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Oliver Twist - die Geschichte des Waisenkindes, das unter ärmlichsten, erschreckenden Verhältnissen aufwächst und später in die Fänge von Kriminellen gerät, doch immer wieder gegen alle Widrigkeiten behaupten kann, ist bis heute aktuell geblieben. Neu redigierte Übersetzung. Charles Dickens - der englische Schriftsteller ist bis heute sehr beliebt und zugleich literaturgeschichtlich bedeutend als Realist und Erzähler.
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Seitenzahl: 495
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Charles Dickens
Oliver Twist
Deutsch von Carl Kolb und Dirk Müller
Idb, 2016
Handelt von dem Ort, wo Oliver Twist geboren wurde, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten.
In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tag, dessen Datum den Lesern kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.
Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es fielt nämlich ungemein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, dann wäre er unzweifelhaft mit dem Tod abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten musste. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, dass Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß.
Da erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: »Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.«
Der Arzt saß vor dem Kamin und war bemüht, seine Hände bald durch Reiben, bald durch Ausstrecken über die Kohlen warm zu halten; als aber die junge Frau sprach, stand er auf, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit, als man ihm zugetraut hätte: »Oh! Sie müssen nicht vom Sterben sprechen!«
Die Wöchnerin streckte die Hand nach ihrem Kind aus, der Arzt legte es ihr in die Arme. Sie küsste es leidenschaftlich auf die Stirn, dann fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild um sich, schauderte, sank zurück – und starb.
»Sie hat ausgerungen«, sagte der Arzt nach einer kurzen Untersuchung zu der alten Frau. »Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit, wahrscheinlich wird es etwas unruhig sein.«
Er zog bedächtig seine Handschuhe an. »Ihr könnt ihm dann ein wenig Haferschleim geben.« Er setzte den Hut auf und trat, bevor er das Zimmer verließ, noch einmal ans Bett und sagte: »Es war ein hübsches Mädchen; woher kam sie?«
»Sie wurde gestern Abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert«, antwortete die alte Frau. »Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muss weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand.«
Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch.
»Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte«, sagte er kopfschüttelnd, »kein Trauring. Na! Gute Nacht!«
Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind anziehen.
In der Decke, die Oliver bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebenso gut für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten.
Handelt davon, wie Oliver Twist heranwuchs, erzogen und ernährt wurde.
In den ersten acht oder zehn Monaten war Oliver das Opfer eines systematischen Betrugs und einer fortgesetzten Gaunerei. Er wurde nämlich aufgepäppelt. Die Armenhaus-Behörde meldete den ausgehungerten und elenden Zustand des Waisenkindes pflichtschuldigst an den Gemeinde-Vorstand. Dieser forderte einen Bericht darüber, ob sich »in dem Haus« keine Frau befände, die in der Lage sei, dem kleinen Oliver Twist die Nahrung zu reichen, deren er bedurfte. Die untertänige Antwort der Armenhaus-Behörde fiel verneinend aus, worauf der Gemeinde-Vorstand den hochherzigen und menschenfreundlichen Entschluss fasste, Oliver in einem fünf Kilometer entfernten Filial-Armenhaus unterzubringen. Dort wuchsen unter der mütterlichen Aufsicht einer älteren Frau zwanzig bis dreißig andere jugendliche Übertreter der Armengesetze auf, ohne von Kleidung und Nahrung allzu sehr belästigt zu werden. Die Matrone nahm die kleinen Verbrecher gegen eine Entschädigung von wöchentlich sieben und einem halben Pence für den Kopf auf, und damit lässt sich ein Kind recht gut ernähren. Der Betrag reicht sogar zu, den Magen zu überladen und das Kind krank zu machen. Die alte Dame war eine kluge und erfahrene Frau, sie wusste, was für Kinder – und noch mehr, was für sie selber gut war. Sie verwendete den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Nutzen und setzte die heranwachsende Jugend auf noch kleinere Rationen, als von der Behörde beabsichtigt war.
Jedermann kennt die Geschichte eines praktischen Philosophen, der eine herrliche Theorie erfunden hatte, die ein Pferd befähigte, gänzlich ohne Nahrung zu leben. Der Versuch gelang so weit, dass er sein eigenes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte und auch ohne Zweifel ein sehr mutiges, feuriges und gar nichts fressendes Tier aus ihm gemacht hätte, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor dem Tag krepiert wäre, wo es sich zum ersten Mal ausschließlich von der Luft ernähren sollte. Unglücklicherweise hatte das System der Frau, deren Fürsorge Oliver Twist anvertraut war, gewöhnlich einen ähnlichen Erfolg. Gerade wenn ein Kind so weit gekommen war, von dem kleinstmöglichen Teil der möglichst schwächsten Nahrung zu leben, so kam es acht- bis neunmal in zehn Fällen vor, dass es an Hungertyphus erkrankte, oder sich verbrannte oder einen schweren Fall tat, lauter Zufälligkeiten, durch die das bedauernswerte kleine Wesen in eine andere Welt abgerufen und zu den Vätern versammelt wurde, die es in dieser nicht gekannt hatte.
Man kann nicht erwarten, dass diese Erziehungsmethode glänzende Ergebnisse zeitigte. Oliver Twist war an seinem neunten Geburtstag ein blasses, schmächtiges, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Aber Natur oder Vererbung hatte in seine Brust einen gesunden, kräftigen Geist gepflanzt, der auch dank der spärlichen Diät der Anstalt hinreichend Raum hatte, sich auszudehnen. Vielleicht ist es nur diesem Umstand zuzuschreiben, dass er sich überhaupt seines neunten Geburtstages erfreuen durfte. Er feierte denselben in der erlesenen Gesellschaft zweier anderen jungen Herren im Kohlenkeller, wo sie nach einer tüchtigen Tracht Schläge eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein. An diesem Tag wurde Frau Mann, die würdige Vorsteherin der Anstalt, durch die unerwartete Erscheinung des Gemeindedieners, Herrn Bumble, in Schrecken gesetzt. Er bemühte sich gerade, die Gartentür zu öffnen.
»Herr du meine Güte! Sind Sie es, Herr Bumble?« rief Frau Mann, indem sie ihren Kopf aus dem Fenster steckte, anscheinend hocherfreut dem Kirchendiener zu.
»Susan, hol rasch den Oliver und die beiden anderen Rangen aus dem Keller und wasche sie. – Ach, wie mich das freut, Herr Bumble. Freue mich wirklich, Sie mal wieder zu sehen.«
Herr Bumble war ein dicker und außerdem jähzorniger Mann, und anstatt die freundliche Begrüßung zu erwidern, gab er der Gartentür einen Stoß, wie ihn nur der Fuß eines Gemeindedieners zu geben imstande ist.
»Mein Gott«, sagte Frau Mann hinauseilend – denn die drei Jungen waren inzwischen aus dem Keller geholt worden – »dass ich das vergessen konnte. Der lieben Kinder wegen hatte ich ja die Tür verriegelt. Treten Sie näher, Herr Bumble, bitte kommen Sie rein.«
Obwohl diese Einladung mit einer Liebenswürdigkeit vorgebracht wurde, die sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht hätte, besänftigte sie den Gemeindediener überhaupt nicht.
»Ist es etwa ein geziemendes und höfliches Benehmen, Frau Mann«, fragte Herr Bumble, »die Gemeindebeamten am Gartentor stehen zu lassen, wenn sie in Angelegenheiten, die die Gemeinde-Waisen betreffen, hierher kommen?«
»Glauben Sie mir, ich war gerade dabei, den lieben Kindern zu erzählen, dass Sie kämen«, erwiderte Frau Mann unterwürfig.
Herr Bumble hatte eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und seiner Wichtigkeit. Die eine hatte er entfaltet und die andere geltend gemacht. Er wurde dadurch milde gestimmt.
»Schon gut, Frau Mann«, entgegnete er in sanfterem Ton, »ich will es Ihnen glauben. Gehen Sie nur voran, Frau Mann, ich komme dienstlich und habe Ihnen etwas auszurichten.«
Frau Mann führte den Gemeindediener in ein kleines Zimmer, holte einen Stuhl herbei und nahm ihm dienstbeflissen den dreieckigen Hut und seinen Stock ab. Sie legte beides auf den Tisch vor ihm. Herr Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte wohlgefällig auf den dreieckigen Hut. Dann lächelte er. Tatsächlich, er lächelte. Gemeinde-Diener sind auch nur Menschen, und Herr Bumble lächelte.
»Nehmen Sie mir nicht übel, was ich Ihnen jetzt sage«, bemerkte Frau Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit, »aber Sie haben einen weiten Spaziergang gemacht, darf ich Ihnen mit einem Gläschen aufwarten, Herr Bumble?«
»Nicht einen Tropfen, nicht einen!« erwiderte Herr Bumble und wehrte mit seiner rechten Hand würdevoll, aber nicht unfreundlich ab.
»Sie dürfen's mir nicht abschlagen«, sagte Frau Mann, der der Ton seiner Weigerung und die ihn begleitende Gebärde nicht entgangen war. »Nur ein kleines Gläschen mit ein wenig kaltem Wasser und 'nem Stückchen Zucker.« Herr Bumble hustete.
»Nur einen Tropfen!« fuhr Frau Mann im überredenden Ton fort.
»Was ist es denn?« fragte der Gemeindediener.
»Nun, es ist etwas, von dem ich immer einen kleinen Vorrat haben muss, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind«, versetzte Frau Mann, indem sie einen Eckschrank öffnete und eine Flasche nebst Glas zum Vorschein brachte. »Es ist Wachholder.«
»Den geben Sie den Kindern mit dem Kaffee, Frau Mann?« fragte er, dabei mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgend.
»Ja, der liebe Gott weiß es, ich tu's, wie teuer er auch ist. Sie wissen ja, mein Herr, dass ich sie nicht vor meinen Augen leiden sehen könnte!«
»Nein«, sagte Herr Bumble, »nein, das könnten Sie nicht. Ich weiß, dass Sie eine menschlich denkende Frau sind, Frau Mann« (hier setzte sie ihm das Glas hin), »ich werde bei passender Gelegenheit den Gemeindevorstand besonders darauf aufmerksam machen.« (Er zog das Glas näher an sich.) »Sie fühlen wie eine Mutter« (er hob das Glas), »ich – mit Vergnügen trinke ich auf Ihre Gesundheit, Frau Mann«, damit trank er das Glas zur Hälfte leer.
»Doch nun zu unserm Geschäft!« rief der Gemeindediener, indem er eine lederne Brieftasche herauszog. »Das mit der Nottaufe versehene Kind Oliver Twist ist heute neun Jahre alt geworden.«
»Gott segne ihn!« fiel Frau Mann ein und rieb sich mit dem Schürzenzipfel ihr linkes Auge rot.
»Und trotz der angebotenen Belohnung von zehn Pfund, die nachher auf zwanzig erhöht wurde, trotz der äußersten – ich möchte fast sagen übernatürlichen – Anstrengungen seitens der Gemeinde sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater oder die Heimat, noch den Namen und den Stand seiner Mutter ausfindig zu machen.«
»Wie kommt es aber, dass er überhaupt einen Namen hat?« fragte Frau Mann.
Der Gemeindediener warf sich in die Brust und entgegnete: »Den habe ich erfunden!«
»Sie, Herr Bumble?«
»Jawohl. Wir geben unseren Findlingen Namen nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – ich taufte ihn Swubble. Dieser war ein T – ich benannte ihn Twist.«
»Sie sind ja ein wahrer Gelehrter, Herr Bumble.«
»Vielleicht«, sagte der Gemeindediener geschmeichelt, »kann sein, Frau Mann. – Oliver ist nun zu alt für dieses Haus, der Vorstand hat beschlossen, ihn wieder zurück zu nehmen und ich soll ihn abholen. Bringen Sie ihn mal her.«
»Ich werde ihn sofort holen«, sagte Frau Mann und verließ das Zimmer. Oliver war inzwischen von dem Schmutz, der sein Gesicht und seine Hände bedeckte, soweit gereinigt worden, als es durch eine einmalige Wäsche geschehen konnte. An der Hand seiner wohlwollenden Beschützerin betrat er nun das Zimmer.
»Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver«, sagte Frau Mann.
Oliver machte eine tiefe Verbeugung sowohl vor Herrn Bumble auf dem Stuhl, als auch vor dem Dreispitz auf dem Tisch.
»Willst du mit mir gehen, Oliver?« fragte Herr Bumble mit hoheitsvoller Stimme.
Oliver wollte gerade sagen, dass er gern mit jedem fortgehen würde, als er bemerkte, dass ihm Frau Mann, die hinter den Stuhl des Gemeindedieners getreten war, mit wütender Miene die Faust zeigte. Er verstand diese Zeichensprache.
»Wird sie auch mitgehen?« fragte der arme Junge.
»Nein, aber sie wird dich hin und wieder besuchen«, sagte Herr Bumble.
Das war kein sonderlicher Trost für Oliver. Trotz seiner Jugend war er jedoch klug genug, sich so zu gehaben, als verließe er Frau Mann nur ungern. Es wurde ihm nicht schwer, Tränen ins Auge zu locken, da Hunger und kürzlich überstandene Misshandlungen recht geeignet sind, sie herbeizuführen. So weinte Oliver sehr natürlich. Frau Mann umarmte ihn wohl tausendmal und gab ihm ein großes Butterbrot, damit er nicht allzu hungrig im Armenhaus ankäme. Unnötig zu sagen, dass ihm das Butterbrot lieber war als die tausend Umarmungen der Frau Mann. Mit einer kleinen braunen Tuchmütze auf dem Kopf verließ nun Oliver die armselige Stätte, wo nie ein freundliches Wort oder ein zärtlicher Blick das Dunkel seiner Kinderjahre erhellt hatte.
Herr Bumble holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Junge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald »da« seien.
Oliver war noch keine Viertelstunde im Armenhaus und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Bumble ihm sagte, dass heute Abend eine Vorstandssitzung sei, und dass er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe.
Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Oliver nicht besonders klar. Er wusste deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Bumble führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tisch machte sich auf einem Lehnstuhl, der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesicht breit.
»Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!« sagte Bumble, und Oliver tat es.
»Wie heißt du, Junge?« fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.
Der Anblick so vieler Herren brachte Oliver so aus der Fassung, dass er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.
»Junge!« sagte der Vorsitzende, »du weißt doch, dass du eine Waise bist?«
»Was ist das?« fragte der arme Kerl.
»Du weißt doch, dass du keinen Vater und keine Mutter hast und dass du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?«
»Jawohl, Herr«, erwiderte Oliver, bitterlich weinend.
»Warum heulst du?« fragte ein Herr mit einer weißen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.
»Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt«, fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.
»Ja, Herr«, stotterte der Junge.
»Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst«, sagte der Vorsitzende.
»Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen«, fügte der Herr mit der weißen Weste hinzu.
Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Oliver auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.
Armer Oliver! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, dass jene Männer am selben Tag einen Entschluss gefasst hatten, der den größten Einfluss auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden.
Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Männer. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Mal, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, dass es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahrein, jahraus: Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten – ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit.
»Oho«, sagten die Gemeinderäte, »das muss anders werden, und zwar sofort.« Sie setzten daher als Richtlinie fest, dass die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Haus langsam oder außer dem Haus schnell Hungers zu sterben. Zu diesem Zweck schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und trafen mit dem Getreidelieferanten eine Übereinkunft, von Zeit zu Zeit kleine Mengen Hafermehl herbeizuschaffen. So erhielten dann die Insassen des Armenhauses dreimal täglich einen dünnen Haferschleim, außerdem zweimal in der Woche eine Zwiebel und sonntags eine halbe Semmel.
Schon in den ersten sechs Monaten nach Olivers Rückkehr war dieses System in vollem Gang. Der Raum, in dem die Jungen abgefüttert wurden, war eine große Halle aus Stein, an deren einem Ende ein kupferner Kessel stand. Aus diesem schöpfte der Speisemeister, unterstützt von einigen Frauen, zur Essenszeit den Haferschleim. Von dieser köstlichen Speise erhielt jeder Junge einen Napf voll, und nicht mehr – festliche Anlässe ausgenommen, an denen sie auch noch ein nicht allzu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht abgewaschen zu werden, die Jungens bearbeiteten sie mit ihren Löffeln so lange, bis sie wieder spiegelblank waren.
Kinder haben fast immer Hunger. Oliver und seine Kameraden hatten die Qualen des langsamen Hungertodes drei Monate lang ausgehalten. Da erklärte ein ziemlich großer Junge, dessen Vater eine kleine Kneipe hatte, und der daher reichliches Essen gewöhnt war, er fürchte seinen Schlafkameraden einmal nachts aufzuessen, wenn er nicht noch einen weiteren Napf Haferschleim täglich erhielte. Dabei rollten seine Augen wild. Die Jungen beratschlagen und losten dann, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle. Das Los fiel auf Oliver Twist.
Der Abend kam heran, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, und nachdem ein langes Tischgebet über das kurze Mahl gesprochen war, wurde der Haferbrei ausgeteilt. Dieser war schnell im Magen der Kinder verschwunden, als Oliver aufstand und mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hintrat. Hunger und Elend ließen ihn alle Rücksichten vergessen, doch zitterte er, als er sagte:
»Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr.«
Der wohlgenährte, rotbäckige Koch wurde bei diesen Worten blass und musste sich am Kessel festhalten. Er blickte mit starrem Entsetzen auf den kleinen Rebellen und stieß schließlich mit schwacher Stimme aus: »Was?«
Berichtet, wie Oliver Twist dicht daran war, eine Stellung zu bekommen, die keine Sinekure gewesen wäre.
Oliver blieb eine Woche lang in einer dunklen, einsamen Kammer eingesperrt. Er weinte den ganzen Tag über bitterlich. Wenn dann die lange, traurige Nacht kam, legte er seine Händchen auf die Augen, um nicht ins Dunkel starren zu müssen, kroch in eine Ecke und versuchte zu schlafen. Augenblicklich fuhr er aus seinem Schlaf auf und drückte sich dann dichter an die Mauer, als ob er sich selbst in ihrer kalten, harten Fläche einen Schutz gegen die ihn umgebende Finsternis verspräche.
Nun begab es sich, dass eines Morgens der Schornsteinfegermeister Gamfield die Landstraße entlang zog. Er dachte darüber nach, wie er gewisse Mietsrückstände, um die ihn sein Hauswirt ziemlich energisch gemahnt hatte, bezahlen solle. Er wusste nicht, wie er die ihm fehlenden fünf Pfund herbeischaffen könnte, und marterte damit bald sein Gehirn, bald den Kopf seines Esels. Da fiel ihm plötzlich der Anschlag ins Auge, als er beim Armenhaus vorbeikam.
»Halt!« sagte der Meister zu dem Esel, doch dieser, ebenfalls tief in Gedanken versunken, trabte, ohne auf den Befehl seines Herrn zu achten, ruhig weiter. Gamfield fluchte wie ein Heide und versetzte dem Esel einen Schlag auf den Kopf, dass dieser halb betäubt war und stillstand. Dann begann der Meister aufmerksam den Anschlag zu lesen.
Der Herr mit der weißen Weste stand, die Hände auf dem Rücken, am Tor. Er hatte dem kleinen Streit zwischen Gamfield und seinem Esel gespannt zugeschaut und lächelte gutgelaunt. Gamfield lächelte gleichfalls, als er das Schriftstück durchgelesen hatte, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte. Was die Beigabe des Jungen anbelangt, wusste der Meister, der die Armenhauskost kannte, dass es sich nur um ein ziemlich schmächtiges Menschenexemplar handeln könnte. Er buchstabierte also den Anschlag nochmals von Anfang bis zu Ende durch und redete dann den Herrn mit der weißen Weste an, indem er gleichzeitig grüßend die Hand an seine Pelzmütze legte:
»Diesen Jungen hier will also die Gemeinde als Lehrling vergeben?«
»Ja, lieber Freund«, erwiderte der Herr mit der weißen Weste leutselig, »warum?«
»Wenn die Gemeinde ihn ein leichtes, angenehmes Handwerk lernen lassen will, möchte ich mein Schornsteinfegergeschäft empfehlen«, entgegnete der Meister. »Ich brauche einen Lehrling und bin bereit, ihn zu nehmen!«
»Kommen Sie rein«, sagte der Herr mit der weißen Weste.
Gamfield folgte diesem in das Sitzungszimmer und trug Herrn Limbkins seinen Wunsch vor.
»Es ist ein schmutziges Handwerk, man hat auch erlebt, dass Jungens in den Schornsteinen erstickt sind«, meinte Limbkins.
»Dies kommt daher«, versetzte Gamfield, »dass man das Stroh anfeuchtete, ehe man es im Kamin anzündete, um die Jungen herunterzuholen. Es gab nur Rauch aber kein Feuer. Rauch hat aber keinen Zweck, denn er veranlasst einen Jungen nicht runterzukommen, er macht ihn nur schläfrig, und das ist es ja gerade, was solch ein Bursche will. Jungen sind faul und widerspenstig, meine Herren, und ein schönes, heißes Feuer das Beste, um sie im Galopp herunterzubringen. Es ist auch ein humanes Mittel, meine Herren, denn wenn einer im Schornstein steckenbleibt und sich die Füße verbrennt, dann tut er schon selbst alles Mögliche, um sich aus dieser Lage zu befreien.«
Die Vorstandsmitglieder berieten sich einige Minuten, dann verkündete Herr Limbkins:
»Wir haben Ihren Vorschlag überlegt, können aber nicht drauf eingehen.«
»Ganz und gar nicht«, sagte der Herr mit der weißen Weste.
»Entschieden nicht«, fügten die anderen Vorstandsmitglieder hinzu.
»So soll ich ihn also nicht haben, meine Herren?« fragte Gamfield.
»Nein«, antwortete Herr Limbkins, »oder Sie müssten mit einer kleineren Summe zufrieden sein, da es doch ein zu schmutziges Handwerk ist.«
»Was wollen Sie geben, meine Herren? Seien Sie nicht zu hart gegen einen armen Mann!«
»Nun, ich meine, drei Pfund und zehn Schillinge wären genug«, sagte Herr Limbkins.
»Schon zehn Schilling zu viel«, bemerkte der Herr mit der weißen Weste.
»Also, sagen wir vier Pfund, meine Herren«, versetzte Gamfield, »und Sie sind den Jungen für immer los. Vier Pfund, das ist anständig.«
»Drei Pfund und zehn Schillinge«, wiederholte Herr Limbkins unbeugsam.
»Wir wollen die Differenz teilen, meine Herren, drei Pfund und fünfzehn Schillinge also!«
»Nicht einen Penny mehr«, lautete die feste Antwort Herrn Limbkins.
»Sie sind mächtig hart zu mir«, sagte Gamfield kleinlaut.
»Unsinn«, sagte der Herr mit der weißen Weste. »Es wäre ein feines Geschäft auch ohne jeden Zuschuss. Greifen Sie zu, Mann. Er ist gerade der richtige Junge für Sie. Ab und zu hat er den Rohrstock nötig, und sein Essen braucht auch nicht üppig zu sein, denn er ist von seiner Geburt an nie überfüttert worden. Ha! Ha! Ha!«
Der Handel wurde also geschlossen, und Bumble bekam den Auftrag, Oliver Twist noch am selben Nachmittag vor den Friedensrichter zu führen, um seinen Lehrbrief genehmigen und unterzeichnen zu lassen.
Der kleine Oliver wurde daher zu seinem großen Erstaunen aus der Haft entlassen und erhielt den Befehl, ein reines Hemd anzuziehen. Er hatte kaum diese ungewohnte gymnastische Übung beendet, als ihm Herr Bumble eigenhändig einen Napf voll Haferschleim und das sonntägliche Stück Brot brachte. Bei diesem Anblick fing Oliver kläglich an zu weinen, denn er dachte nichts anderes, als dass die Behörde ihn zu irgendeinem nützlichen Zweck schlachten lassen wollte, da sie ihn wohl sonst kaum in dieser Weise mästen würde.
»Weine dir nicht die Augen rot, Oliver, sondern iss und sei dankbar«, sagte Herr Bumble würdevoll. »Du sollst Lehrling werden, Oliver!«
»Lehrling, Herr?!« rief der Junge zitternd.
»Jawohl, Oliver, die guten Herren, die an dir Elternstelle vertreten haben, wollen dich in die Lehre geben, damit du später im Leben vorwärts kommst und ein tüchtiger Kerl wirst. Das kostet der Gemeinde drei Pfund und zehn Schillinge, denke mal, Oliver, drei Pfund zehn Schillinge – siebzig Schillinge! – hundertvierzig Six-Pences – und all das für einen ungezogenen Waisenjungen, den keiner leiden kann.«
Als Herr Bumble innehielt, um Atem zu schöpfen, rannen dem armen Oliver nur so die Tränen über die Backen, und er schluchzte bitterlich.
»Weine nicht!« sagte Herr Bumble, der von der Wirkung seiner Beredsamkeit sehr befriedigt war. »Wisch dir die Tränen mit dem Ärmel ab und lass sie nicht in die Suppe fallen. Das ist töricht.« Das stimmte, denn in der Suppe war ohnehin schon Wasser genug.
Auf dem Weg zum Friedensrichter belehrte Herr Bumble seinen kleinen Begleiter, dass er dort weiter nichts zu tun habe, als recht glücklich auszusehen. Wenn ihn dann der Herr frage, ob er in die Lehre gehen wolle, dann müsse er sagen, furchtbar gern. Oliver versprach zu gehorchen, umso mehr als Herr Bumble die zarte Andeutung fallen ließ, er könne nicht sagen, was man ihm antun würde, wenn er nicht diesen seinen Unterweisungen getreulich nachkäme. Als sie an Ort und Stelle eintrafen, wurde Oliver in ein kleines Zimmer gebracht und von Herrn Bumble ermahnt, dort so lange zu verweilen, bis er ihn holen würde.
Klopfenden Herzens wartete der Junge bereits eine halbe Stunde, als endlich Herr Bumble seinen Kopf, der jetzt der Zierde des dreieckigen Hutes entbehrte, durch die Tür steckte und laut sagte:
»Nun, liebes Kind, komm zu dem Herrn.« Dabei warf er Oliver einen drohenden Blick zu und flüsterte ihm zu: »Denke dran, was ich dir sagte, Bengel.«
Oliver sah bei diesem sich widersprechenden Ton der Anreden unschuldig zu Herrn Bumble auf. Dieser führte ihn sogleich in ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand. Hinter einem Pult saßen dort zwei alte Herren mit gepuderten Perücken. Einer las eine Zeitung, der andere studierte mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines vor ihm liegendes Pergament. Herr Limbkins stand vorn an einer Seite des Pultes und Meister Gamfield mit teilweise gewaschenem Gesicht auf der anderen.
Der alte Herr mit der Brille war über seinem Pergament eingenickt, und es entstand eine kurze Pause, nachdem Herr Bumble Oliver vor das Pult geführt hatte.
»Das ist der Junge, Euer Gnaden«, sagte Herr Bumble.
Der die Zeitung lesende Herr sah auf und zupfte den anderen alten Herrn am Ärmel, worauf dieser erwachte.
»Ach, das ist also der Junge?« fragte er.
»Ja, Euer Gnaden«, versetzte Herr Bumble. »Mach dem Herrn Richter eine Verbeugung, Oliver.«
Oliver machte seinen schönsten Diener.
»Der Junge will also gern Kaminfeger werden?« sagte der Friedensrichter.
»Er ist ganz verrückt danach, Euer Gnaden«, sagte Bumble, »er würde davonlaufen, wenn wir ihn zwingen wollten, etwas anderes zu lernen!«
»Und dieser Mann da soll sein Meister sein, nicht wahr? Sie werden ihn doch gut behandeln, und was das Essen und die Kleidung anbelangt, nicht Not leiden lassen, versprechen Sie das?«
»Wenn ich einmal gesagt habe, ich will, werde ich es auch tun«, entgegnete Gamfield mürrisch.
»Ihre Ausdrucksweise ist nicht gerade fein, mein Freund, aber Sie scheinen ein offener, ehrlicher Mensch zu sein«, sprach der Richter, den Meister dabei durch seine Brillengläser flüchtig anguckend. Wäre er nicht halb blind und beinahe schon kindisch gewesen, hätte ihm die Brutalität in Gamfields Gesicht auffallen müssen.
»Ich denke das zu sein«, entgegnete der Meister mit einem hässlichen Blick.
»Daran zweifle ich nicht, mein Freund«, fuhr der alte Herr fort und suchte nach dem Tintenfass.
Es war für Olivers Schicksal ein kritischer Augenblick. Hätte das Tintenfass da gestanden, wo es der alte Herr vermutete, hätte er seine Feder eingetaucht und den Lehrbrief unterzeichnet. Gamfield hätte dann Oliver gleich mitgenommen. Aber da es unmittelbar vor seiner Nase stand, suchte er natürlich vergebens nach ihm auf dem Pult herum. Er begegnete dabei dem verstörten Blick Olivers, der trotz aller ermahnenden Winke und Püffe Bumbles seinen künftigen Lehrherrn mit Furcht und Schrecken betrachtete. Halb blind wie er war, fiel es doch dem Friedensrichter auf. Er hielt daher inne, legte die Feder hin und schaute von Oliver zu Herrn Limbkins hinüber, der unbefangen zu erscheinen versuchte und lächelnd eine Prise nahm.
»Mein Junge«, sagte der alte Herr und beugte sich über das Pult. Oliver fuhr bei diesem Ton zusammen, denn er war einer freundlichen Anrede nicht gewohnt. »Mein Kind, du siehst blass und verstört aus. Was ist dir?«
»Tretet ein wenig auf die Seite, Bumble«, sagte der andere Ratsherr, die Zeitung weglegend. Er sah Oliver teilnahmsvoll an und sprach: »Junge, sag uns, was dir ist, habe keine Angst!«
Oliver fiel auf die Knie und bat mit gefalteten Händen, man möge ihn lieber in die finstere Kammer sperren, ihm nichts zu essen geben, ihn prügeln, ja totschlagen, nur solle man ihn nicht mit diesem schrecklichen Mann fortschicken.
Oliver findet eine Stelle und macht den ersten Schritt ins Leben.
Angesehene Familien schicken die jüngeren Söhne, die sonst keine Aussicht haben vorwärtszukommen, gern auf die See. Der Armenhausvorstand beschloss dieses weise Beispiel nachzuahmen. Er glaubte, es wäre das Beste für Oliver. Vielleicht würde ihn ein Schiffer in der Trunkenheit zu Tode prügeln oder sonst wie um die Ecke bringen. Herr Bumble erhielt also den Auftrag, einen Schiffer ausfindig zu machen, der Oliver nehmen würde. Als er von dieser Mission zurückkehrte, traf er in der Haustür den Leichenbestatter Herrn Sowerberry. Dieser war trotz seines ernsten Berufes keinem Scherze abgeneigt. Er schüttelte Herrn Bumble die Hand und sagte:
»Ich habe den beiden Weibern, die gestern Abend starben, eben Maß genommen.«
»Sie werden noch reich werden, Herr Sowerberry.«
»Glauben Sie? Aber die von der Gemeinde bewilligten Preise sind zu gering, Herr Bumble.«
»Die Särge sind auch dementsprechend klein«, erwiderte der Gemeindediener würdevoll lächelnd.
Herr Sowerberry fand diesen Witz furchtbar komisch und lachte anhaltend. Endlich sagte er:
»Größere sind bei dem neuen Verpflegungssystem auch nicht nötig.«
»Übrigens, Herr Sowerberry, wissen Sie keinen, der einen Lehrjungen gebrauchen kann?« fragte Herr Bumble, der das Gespräch ablenken wollte. »Sehr günstige Bedingungen, sehr günstig.«
Währenddessen zeigte er mit seinem Stock zum Anschlag an der Tür und schlug dreimal bedeutungsvoll auf die großgedruckten Worte »fünf Pfund«.
»Nun, wie wär's?«
»Ach, Sie wissen, Herr Bumble, dass ich viel Armensteuer bezahle.«
»Nun?«
»Da dachte ich, wenn ich so viel bezahle, hätte ich auch ein Recht, wieder etwas davon rauszukriegen. Ich möchte deshalb schon den Jungen nehmen.«
Herr Bumble fasste den Leichenbestatter am Arm und führte ihn ins Haus. Dort hatte Herr Sowerberry eine Unterredung von fünf Minuten mit dem Vorstand, und man kam überein, dass Oliver ihm noch am selben Abend auf Probe übergeben werden solle. Dies wurde Oliver von den Herren mitgeteilt und ihm gleichzeitig angedroht, dass man ihn auf die See schicken würde, wenn er es in der Lehre nicht aushielte und der Gemeinde nochmal lästig fiele. Oliver hörte das schweigend an, dann führte ihn der würdige Herr Bumble an den neuen Schauplatz von Leiden. Als sie dem Ort ihrer Bestimmung näher kamen, sagte Herr Bumble:
»Schiebe dir die Mütze aus dem Gesicht, und halte den Kopf hoch.«
Der Leichenbesorger hatte eben die Fensterladen seiner Werkstätte geschlossen und trug beim Schein einer Kerze einige Posten in sein Buch ein, als Herr Bumble eintrat.
»Sind Sie es, Bumble?« sagte Sowerberry und blickte von seinem Buch auf.
»Niemand anders«, versetzte der Gemeindediener, »und da ist der Junge.«
Oliver machte einen Diener.
»Also das ist der Junge«, sagte der Leichenbesorger und hob die Kerze hoch, um ihn besser betrachten zu können. »Liebe Frau, komm doch mal herein.«
Frau Sowerberry kam aus einem kleinen Zimmer hinter der Werkstätte, sie war eine kleine, magere Person mit einem Gesicht wie eine Xanthippe.
»Das ist der Junge aus dem Armenhaus, von dem ich dir gesprochen habe.«
»Mein Gott«, sagte sie, der ist aber doch zu klein.«
»Klein ist er freilich«, bemerkte Herr Bumble, »aber er wird wachsen, sicher, er wird wachsen.«
Oliver lernt seine neue Umgebung kennen und nimmt zum ersten Mal an einem Leichenbegängnis teil. Er fasst eine ungünstige Meinung vom Geschäfte seines Meisters.
Am Morgen wurde Oliver durch lautes Pochen an der Ladentür geweckt. Während er in seine Kleider fuhr und die Sperrkette zu lösen begann, ließ sich eine Stimme vernehmen:
»Öffne die Tür, ein bisschen schnell!«
»Sofort, Herr«, antwortete Oliver und schloss an der Tür.
»Ich vermute, du bist der neue Lehrling, nicht wahr?« sagte die Stimme durchs Schlüsselloch.
»Jawohl.«
»Wie alt?«
»Zehn Jahre.«
»Dann setzt es Keile, wenn ich erst drin bin. Pass bloß auf, du Armenhäusler!« Dann hörte man pfeifen.
Oliver schob zitternd die Riegel zurück und machte die Tür auf. Ein paar Augenblicke sah Oliver die Straße rauf und runter, im Glauben, der Unbekannte sei einige Schritte weitergegangen. Er sah aber niemand als einen dicken Bengel, der auf einem Stein vor dem Haus saß und ein Butterbrot verschlang.
Da Oliver sonst niemand in der Nähe sah, sagte er zu ihm:
»Verzeihung, haben Sie geklopft?«
»Jawohl«, antwortete der Bengel.
»Wünschen Sie einen Sarg?« fragte Oliver harmlos.
Der Bengel schnitt ein grimmiges Gesicht und schrie ihn an, es werde nicht lange dauern, bis er selbst einen brauchte, wenn er sich derartige Witze mit seinem Vorgesetzten erlaube.
»Du weißt wohl nicht, wer ich bin, Armenhäusler?« fuhr der Bengel fort und kam näher.
»Allerdings nicht!«
»Ich bin Herr Noah Claypole, und du bist mein Untergebener«, sagte der Bengel. »Mach die Fensterladen auf, Faultier!« Mit diesen Worten versetzte Herr Claypole unserm Oliver einen Tritt und ging mit gewichtiger Miene in den Laden.
Bald nachdem Oliver die Fensterladen aufgemacht hatte, kamen Herr und Frau Sowerberry herunter. Claypole und Oliver gingen nun die steile Treppe zur Küche hinab, um zu frühstücken. Charlotte, die Köchin, legte Noah die besten Bissen vor, während Oliver mit dem Abfall vorliebnehmen musste.
Noah war zwar der Zögling einer Armenschule, aber keine Waise. Seine Mutter war eine Waschfrau, und sein Vater ein abgedankter, immer betrunkener Soldat. Sie wohnten in der Nachbarschaft. Die Ladenschwengel schimpften Noah »Lederhose«, »Barmherzigkeitsschüler« und dergleichen, und er steckte es schweigend ein. Nun warf ihm der Zufall eine namenlose Waise in den Weg, und an dieser nahm er nun mit Wucherzinsen Rache.
Oliver war schon drei Wochen im Haus des Leichenbesorgers, als eines Morgens Herr Bumble in die Werkstätte trat und aus seiner großen ledernen Brieftasche ein Blatt Papier herausnahm, das er Herrn Sowerberry einhändigte.
»Aha«, sagte letzterer, »wohl eine Bestellung auf einen Sarg, nicht wahr?«
»Zuerst auf einen Sarg und dann auf ein Begräbnis«, erwiderte Herr Bumble, sich verabschiedend.
»Nun«, meinte Herr Sowerberry und nahm den Hut, »je eher dieses Geschäft erledigt wird, desto besser ist es. Noah, du bleibst in der Werkstatt, und du, Oliver, setzt die Mütze auf und kommst mit mir.« Sie zogen los und waren bald vor dem Haus, wo man ihrer Dienste bedurfte. Es stand in einer schmutzigen, armseligen Gasse. Sie stiegen die Treppe hinauf und machten an einer offenen Tür halt, die weder Klingel noch Klopfer hatte. Herr Sowerberry pochte mit dem Finger an. Ein junges Mädchen von vierzehn Jahren öffnete. Sie waren am richtigen Ort. In einem kleinen, der Tür gegenüberliegenden Alkoven lag unter einer Decke die Leiche.
Der Leichenbesorger zog ein Band aus der Tasche, kniete an der Seite der Toten, eines jungen Mädchens, nieder und nahm Maß. Dann eilte er, Oliver hinter sich herziehend, rasch hinaus.
Am nächsten Tag kehrten Oliver und sein Meister wieder nach diesem Ort des Jammers zurück, wo sie bereits Herrn Bumble mit vier Männern aus dem Armenhaus trafen, die Trägerdienste leisten sollten. Der rohe Sarg wurde zugeschraubt und auf die Straße gebracht. »Ihr müsst rasch machen«, flüsterte Sowerberry der Mutter der Toten zu. »Wir haben uns etwas verspätet, und es wäre unschicklich, den Geistlichen warten zu lassen. Los, Leute – und so schnell wie ihr könnt.«
Man hätte übrigens nicht nötig gehabt, sich so zu beeilen, denn als sie den Kirchhof erreichten, war noch kein Geistlicher zu sehen. Der Küster, der in der Sakristei saß, meinte, es könne wohl noch eine Stunde dauern, bis der Prediger käme. Man setzte den Sarg am Rand des Grabes nieder. Zerlumpte Jungen, die dieses Schauspiel zum Friedhof gelockt hatte, spielten herum und machten sich das Vergnügen, über den Sarg hin und her zu springen. Sowerberry und Bumble saßen in der Sakristei beim Küster und lasen die Zeitung. Endlich, nach einer guten Stunde, sah man Herrn Bumble, Sowerberry und den Küster zum Grab eilen, und gleich darauf erschien der Geistliche. Herr Bumble prügelte, um den Anstand zu wahren, ein paar Jungen durch. Der Prediger las aus dem Gebetbuch so viel als sich in fünf Minuten zusammenfassen ließ. Drauf gab er dem Küster seinen Talar und eilte fort.
Oliver erlaubt sich kräftiger aufzutreten.
Der Probemonat war vorüber und Oliver wurde endgültig als Lehrling eingestellt. Die Jahreszeit war damals gerade ungesund und Särge fanden guten Absatz. Im Laufe einiger Wochen hatte Oliver ziemlich Erfahrung gesammelt. Da er seinen Meister in den meisten Geschäften begleitete, um sich die Ruhe des Gemütes und jene Herrschaft über seine Nerven anzueignen, die ein so notwendiges Erfordernis für einen Leichenbesorger sind, hatte er oft Gelegenheit, Zeuge der Ergebung und Seelenstärke zu sein, mit der so viele Menschen ihre Heimsuchungen und Verluste trugen.
Wurde ein reicher alter Herr oder eine reiche alte Dame begraben, die von einer ganzen Anzahl Neffen und Nichten zur letzten Ruhe begleitet wurden, konnte Oliver in den meisten Fällen beobachten, dass dieselben Verwandten, die während der Krankheit der Verblichenen sich ganz trostlos gebärdet hatten, recht fröhlich miteinander plauderten, als ob nichts in der Welt imstande wäre, ihre gute Laune zu trüben. Männer ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe. Frauen, die um den dahingeschiedenen Gatten Trauerkleider anlegten, schienen nur darauf bedacht zu sein, recht anziehend auszusehen.
Dass Oliver sich durch das Beispiel dieser guten Leute in eine gleiche Gemütsruhe hineingearbeitet hätte, wage ich als sein Lebensbeschreiber nicht zu behaupten. Ich kann nur sagen, dass er monatelang die schlechte Behandlung Noahs mit Geduld über sich ergehen ließ. Charlotte misshandelte ihn, weil es Noah tat, und Frau Sowerberry war seine erklärte Feindin, da Herr Sowerberry ihn gern zu haben schien.
Oliver fühlte sich daher zwischen diesen drei Gegnern und den vielen Leichenbegängnissen nicht ganz so behaglich als das hungrige Ferkel, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen wurde.
Oliver und Noah befanden sich eines Tages zur Essenszeit allein in der Küche. Charlotte war gerade abgerufen worden, und so musste man aufs Essen warten. Die Wartezeit glaubte Noah nicht würdiger ausfüllen zu können, als dass er Oliver höhnte und neckte. Noah legte also seine Beine auf das Tischtuch, zupfte Oliver an den Haaren, kniff ihn in die Ohren, nannte ihn einen Kriecher und versprach ihm, dabei zu sein, wann und wo immer man ihn hängen würde. Da diese Neckereien ihren Zweck verfehlten, Oliver zum Weinen zu bringen, wurde Noah noch ausfallender. Er fragte:
»Armenhäusler! Wie geht's deiner Mutter?«
»Sie ist tot«, versetzte Oliver, »untersteh dich aber nicht, über sie zu reden.« Dabei wurde er feuerrot im Gesicht und um seinen Mund zuckte es verräterisch, als ob er im nächsten Augenblick losweinen müsste. Noah sah dies mit Befriedigung und fuhr fort:
»Woran starb sie denn?«
»An gebrochenem Herzen, wie mir eine alte Wärterin gesagt hat«, murmelte Oliver vor sich hin. »Ich kann mir denken, was das heißt.«
Als Noah eine Träne über Olivers Backen rinnen sah, pfiff er ein lustiges Lied und sagte dann:
»Was bringt dich denn so zum Heulen?«
»Du nicht« versetzte Oliver, indem er rasch die Träne wegwischte. »Glaub das nur nicht.«
»Was, ich nicht?« höhnte Noah.
»Nein, du nicht«, entgegnete Oliver scharf. »Nun ist's aber genug. Wenn du noch ein Wort über sie sagst, dann sollst du mal sehen.«
»Na, was denn? Was soll ich sehen. Armenhäusler, du wirst frech! Und deine Mutter! Wird auch 'ne feine Nummer gewesen sein. Du lieber Himmel!« Noah rümpfte die Nase.
Oliver fraß seinen Ärger in sich und schwieg. Dadurch ermuntert, fuhr Noah im Ton spöttischen Mitleides fort:
»Du weißt, da ist nichts mehr zu ändern, auch tust du uns allen leid, aber du musst doch wissen, dass deine Mutter eine ganz schlimme Person war, vollkommen heruntergekommen.«
»Was sagst du da«, fragte Oliver schnell aufblickend.
»Ein ganz heruntergekommenes Frauenzimmer, Armenhäusler«, versetzte Noah kühl, »und es ist nur gut, dass sie auf diese Weise starb, sonst hätte sie sicher im Gefängnis oder am Galgen geendet.«
Glutrot im Gesicht, sprang Oliver auf und Noah an die Kehle, nahm dann seine ganze Kraft zusammen und schmetterte ihn mit einem Schlag zu Boden.
»Er bringt mich um!« schrie Noah. »Charlotte! Frau Sowerberry! Hilfe, Hilfe! Oliver tötet mich! Er ist verrückt geworden! Char – lotte!«
Noahs Hilfegeschrei wurde durch ein lautes Kreischen Charlottes und ein noch lauteres der Meisterin erwidert. Erstere eilte durch eine Seitentür in die Küche, während Frau Sowerberry so lange auf der Treppe stehen blieb, bis sie sich überzeugt hatte, dass keine Gefahr für ihr Leben zu fürchten sei.
»Du verfluchter Lump«, schrie Charlotte, indem sie Oliver mit kräftiger Faust packte, »du undankbarer, meuchelmörderischer, nichtswürdiger Schurke«, dabei schlug sie unbarmherzig auf ihn ein. Nun stürzte auch noch Frau Sowerberry in die Küche und zerkratzte Oliver das Gesicht. Diesen günstigen Stand der Angelegenheit machte sich Noah zunutze, er sprang auf und knuffte Oliver von hinten.
Als alle drei müde waren und nicht mehr weiter prügeln konnten, schleppten sie den sich wehrenden, aber keineswegs entmutigten Oliver in den Keller und schlossen ihn da ein. Frau Sowerberry sank in einen Stuhl und brach in Tränen aus.
»Himmel, sie stirbt«, rief Charlotte. »Schnell, liebster Noah, ein Glas Wasser.«
»Ach, Charlotte«, stöhnte die Meisterin, »wir müssen Gott danken, dass wir nicht alle in unseren Betten ermordet wurden.«
»Ja, der arme Noah war schon halbtot, als ich hinzukam.«
Oliver bleibt widerspenstig.
Noah Claypole rannte ohne Aufenthalt zum Armenhaus, wo er atemlos ankam. Nachdem er sich einige Minuten an der Tür ausgeruht hatte, setzte er eine klägliche Miene auf und klopfte dann laut an das Pförtchen. Nachdem man ihm geöffnet hatte, schrie Noah in ängstlichem Ton:
»Herr Bumble, Herr Bumble!« Dieser eilte herbei.
»Ach, Herr Bumble!« rief Noah, »Oliver hat …«
»Was – doch nicht etwa weggelaufen?«
»Nein, Herr, weggelaufen ist er nicht, aber ganz bösartig ist er geworden. Er hat mich umbringen wollen, und dann wollte er auch Charlotte und die Meisterin ermorden. Es war ganz schrecklich.« Noah fing laut zu heulen an. Der Herr mit der weißen Weste ging gerade über den Hof; er trat auf Bumble zu und fragte, was mit dem Jungen los sei.
»Es ist ein Junge aus der Armenschule«, versetzte Herr Bumble, »der von dem jungen Twist beinahe ermordet worden wäre, jawohl, Herr.«
»Donnerwetter«, rief der Herr, »habe ich's nicht gesagt? Ich hatte immer das Gefühl, dass Oliver Twist mal gehängt werden würde.«
»Er wollte auch die Köchin umbringen«, fuhr Herr Bumble bleichen Gesichts fort.
»Und die Meisterin auch«, fügte Noah hinzu.
»Und den Meister ebenfalls …, so sagtest du doch, Noah?« ergänzte Herr Bumble.
»Nein, der war ausgegangen, sonst würde er ihn auch ermordet haben. Er sagte aber, er wolle ...«
»So, sagte er das wirklich, er wolle«, fragte der Herr mit der weißen Weste.
»Ja, Herr!« erwiderte Noah, »und die Meisterin wünscht zu wissen, ob Herr Bumble Zeit hat, hinüberzukommen und Oliver durchzuprügeln. Der Meister ist nämlich nicht zu Hause.«
»Gewiss, mein Junge, gewiss!« sagte der Herr und streichelte Noahs Kopf. »Du bist ein guter Junge. Hier hast du einen Penny. Gehen Sie schnell mit Ihrem Stock zu Sowerberrys und schonen Sie Oliver Twist nicht.«
»Gewiss nicht, Herr«, sagte Bumble und holte dann seinen Hut. Er begab sich in aller Eile, soweit es sich mit seiner Würde vertrug, zur Werkstatt des Leichenbesorgers.
Hier hatte sich der Stand der Dinge nicht geändert. Da Oliver fortfuhr, mit ungeminderter Kraft gegen die Kellertür zu stoßen, hielt es Herr Bumble für klug, erst zu parlamentieren, bevor er die Tür öffnete. Er rief deshalb durchs Schlüsselloch:
»Oliver!«
»Lassen Sie mich raus«, erwiderte dieser von innen.
»Kennst du meine Stimme?« fragte Herr Bumble. »Und du fürchtest dich nicht, Junge? Zitterst nicht?«
»Nein!«
Eine solche Antwort hatte Herr Bumble nicht erwartet. Er war sprachlos.
»Wissen Sie, Herr Bumble, sagte Frau Sowerberry, der Junge muss verrückt sein, sonst würde er es nicht wagen, so mit Ihnen zu sprechen.«
»Das ist nicht Verrücktheit«, versetzte Herr Bumble nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens, »das ist das Fleisch.«
»Was für Fleisch?« fragte die Meisterin.
»Jawohl, das Fleisch. Sie haben ihn überfüttert. Daher kommt diese störrische Seele und der Geist des Widerspruchs, die für einen Menschen in seiner Lage nicht passen. Was haben überhaupt Arme mit Seele und Geist zu schaffen. Es ist genug, dass wir ihren Körper leben lassen. Hätten Sie dem Bengel nichts als Haferschleim gegeben, wäre so etwas nie vorgefallen.«
In diesem Augenblick kam Herr Sowerberry nach Hause, und man erzählte ihm Olivers Verbrechen mit so viel Übertreibungen, dass er in einen mächtigen Zorn geriet. Er schloss die Kellertür im Nu auf und packte Oliver beim Kragen.
»Du bist mir ja ein nettes Früchtchen«, brüllte der Meister und gab ihm ein paar Maulschellen.
»Noah schmähte meine Mutter«, erwiderte Oliver trotzig.
»Wenn schon, du Strolch«, schrie die Meisterin. »Sie hat's verdient und noch viel mehr.«
»Sie hat's nicht verdient«, entgegnete Oliver.
»Doch«, geiferte Frau Sowerberry.
»Das ist 'ne Lüge«, schrie der Junge.
Frau Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus, und dies ließ dem Meister keine Wahl. Er musste seine teure Gattin zufriedenstellen, und so prügelte er denn, wenn auch ungern, den armen Jungen in einer Weise durch, die Herrn Bumbles nachträgliche Anwendung des Amtsstockes eigentlich unnötig machte. Dann wurde Oliver bei Wasser und Brot wieder eingeschlossen und durfte spät am Abend unter den Stichelreden Noahs und Charlottes sein trauriges Bett bei den Särgen aufsuchen.
Als Oliver in der düsteren Werkstätte allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte die Schmähungen mit Verachtung angehört und jede Misshandlung ohne einen Schmerzenslaut hingenommen. Hier aber, wo ihn niemand sehen konnte, fiel er auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte heiße Tränen. Lange blieb Oliver in dieser Stellung. Als er wieder aufstand, war das Licht fast heruntergebrannt. Er horchte und entfernte dann leise die Riegel von der Tür. Er sah hinaus. Es war eine kalte, finstere Nacht. Kein Lüftchen wehte. Er schloss leise wieder die Tür, dann band er seine wenigen Kleidungsstücke mit einem Taschentuch zusammen und erwartete den Morgen auf einer Bank. Als die Sonne aufging, öffnete er aufs Neue die Tür, sah sich scheu um und drückte sie dann hinter sich ins Schloss. Auf der Straße sah er sich nach rechts und links um, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Schließlich nahm er den Weg, der bergan führte, und bemerkte nach kurzer Zeit, dass er ganz nahe der Anstalt war, wo er seine ersten Kinderjahre zugebracht hatte.
Er langte bei dem Haus an. Niemand schien zu dieser frühen Stunde in demselben wach zu sein. Oliver blieb stehen und guckte durch das Gartengitter. Ein Kind jätete eben auf einem Beete Unkraut aus. Als es sein blasses Gesicht erhob, erkannte Oliver die Züge eines seiner früheren Kameraden.
»Pst, Dick!« rief Oliver, und der Junge lief ans Tor und streckte seine dünnen Ärmchen zum Gruße durch das Gitter. »Ist niemand auf, Dick?«
»Außer mir, keiner«, entgegnete der Junge.
»Hör mal, du darfst nicht sagen, dass du mich gesehen hast, Dick«, sprach Oliver. »Ich bin weggelaufen. Man hat mich geschlagen und schrecklich misshandelt. Ich will jetzt mein Glück in der Fremde versuchen. – Du siehst aber blass aus, Dick.«
Oliver geht nach London, unterwegs begegnet er einem schnurrigen jungen Herrn.
Bis Mittag wanderte Oliver, ohne zu rasten, die Landstraße entlang. Der Meilenstein, an dem er jetzt wagte auszuruhen, sagte ihm – dass er noch hundert Kilometer von London entfernt sei. Dieser Name erweckte in der Seele des Jungen eine Flut von Gedanken. – London! – Diese große Stadt! – Niemand – nicht einmal Herr Bumble – konnte ihn dort auffinden. Er hatte im Armenhaus oft alte Leute sagen hören, dass ein pfiffiger Junge in London nicht Hungers sterben würde. Nachdem er weitere sechs Kilometer zurückgelegt hatte, überlegte er, wie er wohl am besten hinkommen könne. Er hatte eine Brotrinde, ein Hemd, zwei Paar Strümpfe in seinem Bündel und einen Penny – ein Geschenk Sowerberrys – in der Tasche.
Ein reines Hemd, dachte Oliver, ist etwas sehr Angenehmes – wie auch das Paar gestopfter Strümpfe und der Penny aber für einen Marsch von vierundneunzig Kilometern nur geringe Hilfe. Oliver legte an diesem Tag dreißig Kilometer zurück und genoss die ganze Zeit über nichts als seine trockene Brotrinde und einige Glas Wasser. Mit Einbruch der Nacht kroch er in einen Heuhaufen und schlief bald fest ein. Er erwachte am nächsten Morgen durchgefroren und hungrig. Sein Penny ging für ein kleines Laib Brot drauf. An diesem Tag konnte er nicht mehr als achtzehn Kilometer schaffen. Nach einer weiteren im Freien zugebrachten Nacht fühlte er sich noch elender und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Er wartete am Fuß eines steilen Berges, bis eine Postkutsche kam, deren außensitzende Passagiere er anbettelte. Diese wollten sehen, wie weit er für einen halben Penny laufen könnte. Eine Weile versuchte Oliver mit der Kutsche Schritt zu halten, aber die wunden Füße und seine Müdigkeit ließen es nicht lange zu. Als die Reisenden dies sahen, steckten sie ihren halben Penny wieder in die Tasche und nannten ihn einen faulen Hund.
In einigen Ortschaften waren große Warnungstafeln aufgestellt, die jeden Bettler mit Gefängnis bedrohten. Wenn sich nicht ein gutherziger Schrankenwärter und eine gutmütige alte Frau seiner erbarmt und ihm zu essen gegeben hätten, wäre es Oliver wahrscheinlich wie seiner Mutter ergangen; er wäre vor Hunger auf der Landstraße umgefallen.
Am siebten Tag nach seiner Flucht hinkte Oliver morgens früh langsam in die kleine Stadt Barnet hinein. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer. Die Sonne erhob sich soeben in all ihrer Herrlichkeit, aber, ihre Strahlen dienten nur dazu, dem Jungen, der mit blutenden Füßen auf einer Türschwelle saß, seine ganze trostlose Lage und Verlassenheit zu zeigen.
Allmählich öffneten sich die Fensterläden, und auf den Straßen zeigten sich Menschen. Einige blieben stehen, um Oliver anzustarren, aber niemand half ihm, ja, man nahm sich nicht einmal die Mühe, ihn zu fragen, woher er käme.
Da trat plötzlich ein Junge auf ihn zu, der ihn schon lange heimlich beobachtet hatte. Er sagte:
»Hallo, Dicker, was ist los mit dir?«
Der Junge mochte ungefähr von Olivers Alter sein und hatte ein ziemlich gemeines Gesicht, Stumpfnase, niedrige Stirn, kleine, stechende Augen, krumme Beine und war für sein Alter klein, dabei furchtbar schmutzig. Er benahm sich jedoch ganz wie ein Erwachsener. Sein Rock war zu weit und reichte ihm bis zu den Hacken. Der Hut saß so leicht auf seinem Kopf, dass er jeden Augenblick herunterzufallen drohte, doch gab ihm der Junge dann mit einem Ruck einen Schwung, wodurch er wieder in die richtige Lage kam.
»Ich bin hungrig und müde«, antwortete Oliver mit Tränen in den Augen, »sieben Tage bin ich in einem fort gewandert.«
»In einem fort? Sieben Tage? Ich verstehe, wohl auf Schenkels Befehl? – Ich glaube, du weißt nicht mal, was ein Schenkel ist?«
»Doch«, erwiderte Oliver sanft, »das ist der obere Teil des Beins.«
»Mensch, du bist naiv!« rief der junge Herr aus. »Ein Schenkel ist ein Friedensrichter, und wer auf Schenkels Befehl geht, kommt nicht vorwärts. Er muss immer aufwärts, ohne dass es je bergab ginge. Noch nie in der Mühle gewesen?«
»In was für einer Mühle?« fragte Oliver.
»Na in der Tretmühle. – Doch du schiebst Kohldampf und musst was zwischen die Zähne kriegen. Viel Moos habe ich ja auch nicht, aber es wird für dich schon reichen. Stell dich auf deine Hammelbeine und komm.«
Der junge Herr half Oliver aufstehen und nahm ihn mit in eine Schenke. Dort ließ er Bier, Brot und Schinken bringen. Oliver machte sich tüchtig über die Mahlzeit her, wobei ihn sein neuer Freund aufmerksam beobachtete. Als er mit dem Essen fertig war, fragte ihn der fremde Junge:
»Du willst nach London?«
»Ja.«
»Hast du schon 'ne Wohnung?«
»Nein.«
»Geld?«
»Nein.«
Der junge Herr pfiff durch die Zähne.
»Wohnst du in London?« fragte jetzt Oliver.
»Ja, wenn ich zu Hause bin. – Aber du brauchst 'ne Schlafstelle, nicht wahr?«
»Freilich, ich habe seit einer Woche unter keinem Dach mehr geschlafen.«
»Lass dir darum keine grauen Haare wachsen, ich muss heute Abend wieder nach London und kenne dort einen ganz respektablen alten Herrn, bei dem du umsonst wohnen kannst. Es muss dich allerdings ein Bekannter bei ihm einführen. Mich kennt er aber zur Genüge«, fügte der fremde Junge verschmitzt lächelnd hinzu.
Dieses unerwartete Angebot war zu verführerisch, um ausgeschlagen zu werden. Es entspann sich nun zwischen den beiden Jungen eine vertrauliche Unterhaltung, in deren Verlauf Oliver erfuhr, dass sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und ein besonderer Liebling jenes alten Herrn sei. Dawkins Äußeres sprach allerdings nicht zugunsten einer solchen Protektion, da er aber ziemlich lockere Redensarten führte und auch gestand, dass seine Freunde ihn »The artful Dodger« ("Den pfiffigen Gauner") nannten, so folgerte Oliver, er möge wohl ein leichtsinniger Mensch sein, an dem die guten Lehren seines Wohltäters verlorengingen. Er beschloss daher bei sich, sich die gute Meinung des alten Herrn zu verschaffen und den weiteren Verkehr mit dem Dodger abzubrechen, wenn er ihn, wie er bereits jetzt schon vermutete, unverbesserlich finden sollte.
Da Dawkins nicht vor Einbruch der Nacht in London eintreffen wollte, wurde es fast elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Der Dodger riet Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten, und eilte durch ein Gewirr kleiner Straßen und Gässchen mit einer Geschwindigkeit, dass unser Held mächtig aufpassen musste, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.