Offline ist es nass, wenn's regnet - Jessi Kirby - E-Book + Hörbuch

Offline ist es nass, wenn's regnet Hörbuch

Jessi Kirby

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Beschreibung

Stell dir vor, du öffnest an deinem 18. Geburtstag die Haustür und dort liegt ein Geschenk: ein riesiger Wanderrucksack, ein Paar Wanderschuhe und ein Trailtagebuch für den Yosemite Nationalpark. Würdest du loslaufen? Mari entscheidet sich genau dafür, obwohl sie noch nie mehr als zehn Schritte zu Fuß getan hat. Von heute auf morgen tauscht sie Smartphone und Social Media gegen schneebedeckte Berge, reißende Flüsse und Blasen an den Füßen, aber auch gegen Sonnenaufgänge wie aus dem Bilderbuch, warmherzige Begegnungen und mutige Entscheidungen – denn der Yosemite verändert jeden. Girl Online meets Der große Trip: Jessi Kirbys neuer Jugendroman ist eine kluge und emotionale Geschichte über ein Mädchen, das ihr Leben als erfolgreiche Influencerin gegen die raue Wildnis des Yosemite Nationalparks eintauscht – und dabei das Leben wieder lieben lernt.

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Zeit:6 Std. 45 min

Sprecher:Viola Müller
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INHALT

Widmung

Zitat

Zwillingssterne

So

Allein zu Haus

#breakfastgoals

#fitspiration

Influence verdoppelt

#wünschdirwas

Etwas Wahres

Das Leben, das ich mir geschaffen habe

Wie Leben so aussieht

Ihre Wanderschuhe

Unterwegs

Besser werden

Stellvertretend eine Meile

Clouds Rest spätnachmittag

Ich will’s versuchen

Wandere deinen eigenen Hike

Bri würde gehen

Die Lichterkette

Schatten im Wald

Sie ist nicht hier

Immer schön nach oben schauen

Unsichtbarer Ballast

Nur Mut

Warum wir eigentlich hier sind

Bis wir unser Gleichgewicht gefunden haben

Wir bekommen Gesellschaft

Voll dabei

Jemand ganz und gar Neues

Ins Dunkle

Zurück auf der Landkarte

Und dann der Zusammenbruch

Stark genug

Jetzt gehören sie mir

Angekommen

Danksagung

Aus unerfindlichen Gründen wissen wir nie, wohin wir gehen müssen oder welche Führer uns zur Seite stehen werden – Menschen, Stürme, Schutzengel …

ZWILLINGSSTERNE

Wir liegen rücklings auf dem Trampolin und rollen durch die Schwerkraft wieder in die Mitte. Über uns erstreckt sich ewig weit das Universum, rundherum eingerahmt von Bergen – und mittendrin meine Cousine und ich.

Zwillingssterne, wie unsere Mütter immer sagen.

Sie haben Tränen in den Augen, wenn sie lachend die Geschichte erzählen – an jedem Geburtstag noch vor den Kerzen und den Wünschen: Zwischen den Daten, an denen sie ihre Kinder bekommen sollten, lagen Wochen, aber dann kam ich zu spät und Bri zu früh, als hätten wir uns verbündet, gemeinsam auf die Welt zu kommen. Und genau das haben wir im Abstand von wenigen Stunden auch getan.

Heute sind wir dreizehn geworden und diese Zahl fühlt sich an, als balancierten wir auf dem Grat zwischen dem, wie wir immer waren, und dem, was aus uns werden konnte. An diesem Abend, hier und heute, weiß ich eins genau: Wir werden es gemeinsam herausfinden, ganz egal, was das Leben mit uns vorhat. Ich sehe meine Cousine an, meinen Kompass, und kann mir gar nichts anderes vorstellen. Im blassen Sternenlicht hebt sie die Hand zum Himmel, als wollte sie einen von ihnen herunterholen.

»Schau nach oben«, flüstert sie. »Du verpasst was.«

»Was denn?« Als ich hochblicke, saust ein winziger weißer Lichtstreif durch die Dunkelheit.

Ein Wimpernschlag, und er ist nicht mehr da.

»Das«, antwortet sie und ich höre das Lächeln in ihrer Stimme. »Einen Extrawunsch.«

Bri fasst meine Hand. »Wir wünschen uns zusammen etwas«, sagt sie. »Ich wünsche uns, dass wir nie aufhören, Abenteuer zu erleben und Neues zu erfahren, dass wir immer wieder Dinge tun, die uns niemand zutraut, und dass wir mutig, frei und glücklich sind.«

Ich muss lachen. »Das sind aber viele Extrawünsche.«

»Wir dürfen das, wir haben Geburtstag.« In ihren Worten strahlt weiterhin ihr Lächeln. »Jetzt bist du dran.«

Ich schaue zum Himmel und denke an den heutigen Tag mit seiner besonderen Geburtstagsmagie. Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter und ich vor Sonnenaufgang aufgestanden sind, um von der Küste in die Berge zu fahren. Wie frisch die Luft war, als wir hier ankamen, und Bri und ich uns in die Arme gefallen sind, nachdem wir uns viel zu lange nicht gesehen hatten. Dann hatten wir mit unseren Müttern eine Tageswanderung zu einem Wasserfall unternommen und auf den sonnenwarmen Felsen gepicknickt. Wir hatten uns alle vier an den Händen gefasst und waren in den klaren, eiskalten See gesprungen.

Ich rufe mir vor Augen, wie wir später am Tag in der Küche getanzt haben, während unsere Mütter das Abendessen kochten und über Geschichten aus ihrer Jugendzeit lachten. Der selbst gebackene Kuchen wurde auf der Terrasse serviert, damit wir in dem Moment die Kerzen ausblasen konnten, in dem die Sterne herauskamen. Und Bri hatte mir eine kleine Schachtel in Geschenkpapier überreicht, in der ein Schlüsselanhänger mit Traumfängerchen lag, der genauso aussah wie ihrer.

Und dieses Gefühl. Unter einem grenzenlosen Himmel zu liegen und zu wissen, dass ich genau dort bin, wo ich hingehöre.

In diesem Augenblick kann ich mir wirklich nichts Besseres vorstellen.

»Ich wünsche mir, dass es immer so bleibt mit uns«, sage ich schließlich.

Bri drückt meine Hand. »Wie sollte es anders sein?«

SO

Ich höre meine Mutter in der Küche telefonieren. »Ich komme«, sagt sie entschlossen. »Keine Widerrede. Du sollst heute nicht allein sein, nicht so.«

Ich bleibe ruckartig im Flur stehen. Aus ihren Worten und der zittrigen Stimme schließe ich, dass sie mit meiner Tante spricht.

Meine Mutter spiegelt sich im Wohnzimmerfenster, während sie durch die Küche läuft, das Telefon zwischen Schulter und Ohr. »Nein, das meine ich ernst. Ich komme jetzt gleich. Wenn ich Mari geweckt habe, fahren wir direkt los. In ein paar Stunden sind wir da, so wie …«

Sie verstummt. Ich sehe, wie sie tief Luft holt, und beende in Gedanken ihren Satz: … so wie immer.

Aber das sagt sie nicht. Weil es schon lange nicht mehr so ist.

Leise weiche ich einen Schritt zurück, näher zur Sicherheit meines Zimmers, bevor sie mich sieht.

»Ja, ich sage es ihr. Mach dir deshalb keine Sorgen, das läuft uns nicht weg.« Meine Mutter schweigt für einen Moment. »Ich habe dich auch lieb«, sagt sie und legt auf. Dann bleibt sie stocksteif stehen, mitten in der Küche.

In der darauffolgenden Stille dröhnt der Kühlschrank lauter als zuvor. Ich wage es nicht, mich zu rühren, und lasse das Spiegelbild meiner Mutter nicht aus den Augen. Ihr Kinn sinkt auf die Brust und ihre Schultern beben. Sie legt die Hand an den Mund, um das Schluchzen zu dämpfen, das aus ihr herausbricht. Ich habe einen Kloß im Hals und kann nun wirklich nur noch leise zurückschleichen und im Schutz der Geräusche ihres Kummers verschwinden. Ich finde nicht den richtigen Zugang zu ihrer Trauer.

Heute bin ich achtzehn geworden. Und Bri hätte es auch werden sollen.

Ich tue so, als würde ich schlafen, als ich Schritte im Flur höre. Meine Mutter tut so, als ginge es ihr gut, als sie die Tür öffnet.

»Mari?«, sagt sie leise. Ihre Stimme ist noch dünn, als könnte sie jeden Moment brechen. Sie geht durch mein Zimmer und dann sinkt die Matratze ein, als sie sich dorthin setzt, wo ich mit dem Rücken zu ihr liege. Sie legt mir die Hand auf die Schulter.

»Guten Morgen, mein süßes Mädchen.«

Der Kosename weckt mein schlechtes Gewissen und ich gebe klein bei.

Ich schlage die Augen auf und drehe mich zu meiner Mutter um.

Sie lächelt mit geschlossenen Lippen und blinzelt Tränen fort, die ich nicht sehen soll.

»Happy birthday«, wispert sie.

Ich sage nichts.

Wir wissen beide, dass es kein glücklicher Tag wird.

Sie zieht die Hand zurück, legt sie in den Schoß und presst die Lippen fester zusammen. Als sie tief Luft holt, weiß ich, was gleich kommt.

»Ich glaube, ich muss heute zu Tante Erin fahren.«

Am liebsten würde ich die Augen wieder schließen, mir die Decke über den Kopf ziehen und unsichtbar werden.

Meine Mutter nimmt meine Hand. »Ich habe gerade mit ihr telefoniert und sie ist …« Sie schüttelt den Kopf, streicht mit einem Finger unter ihrem Auge her und schnieft. »Es ist so ein schwerer Tag für sie, da möchte ich nicht, dass sie allein ist.« Sie schlingt die Arme um mich und zieht mich an sich, bis ich keine Luft mehr bekomme. »Kommst du mit?«, fragt sie sanft. »Ich weiß, dass sie dich schrecklich gerne sehen würde.«

Ich löse mich von ihr.

»Für dich ist es natürlich auch hart, Liebes, aber wäre es nicht vielleicht besser für uns alle, wenn wir zusammen wären?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein«, sage ich. »Ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

Weil ich meine Tante doch nur daran erinnere, was sie verloren hat. Weil ich nicht dahin fahren und so tun kann, als wäre nichts geschehen und Bri und ich wären uns immer noch nahe. Aber vor allem kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dort zu sein, in diesem Haus, ohne sie.

»Weil ich schon was vorhabe«, antworte ich. »Mit Ian.«

Das ist noch nicht mal gelogen.

Meine Mutter runzelt die Stirn. »Kannst du es nicht verschieben? Das würde er sicher verstehen.«

»Nein«, erwidere ich. »Er hat was Größeres geplant – als Geburtstagsüberraschung.«

Das hingegen schon.

Damit bringe ich meine Mutter in eine schwierige Lage, was ich natürlich genau weiß. Das schlechte Gewissen ignoriere ich. Denn ich sehe, wie sie die Trauer ihrer Schwester gegen den Wunsch ihrer Tochter, die nichts damit zu tun haben will, abwägt. Ein aussichtsloses Unterfangen.

»Ich lasse dich nur sehr ungern an deinem Geburtstag allein«, sagt sie nach einer langen Pause. »Schon gar nicht an diesem, der so besonders ist.«

»Ich bin ja nicht allein.«

Mit sorgenvoller Miene streicht sie mir eine Strähne hinters Ohr. »Ich möchte nur nicht … wie geht es dir denn damit? Mit Bri? In letzter Zeit hatte ich so viel um die Ohren und du ja auch, und ich weiß nicht mal … ich weiß gar nicht, ob es dir gut geht.« Schon wieder Tränen. »Geht es dir gut, Mari?«

Ihre Betroffenheit lässt mich nicht kalt, aber diese Gefühle darf ich nicht zulassen. Ich nehme ihre Hand in meine. »Mir geht es gut, ehrlich. Fahr zu Tante Erin, sie braucht dich.«

Meine Mutter beißt sich auf die Lippe. »Bist du ganz sicher, dass du das schaffst?«

»Ja.«

»Es tut mir so leid«, flüstert sie.

»Das muss es nicht«, sage ich leise. »Aber bitte sag Tante Erin, dass es mir leidtut.«

ALLEIN ZU HAUS

Ich stehe im Schlafanzug in der Einfahrt und winke meiner Mutter, die langsam aus der Ausfahrt fährt, zum Abschied. Auch als ich sie schon lange nicht mehr sehen kann, rühre ich mich nicht vom Fleck und stelle mir jede Kurve auf dem weiten Weg zu dem Häuschen meiner Tante auf der Wiese vor.

Und die ganze Zeit denke ich, ich hätte mitfahren müssen.

Ich sollte auf der Fahrt nach Norden neben meiner Mutter im Auto sitzen und es auf mich nehmen, heute bei meiner Tante zu sein, jetzt, da Bri nicht mehr da ist.

Als ich einen Blick auf mein Handy werfe, weiß ich genau, dass meine Mutter umkehren würde, wenn ich sie anrufen und darum bitten würde. Ich könnte sagen, dass ich an diesem Tag auch nicht allein sein und lieber mitkommen und mich zusammenreißen möchte, um für Tante Erin da zu sein. Doch das alles bringe ich niemals über die Lippen, denn dafür bin ich lange nicht stark genug.

Ich fühle mich schwach. Und innerlich ganz leer. Ich will nicht mehr daran denken.

Eindringlich betrachte ich mein Handy in dem sehnlichen Wunsch nach Ablenkung von dem mulmigen Schuldgefühl im Bauch. Die Auswahl ist groß. Ich gehe auf Instagram, um zu überprüfen, wie viele Likes und Kommentare ich schon habe, seit ich meinen Mein-letzter-Tag-mit-17-Post von gestern zuletzt gecheckt habe. Das Aktualisieren dauert eine Sekunde, in der ich hoffnungsvoll und ängstlich warte, doch dann erscheint das kleine rote Icon und zeigt mir alle Zahlen auf einmal:

Likes: 1423

Kommentare: 112

Neue Follower: 47

Damit habe ich nun insgesamt 582.419Follower, was nicht zu wenig ist, aber eigentlich hatte ich nach dem Post auf noch mehr gehofft. Kurz vor Sonnenuntergang war ich mit dem Fahrrad zum Strand gefahren, hatte das Stativ aufgestellt, die Haare über den Kopf gehalten und war bis zur Brust ins kalte Wasser gewatet, damit meine Haut im goldenen Abendlicht nass schimmerte. Nach endlosen Versuchen mit dem Fernauslöser und langatmiger Bearbeitung hatte sich das Endergebnis wenigstens gelohnt: ein Foto von mir bei Sonnenuntergang, auf dem ich aufs Meer hinausschaue wie in meine Zukunft, in Vollbildanzeige nahtlos braun in einem Bikini, den ich in Wirklichkeit niemals am Strand anziehen würde.

Ich lese den ersten Kommentar von @BohoFit81:Du hast so eine schöne Seele und bist eine Inspiration für uns alle!

Ich lasse den Blick über die Silhouette meiner Taille wandern, von der ich an beiden Seiten mithilfe einer App ein bisschen was weggenommen habe, und weiter über den »leeren« Strand, den ich mit einer anderen App so bearbeitet habe, dass alles Unerwünschte im Hintergrund verschwand – in diesem Fall die Leute. Und selbstverständlich sind auch Licht und Farbe des Fotos wichtig, die ich beide eigenhändig und viel raffinierter verändert habe, als es mit den Standardfiltern möglich gewesen wäre. Ein wenig schäme ich mich für den Riesenaufwand, den ich für dieses so unaufwendig aussehende Foto betrieben habe, doch ich antworte ihr trotzdem:

@BohoFit81:Vielen lieben Dank!

Aber es sind eure inspirierenden Seelen, die mich beflügeln!

Ich setze den Kusssmiley mit Herzchen ans Ende und poste es. Als ich aufblicke, stelle ich fest, dass ich immer noch in unserer Einfahrt stehe, und wenn ich meinen ersten Post an diesem Tag zu einer Zeit senden will, wenn die Leute nach ihren Handys auf dem Nachttisch tasten oder die erste Tasse Kaffee trinken, sollte ich mich mal lieber beeilen.

#BREAKFASTGOALS

In der Küche arrangiere ich einen Regenbogen aus Beeren und Nüssen in einer Müslischüssel, die ich dann mit Chiasamen verziere. Als es endlich richtig aussieht, träufele ich möglichst kunstvoll eine dünne Linie Agavensirup darüber und vollende das Ganze mit einer kleinen violetten Orchideenblüte von der Pflanze auf unserem Tresen. Dann schiebe ich alles beiseite, um auf der Granitplatte Platz für das Schneidebrett aus Walnussholz zu schaffen, das ich als Hintergrund für Foodfotos benutze. Nachdem ich die handgefertigte Schüssel in die Mitte gestellt habe, muss ich auf den Hocker steigen und mich über den Tresen beugen, um die Schüssel ins Bild zu setzen, und in dem Moment merke ich, dass noch etwas fehlt. Das ist schließlich mein Geburtstagsfrühstück.

Ich pflücke auch die übrigen Orchideenblüten und streue sie in der Hoffnung, dass es nach Feiern aussieht, um die Schüssel. Diesmal habe ich fast sofort den richtigen Winkel und die perfekte Ausrichtung gefunden und setze mich wieder hin, um dem Foto den passenden Mix aus Licht und Farbe zu verleihen. Danach füge ich eine Überschrift hinzu und tagge meinen Beitrag:

First-Class-Geburtstagsfrühstück

Gutes Essen = Gute Laune

#birthdaybreakfast

#whatieatinaday

#foodshouldbebeautiful

#veganrecipes

#plantstrong.

Zum Abschluss überprüfe ich noch einmal alles ganz genau und poste es auf all meinen Accounts. Und dann warte ich auf die ersten Likes. Es dauert nur wenige Sekunden, und als sie zweistellig werden, kippe ich den Inhalt der Schüssel in den Mülleimer, ohne meinen knurrenden Magen zu beachten. Da man bei einem Video, was mein nächster Post sein wird, seine Taille nicht verkleinern kann, ist Essen noch nicht angesagt.

#FITSPIRATION

Ich gehe nach oben und schreibe zunächst Ian, ob wir uns irgendwo zum Mittagessen treffen sollen, bevor ich in meinem Kleiderschrank die Yogahose und den Sport-BH suche, die ich in einem bezahlten Post tragen soll. Nach dem Umziehen stelle ich mich vor den Spiegel und betrachte prüfend mein Spiegelbild. Sofort fällt mir der Anflug eines Bäuchleins auf. Ich ziehe ihn ein, straffe die Schultern und versuche, mich aufzurichten und gleichzeitig ganz natürlich auszusehen – so ganz klappt das noch nicht. Immerhin bildet das strahlende Blau und Türkis des Outfits einen guten Kontrast zu meiner braunen Haut, und das gepolsterte Oberteil liefert meinen kleinen Brüsten das dringend benötigte Extra. Ich lasse meine Haare in lockeren Wellen darüberfallen, denn so sieht es besser aus, obwohl es mich bei den eigentlichen Yogaübungen stört.

Schließlich klappe ich den Laptop auf meinem Schreibtisch auf und schalte auf die Videokamera um, die, wie gewohnt, auf die eine ordentliche Ecke in meinem Zimmer gerichtet ist – auf mein »Yogastudio«. An der weißen Wand hängt ein leuchtender Mandala-Wandbehang und auf dem Parkettboden liegt eine Matte, ausgebreitet zwischen künstlichen tropischen Palmen. Ich stelle mich auf die Matte und blicke in die Kamera, deren Blinken anzeigt, dass sie aufnimmt. Nach einigen tiefen Atemzügen schüttele ich die Arme aus und schaue lange und eindringlich in die Linse. Dann gehe ich im Atemrhythmus die Übungen durch, deren Abfolge ich bis zu dem abschließenden schwierigen Handstand geprobt habe. Mein Körper fühlt sich schwach und müde an, aber ich konzentriere mich darauf, in jeder Bewegung entspannt im Hier und Jetzt zu wirken.

Das bin ich aber nicht. Ständig schleichen sich Gedanken an Bri, meine Tante und meine Mutter ein und bringen mich so sehr aus dem Gleichgewicht, dass ich immer wieder von vorn anfangen muss. Ich weiß nicht, wie oft ich abbreche, bis ich endlich einen ganzen Durchgang bis zu dem Handstand schaffe. Mein Herz rast und meine Arme zittern dermaßen, dass ich das Video am liebsten komplett löschen würde. Aber das kommt nicht infrage, weil ich mit dem Posting für diese Firma sowieso schon spät dran bin und versprochen habe, es zu einer Top-Uhrzeit in meinem Feed zu senden. Ich muss das Material nutzen, das ich habe.

Aber zunächst setze ich mich an den Schreibtisch und checke, ob Ian zurückgeschrieben hat – hat er nicht –, und wische weiter zu meinem Insta-Feed, um meinen Frühstückspost zu prüfen. Die Zahlen steigen weiterhin stetig, ein gutes Zeichen dafür, dass ich den Post gut hinbekommen habe, auch wenn er noch so schlicht war. Ich scrolle durch die Kommentare und like sie alle. Die meisten bestehen nur aus Glückwünschen und Emojis – Herzchenaugen, lächelnden Smileys und dem Yummysmiley. Ein paar Leute haben noch nomnomnom oder lecker dazugeschrieben. Ein Follower namens @peace_love_plants, der alles likt und kommentiert, was ich poste, hat geschrieben: »Köstlich! HBD, Schönheit!«

1000 Dank!, tippe ich. Dann verdrehe ich die Augen und lege das Handy wieder weg.

Die Stille in meinem Zimmer fühlt sich plötzlich erdrückend an. Mir fällt ein, dass meine Mutter in diesem Moment durch die Wüste fährt. Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis sie in den Bergen ist, aber ich stelle mir vor, wie sie dort ankommt. Meine Tante und meine Mutter werden sich um den Hals fallen, noch in der Einfahrt anfangen zu weinen und schließlich ins Haus gehen. Nach einer Weile machen sie vielleicht einen Spaziergang oder eine kleine Wanderung, während sie darüber reden, wie es früher war. Später setzen sie sich auf die Veranda und sehen zu, wie die Sonne im Gebirge untergeht. Möglicherweise legen sie sich sogar auf das Trampolin und betrachten die Sterne. Auf jeden Fall verbringen sie den ganzen Tag gemeinsam.

Einen Augenblick gebe ich mich der Vorstellung hin, ich wäre bei ihnen, doch als mir die Tränen kommen, konzentriere ich mich wieder auf den Computerbildschirm und beginne, das halbstündige Filmmaterial meiner Yogaübungen auf die besten fünfundvierzig Sekunden zu kürzen, die ich finden kann. Der Handstand darf dabei auf keinen Fall fehlen. Nachdem ich das Ergebnis ein paar Mal abgespult habe, bin ich überrascht, wie viel besser es aussieht, als es sich in Wirklichkeit angefühlt hat. Zufrieden füge ich die Überschrift und die Tags hinzu:

Verträumter Morgenflow zur Feier eines neuen Trips um die Sonne. Voller Dankbarkeit, heute wie an jedem Tag, für alles, was noch kommt. Sport-BH und Hose aus der brandneuen Sommerkollektion von@spiritual_luna!

Ich gehe mit meinem Handy zum Bett, um mich kurz auszuruhen, aber durch die Jalousie scheint die Sonne zu hell auf die Stelle, wo ich liege. Ich ärgere mich, völlig unnötig, stehe auf und reiße an der Schnur, um die Lamellen zu schließen. Nachdem ich auch noch die Vorhänge zugezogen habe, setze ich mich im Dunkeln auf den Fußboden, wo nur noch das Display meines Handys leuchtet.

Ein Blick zeigt mir, dass mein Video schon achtundsiebzig Mal angeschaut wurde, aber Ian hat immer noch nicht geantwortet und ich schreibe ihm noch mal, obwohl ich mir blöd vorkomme:

Hey! Lass uns heute zum Mittagessen treffen – ich lade dich ein – und ein paar schnelle Fotos für den Lifestyle-Account machen.

In dem Moment, in dem ich Senden anklicke, kommt die Benachrichtigung für einen Kommentar, und ich tippe in der Hoffnung darauf, dass es nicht nur wieder ein Emoji ist.

Soulmagic: Wieso bist du so ein Fake? Du hast überhaupt nicht gecheckt, worum es beim Yoga geht. Tu nicht so, als wäre es etwas Spirituelles für dich – gib doch zu, du willst nur zeigen, was (für einen Arsch) du hast, und versuchst, uns gleichzeitig was anzudrehen. Und iss was, verdammt noch mal.

Bevor ich darauf reagieren kann, erscheint schon ein neuer Kommentar, und zwar von @wildchel326:

@soulmagic:Ernsthaft? Mari ist immer superauthentisch, mit jedem einzelnen Post. Sie lässt uns an ihrem Leben teilhaben, also hör auf mit dem Scheiß. Nur weil sie ein Teil erwähnt, das ihr gefällt und das sie selbst trägt, heißt das noch lange nicht, dass sie es uns verkaufen will. Und was ist daran auszusetzen, wenn jemand fit und gesund ist? Hass jemand anderen. Namaste.

Ich blicke auf die Worte, die geschrieben wurden, um mich und meine Glaubwürdigkeit zu verteidigen, und mir wird irgendwie leicht übel. Ich brauche ein bisschen, aber dann tippe ich eine Antwort, die hoffentlich so wirkt, als käme sie von Herzen.

@wildchel326:Danke für deine positive Energie, das gibt mir Kraft. Amen und Namaste für die positiven Vibes.

Ich füge die betenden Hände hinzu und klicke auf Antworten.

Ich wünschte, es wäre wahr – dass positive Kommentare wie ihre ausreichten, um mich gegen die negativen abzuschirmen, aber so funktioniert das nicht. Schon gar nicht, wenn in den negativen etwas Wahres steckt, das sogar ich erkenne.

Mein Handy vibriert mit einer Message von Ian:

Yep, aber ich kann nicht lange

Macht nichts. An unserem Treffpunkt?

Klar

Wann kannst du?

Um 5

Okay. Bis später.

Darauf bekomme ich keine Antwort mehr, von Glückwünschen zum Geburtstag ganz zu schweigen, obwohl er meine Posts wahrscheinlich gesehen hat. Aber wir geben auf unseren jeweiligen Feeds das glückliche Pärchen, was uns beiden zugutekommt, vor allem bei Unternehmen, die auf Crossover-Accounts stehen. Das rede ich mir zumindest ein.

INFLUENCE VERDOPPELT

Um 17.45Uhr kommt Ian schlecht gelaunt in den Hinterhof des veganen Cafés, in dem wir uns gern treffen. Er wirkt noch genervter, als er sich setzt und ich als Erstes das Geburtstagsgeschenk, das ich selbst eingepackt habe, aus meiner Handtasche hole.

»Echt jetzt?«, fragt er und betrachtet es.

Ich versuche, den Stich zu ignorieren, den mir seine kalte Art versetzt. Es war nicht immer so. »Echt«, sage ich leise. »Ich habe heute Geburtstag. Das wäre dann dein Geschenk für mich und damit ist alles abgedeckt.«

Nach einer kurzen Pause nickt er, als würde das tatsächlich Sinn ergeben. »Na dann, herzlichen Glückwunsch«, sagt er. »Ich bin dabei.« Er greift zur Gabel und will das Gericht essen, das ich für ihn bestellt habe und das schon lange kalt ist.

Ich strecke die Hand aus, um ihn davon abzuhalten. »Moment.«

Er verdreht die Augen und legt die Gabel wieder hin. »Mann, Mari.«

Ich winke die Bedienung heran. »Entschuldigung? Hättest du einen kleinen Moment Zeit, um ein paar Fotos von uns zu machen?«

»Gerne!«, erwidert sie lächelnd. »Kommen die dann in deinen Feed?« Die Aussicht scheint sie unnormal zu beglücken.

Ich lächele zurück. »Vielleicht«, antworte ich gedehnt.

Sie bekommt mein Handy und ich lege das eingepackte Geschenk in die Mitte zwischen unsere Teller. Ian streckt die Hand über den Tisch und ich drücke sie. Wir sehen uns an und lächeln, als würden wir uns am Essen und aneinander freuen.

»Ach, ihr seid so süß«, sagt die Kellnerin. »Am besten mache ich ganz viele Fotos, dann könnt ihr euch das beste raussuchen. Schön weiterlächeln, genau so.« Als sie noch einen Schritt zurückgeht, kann ich nur hoffen, dass alles draufkommt.

»Mach es auf«, sagt Ian auf eine Weise, als würde er das wirklich wollen. Als käme das, was in dem Päckchen ist, wirklich von Herzen.

»Ja!«, meint auch die Kellnerin. »Das fotografiere ich auch noch!«

Ich lächele, als hätten sie mich überredet, und löse vorsichtig das handgeschöpfte Geschenkpapier, das ich auf dem Weg hierhin gekauft habe. Sie fotografiert ohne Ende, während ich die Schachtel öffne und die Kette herausnehme, die ich passend zu dem Kleid mit dem tiefen Ausschnitt und dem Push-up-BH ausgesucht habe.

»Wie wunderschön«, sage ich, lasse die Kette baumeln und schenke Ian einen Blick, der hoffentlich vor Liebe nur so brennt.

»Warte«, sagt er und steht auf. »Lass mich das machen.«

Er nimmt die Kette und tritt mit dem entspannten Lächeln, das er so perfekt draufhat, hinter mich. Ich hebe mein Haar an, senke mein Kinn und lächele auf die zierliche Weise, die ich so gut beherrsche.

»DAS ist fantastisch«, sagt die Kellnerin.

Da weiß ich, dass ich das Foto im Kasten habe: die perfekte ungestellte Aufnahme.

Ian ist derselben Ansicht, was ich daran merke, dass er unruhig wird, sobald das Mädchen mir nach dem Fotografieren mein Handy zurückgegeben hat.

»Die Kette ist total schön! Und ihr beide seid echt süß. Hoffentlich sind die Fotos etwas geworden.«

»Bestimmt«, sage ich. »Danke, voll nett von dir! Soll ich dich im Foto oder in der Beschreibung taggen?«

»Echt jetzt? Voll gern! Ich bin Kayleigh Bee«, sagt sie und ich suche ihren Namen. »Alles kleingeschrieben, k-a-y-l-e-i-g-h.«

Ich tippe den Namen ein. »Bist du das?« Ich zeige ihr mein Handy.

»Yep. Das bin ich. Ich folge euch beiden, das ist also ein bisschen fangirlmäßig – sorry.«

»Na ja, danke noch mal«, sagt Ian. Hoffentlich bemerkt sie den verärgerten Unterton nicht.

»Jederzeit wieder, wirklich.«

Das Geräusch von klirrendem Glas unterbricht unser Gespräch, das sich allmählich peinlich in die Länge zieht. Kayleigh wirft einen Blick über die Schulter. »Äh … ich kümmere mich besser darum. Bis zum nächsten Mal?«

»Klar«, sage ich. »Danke.«

Kaum hat sie sich umgedreht, holt Ian Luft und atmet laut seufzend aus. »Reicht das? Ich muss mal los.«

Ich nicke. »Ja klar. Ich lade es heute Abend hoch.«

»Super«, sagt er. »Vergiss nicht, mich zu taggen.«

»Natürlich nicht.«

»Happy birthday, Mari.«

»Yep.«

Er wendet sich zum Gehen, bevor ich noch mehr sagen kann.

Bevor es irgendwer merkt, schnappe ich mir meine Sachen und lege das Geld passend auf den Tisch.

#WÜNSCHDIRWAS

Als ich nach Hause komme, liegt alles im Dunkeln und ich gehe direkt in den Garten, damit ich nicht merke, wie leer es drinnen ist. Ich lege den kleinen Kuchen, die Wunderkerzen und das Feuerzeug auf den Tisch und schalte die Poolbeleuchtung ein. Im Patio brauche ich nicht mehr Licht. Das sanfte wasserblaue Glühen und die Kerzen sollten für das letzte Foto des Tages reichen.

Völlig erschöpft lasse ich mich auf den Stuhl im Patio sinken. Die Leute drehen wegen des Fotos total durch, auf dem Ian mir die Geburtstagskette umlegt, und es wimmelt nur so von Aahs und Oohs und Kommentaren, wie süß wir sind, wie cool er ist und wie schön die Kette ist – und wo man sie bitte kaufen kann.

Am liebsten würde ich mein Handy in den Pool werfen, doch ich lege es auf den Tisch und nehme den Kuchen, den ich unterwegs gekauft habe, aus der Verpackung. Da keine achtzehn Kerzen daraufpassen, stecke ich drei zu einem Dreieck in die Mitte und probiere ein paar Perspektiven aus, darunter auch, wie ich vor dem Pool im Hintergrund die Kerzen ausblase. Das wird ganz schön schwierig, weil es auf keinen Fall nach Selfie aussehen darf. Das wäre furchtbar peinlich.

Aber aus welchem Winkel ich auch schaue, es ist erschreckend offensichtlich. Dann hole ich das Mini-Stativ und die Fernbedienung aus meiner Handtasche und wähle einen Ausschnitt, in dem der Kuchen und ich von hinten durch den Pool Licht bekommen und meine Hände scheinbar frei sind. Einen Moment lang bleibe ich so sitzen und betrachte mich auf dem Handybildschirm. Man sieht mir genau an, wie fertig ich bin. Obwohl meine Haare in sanften Wellen über meine Schultern fallen und das Make-up, das ich vor dem frühen Abendessen aufgetragen habe, noch perfekt sitzt, täuscht nichts davon über die angedeuteten Augenringe und meinen leeren Blick hinweg. Auch meine Wangen wirken in dieser Beleuchtung zu hohl. Ich kann die Leere, die ich empfinde, nicht verhehlen.

Nachdem ich die Wunderkerzen angezündet habe, drücke ich auf die Fernbedienung, während ich sie abbrennen lasse. Das mache ich immer wieder, so lange, wie es eben dauert, das einzig wahre Foto zu bekommen.

Mir etwas zu wünschen, spare ich mir.

ETWAS WAHRES

Oben in meinem Zimmer konzentriere ich mich auf mein Handy. Mein Puls schlägt im Takt mit den Likes, die hereinkommen. Obwohl ich mich danach sehne, dass sie wie sonst auch meine Stimmung aufhellen, habe ich das längst hinter mir gelassen. Jetzt sitze ich in nervöser Erwartung vor dem Gerät. Als eine Pause entsteht, ein Stocken, melden sich die alten Selbstzweifel und ziehen mich wie eine schwere Last noch weiter runter. Ich warte einen Augenblick. Habe ich die richtigen Fotos ausgewählt oder vielleicht eines zu viel gepostet? Soll ich sie doch alle wieder runternehmen? Am Rande der Tränen halte ich den Atem an – ich kann einfach nicht anders, obwohl ich weiß, wie lächerlich das ist. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit sehe ich das kleine Benachrichtigungsherzchen und noch eins – ich bekomme wieder Luft. Als endlich auch Kommentare eintreffen, scrolle ich durch die wenigen Worte, die zwischen den vielen Feier-Emojis stehen, zu meinem Geburtstagswunschfoto.

HBD Schönheit

Mein Geburtstagswunsch wäre, DU zu sein.

BIRTHDAYGOALS

Hoffentlich gehen all deine Wünsche in Erfüllung, für immer und ewig.

OMG LUV U SOOOO MUCH!

Du bist fantastisch und wunderschön und OMG, wenn wir uns je begegnen, werden wir sofort BFF, das weiß ich genau.

Wünsch dir was! Der perfekte Abschluss für jeden Geburtstag!

Sie sind alle so lieb. Eigentlich müsste ich sie durchgehen und jeden Kommentar liken, damit sie sehen, dass ich sie gelesen habe, aber irgendwie bin ich genervt. Ich lege mich hin, schließe die Augen und denke an diese fremden Menschen – meine Follower – und daran, wie sie mich sehen, mit dem Gefühl, mich aufgrund dessen zu kennen, was ich ihnen präsentiere. Sie würden nie darauf kommen, dass ich an meinem Geburtstag allein in meinem Zimmer hocke und mich noch nie im Leben so einsam gefühlt habe.

Mein Handy piept und zeigt mir eine neue Benachrichtigung, auf die ich tippe, ohne nachzudenken. Auf der Stelle wird mir übel und ich wünschte, ich könnte den Klick rückgängig machen.

Erin Younghat dich in einem Post mit Bri Young getaggt!

Geschockt starre ich auf ihre Namen, nachdem ich mich doch den ganzen Tag bemüht habe, bloß nicht an Bri zu denken.

Und jetzt habe ich sie direkt vor der Nase.

Ich fixiere die Benachrichtigung zu dem Post meiner Tante so lange, bis die Buchstaben verschwimmen und vor meinen Augen tanzen. Und dann tue ich etwas, das ich ewig nicht gemacht habe, nicht einmal in den beiden Monaten seit Bris Tod.

Ich klicke auf ihre Facebookseite.

Ihr Profilbild raubt mir den Atem, obwohl ich es schon kenne.

Bri steht vor einem rundherum blauen Himmel auf einem hohen Grat aus Granit. Mit geschlossenen Augen hält sie das Gesicht in die Sonne und streckt die Arme weit nach oben, während der Wind ihr Haar zerzaust und einzelne Strähnen in ihr lächelndes Gesicht weht. Ich kann verstehen, warum meine Tante dieses Foto für den Trauergottesdienst ausgesucht hat. Wer auch immer es gemacht hat, es ist ihm gelungen, ihr ganzes Wesen in diesem einen Bild einzufangen.

Direkt darunter steht das, was meine Tante gepostet hat, mit dem Foto von unserem dreizehnten Geburtstag. Der Anblick schnürt mir die Kehle zu: Bri und ich stehen untergehakt nebeneinander und halten grinsend und stolz die beiden gleichen Schlüsselanhänger mit Traumfängerchen hoch.

Als Bildunterschrift hat meine Tante geschrieben: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, ihr Zwillingssterne. Lasst euer schönes Licht leuchten, damit alle es sehen.

Die Worte treffen mich mitten ins Herz. Ich will sie wegschicken, die Seite schließen und vorgeben, ich hätte sie nie gesehen. Doch unter dem Post von Tante Erin steht noch mehr, weitere Glückwünsche für Bri, die ich nun auch lese.

Happy Birthday zum 18., liebe Freundin. Ich denke jeden Tag an dich. Ich spüre dich im Wind und sehe dich in allen schönen Dingen. Ich liebe und vermisse dich jeden Tag.

Ich denke heute an dich und an deine Abenteuerlust, deine Bescheidenheit und Freundlichkeit, deinen freien Geist. Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um mein Leben so auszuschöpfen wie du, um dir und deinem Gedächtnis Ehre zu erweisen. Ich liebe dich für immer. Happy birthday, Bri.

So viele Tränen heute. Ich vermisse dich und dein liebes Lächeln, deine schöne Stimme und dein starkes Wesen.

Du hattest ein wildes Herz und eine freie Seele, jetzt bist du irgendwo da draußen und wanderst durch das weite Jenseits, von wo du dein Licht auf uns hinunterscheinen lässt. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, du schöner Engel.

Und so geht es immer weiter, egal, wie weit ich herunterscrolle, mit diesen herzzerreißenden Glückwünschen für meine Cousine. Einige Gratulanten kenne ich, andere nicht, aber jeder Beitrag bringt eine Saite in meinem Inneren zum Klingen und ich weine längst selbst beim Lesen.

Heute Abend habe ich nicht die Kraft, dagegen anzukämpfen.

Ich denke an uns, wie es früher war, und an den letzten Geburtstag, den wir gemeinsam gefeiert haben – diesen dreizehnten –, als unserer endlos strahlenden Zukunft nichts im Wege zu stehen schien. Gemeinsam waren wir unbesiegbar. Wir konnten machen, was wir wollten, und waren uns genug. Dieses Gefühl gab sie mir.

Jetzt muss ich daran denken, dass ich mir an diesem Geburtstag gewünscht habe, es sollte immer so bleiben mit uns.

Wie lange war das her! Damals hatte ich noch nicht alles vermasselt.

Mein Vater hatte uns noch nicht verlassen und meine Mutter war noch nicht so darauf fixiert, ein neues Leben zu beginnen, wobei sie ganz vergaß, dass ich noch gar nicht wusste, was ich mit meinem anfangen sollte. Deshalb hatte ich anderweitig Ratschläge gesucht und sie online gefunden. Erst fand ich ein Mädchen auf Instagram, das nette Fotos und motivierende Gedanken postete, an die ich mich klammerte und worin ich einen Ausweg sah. Allmählich fand ich immer mehr Accounts dieser Art von Mädchen, die das perfekte inspirierende Leben führten, das ich mir selbst so sehnlichst wünschte. Sie waren wunderschön und glücklich, ernährten sich gesund, praktizierten Yoga und trafen sich mit ihren Freunden am Strand – und das rund um die Uhr.

Ich verfolgte also aus der Ferne das Leben dieser Fremden, bis aus meinen Neidgefühlen nach kurzer Zeit der Wunsch entstand, etwas Ähnliches zu machen. Ich studierte ihre Posen und Posts, merkte mir die Zitate und Hashtags und las Artikel darüber, wie man am besten seine Followerzahl vergrößerte. Ich durchforstete meinen eigenen Account und löschte die Fotos mit den wenigsten Likes sowie jene, die nicht zu dem allgemeinen Image von einem fröhlichen Leben im Gleichgewicht passten, das ich anstrebte. Einem Leben, das besser war als das, was ich wirklich führte. Fotos von mir als Zehnjährige im Halloweenkostüm störten da nur, genau wie das von meinem dreizehnten Geburtstag bei meiner Cousine, auf dem ich nach einem ganzen Tag im Freien schmutzig und sonnenverbrannt aussah. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich dieses Foto löschte, aber ich tat es dennoch. Und als Bri es merkte und mich darauf ansprach, hatte ich gelogen, wie traurig ich wäre, weil diese Posts irgendwie plötzlich verschwunden waren. Sie schickte mir die Fotos noch mal, aber ich lud sie nicht wieder hoch.

Stattdessen stellte ich die Fotos nun so zusammen, dass hoffentlich mehr Leute sie liken würden, Menschen, die mich eigentlich gar nicht kannten. Und als ich dann mein erstes Bikinifoto postete, funktionierte es tatsächlich: Beinahe über Nacht begannen fremde User, meine Beiträge zu liken, zu kommentieren und mir zu folgen. Bri hatte mir eine PN geschickt und nachgefragt, was da los war und ob es mir gut ginge – als könnte sie direkt in mich hineinsehen, was ich nicht ausstehen konnte. Dieses erste Foto und die Reaktionen darauf hatten mir ein gutes Gefühl gegeben, als alles andere gar nicht gut war. Das sollte sie mir nicht wieder wegnehmen.

So postete ich weitere Beiträge im Stil des Bikinifotos und vergrößerte mit jedem einzelnen die Distanz zwischen uns. Ich wollte keine kritischen Fragen von ihr hören oder dass sie sich Sorgen machte oder mich wegen irgendetwas zur Rede stellte, das ich fälschlicherweise gesagt oder präsentiert hatte. Sie wusste, wie ich wirklich war, aber so wollte ich nicht mehr auftreten. Deshalb brach ich den Kontakt ab und dachte mir Ausreden aus, um sie nicht mehr besuchen zu müssen. Es ist hart, jemandem gegenüberzutreten, der dein wahres Ich kennt. Das hielt ich nicht länger aus. Ich löste mich von ihr und schließlich ließ sie mich in Ruhe.

Ich habe einen Kloß im Hals und Bris Facebookseite verschwimmt vor meinen tränennassen Augen, während ich mir nichts mehr wünsche, als dass sie jetzt bei mir wäre. Dann könnten wir gemeinsam Geburtstag feiern und reden. Ich könnte mich über meine einsamen Tage ausheulen.

Außerdem könnte ich ihr gestehen, welch bedeutungsloses Leben ich mir selbst geschaffen habe.

Vielleicht treibt mich das alles an, als ich aus dem Bett aufstehe, mich an den Schreibtisch setze und eine Aufnahme mit meinem Laptop starte.

Dann sehe ich mich auf dem Bildschirm im Schlafanzug mit verschmierter Wimperntusche und verquollenen, rot umränderten Augen. Aber das ist mir ausnahmsweise völlig egal. Ich blicke unverwandt in das starre Auge der Kamera und weiß nicht, was ich sagen soll. Dann stelle ich mir vor, dass Bri am anderen Ende sitzt und zuhört. Ich denke an uns und den Sommer, als wir dreizehn wurden. Als ich sie zum letzten Mal gesehen habe.

»Heute haben wir Geburtstag«, sage ich. »Und es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.« Ich breche kurz ab und schaue wieder in das blinkende Lämpchen. Und dann sage ich schließlich zum ersten Mal seit ewigen Zeiten etwas, das stimmt.

DAS LEBEN, DAS ICH MIR GESCHAFFEN HABE

Schon bevor ich die Augen aufschlage, habe ich ein schlechtes Gefühl. In Gedanken höre ich meine tränenerstickte Stimme und sehe mein Gesicht auf dem Computerbildschirm und wünsche mir, es wäre ein Albtraum gewesen oder ich hätte mir nur eingebildet, das zu tun, und es mir anders überlegt. Doch bereits als ich nach meinem Handy greife, ist mir klar, dass es nicht so ist. Meine Lider sind noch schwer vom Schlaf, als ich das Minibild meines verheulten Gesichts ansehe. Und die Zahl erkenne, die daruntersteht und die buchstäblich über Nacht dort aufgetaucht ist.

784.062Aufrufe

Mein neuer Rekord.

Ich glaube, mir wird schlecht.

Wahnsinn.

Ich drücke auf Play, und als ich meine zittrige Stimme höre, bekomme ich keine Luft mehr.

Ich sehe mir an, wie ich den Blick direkt auf die Kamera richte und für meine Cousine das Innerste nach außen kehre. Ich erzähle ihr, dass wir Geburtstag haben – und dann sind Tür und Tor für alles geöffnet, das ich immer zurückgehalten habe, für jeden abscheulichen und schmerzlichen Gedanken.

Ich erschaudere vor meinen Worten und der Qual in meiner Stimme, doch es hat mich erleichtert, das alles auszusprechen – dass mein Leben hohl und sinnentleert ist. Und dass ich mit dem Scheiß aufhören will, mit den Fotos, den Videos, der ewigen Zitterpartie wegen der Follower, der Likes und der Zahlen. Mit dem Fake der bezahlten Posts und der einsamen Kraftanstrengung, mein Leben als perfekt hinzustellen, als hätte ich alles, während ich doch in Wirklichkeit todunglücklich und völlig verunsichtert bin.

Das benenne ich alles klar und deutlich, all das, was mich innerlich so ausgehöhlt hat.

Ich gestehe Bri, wie sehr ich mich darin verloren habe und dass ich meine Zeit gerade dafür investiere, ein gefaktes Leben zu erschaffen, um andere Leute zu überzeugen. Aber wovon genau? Dass ich etwas Besonderes bin? Oder bewundernswert? Gut genug?

An unserem achtzehnten Geburtstag erzähle ich ihr, dass ich nichts davon bin und dass ich überhaupt keine Vorstellung davon habe, wer ich bin oder was in meinem Leben noch stimmt.

Und schließlich sage ich zu ihr, dass ich am liebsten in die Zeit zurückkehren würde, als wir dreizehn waren, und dass ich mich daran erinnert habe – ihretwegen. Weil sie immer so genau wusste, wer wir waren und wie unser Leben sich entwickeln würde.

Ich berichte von der Trauerfeier, auf der meine Tante meinte, Bri hätte ihr siebzehntes Lebensjahr so verbracht, als hätte sie bereits gewusst, dass es ihr letztes war. Während Erins Rede lief hinter ihr eine Diashow – von Bris letztem Jahr. Nachdem sie früh ihren Abschluss gemacht hatte, war sie fast die ganze Zeit mit dem Rucksack in Europa unterwegs gewesen. Es gab Fotos, wie sie mit einer Vespa durch die italienische Landschaft fuhr, auf einem Berggipfel in der Schweiz stand oder mit Hippies in Teneriffa am Strand kampierte. Und als sie nach Hause kam, fuhr sie gleich wieder los, per Anhalter nach Kanada, wo sie in Eishöhlen tanzte und in den verschneiten Bergen gefrorene Wasserfälle aufspürte.

Ich spreche immer weiter in die Kamera. Nach den Kanadafotos kamen Bilder vom Training für den John Muir Trail, den sie an ihrem achtzehnten Geburtstag in Angriff nehmen wollte. An unserem achtzehnten Geburtstag. Im Gegensatz zu ihr hatte ich völlig vergessen, was wir uns vorgenommen hatten. Sie hatte sich jedoch alles gemerkt, was wir in unserem letzten Sommer auf ihrer Wiese geplant hatten, als wir auf dem Trampolin lagen. Pläne für so viele Dinge, die wir eines Tages gemeinsam unternehmen wollten.

Dinge, die sie dann auch tatsächlich durchgezogen hatte.

Ich sage in die Kamera, wie sehr ich wünschte, dass ich dabei gewesen wäre. Ich wünschte, ich hätte mich von meinem blöden Fake-Leben nicht so sehr vereinnahmen lassen, hätte nicht aufgehört, wirklich zu leben. Ich sage ihr, dass es mir leidtut, so schrecklich leid. Und hätte ich mich nicht selbst verloren, hätte ich vielleicht viele neue Abenteuer mit ihr erlebt.

Möglicherweise hätte ich dann auch jene Wanderung mit ihr unternommen.

Konnte doch sein, dass sie diesen einen fatalen Schritt dann nicht getan hätte und meine Tante nicht im Gottesdienst vor Hunderten von Trauernden hätte aufstehen müssen, um ihnen zu sagen, dass Bri keine Schmerzen gehabt hatte, nachdem sie gestürzt war. In einem Moment war sie auf dem Trail gewesen und hatte das Leben gelebt, das sie so liebte, und im nächsten war es zu Ende gewesen.