19,99 €
Peter Gross blickt auf eine schwierige Kindheit mit gravierenden Einbrüchen zurück und rekapituliert eine bewegte Berufslaufbahn, die teilweise dieser Kindheit geschuldet ist. Seine Krise und die folgenden Jahre zeigen, dass der Staat lange Zeit nicht auf der Höhe war, wenn es um die Integration von psychisch angeschlagenen Menschen ging, die Hilfe benötigen. Obwohl die Weiterentwicklung der Invalidenversicherung ab Januar 2022 maßgebliche Veränderungen brachte, gibt es heute Tausende von Menschen, die unverschuldet in die Armut und die Hoffnungslosigkeit getrieben wurden. Von diesen Menschen spricht niemand. Peter Gross kämpfte sich ins Leben zurück und erzählt heute – stellvertretend für alle vergessenen Betroffenen – seine Geschichte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 157
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2023 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-157-9
ISBN e-book: 978-3-99146-158-6
Lektorat: Susanne Schilp
Umschlagfotos: Sergejsbelovs, Jiri Studnicky, Stepan Popov | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Mond und Sterne
Auf dem schmalen Grasstreifen, der die Siedlung wie eine Schutz-Zone von der Straße und dem Quartier mit der Schuhfabrik, der Beiz und der Tankstelle abgrenzte, lagen ein kaputter Ball und im Sandkasten die zertrampelten Überreste kindlicher Baukunst. Es wurde langsam dunkel. Ich saß auf der Mauer vor unserem Haus. Blasse Sterne, der bleiche Mond: Beide sind für alle da. Vom Parkplatz wehten Gelächter und Stimmen zu mir herüber, Autotüren wurden zugeknallt. Ich beneidete die wegfahrenden Besucher. In den Fenstern identischer Betonbauten, die zusammen eine Siedlung ergaben, die sich „familienfreundlich“ nannte, brannte bald Licht. Ich fragte mich, was die Menschen hinter den zugezogenen Gardinen machen und blickte zum einzigen Hochhaus hinüber, das wie ein Fremdkörper in die Höhe einer begrünten und doch grauen Agglomeration ragte, die heute noch genau gleich aussieht wie in den 1970er-Jahren. Heidi war noch nicht eingezogen, aber in der Nummer 14 lebte mein bester Freund. Tagsüber konnte ich an Fensterscheiben klopfen und Klingeln drücken, die Kameraden zum Spiel auf dem Grasstreifen auffordern und manchmal durfte ich bei Angelo essen und von einer familiären Harmonie profitieren, die mir gänzlich fremd war.
Irgendwann war der Himmel fast schwarz, die Sterne hingen wie Diamanten im Dunkel. Ich war sieben Jahre alt und fürchtete mich, in mein Zuhause zurückzukehren. Es gab einen Eingangsbereich mit Toilette und Bad. Zwei Kinderzimmer, ein Elternschlafzimmer. Im größten Raum standen das Sofa, der Beistelltisch und die Wohnwand. Dort lagerten die Schätze der Erwachsenen: schönes Geschirr, die feine Tischwäsche, bunte Glasvasen und Süßigkeiten, die wir nicht anrühren durften. Im Terrarium lebten zwei Alligatoren, die dem Vater als klein bleibend verkauft worden waren. Als sie zu stattlicher Größe heranwuchsen, mussten sie an einen Zoo abgegeben werden. Ihre Behausung verwandelte sich in ein Aquarium mit Neonfischen und Schlingpflanzen. Der auf einem Sockel stehende Glaskasten mit dem friedvollen Innenleben vermittelte mir in einem Universum, das durch die gewalttätigen Ausbrüche des Vaters geprägt war, so etwas wie Trost.
Meine Mutter hatte mich knapp neunzehnjährig geboren. Meine beiden jüngeren Schwestern machten aus Yvette eine zweiundzwanzigjährige Dreifach-Mutter. Leo unser Erzeuger, hatte seine anderen Kinder samt Ehefrau verlassen, um die hochschwangere Geliebte, in einem Anfall von Ehrenhaftigkeit, einen Monat vor meiner Geburt zu heiraten und führte sein Schreckensregime fortan einfach in der neuen Familie fort.
In den ersten Jahren meines Daseins war das Leben noch weniger beschwerlich, obwohl: Mit siebeneinhalb Monaten fiel ich vom Wickeltisch, wie man sich erzählte, als dieser Sturz mit Verhaltensweisen in Verbindung gebracht wurde, die Mutter und Vater mit dem Satz „Der ist nicht ganz normal“ erklärten, was die Suche nach anderen Gründen überflüssig machte. Nach unablässigem Weinen verstummte ich, auf dem Boden liegend, plötzlich. Mutter glaubte, ich sei tot. Das war nicht der Fall. Im Krankenhaus wurde ein Schädelbruch festgestellt. Ich kam zu den Großeltern mütterlicherseits, die mich wochenlang pflegten, während Leo seine junge Frau zu doppelter Arbeitsleistung antrieb, da er den kaputten Kopf seines Sohnes ihrer mangelnden Sorgfalt zuschob, wobei ihm die Kosten meiner Genesung weitaus mehr beschäftigten als die Sorge um meinen Gesundheitszustand.
Was Vater und Mutter verband, weiß ich nicht. Es waren die späten 1960er-Jahre. Während anderswo das progressive Leben tobte, junge Leute so viel mehr wollten, als ihnen das verhasste Establishment zugestand, kämpften die Erwachsenen in meinem Umfeld einfach weiter um ihre Existenz. Leo hatte keine Ausbildung abgeschlossen. Mit welcher Arbeit er seine erste Familie über die Runden gebracht hatte, weiß ich nicht, was ich jedoch weiß, ist, dass er sein Lebtag nie einen Franken Alimente leistete und in seiner neuen Frau eine tüchtige Arbeitskraft erkannte, die zum finanziellen Auskommen der Familie beitrug. Und jetzt weiß ich auch: Die Firma war das verbindende Element zwischen ihnen. Sie gründeten ein Unternehmen für Reinigungsmittel. Der Name setzte sich aus den Silben ihrer Vornamen und dem Namen unseres Wohnortes zusammen. Die Fabrikation befand sich in einem angemieteten Raum, der sich ebenfalls in der Siedlung befand. Dort lagerten große Fässer mit Substanzen, die nach genauer Rezeptur in Flaschen abgefüllt und von uns Kindern etikettiert werden mussten. Zu Dutzenden in Kartonschachteln verstaut, fuhren die Eltern ihre Verkaufstouren in der nahen und fernen Umgebung. In Schulhäusern und Gemeindeverwaltungen bauten sie sich eine Stammkundschaft auf, denn die Produkte der Firma „Lywigo“ genossen einen ausgezeichneten Ruf, wenn es um die blitzblanke und streifenlose Reinigung mittels Mob, Putzlappen oder Bürste ging. Als Folge des elterlichen Fleißes waren wir Kinder anständig gekleidet und hungerten nicht. In der Garage stand das Auto, in der Wohnzimmerwand plötzlich ein Farbfernseher. Ich besaß Spielzeugautos und ein Minivelo. Vater war zwar pausenlos anwesend, aber ich erinnere mich nur an ein einziges Erlebnis, das mich in positiver Art und Weise mit seiner Präsenz verbindet. Er fuhr mit seinem Rennvelo um den Greifensee, ich als kleiner Knirps im Windschatten hinterher. Danach war er stolz, dass ich das geschafft hatte. Es war das einzige Lob, das ich je von ihm erhalten habe.
Als das Familienleben noch halbwegs funktionierte, verbrachten wir die Wochenenden im Winter auf dem Atzmännig, einem Naherholungsgebiet, das eine Autostunde von unserem Wohnort entfernt lag. Der dort stationierte Wohnwagen bot fünf Personen nur knapp Platz. Die Verhältnisse waren beengt, die Streitigkeiten vorprogrammiert und so verbrachte ich die meiste Zeit im Freien, entdeckte die winterliche Natur mit den schneebedeckten Hügeln, die zum Rodeln und Skifahren einluden. Dass meine Schwester und ich Skier und Skischuhe, gefütterte Overalls und einen Tages-Pass besaßen, um uns in die Höhe transportieren zu lassen, war keine Selbstverständlichkeit, wie man uns sagte. Am Morgen frühstückte ich bereits in voller Montur, um danach als Erster am Lift zu stehen. Innerhalb weniger Saisons wurde ich ein ausgezeichneter Skifahrer und als mir Mutter in ihrem knallgelben Skidress nacheifern wollte, hängte ich sie ab, sie war mir eindeutig zu langsam unterwegs. Ich erinnere mich, dass mir die sportliche Aktivität die Sicherheit vermittelte, weniger nutzlos zu sein, als mir mein Vater für gewöhnlich weismachen wollte. Wenn ich durch Tiefschnee wedelte, die Pisten schneller als alle anderen hinunterflitzte und bei gemächlichen Waldabfahrten den Duft von Nadelbäumen einsog, ein Eichhörnchen oder Tierspuren im Schnee erblickte, spürte ich Freiheit und Ruhe. Das Alleinsein gefiel mir eindeutig. Ich musste mich nicht äußern, machte nichts falsch und konnte eigene Entscheidungen treffen. Gelangten wir nach den Ferien wieder ins Unterland zurück, buckelte ich meine Skier und stand bald auf einem schneebedeckten Hügel in der Nähe unseres Wohnortes. Zusammen mit den Kindern der Siedlung bauten wir Schanzen, regelten den spärlichen Verkehr auf der nahen Quartierstraße und flogen so ähnlich wie unsere Vorbilder, Ingemar Stenmark und Bernhard Russi, in hohem Bogen über die Straße auf die gegenüberliegende Wiese.
Im Sommer stand der Wohnwagen, wie von Zauberhand gelenkt, plötzlich an einem anderen Standort. Mitten in üppigem Grün und nur Schritte von unserer Bleibe entfernt, glitzerte der Greifensee. Nun trugen wir fast den ganzen Tag Badehosen. Die Enge der winterlichen Residenz auf Rädern wurde in dieser Jahreszeit mit einem Vordach bekämpft, unter dem wir auf zusammenklappbarem Mobiliar im Freien aßen, was Mutter in der winzigen Küche zubereitete. Auch in diesem Umfeld war die Freiheit fast grenzenlos. Wenig Beaufsichtigung war nötig, alle kannten sich, wussten, wo sich die Sprösslinge der anderen Familien gerade aufhielten und die allfällige Erkundigung der Zivilisation verhinderte ein riesiges Maisfeld. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde es erfrischend kühl und ruhig und die Laternen auf den Tischen verbreiteten fast so etwas wie eine romantische Stimmung. Davon blieben die Eltern unbeeindruckt. Allerdings hatten ein verheirateter Mann mit einem Seehund-Schnurrbart, einer Ehefrau und zwei Kindern und meine nun siebenundzwanzigjährige Mutter vermutlich bereits damals ein Auge aufeinander geworfen.
Die Eltern stritten viel und in dieser Zeit ereignete sich bereits etwas, was auf Unachtsamkeit oder sogar Grausamkeit im Umgang mit mir hinwies. Einmal, es war an Ostern, hatte ich im Wohnwagen das Bett eingenässt. Am Nachmittag stand die ersehnte Suche der Osternester auf dem Programm. Die anderen Kinder waren erfolgreich, kehrten jubelnd mit einer reichen Beute aus Schokoladenhasen und Zuckereiern zurück, nur ich fand mein Nest trotz aller Bemühungen nicht. Enttäuscht kehrte ich zurück, worauf mich die Eltern wissen ließen: „Du darfst erst jetzt suchen.“ Da die anderen ihre Süßigkeiten in Sicherheit gebracht hatten, half mir die gesamte Schar. Als ich mein Nest endlich gefunden hatte, steckte nur meine nasse Unterhose im Ostergras. Ich schämte mich in Grund und Boden. Eine andere Episode jener Jahre blieb mir ebenfalls in Erinnerung: Der Sohn des zweiten Nachbars auf dem Platz, ein achtzehnjähriger Junge, hatte es sich in einem eigenen Zelt in direkter Nähe zum elterlichen Wohnwagen gemütlich gemacht. Als er eines Nachts die Toilette aufsuchte, die sich in einem weiter entfernt gelegenen Gebäude befand, kippte die im Inneren angezündete Kerze um. Das Zelt fing Feuer. Seine aus dem Campingwagen hinausstürmenden Eltern waren in größter Panik, glaubten sie doch, ihr Kind befinde sich im Zelt. Sein Vater drang ins Innere, wollte seinen Sohn retten, zog sich Verbrennungen zu, als dieser nichts ahnend zurückkehrte. Anstatt mich vor diesem Drama zu bewahren, das mich in Angst und Schrecken versetzte, ließ mich mein Vater seelenruhig zusehen und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir abermals eine grausame Lektion erteilen wollte.
Wie es um die Ehe der Eltern stand, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, allerdings hatte mich bereits drei Jahre zuvor, als Fünfjähriger, ein Erlebnis schockiert, das sich in tiefer Nacht zugetragen hatte. Ich musste zur Toilette und nahm ein Licht im Wohnzimmer wahr, schaute nach und erkannte meinen Vater. Er kniete vor dem Beistelltisch im Wohnzimmer. Auf der Platte stand eine Kerze, die schummriges Licht verbreitete, ein geschnitztes Jesus-Kreuz und ein langes Messer. Das seltsame Stillleben versetzte mich augenblicklich in Panik. Mutter ermahnte mich, sofort in mein Zimmer zurückzukehren. Als ich mich am nächsten Tag erkundigte, was geschehen sei, antwortete Yvette schlicht und ergreifend: „Er wollte sich umbringen.“ Ich wusste offenbar bereits in diesem jungen Alter, was das bedeutete und stellte Fragen. Diese wurden nicht beantwortet und darin sehe ich heute eine Verhaltensweise, die für unsere Familie typisch war. Es wurde nicht geredet. Man ging den Problemen nie auf den Grund. Man hoffte, diese lösten sich von allein in Luft auf und wenn dies nicht geschah, ignorierte man es ganz einfach, was für noch mehr Schmerz und Kummer sorgte. Als ich mich einige Jahre später, ich war noch ein Kind, ebenfalls mit dem Gedanken trug, mich umzubringen, indem ich mir die Kante des in die Höhe gehobenen Bettgestells auf die Kehle fallen lassen wollte, kommentierte Mutter dieses Ansinnen mit einem einzigen kühlen Satz: „Das schaffst du sowieso nicht.“ Viele kleinere und größere Vorfälle nährten mein Gefühl, unwichtig zu sein. Meine Vernachlässigung zeigte sich darin, dass mein seelisches, jedoch auch mein körperliches Wohl keine Beachtung fanden. Während andere Mädchen und Jungen mit aufgeschürften Knien und verstauchten Handgelenken in die Arme ihrer Mütter flüchteten, getröstet und verarztet wurden, erinnere ich mich in solchen Situationen weder an elterliche Fürsorge noch an Gesten der Zuneigung. Einmal erklomm ich einen Kastanienbaum. Der Ast brach in großer Höhe ab und Sekunden später lag ich mit schmerzenden Gliedern am Boden. Ich humpelte nach Hause, hatte starke Schmerzen, hoffte darauf, getröstet zu werden. Vergeblich. Vater wies mich barsch an, mit winzigen Buchstaben aus dem Setzkasten den Satz zu formulieren „Ich darf nicht auf Bäume klettern“ – so oft, bis die Fächer des Setzkastens leer waren. Unfälle oder andere Missgeschicke, die sich in jedem Kinderleben ereignen, zogen in meinem Fall oft weitere Bestrafungen nach sich, vor allem aber war die Familie immer häufiger den willkürlichen Übergriffen meines Vaters ausgesetzt. Leo war ein harter und streitsüchtiger Mann. Die Erinnerungen an seine Ausbrüche trüben mein Gedächtnis, beziehungsweise tilgten das Positive und Gute; beides gab es bestimmt auch.
Ich war ein liebes und friedfertiges Kind, hasste Streit und laute Auseinandersetzungen, die mich in Angst und Schrecken versetzten. Einerseits versuchte ich, mich unauffällig und ruhig zu verhalten und keine Gründe dafür zu liefern, dass eine Situation eskalierte. Andererseits heckte ich immer wieder Streiche aus, von denen ich wusste, dass sie drastische Bestrafungsaktionen nach sich ziehen würden. Man könnte dieses Verhalten als selbstschädigend bezeichnen. Für mich ergab es irgendwie Sinn, denn die verabreichten Prügel konnten so zumindest in einen vernünftigen Zusammenhang gebracht werden. Ich zündelte mit Plastik, verbrannte mir das Ohr, drückte alle Klingelknöpfe am Hochhaus und einmal fuhren wir mit Mutter in das Gemeindehaus: Während sie meine Schwestern und mich warten ließ, löste ich die Handbremse des Autos, das nach hinten rollte, durch ein Trottoir aber glücklicherweise gestoppt wurde. Ein beobachtender Passant schimpfte unsere Mutter aus, der Schuldige war schnell ausgemacht und logisch fiel die Bestrafung hart aus. Erklärungen, die mir Gründe begreifbar machten, damit ich mein eigenes Verhalten hätte verändern können, gab es nie. Als wären meine Missetaten gewünscht. Ob Mutter bei anderen Gelegenheiten das Augenmerk von sich lenken wollte, indem sie Leo ihre Kinder als Sündenböcke zur Verfügung stellte, ist eine Vermutung, die hoffentlich nicht zutrifft und doch machte sie sich in dieser Zeit auch zu seiner Komplizin. Ärgernisse, die sich in der Abwesenheit ihres Mannes ergaben, wurden nicht sofort bestraft. Meine Schwestern und ich mussten uns vor der Schrankwand im Wohnzimmer auf den Boden setzen und auf seine Rückkehr warten. Die absolute Sicherheit, dass bei diesen Gelegenheiten Prügel drohte, war das eine. Die Ungewissheit, wie hart die körperlichen Strafen ausfallen würden, erwies sich als Qual, die zu Unsicherheit und Angst führte.
Was damals auch in manchen anderen Familien an der Tagesordnung war, dass man erzieherische Prinzipien handgreiflich durchsetzte, erreichte in unserer Familie ein wildes und unordentliches Ausmaß, das ich instinktiv als gefährlich und destruktiv wahrnahm.
Die kontrollierten Bestrafungsaktionen gingen immer öfter, rund fünfmal pro Woche, in willkürliche Gewalt über. Einmal, ich erinnere mich seltsamerweise daran, dass ich einen schwarzen Rollkragenpullover trug, hatte Mutter ein Essen gekocht, das wir Kinder liebten. Omeletten. Vater mochte das Eiergericht nicht und geriet derart in Rage, dass er seinen gefüllten Teller an die Decke knallte und die Wohnung wutentbrannt verließ, während seine Frau Scherben und Nahrung zusammenwischte und danach eine umfassende Reinigungsaktion starten musste. Er schrie, tobte und randalierte immer öfter aus dem Nichts heraus und sein cholerisches Temperament richtete sich auch gegen Mutter, die darin irgendwann eine abstruse Logik erkannt haben muss. Unzufriedenheit, Stress und andere Kalamitäten des täglichen Lebens führten bei Leo mit Sicherheit und in immer kürzeren Abständen zu einem unheilvollen Zustand. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Detail, eine Winzigkeit, eine Unwichtigkeit einen gewaltigen Ausbruch auslöste. Bei manchen Gelegenheiten versuchte Mutter, uns aus der Gefahrenzone zu retten und verbannte uns in die Kinderzimmer, worauf wir akustisch Zeugen wurden, wie Leo seine zierliche Frau attackierte und misshandelte.
Irgendwann werden auch schreckliche Verhältnisse zu einer Normalität. Man arrangiert sich mit dem Umstand, nichts ändern zu können, verhält sich in Anbetracht der eigenen Machtlosigkeit passiv und auch diese Eigenschaft schien sich später – irgendwie – und zumindest zeitweise in mir festgesetzt zu haben. Mein Vertrauen in die Eltern erlitt früh Schaden. Dass Ärger und Wut in dieser Art und Weise geäußert wurden und Macht derart missbräuchlich ausgeübt wurde, führte bei mir zu Gefühlen der Einsamkeit und der Abhängigkeit, was auch Auswirkungen auf mein weiteres Leben haben sollte. In unangenehmen oder unerträglichen Situationen verhielt ich mich später bisweilen so wie einst in der Kindheit, als ich wusste, dass es kein Entrinnen gab, ich dem väterlichen Regime ausgeliefert war und alles erdulden musste. Meinen Schwestern erging es nicht besser als mir, was ebenfalls psychische Konsequenzen für ihre späteren Leben als Erwachsene zur Folge hatte. Meine Erinnerungen an die Kindheit sind mit Gefühlen der Zurückweisung und der mangelnden Anerkennung verbunden und die damaligen körperlichen Reaktionen begleiten mich bis zum heutigen Tag. Ein Schleier legte sich über mich, veränderte meine Wahrnehmung, und eine Art Schockstarre war die Folge. Bis zu meinem Zusammenbruch, der Jahrzehnte später stattfand, fehlte es mir an Strategien, um diesen Zustand zu verändern, der unter anderem dazu führte, dass ich unzählige, vermeintliche Gefahren witterte, ein Umstand, der fast immer mit starken Angstzuständen verbunden war.
Meine Scholle
Nach gewalttätigen Übergriffen und unsäglichen Szenen blieben Erklärungen oder Entschuldigungen vonseiten des Vaters aus. Der Wille, an seinem Verhalten etwas zu verändern, war schlicht nicht vorhanden und nach unfassbaren Ausbrüchen ging man kommentarlos zur Tagesordnung über. Ich schwieg ebenfalls und vertuschte die sichtbaren Folgen der Übergriffe und versuchte zu verheimlichen, was bei uns zu Hause geschah. Als noch kleines Kind wollte ich bei den Eltern bleiben und verzichtete, aus Angst vor dem Kinderheim und erneuten Sanktionen, darauf, Hilfe zu suchen. Auch wenn ich es getan hätte, so meine ich heute zu wissen, wären solche Aktionen nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Obwohl beide Eltern aus kinderreichen Familien stammten, ich Dutzende von Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen hatte, erfuhren wir von den Verwandten keinerlei Unterstützung. Zu den Großeltern, die mich als Säugling hegten und pflegten, bestand in meinen ersten zehn Lebensjahren kein Kontakt. Mutter brach diesen ab, nachdem sich ihre Eltern kritisch über den Schwiegersohn geäußert hatten. Ich erinnere mich nur an einen Kontakt in der frühen Kindheit, und zwar mit jenem Onkel, der einen Collie besaß, was mich zur Bitte verleitete, eine Woche Ferien bei ihm verbringen zu dürfen. Bereits am ersten Abend weinte ich derart heftig und anhaltend, dass mich die Eltern sofort mit dem Auto abholten. Zum ersten und letzten Mal gingen sie positiv auf meine Emotionen ein und, vermutlich beruhigt darüber, dass die häuslichen Zustände doch nicht so schlecht sein können, wenn sich der kleine Sohn vor Heimweh nach seinem Zuhause verzehrt, setzte es nach diesem Zwischenfall auch keine Prügel. Später realisierte ich: Den übrigen Familien der Siedlung entging nicht, was bei uns zu Hause los war. Man mischte sich nicht ein, war mit dem eigenen Leben beschäftigt und überließ uns – bis auf einmal – unserem Schicksal: Die Frau des Hausmeisters, eine freundliche und kluge Frau, stand bei uns vor der Wohnungstüre. Als Zweitklässler wurde ich Zeuge, wie meine Mutter – die in der Zwischenzeit offenbar um unsere Leben fürchtete – Frau Gloor das Sturmgewehr meines Vaters aushändigte und ihr die Patronen in die geöffnete Hand legte.