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„Der Romancier mit dem dramatischen Genie.“ Die Zeit.
Der Besitzer des Raritätenladens, der alte Trent, verschwindet täglich gegen Mitternacht und kehrt erst im Morgengrauen heim. Warum lässt er die kleine Nell in der unheimliche Umgebung alter Rüstungen, rostiger Waffen, Fratzen aus Porzellan und anderer verstaubter Gegenstände mutterseelenallein zurück? Was wollen der hässliche Gnom Quilp und der rücksichtslose Frederick Trent von ihm?
Wie Figuren aus einem Panoptikum ziehen eine Vielzahl merkwürdiger und skurriler, boshafter und liebenswürdiger Gestalten an uns vorüber, die alle mit dem Schicksal der tapferen Nell und ihres hilflosen Großvaters verknüpft sind. Dieses Schicksal treibt die beiden auf der Flucht vor skrupelloser Geldgier und heimtückischer Intrige aus dem Raritätenladen und hetzt sie auf einer beschwerlichen Wanderung ziellos durch Stadt und Land. Am Ende verlassen die kleine Nell jedoch die Kräfte, und sie vermag nicht mehr, gegen die Widrigkeiten des täglichen Lebens anzukämpfen. Als schließlich die Gerechtigkeit trotz alledem ihren Lauf nimmt und Güte und Barmherzigkeit den Sieg davontragen, ist es für sie zu spät ...
„Der große viktorianische Erzähler.“ Die Welt.
„Die ganze Welt scheint irgendwie lächeln zu müssen, wenn Dickens sie betrachtet.“ Stefan Zweig.
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Seitenzahl: 1103
Charles Dickens
Der Raritätenladen
Roman
Aus dem Englischen von Christine Höppener
Titel der OriginalausgabeThe Old Curiosity Shop
ISBN E-Pub 978-3-8412-0316-8ISBN PDF 978-3-8412-2316-6ISBN Printausgabe 978-3-7466-2766-3
Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, November 2011© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinBei Rütten & Loening erstmals 1986 erschienen; Rütten & Loeningist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
Letztes Kapitel
|2|Charles Dickens, Foto von John Mayall
Meine Zeit zum Spazierengehen ist für gewöhnlich die Nacht, obwohl ich ein alter Mann bin. Im Sommer verlasse ich häufig schon früh am Morgen das Haus und durchstreife den ganzen Tag Felder und Heckenwege oder mache mich sogar für einige Tage oder Wochen davon; doch bin ich nicht auf dem Lande, gehe ich selten vor Anbruch der Dunkelheit aus, wenn ich auch, dem Himmel sei Dank, sein Licht liebe und wie alle anderen Lebewesen die Heiterkeit empfinde, mit der es die Erde überschüttet.
Das ist mir unversehens zur Gewohnheit geworden, weil es mich nicht nur in meiner Gebrechlichkeit schont, sondern mir auch bessere Gelegenheit gibt, meine Betrachtungen über Person und Beschäftigung der Leute auf der Straße anzustellen. Der Glanz und die Hast des hellen Mittags eignen sich nicht für müßige Studien wie die meinen; ein flüchtiger Schimmer vorüberziehender Gesichter, im Schein einer Straßenlaterne oder eines Schaufensters eingefangen, taugen oft besser für meinen Zweck als ihre volle Enthüllung im Tageslicht, und um die Wahrheit zu sagen, die Nacht ist in dieser Hinsicht freundlicher als der Tag, der allzu oft ohne die geringsten Umstände oder Gewissensbisse ein Luftschloss im Augenblick seiner Vollendung zerstört.
Das ständige Hin und Her, die nicht enden wollende Rastlosigkeit, der unablässige Schritt von Füßen, die die holprigen Steine glänzend glattschleifen – ist es nicht ein Wunder, wie die Bewohner enger Gassen diese Geräusche ertragen können? Denkt euch einen Kranken etwa in der Gegend |6|um St. Martin’s Court, der den Fußtritten lauscht und inmitten von Qual und Müdigkeit gegen seinen Willen gezwungen ist (als wäre es eine Aufgabe, die er zu erfüllen habe), des Kindes Schritt von dem des Mannes zu unterscheiden, den schlurfenden Bettler von dem gestiefelten Stutzer, den gemächlich Schlendernden von dem geschäftig Eilenden, den ziellosen Trott eines umherstreifenden Heimatlosen von dem raschen Schritt eines erwartungsvollen Vergnügungssüchtigen – denkt an das seinen Sinnen stets gegenwärtige Summen und Brummen und an den Strom des Lebens, der nie stillsteht, sondern sich fort und fort ergießt durch all seine ruhelosen Träume, als sei er dazu verdammt, tot, aber bei Bewusstsein auf einem lärmvollen Friedhof zu liegen und habe auf Jahrhunderte hinaus keine Hoffnung auf Ruhe!
Dann die ewig hin und her eilende Menschenmenge auf den Brücken (zumindest den zollfreien), wo an schönen Abenden viele stehenbleiben und gleichgültig auf das Wasser hinunterblicken, mit der unklaren Vorstellung, dass es später zwischen grünen Ufern hindurchströmt, die breiter und breiter werden, bis es sich schließlich in das weite, unermessliche Meer ergießt – wo manche haltmachen, um sich von schweren Lasten auszuruhen, über das Geländer schauen und dabei denken: Rauchen und sein Leben vertrödeln und in einem schweren, langsamen, trägen Boot auf einer heißen Persenning in der Sonne liegen und schlafen müsse das ungetrübte Glück sein – und wo manche, ganz anderer Art, mit noch schwererer Bürde beladen, innehalten und sich erinnern, früher einmal gehört oder gelesen zu haben, dass Ertrinken kein so schlimmer Tod sei, sondern von allen Methoden des Selbstmordes die leichteste und beste.
Auch der Covent-Garden-Markt bei Sonnenaufgang, im Frühling oder im Sommer, wenn der Wohlgeruch duftender Blumen in der Luft liegt und sogar über die ungesunden Dünste nächtlicher Ausschweifung siegt und die schwarze Singdrossel, deren Käfig die ganze Nacht außen an einem |7|Mansardenfenster gehangen, rein toll macht vor Wonne! Armer Vogel! Das einzige Ding in der Nachbarschaft, das den anderen kleinen Gefangenen gleicht, von denen manche, die entsetzt vor den heißen Händen betrunkener Käufer geflohen sind, schon matt auf dem Fußsteig liegen, während andere, durch enge Berührung abgestumpft, auf den Zeitpunkt warten, da sie getränkt und erfrischt werden, um nüchternere Gefährten zu erfreuen und alte Schreiber, die auf dem Weg zu ihrer Arbeit an ihnen vorbeikommen, in Erstaunen versetzen, was wohl so plötzlich ihr Herz mit ländlichen Visionen erfüllt habe.
Doch über meine Spaziergänge mich zu verbreiten ist im Augenblick nicht meine Absicht. Mit einem dieser Streifzüge begann die Geschichte, die ich erzählen will, und um eine Einführung zu geben, wurde ich verleitet, sie zu erwähnen.
Eines Nachts war ich in die Innenstadt gewandert und spazierte langsam meinen üblichen Weg, wobei ich mir vieles durch den Kopf gehen ließ, als ich durch eine Frage aufgehalten wurde, deren Sinn ich nicht begriff, die jedoch an mich gerichtet schien und mit einer weichen, süßen, mich sehr angenehm überraschenden Stimme vorgebracht wurde. Ich drehte mich hastig um und erblickte neben mir ein hübsches kleines Mädchen, das um Auskunft bat, wie es in eine bestimmte, ziemlich weit entfernt, tatsächlich in einem ganz anderen Stadtteil liegende Straße gelangen könne.
»Das ist aber ein sehr weiter Weg von hier, mein Kind«, sagte ich.
»Ich weiß, Sir«, antwortete sie zaghaft. »Es ist ein schrecklich weiter Weg, denn ich bin heute Abend von dort gekommen.«
»Allein?«, fragte ich etwas überrascht.
»O ja, das macht mir nichts aus, aber jetzt habe ich ein wenig Angst, weil ich mich verlaufen habe.«
»Und wie bist du darauf verfallen, gerade mich zu fragen? Angenommen, ich sagte dir etwas Falsches.«
»Das werden Sie ganz gewiss nicht«, antwortete das kleine |8|Geschöpf. »Sie sind ein so uralter Herr und gehen selber so langsam.«
Ich kann nicht beschreiben, welch tiefen Eindruck mir diese beschwörenden Worte und die Anstrengung machten, mit der sie vorgebracht wurden, und wie dem Kind eine Träne in die klaren Augen trat und ihre schmächtige Gestalt erbebte, als sie in mein Gesicht aufblickte.
»Komm«, sagte ich, »ich bringe dich hin.«
Sie legte ihre Hand so vertrauensvoll in die meine, als kenne sie mich schon von der Wiege an, und so wanderten wir mitsammen los, wobei das kleine Geschöpf ihren Schritt dem meinen anpasste und eher mich zu führen und auf mich zu achten, als meinen Schutz zu genießen schien. Ich bemerkte, dass sie hin und wieder verstohlen einen neugierigen Blick in mein Gesicht warf, wie um sich völlig zu vergewissern, dass ich sie nicht hinterginge, und dass diese Blicke (noch dazu sehr scharfe und durchdringende) jedes Mal ihr Vertrauen zu stärken schienen.
Was mich betrifft, so kamen meine Neugier und mein Interesse denen des Kindes zumindest gleich, denn ein Kind war sie gewiss, obwohl ich es bei allem, was ich erkennen konnte, für wahrscheinlich hielt, dass ihre sehr kleine und zarte Gestalt ihr Äußeres besonders jugendlich erscheinen ließ. Obschon bescheidener gekleidet, als sie hätte sein können, war sie doch von Kopf bis Fuß blitzsauber und verriet keine Zeichen von Armut oder Vernachlässigung.
»Wer hat dich denn ganz allein so weit geschickt?«, fragte ich.
»Jemand, der sehr gut zu mir ist, Sir.«
»Und was hast du gemacht?«
»Das darf ich nicht erzählen«, antwortete das Kind entschlossen.
In der Art und Weise dieser Antwort lag etwas, das mich trieb, das kleine Wesen mit einem unwillkürlichen Ausdruck des Staunens anzusehen, denn ich fragte mich, was für ein |9|Auftrag das wohl sein mochte, der ihr Veranlassung gab, auf Fragen vorbereitet zu sein. Ihr behender Blick schien meine Gedanken zu lesen, denn als er dem meinen begegnete, fügte sie hinzu, es sei nichts Schlimmes an dem, was sie getan, nur sei es ein großes Geheimnis – ein Geheimnis, das nicht einmal ihr selbst bekannt sei.
Das sagte sie ohne eine Spur von Hinterhältigkeit oder Falschheit, dagegen mit einem arglosen Freimut, der den Stempel der Wahrheit trug. Sie ging weiter wie zuvor, wobei sie von Schritt zu Schritt vertrauter mit mir wurde und gelegentlich munter plauderte; doch über ihr Zuhause sagte sie nichts mehr und bemerkte nur, dass wir einen ganz anderen Weg gingen, und fragte, ob er kurz sei.
Während wir solchermaßen beschäftigt waren, wälzte ich in meinem Kopf an die hundert verschiedener Erklärungen für das Rätsel und verwarf sie samt und sonders. Ich schämte mich in der Tat, die Unbefangenheit oder das dankbare Gefühl des Kindes auszunutzen, um meine Neugier zu befriedigen. Ich liebe das kleine Völkchen; und es ist kein Geringes, wenn sie, die noch so frisch und neu von Gott sind, uns lieben. Da mich anfänglich ihr Vertrauen gefreut hatte, beschloss ich, es auch zu verdienen und dem Gefühl, das sie bewogen hatte, es mir zu schenken, Ehre zu machen.
Dennoch gab es keinen Grund, warum ich mich enthalten sollte, die Person in Augenschein zu nehmen, die sie unüberlegt bei Nacht und allein einen so weiten Weg geschickt hatte, und da es nicht unwahrscheinlich war, dass sie sich von mir verabschieden und mich der Gelegenheit berauben würde, wenn sie sich ihrem Heim nahe sah, mied ich die belebtesten Straßen und benutzte die winkligsten. Auf diese Weise erkannte sie erst, wo wir uns befanden, als wir ihre Straße schon erreicht hatten. Vor Freude in die Hände klatschend und ein Stückchen vorauslaufend, machte meine kleine Bekannte an einer Tür halt, blieb auf der Treppe stehen, bis ich heran war, und klopfte, als ich neben ihr stand.
|10|Ein Teil dieser Tür war aus Glas, das kein Laden schützte, was ich anfangs gar nicht bemerkte, da drinnen alles ganz dunkel und still war, und ich bangte (wie freilich auch das Kind) um eine Antwort auf unser Pochen. Nachdem sie zwei- oder dreimal angeklopft hatte, war ein Geräusch zu vernehmen, als bewege sich drinnen jemand, und schließlich schimmerte ein schwaches Licht durch das Glas, das, da sich der, welcher es trug, durch eine Riesenmenge verstreuter Gegenstände den Weg bahnen musste, sehr langsam näher kam und mich erkennen ließ, welcherart der Herannahende war und welcherart der Raum, den er durchquerte.
Er war ein kleiner alter Mann mit langem grauem Haar, dessen Gesicht und Gestalt ich deutlich sehen konnte, da er, als er sich nahte, das Licht über den Kopf hielt und geradeaus schaute. Obwohl das Alter ihn sehr verändert hatte, glaubte ich in seiner mageren und dürren Figur etwas von dem zarten Körperbau wiederzuerkennen, den ich an dem Kind wahrgenommen hatte. Ihre hellen blauen Augen waren ganz gewiss die gleichen, doch sein Gesicht war so tief gefurcht und so zersorgt, dass hier alle Ähnlichkeit aufhörte.
Der Raum, durch den er sich langsam den Weg bahnte, war eines jener Sammelbecken für alte und merkwürdige Dinge, die sich in abgelegenen Winkeln dieser Stadt zu verkriechen und ihre muffigen Schätze eifersüchtig und misstrauisch vor den Augen der Welt zu verbergen scheinen. Hier und da standen Rüstungen wie Gespenster im Harnisch; es gab wunderliche Schnitzwerke aus Mönchsklöstern, allerlei rostige Waffen, Fratzen aus Porzellan, Holz, Eisen und Elfenbein, Wandbehänge und sonderbare Möbelstücke, die in Traumphantasien entworfen schienen. Die hagere Gestalt des kleinen alten Mannes passte wunderbar zu der Umgebung; man konnte sich vorstellen, dass er in alten Kirchen, Grüften und verlassenen Häusern herumgesucht und die ganze Ausbeute mit eigener Hand zusammengetragen hatte. In dem ganzen Sammelsurium gab es nichts, was nicht mit |11|ihm harmonierte, nichts, was älter und abgenutzter ausgesehen hätte als er.
Während er den Schlüssel im Schloss herumdrehte, musterte er mich mit einiger Verwunderung, die nicht geringer wurde, als er von mir zu meiner Begleiterin blickte. Da nun die Tür geöffnet war, redete ihn das Kind mit Großvater an und erzählte ihm die kleine Geschichte unserer Begegnung.
»Du lieber Himmel, Kind«, sagte der alte Mann und tätschelte ihr den Kopf, »wie konntest du aber auch den Weg verfehlen? Was nun, wenn ich dich verloren hätte, Nell?«
»Keine Angst, Großvater, zu dir hätte ich bestimmt zurückgefunden«, entgegnete das Kind unerschrocken.
Der alte Mann küsste sie, darauf wandte er sich an mich und bat mich einzutreten. Ich folgte ihm. Die Tür wurde zugeschlagen und verschlossen. Er ging mir mit dem Licht voran und führte mich durch den Raum, den ich bereits von draußen gesehen hatte, in eine kleine Wohnstube dahinter, von der sich eine weitere Tür zu einer Art Kammer öffnete, in der ich ein Bettchen erblickte, das einer Elfe zum Schlafen hätte dienen können, so winzig war es und so zierlich geordnet. Das Kind nahm eine Kerze und trippelte, mich mit dem alten Mann allein lassend, in das Zimmerchen.
»Ihr müsst müde sein, Sir«, sagte er und schob einen Stuhl ans Feuer, »wie kann ich Euch danken?«
»Indem Ihr das nächste Mal besser auf Eure Enkelin achtgebt, lieber Freund«, antwortete ich.
»Besser achtgeben?«, wiederholte der Alte mit schriller Stimme. »Besser achtgeben, auf Nelly? Wer hat denn je ein Kind so geliebt, wie ich Nell liebe?«
Das sagte er mit so offensichtlichem Staunen, dass ich um eine Antwort verlegen war, um so mehr, als sich zu einer gewissen Kraftlosigkeit und Zerstreutheit in seinem Benehmen deutliche Zeichen tiefen und angestrengten Nachdenkens gesellten, die sein Gesicht trug und die mich überzeugten, dass |12|er nicht, wie ich anfangs zu vermuten geneigt war, kindisch oder schwach bei Verstand war.
»Ich glaube, Ihr berücksichtigt nicht …«, begann ich.
»Ich nicht berücksichtigen?«, unterbrach mich der alte Mann. »Ich keine Rücksicht auf sie nehmen? Ach, wie wenig kennt Ihr die Wahrheit! Kleine Nelly, kleine Nelly!«
Es wäre gewiss niemandem möglich, einerlei, auf welche Weise er sich ausdrücken mochte, mehr Liebe zu verraten als der Raritätenhändler mit diesen vier Worten. Ich erwartete, dass er weitersprechen würde, doch er stützte nur das Kinn in die Hand und schüttelte, die Augen auf das Feuer gerichtet, ein paarmal den Kopf.
Während wir so in tiefem Schweigen saßen, tat sich die Tür zu der Kammer auf, und das Kind kam zurück, das hellbraune Haar offen über den Nacken hängend und das Gesichtchen von der Eile gerötet, sich wieder zu uns zu gesellen. Unverzüglich machte sie sich daran, das Abendessen zu bereiten, und während sie damit beschäftigt war, bemerkte ich, dass der Alte Gelegenheit nahm, mich genauer zu betrachten, als er es bisher getan hatte. Es überraschte mich, zu sehen, dass in dieser ganzen Zeit alles und jedes von dem Kind verrichtet wurde und dass es außer uns niemand anderen in dem Haus zu geben schien. Ich benutzte einen Augenblick ihrer Abwesenheit, um eine Andeutung in dieser Richtung zu wagen, worauf der alte Mann antwortete, es gäbe wenige Erwachsene, die so vertrauenswürdig und sorgsam seien wie sie.
»Es schmerzt mich immer«, bemerkte ich, aufgebracht über seine anscheinende Selbstsucht, »es schmerzt mich immer, wenn ich sehe, dass Kinder, die noch kaum den Erstlingsschuhen entwachsen sind, den Ernst des Lebens kennenlernen. Das gibt ihrem Zutrauen und ihrer Unbefangenheit – zwei der besten Eigenschaften, die ihnen der Himmel schenkt – einen argen Stoß und verlangt ihnen ab, unsere Sorgen zu teilen, ehe sie in der Lage sind, an unsern Freuden teilzunehmen.«
|13|»Bei ihr werden sie nie einen Stoß bekommen«, sagte der Alte und sah mich fest an, »dafür liegen die Quellen zu tief. Überdies kennen die Kinder der Armen nur wenig Vergnügen. Selbst die wohlfeilen Kinderfreuden müssen erkauft und bezahlt werden.«
»Aber – nehmt mir nicht übel, wenn ich das sage – Ihr seid doch bestimmt nicht so schrecklich arm«, sagte ich.
»Sie ist nicht mein Kind, Sir«, entgegnete der alte Mann. »Ihre Mutter war es, und die war arm. Ich kann nichts – keinen Penny – zurücklegen, obwohl ich so lebe, wie Ihr seht, aber sie«, er legte die Hand auf meinen Arm und beugte sich vor, um zu flüstern, »sie wird eines Tages reich und eine feine Dame sein. Denkt nicht schlecht von mir, weil ich ihre Hilfe in Anspruch nehme. Sie gibt sie, wie Ihr seht, von Herzen gern, und es würde ihr das Herz brechen, wenn sie erfahren müsste, dass ich mir von jemand anderem besorgen ließe, was ihre kleinen Hände tun können. – Ich keine Rücksicht nehmen!«, rief er plötzlich jammernd aus. »Gott weiß, dass dies Kind all mein Denken und mein Lebensinhalt ist, und doch schickt er mir kein Glück – nein, niemals!«
In diesem kritischen Augenblick kam der Gegenstand unseres Gesprächs zurück, und indem mir der alte Mann mit einer Handbewegung bedeutete, zu Tisch zu gehen, brach er ab und sagte kein Wort mehr.
Kaum hatten wir unser Mahl begonnen, als es an die Tür klopfte, durch die ich hereingekommen war, worauf Nell mit einem herzlichen Lachen, das ich mit Freuden vernahm, weil es so kindlich und fröhlich war, erklärte, da sei gewiss der liebe gute Kit endlich zurückgekommen.
»Närrische Nell!«, sagte der alte Mann und strich ihr über das Haar. »Immer lacht sie über den armen Kit.«
Wieder lachte das Kind, noch herzlicher als zuvor, und ich konnte mich nicht enthalten, aus reinem Mitgefühl zu lächeln. Der kleine alte Mann nahm eine Kerze und ging die Tür öffnen. Als er zurückkam, folgte ihm Kit auf den Fersen.
|14|Kit war ein struwwelköpfiger, schlaksiger und linkischer Bursche mit einem ungewöhnlich breiten Mund, hochroten Backen, einer Stupsnase und gewiss dem drolligsten Gesichtsausdruck, den ich je gesehen habe. Er blieb mit einem Ruck an der Tür stehen, als er einen Fremden erblickte, drehte einen kugelrunden alten Hut ohne eine Spur von Krempe in den Händen und stützte sich in ständigem Wechsel bald auf das eine, bald auf das andere Bein, während er im Türrahmen stand und mit dem sonderbarsten Ausdruck, der mir je vorgekommen, in die Wohnstube blickte. Von der ersten Minute an empfand ich so etwas wie Dankbarkeit gegen den Jungen, da ich fühlte, dass er das Lustspiel im Leben des Kindes war.
»Ein langer Weg war’s, stimmt’s, Kit?«, fragte der alte Mann.
»Na, also er zog sich ja ziemlich hin, Meister«, gab Kit zurück.
»War das Haus leicht zu finden?«
»Na, also nicht so übermäßig leicht, Meister«, sagte Kit.
»Natürlich hast du Hunger mitgebracht?«
»Na, also ich denk schon, Meister«, war die Antwort.
Der Junge hatte eine merkwürdige Art, beim Sprechen seitlich abgewandt zu stehen und mit dem Kopf über die Schulter nach vorn zu stoßen, als könne er ohne diese Begleitbewegung nicht zu seiner Stimme gelangen. Ich glaube, er hätte überall Ergötzen hervorgerufen, doch das helle Vergnügen des Kindes über seine Schnurrigkeit und die Erleichterung darüber, dass sie in einer Umgebung, die so wenig zu ihr passte, an etwas Spaß haben konnte, waren geradezu unwiderstehlich. Als bedeutender Punkt kam noch hinzu, dass sich Kit geschmeichelt fühlte, ein solches Aufsehen zu erregen, und nach einigen Anstrengungen, den Ernst zu wahren, in ein lautes Brüllen ausbrach und nun mit weit geöffnetem Mund und fast geschlossenen Augen stand und dröhnend lachte.
Der alte Mann war wieder in seine Geistesabwesenheit zurückgefallen und schenkte dem, was vorging, keine Aufmerksamkeit; |15|ich dagegen beobachtete, dass die Augen des Kindes, als das Gelächter vorüber war, von Tränen getrübt wurden, die der Überschwang des Herzens hervorrief, mit dem sie ihren wunderlichen Freund nach der kleinen Besorgnis an diesem Abend begrüßte. Was Kit betraf (dessen Lachen die ganze Zeit solcherart gewesen war, dass es sich kaum in Weinen verwandeln konnte), so trug er ein umfangreiches Stück Brot, Fleisch und einen Krug Bier in eine Ecke und widmete sich mit großer Gefräßigkeit deren Beseitigung.
»Ach«, sagte der alte Mann mit einem Seufzer zu mir, als hätte ich just diesen Augenblick zu ihm gesprochen, »Ihr wisst nicht, was Ihr redet, wenn Ihr behaupten wollt, ich nähme keine Rücksicht auf sie.«
»Ihr dürft einer auf den ersten Augenschein gegründeten Bemerkung nicht allzu viel Gewicht beimessen, mein Freund«, sagte ich.
»Nein«, entgegnete der alte Mann gedankenvoll, »nein! Komm her, Nell.«
Das kleine Mädchen verließ eilends ihren Stuhl und legte ihm die Arme um den Hals.
»Habe ich dich lieb, Nell?«, fragte er. »Sag – habe ich dich lieb, Nell, oder nicht?«
Das Kind antwortete nur mit Liebkosungen und legte den Kopf an seine Brust.
»Warum weinst du?«, fragte der Großvater und drückte sie fester an sich, wobei er mich ansah. »Weil du weißt, dass ich dich liebhabe, und weil es dir nicht gefällt, dass ich es durch meine Frage anzuzweifeln scheine? Schon gut, schon gut – dann wollen wir also sagen, ich habe dich von Herzen lieb.«
»Und das ist wirklich, ganz wirklich so«, entgegnete das Kind mit tiefem Ernst, »Kit weiß es.«
Kit, der bei der Verfrachtung von Brot und Fleisch mit der Kaltblütigkeit eines Gauklers zu jedem Mundvoll zwei Drittel seines Messers verschlungen hatte, hielt, als er auf diese Weise angesprochen wurde, in seiner Tätigkeit inne und schrie |16|heraus: »Niemand kann so dumm nich sein und behaupten, dass er das nich tut!«, worauf er sich für eine weitere Unterhaltung untauglich machte, indem er sich eine überdimensionale Brotscheibe mit einem Happ in den Mund schob.
»Jetzt ist sie arm«, sagte der alte Mann und tätschelte dem Kind die Wange, »aber ich sage noch einmal, es kommt die Zeit, da sie reich sein wird. Sie soll schon seit langem kommen, aber schließlich muss sie kommen, seit sehr langem, aber kommen muss sie bestimmt. Sie ist zu andern gekommen, die nur vergeuden und schwelgen. Wann nur kommt sie endlich zu mir?«
»Ich bin sehr glücklich so, wie ich bin, Großvater«, sagte das Kind.
»Still, still!«, gab der alte Mann zurück. »Du weißt nicht … wie solltest du auch!« Dann murmelte er wieder zwischen den Zähnen: »Die Zeit muss kommen, ich bin ganz sicher, dass sie kommen muss. Um so besser, wenn sie spät kommt«, und darauf seufzte er und versank aufs Neue in Grübelei und schien, das Kind immer noch zwischen den Knien, unempfindlich gegen alles ringsum. Indessen fehlten nur noch wenige Minuten an Mitternacht, und ich erhob mich zum Gehen, was ihn wieder zu sich brachte.
»Einen Augenblick, Sir«, sagte er. »Nanu, Kit – fast Mitternacht, Junge, und du noch hier! Geh nach Hause, geh nach Hause, und sei morgen früh pünktlich, es gibt Arbeit. Gute Nacht! So, sag ihm gute Nacht, Nell, und lass ihn gehen!«
»Gute Nacht, Kit«, sagte das Kind, und ihre Augen strahlten auf vor Vergnügen und Freundlichkeit.
»Gute Nacht, Miss Nell«, gab der Junge zurück.
»Und bedanke dich bei dem Herrn«, unterbrach der alte Mann, »wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich heute Abend vielleicht mein kleines Mädchen verloren.«
»Nein, nein, Meister«, sagte Kit, »das bestimmt nich, das bestimmt nich.«
»Was meinst du?«, rief der alte Mann.
|17|»Ich hätt sie gefunden, Meister«, antwortete Kit, »ich hätt sie gefunden. Möcht wetten, ich würd sie finden, solange sie noch auf der Erde rumläuft, Meister, und so schnell wie nur einer. Hahaha!«
Noch einmal den Mund öffnend, die Augen schließend und wie Stentor lachend, bewegte sich Kit allmählich rückwärts zur Tür und unter brüllendem Gelächter hinaus.
Nun er aus der Stube war, beeilte sich der Junge, fortzukommen. Als er verschwunden und das Kind mit dem Abräumen des Tisches beschäftigt war, sagte der alte Mann: »Es möchte scheinen, als hätte ich Euch nicht genug gedankt für das, was Ihr heute Abend getan, Sir, aber ich danke Euch wirklich ergebenst und von Herzen, und sie auch, und ihr Dank ist mehr wert als der meine. Es täte mir leid, wenn Ihr ginget und vielleicht glaubtet, ich hätte Eure Güte vergessen oder sorgte mich nicht um das Mädchen – so ist es ganz gewiss nicht.«
Dessen sei ich nach allem, was ich gesehen, versichert, meinte ich. »Aber«, fügte ich hinzu, »darf ich eine Frage an Euch richten?«
»Gewiss, Sir«, erwiderte der alte Mann, »wie lautet sie?«
»Dies zarte Kind«, sagte ich, »so schön und so klug – hat sie niemanden als Euch, der sich um sie kümmert? Hat sie keinen anderen Gefährten oder Ratgeber?«
»Nein«, entgegnete er mit einem ängstlichen Blick in mein Gesicht, »nein, und sie braucht auch keinen anderen.«
»Aber fürchtet Ihr nicht«, sagte ich, »eine so zarte Pflegebefohlene vielleicht nicht recht zu verstehen? Ich bin überzeugt, dass Ihr es gut meint, aber seid Ihr ganz sicher, dass Ihr imstande seid, eine Pflicht wie diese zu erfüllen? Ich bin ein alter Mann wie Ihr und werde geleitet von der Anteilnahme eines alten Mannes an allem, was jung und vielversprechend ist. Meint Ihr nicht, was ich heute Abend von Euch und diesem kleinen Geschöpf gesehen habe, müsse eine Teilnahme erwecken, die nicht ganz frei von Sorge ist?«
|18|»Sir«, entgegnete der alte Mann nach einem Augenblick des Schweigens, »ich habe kein Recht, mich durch Eure Worte verletzt zu fühlen. Es ist wahr, dass in mancher Hinsicht ich das Kind bin und sie der erwachsene Mensch – das habt Ihr schon gemerkt. Doch im Wachen und Schlafen, bei Tag und bei Nacht, in kranken und gesunden Zeiten ist sie der einzige Gegenstand meiner Sorge, und wenn Ihr wüsstet, welch großer Sorge, so würdet Ihr mich mit anderen Augen ansehen, wahrhaftig. Ach, es ist ein leidiges Leben für einen alten Mann – ein leidiges, leidiges Leben –, aber ein großes Ziel ist zu erreichen, und das halte ich mir vor Augen.«
Da ich ihn in diesem Zustand der Erregung und fiebrigen Unruhe sah, wandte ich mich ab, meinen Überrock anzuziehen, den ich beim Betreten der Stube abgelegt hatte, und nahm mir vor, nichts mehr zu sagen. Überrascht sah ich das Kind mit einem Mantel über dem Arm, einem Hut und einem Stock in der Hand stehen.
»Das sind nicht meine Sachen, Liebes«, sagte ich.
»Nein«, antwortete das Kind ruhig, »es sind Großvaters.«
»Aber er geht doch heute Nacht nicht aus.«
»O doch«, gab das Kind lächelnd zurück.
»Und was wird mit dir, meine Kleine?«
»Ich? Ich bleibe natürlich hier. Das ist immer so.«
Ich blickte verwundert auf den alten Mann, aber der war, oder tat so, damit beschäftigt, sich anzuziehen. Von ihm sah ich auf die kleine, zarte Gestalt des Kindes. Allein! Die ganze lange, trostlose Nacht an einem so düsteren Ort.
Sie verriet durch nichts, dass sie sich meiner Überraschung bewusst war, sondern half dem alten Mann freundlich in den Mantel und nahm, als er fertig war, eine Kerze, um uns hinauszuleuchten. Als sie merkte, dass wir ihr entgegen ihrer Annahme nicht folgten, blickte sie mit einem Lächeln zurück und wartete auf uns. Dem alten Mann konnte man am Gesicht ablesen, dass er die Ursache meines Zögerns durchaus begriff, dennoch bedeutete er mir nur durch ein Neigen des |19|Kopfes, vor ihm die Stube zu verlassen, und schwieg. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu willfahren.
Als wir an der Tür waren, setzte das Kind die Kerze nieder, wandte sich uns zu, um gute Nacht zu sagen, und hob das Gesicht, um mich zu küssen. Dann lief sie zu dem alten Mann, der sie in die Arme schloss und Gottes Segen auf ihr Haupt wünschte.
»Schlaf gut, Nell«, sagte er mit leiser Stimme, »die Engel mögen dein Bett behüten! Vergiss nicht deine Gebete, mein Liebling.«
»Bestimmt nicht«, antwortete das Kind inbrünstig, »sie machen mich so glücklich!«
»Das ist schön, ich weiß, dass sie es tun, und das sollen sie auch«, sagte der alte Mann. »Sei hundertmal gesegnet! Am frühen Morgen werde ich zurück sein.«
»Du wirst nicht zweimal läuten müssen«, entgegnete das Kind. »Die Glocke weckt mich auch mitten im Traum.«
Mit diesen Worten trennten sie sich. Das Kind öffnete die Tür (nun durch einen Laden geschützt, welchen ich den Jungen hatte vorstellen hören, ehe er das Haus verließ) und hielt sie, bis wir hinaus waren, mit einem weiteren Abschiedsgruß, dessen hellen und zärtlichen Ton ich mir tausendmal ins Gedächtnis zurückgerufen habe. Der alte Mann blieb einen Augenblick stehen, während die Tür sacht geschlossen und von innen verriegelt wurde, und ging dann, befriedigt von diesem Tun, mit langsamen Schritten davon. An der Straßenecke machte er halt und sagte mit einem unruhigen Blick auf mich, dass unsere Wege weit auseinander lägen und dass er sich nun verabschieden müsse. Ich wollte etwas sagen, doch er raffte sich zu größerer Behendigkeit auf, als man bei einem Menschen seines Äußeren hätte vermuten können, und eilte fort. Ich konnte erkennen, dass er sich zwei-, dreimal umschaute, wie um zu sehen, ob ich ihn immer noch beobachtete, oder vielleicht, um sicherzugehen, dass ich ihm nicht in einiger Entfernung folgte. Die Dunkelheit der Nacht begünstigte |20|sein Entschwinden, und bald hatte ich seine Gestalt aus den Augen verloren.
Ich blieb auf dem Fleck stehen, wo er mich verlassen hatte, unwillig, zu gehen, und doch ohne sagen zu können, warum ich hier noch verweilen sollte. Sinnend blickte ich in die Straße, die wir vor kurzem verlassen hatten, und lenkte meine Schritte nach einer Weile in diese Richtung. Ich ging an dem Haus vorbei, ging wieder zurück, blieb stehen und lauschte an der Tür; alles war dunkel und still wie das Grab.
Dennoch trödelte ich umher und konnte mich nicht losreißen bei dem Gedanken an alle nur möglichen Übel, die dem Kind widerfahren mochten – an Feuer, Raub oder gar Mord und in dem Gefühl, es werde gewiss etwas Schlimmes eintreten, wenn ich dem Haus den Rücken kehrte. Das Zuklappen einer Tür oder eines Fensters in der Straße brachte mich aufs Neue vor das Haus des Raritätenhändlers; ich überquerte den Fahrdamm und blickte daran hoch, um mich zu vergewissern, dass das Geräusch nicht von dort gekommen sei. Nein, es lag finster, kalt und leblos da wie zuvor.
Nur wenige Menschen waren auf den Beinen; die Straße war düster und trübselig, und mein Inneres nicht viel weniger. Ein paar Nachzügler aus den Theatern eilten vorüber, und hin und wieder trat ich beiseite, um einem lärmenden Trunkenbold auszuweichen, der heimwärts schwankte; aber diese Unterbrechungen waren nicht häufig und hörten bald ganz auf. Die Uhren schlugen eins. Immer noch ging ich auf und ab, wobei ich mir stets gelobte, dies solle das letzte Mal sein, und jedes Mal mit einer neuen Ausrede mein Wort brach.
Je mehr ich an die Worte des alten Mannes und an sein Aussehen und Gebaren dachte, desto weniger konnte ich mir das Gesehene und Gehörte erklären. Ich hegte die heftige Besorgnis, seine nächtliche Abwesenheit habe nichts Gutes zu bedeuten. Nur durch die Arglosigkeit des Kindes war mir die Tatsache bekannt geworden, und obwohl der alte Mann in jenem Augenblick zugegen gewesen war und meine unverhohlene |21|Überraschung sah, hatte er den Gegenstand auf befremdliche Weise geheim gehalten und kein Wort der Erklärung laut werden lassen. Diese Überlegungen riefen mir von selbst deutlicher als zuvor sein hageres Gesicht in die Erinnerung zurück, seine Zerstreutheit, seine rastlos unruhigen Blicke. Seine Liebe zu dem Kind mochte nicht unvereinbar sein mit einer Niedertracht schlimmster Art; ja, diese Liebe war in sich selbst ein ungewöhnlicher Widerspruch, denn wie konnte er sie auf diese Weise allein lassen? Obwohl ich geneigt war, schlecht von ihm zu denken, zweifelte ich doch nicht, dass seine Zuneigung zu ihr aufrichtig sei. Einen anderen Gedanken konnte ich nicht zulassen, wenn ich mich daran erinnerte, was zwischen uns vorgefallen war, und an den Ton seiner Stimme, mit dem er ihren Namen genannt hatte.
»Natürlich bleibe ich hier«, hatte das Kind als Antwort auf meine Frage gesagt, »das ist immer so!« Was konnte ihn Nacht für Nacht aus dem Hause führen? Ich rief mir alle sonderbaren, jemals vernommenen Geschichten von finsteren und geheimnisvollen Taten, die in großen Städten begangen wurden und jahrelang der Entdeckung entgingen, ins Gedächtnis zurück; so abenteuerlich viele dieser Geschichten auch waren, ich konnte keine finden, die sich auf dieses Rätsel anwenden ließ, das nur noch undurchdringlicher wurde, je länger ich es zu lösen suchte.
Von solchen Gedanken und einer Menge anderer in Anspruch genommen, die alle auf den nämlichen Punkt gerichtet waren, fuhr ich fort, die Straße auf und ab zu wandern, zwei Stunden lang; schließlich begann es in Strömen zu regnen, und von Müdigkeit überwältigt, obwohl in meiner anfänglichen Teilnahme nicht erlahmt, mietete ich die nächste Kutsche und fuhr heim. Ein munteres Feuer flackerte im Kamin, hell brannte die Lampe, und meine Uhr empfing mich mit ihrem alten, vertrauten Willkommen; alles war warm und freundlich und stand in einem glücklichen Gegensatz zu der Trübseligkeit und Finsternis, die ich verlassen hatte.
|22|Ich setzte mich in meinen Lehnstuhl, und als ich mich in seine schwellenden Polster zurücksinken ließ, malte ich mir die Kleine in ihrem Bettchen aus: allein, unbewacht und vernachlässigt (außer von den Engeln) und doch friedlich schlummernd. Ein so blutjunges, ätherisches, schmächtiges und elfengleiches Geschöpf, das die langen, dunklen Nächte an einem so wenig zu ihm passenden Ort zubrachte! Immer wieder musste ich daran denken.
Es ist uns so sehr zur Gewohnheit geworden, durch äußere Erscheinungen Eindrücke zu empfangen, die wir allein durch die Überzeugung erhalten sollten, die aber ohne Unterstützung durch etwas Gesehenes oft entschlüpfen, dass ich nicht sicher bin, ob diese Gedanken eine solche Macht über mich erlangt hätten, wenn ich nicht gleichzeitig den Wirrwarr phantastischer Dinge in dem Laden des Raritätenhändlers vor Augen gehabt hätte. Diese drängten sich mir in Verbindung mit der Kleinen auf, umgaben sie gleichsam und brachten mir ihre Lage fühlbar nahe. Ohne meine Phantasie zu bemühen, hatte ich ihr Bild vor mir, umringt, ja geradezu belagert von allem Möglichen, was ihrem Wesen fremd war und so wenig mit den Neigungen ihres Geschlechts und ihres Alters zu schaffen hatte. Wenn meine Vorstellung all solchen Beistandes entraten hätte und ich genötigt gewesen wäre, das Mädchen in einer ganz gewöhnlichen Kammer zu sehen, die nichts Ungewöhnliches oder Wunderliches an sich hatte, so wäre ich wahrscheinlich weniger beeindruckt gewesen durch das Befremdliche ihrer Einsamkeit.
So aber schien sie mir in einer Art Gleichnis zu leben und erregte mit all diesen Gestalten und Bildern, die sie umgaben, eine so heftige Teilnahme in mir, dass ich (wie ich bereits sagte) meine Gedanken beim besten Willen nicht von ihr abzuwenden vermochte.
Ein sonderbares und gewagtes Unternehmen wäre es, sagte ich mir, nachdem ich eine Weile rastlos im Zimmer auf und ab gewandert war, sich auszudenken, wie es ihr künftig ergehen |23|würde auf ihrem einsamen Weg inmitten einer Menge abenteuerlicher, wunderlicher Gefährten als das einzige reine, frische und junge Geschöpf in der Schar. Es wäre sonderbar, zu entdecken …
Ich hielt inne, denn das Thema führte mich mit Riesenschritten fort, und schon sah ich ein Gebiet vor mir, das zu betreten ich wenig geneigt war. Ich kam mit mir überein, dies für nichtiges Grübeln zu halten, und beschloss, zu Bett zu gehen und Vergessen zu suchen.
Doch die ganze Nacht, im Wachen oder im Schlaf, gingen mir immer wieder die nämlichen Gedanken durch den Kopf und drängten sich meinem Sinn die nämlichen Bilder auf. Stets hatte ich die alten, dunklen und trübseligen Räume vor mir – die klapprigen Rüstungen in ihrem gespenstischen Schweigen, die schielenden, grinsenden Gesichter aus Holz und Stein – den Staub, den Rost und den Wurm, der im Holz lebt – und allein inmitten dieses Trödels, Verfalls und hässlichen Alters das schöne Kind in sanftem Schlummer, lächelnd durch seine lichten, sonnigen Träume.
Nachdem ich nahezu eine Woche lang gegen das Gefühl angekämpft hatte, das mich zu einem neuerlichen Besuch jenes Ortes trieb, welchen ich unter den bereits mitgeteilten Umständen verlassen hatte, gab ich am Ende nach und lenkte, da ich beschlossen hatte, mich diesmal im Licht des Tages zu präsentieren, am frühen Nachmittag meine Schritte dorthin.
Ich ging an dem Haus vorbei und machte verschiedene Umwege in der Straße mit jener Unschlüssigkeit, die nur natürlich ist bei einem Mann, dem sein Gefühl sagt, dass er einen unerwarteten und möglicherweise nicht sehr willkommenen Besuch abstatten will. Da jedoch die Tür verschlossen |24|war und es nicht wahrscheinlich schien, dass ich von den Bewohnern des Hauses erkannt werden würde, wenn ich weiterhin nur davor auf und ab wanderte, besiegte ich bald diese Unentschlossenheit und betrat das Magazin des Raritätenhändlers.
Der alte Mann befand sich mit noch einer Person in dem rückwärtigen Teil, und beide schienen in einem heftigen Wortwechsel begriffen, denn ihre Stimmen, die sich zu einer ungewöhnlichen Lautstärke erhoben hatten, verstummten plötzlich bei meinem Eintritt, und der alte Mann, der mir eilends entgegenkam, erklärte mit bebender Stimme, wie sehr er sich über mein Kommen freue.
»Ihr habt uns in einem kritischen Augenblick unterbrochen«, sagte er, auf den Mann deutend, den ich in seiner Gesellschaft angetroffen hatte, »dieser Bursche wird mich noch eines Tages umbringen. Er hätte es schon längst getan, wenn er sich getraut hätte.«
»Pah! Du würdest mir das Leben aus dem Leibe fluchen, wenn du könntest«, gab der andere zurück, nachdem er mich mit einem starren Blick und einem Stirnrunzeln bedacht hatte, »das wissen wir alle!«
»Ich glaube fast, ich könnte es«, rief der alte Mann, sich matt nach ihm umdrehend. »Wenn mich Flüche oder Gebete oder Worte von dir befreien könnten, so sollten sie es. Ich wäre dich los und erleichtert, wenn ich dich nicht mehr am Leben wüsste.«
»Das weiß ich«, entgegnete der andere. »Hab ich das nicht gesagt? Aber mich werden eben weder Flüche noch Gebete oder Worte umbringen, und deshalb lebe ich und gedenke weiterzuleben.«
»Und seine Mutter starb!«, rief der alte Mann, in tiefem Schmerz die Hände zusammenschlagend, mit emporgerichtetem Blick. »Das nennt sich des Himmels Gerechtigkeit!«
Der andere hatte den Fuß auf einen Stuhl gestützt und betrachtete ihn mit verächtlichem Grinsen. Er war ein junger |25|Mann von etwa einundzwanzig Jahren, wohlgestalt und zweifellos hübsch, obwohl der Ausdruck seines Gesichts weit davon entfernt war, einnehmend zu wirken, da er im Verein mit seinem Betragen und sogar seiner Kleidung etwas Liederliches und Ungebührliches an sich hatte, das einen abstieß.
»Gerechtigkeit oder nicht«, sagte der junge Bursche, »hier bin ich, und hier bleibe ich so lange, bis es mir zu gehen passt, außer du schickst um Hilfe, mich rauszuwerfen – was du nicht tun wirst, das weiß ich. Ich sage dir noch einmal, dass ich meine Schwester sehen will.«
»Deine Schwester!«, entgegnete der alte Mann erbittert.
»Ach was, an der Verwandtschaft kannst du nichts ändern«, gab der andere zurück. »Wenn du’s könntest, hättest du es längst getan. Ich will meine Schwester sehen, die du hier eingesperrt hältst, wobei du ihr Gemüt mit deinen hinterhältigen Geheimnissen vergiftest und Liebe zu ihr heuchelst, damit du sie zu Tode rackern und jede Woche ein paar zusammengekratzte Schillinge zu dem Geld tun kannst, das du kaum noch zu zählen vermagst. Ich will sie sehen und werde sie sehen.«
»Das ist mir der rechte Tugendrichter, von vergiftetem Gemüt zu reden! Der großzügige Geist, zusammengekratzte Schillinge zu verachten!«, rief der alte Mann, indem er sich von ihm zu mir wandte. »Ein Liederjan, Sir, der jeden Anspruch verwirkt hat, nicht allein auf jene, die so unglücklich sind, mit ihm verwandt zu sein, sondern auch auf die Gesellschaft, die nichts als seine Untaten von ihm kennt. Und ein Lügenbold, Sir«, fügte er mit leiserer Stimme hinzu, während er näher herankam, »der weiß, wie teuer sie mir ist, und mich ganz bewusst damit zu verwunden sucht, weil ein Fremder zugegen ist.«
»Fremde sind mir einerlei, Großvater«, sagte der junge Bursche, das Wort aufgreifend, »ich ihnen hoffentlich auch. Am besten kümmern sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten und lassen mich mit meinen in Frieden. Draußen steht ein |26|Freund von mir, den ich mitgebracht habe, und da es scheint, als müsste ich hier noch eine ganze Weile warten, werde ich ihn mit deiner Erlaubnis hereinrufen.«
Mit diesen Worten ging er zur Tür, blickte die Straße hinunter und winkte mehrmals einem Unsichtbaren, der, nach der Ungeduld zu urteilen, von der diese Zeichen begleitet waren, großer Überredung bedurfte, ihn zum Kommen zu veranlassen. Schließlich schlenderte auf der gegenüberliegenden Straßenseite – unter dem schlecht gespielten Vorwand, zufällig vorbeizugehen – eine Gestalt heran, die sich durch eine gewisse, nicht ganz reinliche Eleganz auszeichnete und die nach häufigem Stirnrunzeln und Kopfrucken als Ausdruck des Widerstrebens gegen die Einladung endlich über die Straße kam und in den Laden geführt wurde.
»So. Das ist Dick Swiveller«, sagte der junge Bursche, als er ihn hineinstieß. »Setz dich, Swiveller.«
»Ist der Alte auch einverstanden?«, fragte Mr. Swiveller mit gedämpfter Stimme.
»Setz dich«, wiederholte sein Freund.
Mr. Swiveller fügte sich und bemerkte, während er mit versöhnlichem Lächeln um sich blickte, letzte Woche sei eine schöne Woche für die Enten gewesen und diese Woche sei eine schöne Woche für den Staub, worauf er weiter bemerkte, als er am Laternenpfahl an der Ecke gestanden, habe er aus einem Tabakladen ein Schwein mit einem Strohhalm in der Schnauze herauskommen sehen, und aus dieser Erscheinung schließe er, dass es eine weitere schöne Woche für die Enten geben und der Regen gewiss andauern werde. Überdies nahm er Gelegenheit, sich für möglicherweise an seiner Kleidung wahrnehmbare Nachlässigkeiten zu entschuldigen, weil er sich nämlich vergangene Nacht »gewaltig einen auf die Lampe gegossen« habe, womit er wohl seinen Zuhörern auf möglichst delikate Weise zu verstehen geben wollte, dass er sternhagelvoll gewesen sei.
»Aber was macht das schon«, meinte Mr. Swiveller mit |27|einem Seufzer, »solange sich das Feuer der Seele an der Fackel der Geselligkeit entzündet und der Fittich der Freundschaft keine Feder verliert! Was macht das schon, solange sich der Geist weitet durch rosichten Wein und der gegenwärtige Augenblick der am wenigsten glückliche unseres Daseins ist.«
»Du brauchst hier nicht den Vorsitzenden zu mimen«, sagte sein Freund halb beiseite.
»Fred!«, rief Mr. Swiveller aus und tippte sich an die Nase. »Gelehrten ist gut predigen – wir können ohne Reichtümer gut und glücklich sein, Fred. Keine Silbe mehr. Ich kenne mein Stichwort. Es heißt, auf dem Kien sein. Nur mal ganz leise, Fred – ist der Alte auch wirklich wohlwollend?«
»Das kann dir egal sein«, erwiderte sein Freund.
»Wieder richtig, ganz richtig«, sagte Mr. Swiveller, »Vorsicht heißt die Mutter der Porzellankiste.« Dabei blinzelte er, als gälte es, ein tiefes Geheimnis zu wahren, und blickte, während er die Arme verschränkte und sich in seinem Stuhl zurücklehnte, mit tiefem Ernst zur Stubendecke empor.
Es war vielleicht nicht ganz unbillig, nach dem bereits Vorgefallenen zu vermuten, dass sich Mr. Swiveller noch nicht völlig von den Folgen der erwähnten gewaltigen »Lampe« erholt habe; doch wenn auch seine Rede keinen solchen Verdacht hätte aufkommen lassen, das borstige Haar, die trüben Augen und das gelblich-bleiche Gesicht wären immer noch gewichtige Zeugen gegen ihn gewesen. Sein Anzug fiel, wie er selbst schon angedeutet hatte, nicht eben durch peinliche Akkuratesse auf, sondern befand sich in einem Zustand der Unordnung, die einem den Gedanken aufdrängte, er sei darin zu Bett gegangen. Er bestand aus einem taillierten braunen Rock mit vielen Messingknöpfen an der Vorderseite und nur einem einzigen auf der Rückfront, einer leuchtend karierten Halsbinde, einer buntgestreiften Weste, schmutzigweißen Beinkleidern und einem sehr schlappen Hut, den er verkehrt herum aufhatte, um ein Loch in der Krempe zu verbergen. Sein Rock war mit einer Brusttasche geschmückt, aus der |28|die sauberste Ecke eines sehr großen und sehr hässlichen Schnupftuchs lugte; seine schmuddligen Manschetten waren so weit wie möglich heruntergezogen und protzig über die Ärmel geschlagen; Handschuhe ließ er nicht sehen, dafür einen gelben Spazierstock mit einer elfenbeinernen Hand als Griff, die am kleinen Finger die Nachbildung eines Ringes trug und eine schwarze Kugel umklammert hielt. Mit all diesen persönlichen Vorzügen (denen noch ein aufdringlicher Tabakgeruch und eine allgemeine Schmierigkeit im Äußeren hinzugefügt werden dürfen) lehnte sich Mr. Swiveller, die Augen zur Decke gerichtet, in seinem Stuhl zurück und stimmte eine geeignete Tonart an, um die Anwesenden ganz nebenbei mit ein paar Takten eines todtraurigen Liedes zu erfreuen, worauf er, mittendrin abbrechend, wieder in sein Schweigen verfiel.
Der alte Mann setzte sich in einen Sessel und blickte mit gefalteten Händen bald auf seinen Enkel, bald auf dessen sonderbaren Gefährten, als sei er völlig machtlos und sähe keine andere Möglichkeit, als sie tun zu lassen, was ihnen beliebte. Der junge Mann lehnte mit offensichtlicher Gleichgültigkeit gegen alles, was sich begeben hatte, nicht weit von seinem Freund an einem Tisch, und ich – der ich ungeachtet aller Worte und Blicke, mit denen der alte Mann meine Hilfe angerufen hatte, eine Einmischung für bedenklich hielt – gab mir, so gut ich konnte, den Anschein, als sei ich damit beschäftigt, ein paar der zum Verkauf ausgestellten Gegenstände zu prüfen und den Anwesenden nur wenig Aufmerksamkeit zu schenken.
Das Schweigen hielt nicht lange an, denn nachdem uns Mr. Swiveller mit ein paar melodischen Versicherungen beglückt hatte, dass sein »Herz im Hochland« sei und dass man ihm »nur sein Schlachtross leih’n« möge, damit er große Taten der Tapferkeit und Treue vollbringen könne, löste er seine Augen von der Decke und verfiel wieder in Prosa.
»Fred«, unterbrach sich Mr. Swiveller mit einem Ruck, als |29|sei ihm der Gedanke urplötzlich in den Sinn gekommen, und fragte in dem gleichen vernehmlichen Gewisper wie vorhin, »ist der Alte wirklich wohlwollend?«
»Was macht das schon aus?«, gab sein Freund mürrisch zurück.
»Nichts, aber ist er es wirklich?«, fragte Dick.
»Ja, natürlich. Was kümmert’s mich, ob er es ist oder nicht.«
Durch diese Antwort offenbar ermutigt, eine allgemeine Unterhaltung zu beginnen, schickte sich Mr. Swiveller treuherzig an, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln.
Er begann mit der Bemerkung, dass Sodawasser, obwohl an sich eine gute Sache, den Magen verkühlen könne, wenn es nicht mit Ingwer oder ein wenig Branntwein versetzt werde, welch letztgenanntem er in jedem Fall den Vorzug geben müsse. Da niemand diese Behauptung zu bestreiten wagte, fuhr er fort mit der Bemerkung, das menschliche Haar bewahre den Tabakrauch prächtig auf, und die jungen Herren in Westminster und Eton seien, nachdem sie Riesenmengen Äpfel gegessen hätten, um den Zigarrengeruch vor ihren besorgten Angehörigen zu verbergen, gewöhnlich infolge dieser sonderbaren Eigenschaft ihrer Köpfe ertappt worden, woraus er den Schluss zog, wenn die Akademie der Wissenschaften diesem Punkt ihre Aufmerksamkeit widmen und sich bemühen würde, in den Quellen der Wissenschaft ein Mittel zu finden, solche verdrießlichen Enthüllungen zu vermeiden, so könnte man sie in der Tat als Wohltäter der Menschheit ansehen. Da diese Ansichten genauso unbestreitbar waren wie seine bereits geäußerten, teilte er uns weiterhin mit, dass Jamaika-Rum, wenngleich fraglos ein angenehmes geistiges Getränk von nicht geringem Feuer und bemerkenswerter Blume, den Nachteil habe, dass man ihn den nächsten Tag immer noch ständig auf der Zunge schmecke, und da niemand kühn genug war, diesen Punkt anzufechten, stieg sein Selbstvertrauen, und er wurde noch umgänglicher und mitteilsamer.
|30|»Es ist eine vertrackte Kiste, meine Herren«, sagte Mr. Swiveller, »wenn sich Verwandte überwerfen und uneins werden. Wie der Fittich der Freundschaft nie eine Feder verlieren sollte, so sollte der Fittich der Verwandtschaft nie gestutzt werden, sondern entfaltet und ungetrübt bleiben. Warum sollten ein Enkel und ein Großvater mit beiderseitiger Heftigkeit aufeinander losfahren, wenn lauter Wonne und Eintracht herrschen könnte? Warum nicht einander die Hände reichen und alles vergessen?«
»Halt den Mund«, sagte sein Freund.
»Keine Unterbrechung des Vorsitzenden, Sir!«, entgegnete Mr. Swiveller. »Meine Herren, wie liegt der Fall im Augenblick? Hier haben wir einen famosen alten Großvater – mit dem größten Respekt gesagt – und hier einen ungebärdigen jungen Enkel. Der famose alte Großvater sagt zu dem ungebärdigen jungen Enkel: ›Ich habe dich aufgezogen und erzogen, Fred, ich habe dich auf die Lebensbahn gewiesen, du bist ein wenig vom Kurs abgegangen, wie es bei jungen Burschen häufig vorkommt, und nun sollst du nie wieder eine Möglichkeit erhalten, nicht mal den Schatten auch nur einer halben!‹ Der ungebärdige junge Enkel gibt ihm darauf Bescheid und sagt: ›Du bist so reich, wie man sein kann, du hast meinetwegen keine übermäßigen Ausgaben gehabt, du legst haufenweise Geld für meine kleine Schwester zurück, die auf eine heimliche, verstohlene und versteckte Weise und ohne alle Freuden bei dir lebt – warum kannst du nicht deinem erwachsenen Enkel mit einer Kleinigkeit unter die Arme greifen?‹ Der famose alte Großvater entgegnet ihm jedoch bisher, dass er nicht allein ablehnt, mit jener fröhlichen Bereitwilligkeit, die bei einem Herrn seiner Generation stets so angenehm und erfreulich ist, etwas lockerzumachen, sondern dass er in die Luft gehen, ihn beschimpfen und tadeln wird, wann immer sie sich begegnen. Da liegt die Frage auf der Hand: Wäre es nicht ein Jammer, wenn dieser Zustand fortdauern sollte, und wäre es nicht viel besser für den alten |31|Herrn, eine angemessene Summe Pinkepinke rauszurücken und alles schön und gemütlich zu machen?«
Nachdem er diese Ansprache mit vielen weit ausholenden und unterstreichenden Handbewegungen von sich gegeben hatte, stieß sich Mr. Swiveller plötzlich den Knauf seines Spazierstocks in den Mund, als wolle er sich auf diese Weise davor bewahren, die Wirkung seiner Rede zu schmälern, indem er noch ein einziges Wort hinzufügte.
»Gott steh mir bei! Warum jagst und verfolgst du mich?«, fragte der alte Mann seinen Enkel. »Warum bringst du deine liederlichen Kumpane hierher? Wie oft muss ich dir sagen, dass mein Leben ein Leben der Sorge und Selbstverleugnung ist und dass ich arm bin?«
»Und wie oft muss ich dir sagen«, entgegnete der andere und sah ihn unfreundlich an, »dass ich es besser weiß?«
»Du hast deinen Weg gewählt«, sagte der alte Mann. »Geh ihn. Und überlass Nell und mich der Mühe und Arbeit.«
»Nell wird bald eine erwachsene Frau sein«, gab der andere zurück, »und in deinem Glauben erzogen, wird sie ihren Bruder vergessen, wenn er sich nicht hin und wieder zeigt.«
»Gib nur acht«, sagte der alte Mann mit funkelnden Augen, »dass sie dich nicht vergisst, wenn du am meisten darauf erpicht bist, dass sie sich deiner erinnert. Gib nur acht, dass nicht der Tag kommt, wo du barfuß durch die Straßen läufst und sie in einem prächtigen Wagen fährt, der ihr gehört.«
»Du meinst, wenn sie dein Geld hat?«, versetzte der andere. »Das ist so recht die Sprache eines Armen!«
»Und doch«, sagte der alte Mann, indem er die Stimme senkte und sprach, als denke er nur laut, »wie arm sind wir und welch ein Leben führen wir! Es geht um ein Kind, das an allem Schlimmen und allem Unrecht keine Schuld hat, aber nichts will gelingen! Hoffnung und Geduld! Hoffnung und Geduld!«
Diese Worte kamen zu leise heraus, um das Ohr der jungen |32|Leute zu erreichen. Mr. Swiveller schien zu glauben, dass sie auf einen geistigen Konflikt infolge der mächtigen Wirkung seiner Ansprache deuteten, denn er puffte seinen Freund mit dem Spazierstock und flüsterte ihm zu, er sei überzeugt, »den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben«, und erwarte eine Provision für das, was dabei herausspringen würde. Als er eine Weile später seinen Irrtum einsehen musste, schien er etwas schläfrig und missmutig zu werden, und er hatte bereits mehr als einmal vorgeschlagen, dass es doch nun wohl angebracht sei, augenblicklich zu verschwinden, als sich die Tür auftat und das Kind selbst erschien.
Dicht auf den Fersen folgte dem Kind ein älterer Mann mit auffallend harten Zügen und abstoßendem Äußeren und so klein von Gestalt, dass er geradezu wie ein Gnom wirkte, obwohl Kopf und Gesicht groß genug waren für den Körper eines Riesen. Seine schwarzen Augen waren unstet, schlau und verschlagen, Mund und Kinn borstig von den Stoppeln eines ungepflegten, harten Bartes, und seine Haut war von der Art, die niemals sauber oder gesund aussieht. Doch was am meisten zu dem grotesken Ausdruck des Gesichts beitrug, war ein gespenstisches Lächeln, das aus einer bloßen Angewohnheit herzurühren und keinerlei Beziehung zu einem freudigen oder behaglichen Gefühl zu haben schien und fortwährend die wenigen verfärbten Hauer entblößte, die noch hier und da in seinem Mund standen, wodurch er an einen jachernden Hund erinnerte. Seine Kleidung bestand aus einem großen Hut mit übermäßig hohem Kopfteil, einem abgetragenen dunklen Anzug, einem Paar unförmiger Schuhe und einer schmutzigweißen Halsbinde, die hinreichend schlapp und zerknüllt war, den größeren Teil seines sehnigen Halses zu zeigen. Was er noch an Haar besaß, war von griesem Schwarz; an den Schläfen kurz und wie mit dem Lineal geschnitten, hing es in unordentlichen Strähnen über die Ohren. Seine rauen, grobporigen Hände waren sehr schmuddlig, seine langen Fingernägel gekrümmt und gelb.
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