ist die Angst vor dem Statusverlust, vor dem Verlust ihrer historischen Bedeutung.

Putin fühlt sich bedroht – von außen, aber auch von innen. Mehr als jede zweite Ehe in Russland wird geschieden – eine deutlich höhere Quote als zur Sowjetzeit und ein Zeichen, dass traditionelle Werte weniger wichtig werden. Zwischen 1993 und 2010 schrumpfte die russische Bevölkerung von 148,6 Millionen auf 143,2 Millionen.[4] Die Lebenserwartung russischer Männer lag unter der von Männern im Sudan oder in Ruanda. In Russland kommen damit zwei negative Faktoren zusammen: eine so hohe Sterblichkeit wie in Afrika und eine so niedrige Geburtenrate wie in Europa.[5] Bei einem Führer, der zu Verschwörungsmythen neigt, brennen hier schnell alle Sicherungen durch. Darum hat die Duma 2012US-Amerikanern verboten, russische Kinder zu adoptieren. Hinter den Massenentführungen von ukrainischen Kindern und Waisen und der Entscheidung des russischen Parlaments, ihre Adoption durch Schnellverfahren zu genehmigen, steckt eine tiefe Angst vor dem Aussterben. Allein durch Corona, wovor Putin so viel Angst hatte, dass er sich fast schon sklavisch im Kreml verbarrikadierte, starben eine Million Menschen in Russland.

Schaut man sich die Listen derer an, die Wagenknechts »Manifest für Frieden« unterschrieben haben, springt ein spannender kulturpsychologischer Defekt ins Auge: Demografisch sind es Menschen, die über 50 Jahre alt sind; Menschen, die sich häufig ein Leben lang auf der richtigen Seite wähnten, indem sie dagegen waren. Dissidenten, hauptberufliche Widerständler, Künstler. Gegen den Mainstream, gegen die Regierenden, gegen alles, was da oben ist. Hauptsache, erst einmal dagegen. Sie fühlen sich als Ausgestoßene, als Opfer, als Kämpfer, die dennoch immer Unterlegene geblieben sind. So identifizieren sie sich auf der großen Bühne mit einem wie Putin, der ebenfalls Opfer ist, ungehört und eingeengt wie sie selbst; übersehen und verletzt wie sie. Wenn die Profession eines Lebens darin bestand, im Widerstand zu sein, so besteht sie nun darin, dieses Lebensprinzip fortzuführen: besonders sein, aus der Masse herausstechen, sich absetzen – und je lauter der Vorwurf dröhnt, man mache sich mit dem Aggressor gemein, desto fester baut man die Trutzburg, in der man trotzig behaupten kann, lediglich auf der Seite des Unterdrückten zu stehen. In Wahrheit sind sie aber wie Putins Ratten, die diese unterlegene Position für sich nutzen – beleidigt, gedemütigt, allzeit zur Rache bereit. Wer sich immer auf der Seite der Guten sah, wird irgendwann in einem Schützengraben enden, in dem nur noch der Feind des Feindes ihr Freund sein kann.

Köppel, Wagenknecht und Schwarzer haben fast parallel zu Putin eine ähnliche Entwicklung hingelegt: Sie treffen sich mit ihm in einer ungeheuren Identitätspanik, einer Untergangsparanoia. Schon vor fünf Jahren wollte Sahra Wagenknecht lieber deutsche statt ausländischer Fachkräfte sehen und spielte mit Freude arme Geflüchtete gegen arme Deutsche aus – und der AfD in die Hände. Alice Schwarzer hat seit der Kölner Silvesternacht vor allem Täter mit Migrationshintergrund als Dämon auf der Uhr.[6] Und Roger Köppel beendete den Bericht in der Weltwoche über seinen Moskau-Besuch so, als sei Russland der bessere Westen: »Vielleicht kommt der Hass auf Russland auch daher, dass sich die Russen einfach dem Wahnsinn verweigern, der unsere westliche Welt zugrunde richtet: grüne Ideologie, politkorrekte Meinungsverbote, Gender-Irrsinn, Zertrümmerung der Familie, Verwahrlosung des Rechtsstaats, blinder Gehorsam gegenüber den USA. Sind die Russen heute die besseren, die wahren Europäer? Nach einem Besuch in ihrer Hauptstadt könnte man es fast meinen.«[7]