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Was wäre, wenn Hexen, Magier und Fabelwesen schon immer existiert hätten? Wenn sie für uns unsichtbar in einer Welt leben, die von unserer getrennt wurde? Das Leben der 14-jährigen Ina ändert sich schlagartig, als die in ihr verborgenen magischen Kräften sie unerwartet in eine fremde Welt katapultieren. Auf einer Schule für Hexen und Magier findet sie neue Freunde und lernt, ihre Magie zu nutzen. Doch ein unheilvoller Schatten legt sich über diese fremde neue Welt, als sie mit ansieht, wie Richard Manas, der mächtigste Schwarze Magier aller Zeiten, sich aus seiner Gefangenschaft befreit. Ina und ihre Freunde treten eine Reise zu Mythen- und Sagengestalten an, um die Welten zu retten und Richard Manas zu besiegen. Werden sie den Gefahren der Reise und den Schikanen des Schwarzen Magiers trotzen können?
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Seitenzahl: 323
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Martina Bäumker
Olor-Montis Academy
© 2021 Martina Bäumker
Illustriert von: Clara Vath
Lektorat: David und Maria Engels (Lektorat Rohlmann&Engels.com)
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-61386-7
ISBN Hardcover: 978-3-347-61389-8
ISBN E-Book: 978-3-347-61392-8
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
1. Die ungeahnten Kräfte
2. Die alte und die neue Heimat
3. Begrüßung mal anders
4. Auf in den Unterricht
5. In geheimer Mission
6. Schrecken am See
7. Schwanenritter
8. Der Wolpertinger
9. Norwegische Fjorde
10. Goodyear, Arizona wo ist der Jackalope?
11. Der Gott der alten Maya
12. Die Welt der Toten
13. Rückkehr auf Umwegen
14. Wiedersehen macht Freude
15. Die Verbotene Stadt
16. Das Luna-Fest
17. Richard Manas
18. Winterferien
19. Danksagung
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1. Die ungeahnten Kräfte
19. Danksagung
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1. Die ungeahnten Kräfte
Ina tippte mit dem Zeigefinger auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Turbo der neue Rennbus, dachte sie.
Es war 7: 45 Uhr, der Schulbus kam ausnahmsweise 10 Minuten eher an. Die 14-jährige Schülerin betrat den Schulhof, den sich Haupt-, Realschule und Gymnasium teilten. Hier trafen Schüler der Jahrgänge 5 bis 12 aufeinander.
Zwei Mädchen der obersten Klassen aus dem Nebengebäude kamen schnurstracks auf sie zu. Ina kannte beide nur flüchtig aus dem Schulbus und hatte schon häufiger boshafte Beschimpfungen wie: Vogelscheuchen haben hier keinen Zutritt der rebellischen Teenagerinnen ertragen. Ihre Erfahrung mit dem Duo hatte Ina gezeigt, dass es sie nur beflügelte, weiteren Streit anzuzetteln, wenn Ina sich zur Wehr setzte. Sie war sich bewusst, vor den beiden davonzulaufen, hätte keinen Zweck. Dann passierte alles so schnell, dass Ina kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Die eine packte Ina und hielt sie fest. Die andere zog einen pinkfarbenen Lippenstift aus ihrer Jackentasche und kritzelte Ina damit wild im gesamten Gesicht herum.
„So ist der Anblick erträglicher!“, spottete sie und signalisierte ihrer Kameradin mit einer Handbewegung, Ina loszulassen und zu verschwinden.
Das Geschehen auf dem Schulhof wurde ignoriert, manche Schüler sahen auffällig eingeschüchtert weg, weshalb Ina vermutete, dass niemand Ärger auf sich ziehen wollte. Mit schnellen Schritten ging sie zu den Schultoiletten und hoffte, dass sie von ihren Klassenkameraden dabei nicht gesehen würde.
Aus der Wandhalterung zog sie einen Stapel Papiertücher, befeuchtete sie am Waschbecken und versuchte damit, die Farbe aus ihrem Gesicht zu rubbeln. Ina fragte sich, warum sie immer wieder von Schülern wie diesen beiden zum Opfer auserkoren wurde und ob irgendetwas an ihr daran schuld war. Sie atmete tief ein und aus, um nicht zu weinen.
Mit einem schnellen Griff zog Ina ihr Haargummi von ihrem Zopf, sodass ihre langen braunen Locken die geröteten Wangen verdeckten. Ihre blauen Augen waren von Tränen gefüllt, die sie mit aller Kraft zurückhielt.
Das Läuten der Schulglocke erklang, sie schnappte ihre Schultasche und beeilte sich, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Ina hoffte, ihren Mitschülern so keinen Anlass zu weiterem Spott zu bieten. Mit gesenktem Kopf betrat sie das Klassenzimmer, setzte sich auf ihren Platz an der Seite des Raumes und vergrub sich in ihre Aufgaben.
Der einzige Lichtblick des Tages war die sechste Stunde, denn dann hatte sie Musikunterricht. Ina hatte seit der Grundschule gelernt, Querflöte zu spielen. Zu ihrem achten Geburtstag hatte sie von ihrer Mutter eine eigene Flöte bekommen, auf der sie im Unterricht die Musikstücke, die sie in der Klasse lernten, begleitete.
Die Musiklehrerin betrat mit breitem Grinsen den Musikraum. „Heute versuchen wir mal etwas Neues, mein Plan ist es, ein Heavy-Metal-Stück mit Opernelementen zu verbinden.“
Ina strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Hand sauste in die Höhe, sie schnippte aufgeregt mit den Fingern. „Darf ich was dazu komponieren, bitte!“, rief sie der Lehrerin entgegen, bevor sie überhaupt zum Sprechen aufgefordert wurde.
Im Hintergrund raunten ein paar ihrer Mitschüler „Musikstreber sind so schrecklich!“, doch der Kommentar prallte an ihr ab wie ein Flummi vom Boden. Der Ärger des Morgens war schlagartig verflogen, nichts vermochte es, ihr den Spaß an diesem Unterricht zu vermiesen.
Auf der Heimfahrt setzte Ina sich auf einen Sitzplatz in der Mitte des Busses. Um sie herum waren die Plätze leer, doch der Bus füllte sich wie gewohnt immer weiter, bis die letzten Sitze besetzt waren. Nur neben Ina und direkt auf der Rückseite des Busfahrers blieb etwas frei.
Hinter ihr saßen zwei Jungen, die in ihren Taschen kramten. Einer der beiden schlug Ina mit einem Gegenstand der sich für sie, wie eine Federmappe anfühlte immer wieder gegen den Hinterkopf.
„Pass auf, sonst versteinern dich die Schlangenhaare von der Medusa“, rief er seinem Sitznachbarn so laut zu, dass der gesamte Bus es hörte und in Gelächter ausbrach.
Ina drehte sich zu ihnen um. „Ey lass das!“, knurrte sie grimmig zurück, woraufhin die Jungen noch lauter lachten.
Die nächste Haltestelle war die vor ihrem Haus. Schnell stieg Ina aus dem Bus und rannte in ihr Zimmer. Sie versuchte, die Tränen zu verbergen, die über ihre Wangen liefen. Hastig atmend setzte sie sich auf ihr Sofa und fächerte mit den Händen Luft in ihr rot angelaufenes Gesicht. Nach einem Schniefen wischte sie ihre Tränen mit dem Pulloverärmel von ihren Wangen und beruhigte sich. Sie schaltete das Radio an und hoffte, die Rockmusik würde sie restlos beruhigen.
„Ina, das Essen ist fertig!“, rief ihre Mutter durch den Hausflur.
„Danke, ich habe noch keinen Hunger, hole es mir später!“, antwortete sie mit einem Schniefen und drehte das Radio lauter. Nach ein paar Minuten nahm sie ihre Querflöte aus ihrer Schultasche, schaltete die Musik aus und fing an, eine eigene Melodie zu komponieren, die ihre Gefühle widerspiegelte.
Ina schloss ihre Augen und spielte. Sie fühlte sich leichter, entspannter, doch passierte noch etwas, etwas Unerklärliches: Ihre Haut kribbelte, es wurde kalt und still um sie herum. Kurz darauf hörte sie, wie Vögel zwitscherten. Auf ihrem Gesicht spürte sie Wärme wie von der Wintersonne. Sie öffnete ihre Augen und es verschlug ihr für einen Moment den Atem. Ihre Querflöte rutschte ihr aus den zitternden Händen und landete zu ihren Füßen auf einer duftenden grünen Wiese. Sie stand auf einer großen Rasenfläche mit einigen Maulwurfshügeln nahe einem See umgeben von Bergen und Wäldern. In der Ferne sah sie ein Dorf, das ihr nicht bekannt vorkam. Hastig atmend drehte sie sich in der Hoffnung im Kreis, einen Anhaltspunkt auf ihren Standort zu erblicken.
„Fehlanzeige! Was ist hier los? Wo ist mein Zuhause?“
Inas Blick huschte hektisch von steilen Straßen zu Bergen, deren Gipfel teilweise mit Schnee bedeckt waren. Die Sonne strahlte durch flauschig aussehende Wolken und hüllte die Umgebung in einen feuchten Glanz. Ina sah zwei Vögel aus den angrenzenden Wäldern in den Himmel hinauf flattern, die sich anscheinend vor einem monströs groß wirkenden grauen Vogel erschrocken hatten, der von weit oben blitzschnell in den Wald schoss.
Ihr Herz pochte so schnell, dass es schmerzte. Um sicherzugehen, dass sie nicht träumte, kniff sie sich in ihr Bein. „Aua!“
Ina bückte sich, um ihre Querflöte vom Rasen aufzuheben, da schoss etwas mit einem Windstoß neben ihr vorbei.
Ein kleines weißes Hündchen flitzte quer über die Wiese, gefolgt von einem jungen Mädchen. Ihr schwarzes Haar wehte im Wind, sie hätte sich bei der Verfolgung des Tieres fast in ihrem langen Umhang verheddert. Mit ihren hohen Stiefeln rannte sie trotz des mit Maulwurfshügeln wie Stolperfallen gespickten Bodens in rasantem Tempo über die Wiese.
„Snowball!“, rief sie dem Hündchen hinterher.
Das Tier schaute sich kurz um, als wolle es sagen: „Was denn? Höre dich! Hab aber grade ´ne bessere Idee!“
Indem sie ihren Sprint abrupt unterbrach, hielt sie vor Ina an. „Dieses Vieh veräppelt mich! Hi, ich bin Marnie!“
Ina umklammerte ihre Querflöte so fest, dass sich ihre Fingernägel in ihre Handballen bohrten. „Wo bin ich hier?“
Marnie ignorierte die Frage und lächelte. „Oh, du bist ebenfalls eine!“
„Eine was?“, erwiderte Ina mit fragendem Blick.
Marnie kicherte und erklärte, als wäre es selbstverständlich: „Hexen haben einen speziellen Glanz in den Augen, den kann ich meist schnell entdecken. Außerdem bist du doch in der magischen Welt!“
„Die magische Welt?“, wiederholte Ina verdattert.
Marnie nickte. „Hier ist es nur Magiebegabten Wesen möglich sich gegenseitig zu sehen.“
Ina sah Marnie genau an und entdeckte ein Aufblitzen in ihren grünen Augen. Konnte Marnie recht haben? War das ein Aufblitzen von Magie gewesen?
Ina zog ungläubig eine Augenbraue hoch. „Oh entschuldige, ich habe mich gar nicht vorgestellt! Mein Name ist Ina. Du glaubst ernsthaft, wir stehen hier in einer magischen Welt und wären Hexen? So richtig mit fliegenden Besen und spitzen Hüten, wild um ein Feuer hüpfend und Schmetterlinge in Raben verwandeln oder wie?“, platzte es aus ihr heraus.
Marnie nickte selbstsicher, lächelte Ina an, nahm ihre Hand und zog sie mit sich. „Teilweise ja, komm mit, ich zeige dir was!“
Sie kamen an einem großen türkisblau schimmernden See vorbei, wanderten über einen steilen Pfad, der mitten durch einen dunklen Wald führte, bis sie an einer Brücke anhielten, unter der ein Wasserfall in die Tiefe plätscherte.
Ina schüttelte ihren Kopf, sodass ihre Haare wild umher wedelten. „Das ist doch nicht echt hier! Ich verstehe überhaupt nicht, was hier vor sich geht, wie ich hergekommen bin, geschweige denn wo sich mein Zuhause versteckt.“
Marnie legte ihre Hand auf Inas Schulter und deutete mit der anderen über die Brücke hinweg auf ein Schloss, das umgeben von Nebelschwaden zwischen Bäumen und Felsen auf einem kleinen Berg stand. „Siehst du das dort drüben? Das ist die Olor-Montis Academy, ein Internat für Hexen und Magier. Ich bringe dich zu Rektor Helias Lohengrin, er wird die Antworten auf deine Fragen kennen.“
Die Landschaft wirkte auf Ina wie aus einem Kinderbuch abgezeichnet und in das reale Leben katapultiert. Sie fragte sich, ob dieser ominöse Schulleiter des Rätsels Lösung wäre oder sie nach der Begegnung noch immer dieses hilflose, verwirrte Gefühl in sich tragen würde.
Die Brückenkonstruktion, die sie überquerten, erschien alt und wackelig, die hölzernen Bretter knatschten bei jedem Schritt, weshalb Ina sich an dem Metallgeländer festhielt. Marnie fasste sie fest bei der Hand. „Keine Panik, die Brücke hält sogar einem Pferd stand.“
Langsam tastete Ina sich voran. Tief unter ihr sah sie eine felsige Schlucht und Wasser, das unaufhaltsam hinunterrauschte. Die feuchte Luft stieg ihr bei jedem Schritt über die knackende Brücke in die Nase. Ihre Tritte erzeugten ein knirschendes Geräusch, das sie wie ein kalter Schauer erzittern und ihr Herz rasten ließ, bis sie das andere Ende des Überganges erreicht hatten.
Die Mädchen liefen geradeaus eine steile Straße hinauf, bis sie zu einem Torbogen kamen. Der imposante Durchgang aus rotem Backstein ragte weit in die Höhe. In der Mitte befand sich eine riesige dicke hölzerne Tür mit Beschlägen aus dunklem Metall.
Marnie benötigte ihre ganze Kraft, um die massive Holztür zu öffnen. Schnaufend vor Anstrengung stand sie mit dem Rücken an das Holz gelehnt und deutete auf den Innenbereich hinter der Tür.
„Willkommen in der Olor-Montis Academy“, verkündete sie breit grinsend. Vor Ina eröffnete sich ein großer, auf zwei Ebenen aufgeteilter Innenhof.
Auf der Schlosswand des höher gelegenen Hofbereiches zierte eine große Malerei von einem dunklen Ritter auf einem Pferd und geflügelten menschlichen Wesen ihm gegenüber die weiße Mauer.
Im Hintergrund ragten hohe runde Schlosstürme weit in den Himmel hinauf. Die Wände und Türme des Schlosses waren glatt und schneeweiß. Spitz zulaufende Fenster, die von kleinen Säulen eingerahmt wurden, säumten die Gebäudeteile, dessen Dächer graublau gedeckt waren. Eine Treppe verband die beiden Ebenen des Innenhofes und eine weitere führte zu einem zusätzlichen Seiteneingang des Schlosses rechts von den Mädchen.
Marnie zeigte auf die rechtsseitige Treppe. „Wir nehmen den seitlichen Eingang, das ist der kürzeste Weg.“
Nach einem langen Gang, der von elektrischen Kronleuchtern an der Decke sowie von stehenden Kerzenleuchtern mit Wachskerzen am Boden beleuchtet war, kamen sie an eine Wendeltreppe, die in einen der Schlosstürme führte. Immer im Kreis erklommen sie die Stufen bis zur Turmspitze.
Ina traute ihren Augen nicht. Da stand eine Drachenstatue, direkt neben der Treppe, die komplett aus hell strahlendem Marmor bestand. Ina hatte das sonderbare Gefühl, die Statue aus einer Erinnerung zu kennen.
Instinktiv fasste sie mit der Hand nach dem Kopf des Tieres, es wirkte wie die Wiederholung einer alt-bekannten Handbewegung auf sie. Der Drache bewegte sein Haupt und sah sie an. Erschrocken zog Ina ihre Hand zurück. Er öffnete sein Maul und sprach sie an; „Oh hallo, Ina! Ich bin Archibald der Wächter der Welten.“
Ina schritt langsam etwas rückwärts. „Woher kennst du mich?“
Der Drache erklärte: „In jungen Jahren, warst du schon einmal bei mir und genau wie jetzt hast du deine Hand ohne Furcht auf meinen Kopf gelegt. Damals hast du mich mit strahlenden Augen angesprochen und nach meinem Namen gefragt.“
„Das kann doch gar nicht sein, ich kann mich gar nicht an deinen Namen erinnern“, antwortete Ina. „Und glaube mir, den hätte ich mir gemerkt!“
Der Drache lächelte. „Damals vermochte ich dir keine Antwort zu geben, du warst ein kleines Kind, das mit seiner Mutter zusammen an einer Führung durch das Schloss, dessen Name in der Menschenwelt Neuschwanstein lautet, auf der nicht-magischen Seite teilgenommen hatte. Obwohl ich schon vor so vielen Jahren die Magie, die in dir steckte, bemerkte, war es mir nicht möglich, mich mit dir in Verbindung zu setzen. Das widerspräche meinem Wesen.“
„Aber du sprichst doch jetzt mit mir“, gab Ina zu bedenken.
Der Drache richtete sich stolz auf. „Nun bist du auf der richtigen Seite. Seit der Weltentrennung am 13. Juni 1886 bin ich der Wächter, der darauf achtet, dass die magische Welt verborgen bleibt. Nur für diesen Zweck wurde ich von Helias Lohengrin erschaffen.“
„Du trennst ganze Welten voneinander?“ Ina stand der Mund weit offen.
Archibald nickte. „Damit ihr in der Academy ungestört lernt, eure Kräfte zu entfalten und zu kontrollieren, und damit die Menschen gleichzeitig am selben Ort ohne Magie ihr Leben leben können.“
Ina stand noch immer der Mund offen. „Wow, das ist ja krass.“
Marnie drückte mit einem sanften Fingerschub Inas Unterkiefer zu. „Entschuldige, Archie, wir haben es eilig. Ich habe vor, Ina zum Rektor zu bringen.“
„Haben wir?“, fragte Ina. „Hast du?“
Der kleine weiße Hund, der den Mädchen vorausgesprintet war, legte sich vor der Drachenstatue auf den Rücken und ließ sich von Archibald genüsslich den Bauch kraulen. Marnie lief schnellen Schrittes mit Ina an der Hand weiter durch das Schloss, ihre Schuhe klackerten auf dem steinernen Fußboden. Ina ließ ihren Blick immer wieder zu den imposant geschwungenen Deckengewölben schweifen, die wie Sternenhimmel bemalt waren. Dabei ging Ina das Bild des Marmordrachen mit dem weißen Hund nicht aus dem Kopf, weshalb ihr ein Lächeln auf den Lippen lag, als sie bei der einer dicken hölzernen Tür ankamen, die Marnie klopfte.
Eine freundliche Stimme von der anderen Seite der Tür erklang: „Ja bitte, herein!“
Marnie betrat zuerst den Raum. „Hallo, Herr Rektor! Das ist Ina, ich habe sie auf der Wiese am See getroffen. Sie ist wie die Weltenwanderer hier aus dem Nichts aufgetaucht!“
In dem großen Raum, der sich vor ihnen auftat, stand ein riesiger hölzerner Schreibtisch mit einer gläsernen Kugel darauf direkt vor einem Fenster. An den Wänden reihten sich Holzregale, die mit Schnitzereien von Ranken und Blüten geziert wurden. Auf ihnen thronten einige dicke Bücher mit goldenen Einbänden, ein paar Glasphiolen mit leuchtenden Flüssigkeiten und aus Stein gemeißelte Figuren von Drachen. Auf einem Sideboard an der gegenüberliegenden Wand, das mit verschnörkelten Schnitzereien versehen war, stand ein weißer Schwan aus Porzellan, der fast die gesamte Breite des Boards einnahm. Direkt darüber hing ein Gemälde von einem See mit einem Ritter auf einem Boot, das von weißen Schwänen gezogen wurde. Daneben war eine Sitzecke mit Holzstühlen, auf deren blauer Polsterung silberfarbene Motive von Drachen zu sehen waren. Davor stand ein kleiner Tisch.
Ina positionierte sich neben Marnie und brachte kein Wort heraus. Der etwa 1,90m große Mann ihnen gegenüber räumte ein Buch in ein hohes Regal und stützte sich mit der anderen Hand auf einen Gehstock mit Schwanenkopf. Er drehte sich zu Marnie und Ina um, mit seiner freien Hand wischte er sich ein paar graue Locken aus dem Gesicht und steckte sie unter seinem Zylinder fest.
„Setzt euch doch!“, forderte er die Mädchen auf und zog sich einen der Stühle heran. Sein blauer Gehrock mit aufgestickten silbernen Drachenmotiven sah dem Polster so ähnlich, dass es zu einem einzigen Motiv verschmolz. Ina hätte schwören können, eines der Drachenmotive von seiner Kleidung war auf die Polsterung hinübergehuscht.
„Du bist also Ina!“, richtete er das Wort an sie. „Prima, dass du den Weg in die magische Welt gefunden hast!“, sagte er mit sanfter Stimme. „Ich bin Rektor Helias Lohengrin, der Leiter dieser Academy. Unsere Marnie kennst du ja schon, die quirlige Junghexe ist im dritten Jahr hier an der Olor-Montis. Zurzeit ist Wintersonnenwende, und da die Schüler dann zwei Monate frei haben, ist hier wenig los.“
Der Rektor sah zu ihr. „Hast du eine Frage? Du wirkst verunsichert. Hab keine Angst.“
Ina zögerte, doch kurz darauf sprudelte es aus ihr heraus. „Ist das hier real? Oder ein Traum? Bin ich gestorben und das ist jetzt das, was dann kommt? Wie bin ich hier gelandet?“
Der Rektor unterbrach Ina freudig lachend. „Eins nach dem anderen! Ja, es ist real, du bist echt und lebendig hier bei uns. Wie genau man den Übergang von der Welt der nicht-magischen Menschen in diese schafft, ist bei jedem ein wenig anders. Durch ein tief im Inneren verwurzeltes Gefühl, eine Emotion werden deine Kräfte freigesetzt und der Weg in das magische Land offenbart sich.“
„Wieso gibt es denn überhaupt zwei Welten? Warum existiert Olor-Montis nicht in der Welt, die ich kenne?“, hakte Ina verwirrt nach.
„Vor vielen Jahren waren beide Welten eins, doch die Magie ängstigte die Menschen. Alles, was anders war, wurde verurteilt“, offenbarte der Rektor ernst.
„Hexen und Magier wurden gejagt, zum Tode verurteilt und auf brutalste Art lebendig verbrannt oder im Wasser ertränkt, um ihre Macht zu vernichten. Unsere Magie ist für das Gute geschaffen. Würden wir gleiches mit Gleichem vergelten, wären unsere Seelen frei zugänglich für das Böse, in dem wir unser selbst verlieren würden. Daher waren Hexen und Magier gezwungen, sich versteckt zu halten.“
Der Rektor beugte sich geheimnistuerisch zu Ina vor.
„Im Alter von vierzehn Jahren habe ich selbst meine Magie entdeckt und mir wurde bewusst, dass irgendetwas in mir anders als bei meinen Eltern und meinem Bruder war. Ich hatte großes Glück, aus einer Familie zu stammen, die Einfluss hatte, weshalb ich mich im Verborgenen mit meinen Kräften beschäftigen konnte.“
„Wieso bist du nicht zur Olor-Montis Academy gegangen?“, erkundigte sich Ina.
„Die gab es damals leider nicht“, eröffnete der Rektor schmunzelnd. „Mit achtzehn Jahren wurde ich zum König des Landes gekrönt. Da mein Vater früh verstarb, war es meine Aufgabe, seine Nachfolge anzutreten. Von da an fasste ich den Entschluss, die Welten zu ihrem Schutz voreinander zu verbergen und ließ die Olor-Montis Academy errichten. Sie wurde ein Schutzort, für alle Hexen und Magier.“
„Aber wenn die Welten getrennt sind …“, begann Ina ängstlich. „Heißt das …?“
„Keine Sorge. Wenn du zurück in die Menschenwelt gehen willst, öffnest du den Übergang aus deinem Inneren und konzentrierst dich auf den Ort, an dem du ankommen möchtest“, sagte der Rektor zu Ina. „Das können alle Wesen, die magiebegabt und menschlich sind.“
Ina atmete erleichtert aus.
Der Rektor pfiff einmal und ein Kater kam aus einer Ecke in den Raum gehüpft.
„Das ist Owen, ich würde ihn dir gerne zur Seite stellen, um dir den Übergang zurück zu erleichtern. Er ist nicht wie ein gewöhnlicher Kater. Mit seiner Hilfe wird es dir leichterfallen, das Wandeln zwischen den Welten zu meistern. Er gehört von nun an dir.“
Das weiße Tier mit braunen und schwarzen Flecken blinzelte sie frech mit seinen blauen Augen an. Er schien sich für einen Flummi zu halten, denn er hüpfte aufgeregt vor Inas Füßen auf und ab. Eines seiner Ohren hatte einen Knick, sodass es bei jedem Hüpfer wackelte. Offenbar hatte er schon lange darauf gewartet, endlich zu jemandem zu gehören.
Rektor Lohengrin reichte Ina die Hand. „Im Sommer, wenn die neuen Erstsemester in dieses Internat einziehen, wäre es mir eine Freude, dich und Owen hier willkommen zu heißen.“
Marnie grinste breit. „Ina! Bitte, bitte, bitte, sag ja, komm zu uns! Bitte, bitte.“
Es wirkte alles noch immer wie ein Traum, aus dem sie nicht aufwachte.
Die Mädchen bedankten sich höflich beim Rektor und schlenderten den Gang Richtung Schlossausgang entlang.
Marnie neigte ihren Kopf zu Ina. „Wenn du magst, zeige ich dir etwas vom Dorf und ein paar seiner Bewohner. Vielleicht fällt dir die Entscheidung, zur Academy zu wechseln, so leichter! Du kannst auch gern bei meiner Mutter und mir zu Hause übernachten.“
Ina atmete tief durch. „Es kommt mir alles so unecht vor!“
Ihnen voran hüpfte ein aufgeregter Owen, gefolgt von dem frechen Snowball, der sich ihnen anschloss, als die kleine Gruppe bei Archibald vorbeilief.
Der Drache zwinkerte Ina zu und flüsterte sanft: „Ich freue mich schon auf das neue Semester mit dir.“
Ina und Marnie traten aus dem Schloss hinaus auf den Innenhof, wo Ina kurz stehen blieb und sich umsah. „Wie ist es hier, wenn alles voll mit Schülern ist? Gibt es hier viele Machtkämpfe, Rangeleien und Mobbing?“
Marnie schüttelte den Kopf. „Klar sind nicht alle beste Freunde, es wird immer Gruppen geben, die sich gegenseitig nicht ausstehen können. Aber unsere kein Mobbing an der Olor-Montis-Regel wird sehr ernst genommen, dafür gibt es zweimal im Jahr das Luna-Fest, bei dem die Schüler ihre Streitigkeiten austragen.“
Sie gingen weiter durch den Torbogen des Eingangsbereiches, zwei Kutschen mit jeweils zwei großen braunen und schwarzen Pferden davor ihnen entgegen. Ina legte ihren Kopf schräg und zog eine Augenbraue hoch. „Die Hengste sind ja voll groß! Und wofür fahren die mit so riesigen leeren Fuhrwerken hinauf? Da passen ja locker elf Leute oder so rein!“
Marnie grinste. „Die pendeln hier vormittags bis zum frühen Abend im Stundentakt wie Busse für Touristen von der Academy ins Tal und zurück. Für die kräftigen Pferde ist der Weg so häufig am Tag zu anstrengend, weshalb die Kutschen seit ein paar Jahren elektrisch unterstützt sind, um die Tiere zu entlasten.“
Die Pferdekutschen positionierten sich seitlich der Academy an einem kleinen Platz mit Unterstand, der Ina an eine Bushaltestelle erinnerte.
Marnie lief auf das vorderste der Tiere zu und hielt ihm langsam ihre Hand hin. Ina machte es ihr nach und strich dem zweiten Hengst sanft über sein Maul, das um ein vielfaches größer war als ihre eigene Hand. „Dürfen wir mit denen ins Tal fahren? Da hätte ich richtig Lust zu. Ich bin noch nie in einer Kutsche gefahren!“
Marnie nickte und sprang mit einem Satz auf die Einstiegsstufe der Kutsche. „Na klaro! Komm!“
Die zwei setzten sich mit ihren tierischen Begleitern hinein und fuhren talwärts.
Marnie deutete auf den Platz, wo eigentlich ein Kutscher sitzen würde. „Die Kutschen sind in beiden Welten gleichzeitig unterwegs, deswegen ist es uns nicht möglich, die nichtmagischen Menschen und Kutscher, die gleichzeitig mit uns hier sitzen, zu sehen.“
Inas Augen wurden größer und ihr Unterkiefer klappte runter. „Wenn ich hier die Hand ausstrecke, könnte es sein, dass ich eigentlich jemanden berühre, der für mich nicht sichtbar ist?“
Marnie nickte zustimmend.
Es herrschte Stille, nur das Klappern der Hufe auf dem steilen Weg war zu hören. Die Kutsche brachte sie in langsamem Tempo an Wäldern und Häuschen vorbei. Im Hintergrund rauschte der Wasserfall, den sie bei ihrem Aufstieg unter der Brücke gesehen hatten, gedämpft vor sich hin.
Ina seufzte leise. Sie dachte an ihre Mutter, die sich sicher bald sorgen um sie machen würde, ihren Bruder, der wie ihr Vater gleich heimkommen müsste, und dass sie ihr bei einem Wechsel an die Academy fehlen würden.
Marnie kraulte Snowball den Kopf. „In der magischen Welt haben wir alles, was es auf der nicht-magischen Seite gibt, nur die Menschen bleiben uns verborgen. So ist es möglich, Fahrzeuge, Gebäude, Strom und Technik zu nutzen. Es ist nur etwas anders bei uns. Bücher aus ihrer Welt enthalten hier nur leere Seiten.“
Ina zog eine Augenbraue hoch. „Und wie ist es in Häusern? Lebt ihr dann mit den Möbeln der Leute die in der Menschenwelt dort wohnen?“
Marnie schüttelte den Kopf. „Nein, die können wir uns selbst einrichten, genau wie unsere Vorgärten oder Felder mit Magie selbst bepflanzen. Archie sorgt dafür, dass wir uns da nicht belästigen.“
Im Tal angekommen sahen sie, wie eine große lilafarbene Rauchwolke mitten im Tal aufstieg.
„Woher kommt das denn?“ Ina verzog erstaunt ihr Gesicht.
Marnie klatschte sich mit der Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Das ist Carla, sie hat garantiert wieder versucht, mit Magie zu kochen, es dann aber wie so oft vergessen! Sie ist unsere Reporterin und schreibt den Buschfunk - so heißt die Tageszeitung hier. Immer wenn ihr etwas Interessantes auffällt, ist sie zack, wusch und weg. Da kommt es schon mal vor, dass manches explodiert oder falsch-läuft, weil sie es auf der Feuerstelle vergessen hat.“
Sie hechteten aus der Kutsche und liefen auf die Rauchwolke zu.
Beim Näher kommen hörten sie ein: „Lalü, lala, lalü, lala der Löschzug ist schon da“ von einem jungen Mann, den sie mit einem Eimer zum Haus laufen sahen.
An der Feuerstelle direkt vor der Haustür sahen sie ihn den Behälter über dem qualmenden Kessel entleeren. Breit grinsend kehrte er zu seinem Heim neben dem Haus der Reporterin zurück.
Vor der Haustür der chaotischen Reporterin sah Ina ein kleines weißes Tier umherlaufen. Es bellte wie ein Hund, sah jedoch aus wie ein winziges Mischwesen aus Einhorn und pummeligem Dackel.
Owen fauchte bei dessen Anblick und sprang mit einem Satz auf Inas Schulter. Snowball hingegen rannte freudig auf das Tier zu. Ina wollte gerade nachfragen, was das war, da erklärte Marnie es schon von selbst.
„Das ist Wodan, das Haustier von Carla! Er war einmal ein kleiner Hund, der mit seinem Aussehen sehr unzufrieden war, woraufhin sie ihn mit einem Verwandlungszauber in ein Einhorn verwandelt hat. Oder sie hat es zumindest versucht.“ Marnie strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Leider sind solche Zauber unheimlich schwer und nicht umkehrbar, weshalb er nun aussieht wie ein winziges, etwas pummelig geratenes Fabeltier mit zu kurzen Beinen. Aber er ist glücklich, wie er jetzt ist.“
Ina schaffte es nicht, sich ein Grinsen zu verkneifen. Dieses Tier schien ihr tatsächlich sorglos zu sein.
Sie liefen durch eine kleine Dorfsiedlung, über schmale Gassen, die Ina an Spielstraßen erinnerten, und kamen an einem windschiefen Holzhaus an.
Marnie stieß die Tür auf, Snowball und Owen stürmten vor den Mädchen hinein, drehten ein paar Runden im Kreis unter Tisch und Stühlen hindurch und legten sich zum Abschluss vor den warmen Kamin.
Marnie brüllte durch das Gebäude: „Mama, ich hab Besuch mitgebracht!“
Staunend sah sich Ina im Haus um. Der Stil der Einrichtung wirkte ungewohnt auf sie. Die Wände waren mit Tarotkarten als Tapete beklebt, überall standen Gefäße mit Räucherwaren, auf denen Begriffe wie Drachenblut oder schwarzer Weihrauch zu lesen waren. Auf einem sah man die Abbildung eines Totenkopfes, darunter waren verschnörkelte Buchstaben mit der Aufschrift Vorsicht! Tollkirsche! Zu sehen, auf einem anderen las sie das Wort Alraune in roter Schrift.
Ina lief lieber einen Bogen um diese Gefäße. Im Flur hingen Reisigbesen von der Decke, in denen Glühbirnen steckten, die den Raum dezent ausleuchteten.
Eine große schlanke Frau die offenbar gebacken hatte, schritt mit einem angenehm duftenden Teller voller Kekse auf Ina zu. „Hallo, ich bin Belana! Ein Plätzchen?“ Sie hielt Ina die Kekse wie ein Kellner auf einer Feier unter die Nase.
„Freut mich Belana, ich bin Ina“, antwortete sie leise, es kam ihr merkwürdig vor, Erwachsene beim Vornamen zu nennen.
Belanas schwarze Haare waren vom Mehl bestäubt und fielen ihr vor die grünen Augen. Dankend nahm Ina einen Keks vom Teller und biss hinein. Sie hatte zu Hause nichts angerührt, weshalb ihr Magen knurrte.
Ina wischte sich ein paar Krümel von ihrem Pullover und begutachtete ein Holzbrett auf dem Wohnzimmertisch, auf dem Buchstaben und Zahlen eingebrannt waren.
Belana stellte den Teller auf dem Tisch ab. „Das ist ein Hexenbrett! Bist du neu hier in unser Dörfchen gezogen?“
Ina schüttelte den Kopf. „Mir ist gar nicht klar, wie ich überhaupt hergekommen bin“, antwortete sie schulterzuckend.
Belana lächelte. „Ach so, dann bist du eine Weltenwanderin.“
Marnie nahm sich ein Plätzchen. „Wir haben schon unser gesamtes Leben hier im magischen Land verbracht, deswegen sieht es hier eher nach einem traditionellen Hexenhaushalt aus. In dieser Welt müssen wir uns nicht verstellen, anpassen und verstecken.“
Die Eieruhr in der Küche klingelte. Belana sah zu Ina, bevor sie den Raum verließ, um die nächste Runde Plätzchen aus dem Backofen zu ziehen. „Fühl dich hier bei uns wie zu Hause.“
Ina setzte sich an den Tisch und spielte grüblerisch mit dem kleinen Holzplättchen, das auf dem Hexenbrett lag. Owen sprang auf ihren Schoß und sah ihr in die Augen.
Ina kraulte ihm den Kopf und seufzte. „Ach, wenn ich nur wüsste, was ich machen soll. Ob ich hier ein angenehmeres Leben hätte als daheim bei meinen Eltern und meinem Bruder, die mir immer wieder Mut machen, nicht aufzugeben?“
Marnie setzte sich zu ihr. „Du würdest dich hier bestimmt wohlfühlen! Gleich ist schon Zeit fürs Abendessen, möchtest du noch etwas bleiben und den Rückweg in deine Welt erst morgen antreten?“
Ina überlegte kurz und nickte dann. „Aber nicht lange, ich möchte pünktlich zum Frühstück bei meiner Familie sein.“
Belana stellte einen Teller belegter Brote auf den Tisch an und setzte sich zu ihnen. „Hast du Rektor Lohengrin schon getroffen?“
Ina nickte. „Er hat mir Owen geschenkt, um mir den Wechsel zwischen den Welten zu erleichtern.“ Ina spielte erneut mit dem Holzplättchen. „Was macht man damit?“
Belana beugte sich zu ihr, legte das Plättchen zurück und legte einen Finger darauf. „Wir lassen unsere Energie durch das Brett fließen, indem wir einen Finger auf das Plättchen legen, und können so Kontakt zu den Toten herstellen, die über die Buchstaben und Ziffern mit uns kommunizieren.“
Ina zog ihre Hand weg. „Oh, war es falsch, dass ich es berührt habe?“
Marnie schüttelte ihren Kopf. „Nein, da machst du so leicht nix dran kaputt. Es liegt bei uns immer auf dem Tisch, da es die einzige Möglichkeit ist, mit meinem Bruder Miro und Papa in Kontakt zu treten.“
Ina biss sich auf die Unterlippe. „Sind die beiden schon gestorben?“
Belana holte tief Luft. „Miro und Marnies Vater Salvador sind vor sieben Jahren im Kampf gegen Richard Manas, den gefährlichsten schwarzen Magier der Welten, ums Leben gekommen.“
Ina zog die Augenbrauen hoch. „Oh je, das ist ja traurig! Was ist denn ein schwarzer Magier? Es klingt ja unheimlich gefährlich, wenn sie bekämpft werden und Leute dabei sterben können!“
Belana wischte sich eine Träne von der Wange. Darüber zu sprechen fiel ihr offenbar schwer. „Es gibt Hexen und Magier, die sich schwarzer Mächte bedienen, um sich an Gräueltaten aus vergangenen Zeiten zu rächen. Bevor die Welten getrennt wurden, hat die Hexenjagd der Menschen unsere Gemeinschaft in Angst und Schrecken versetzte. Kinder sahen ihre Mütter auf dem Scheiterhaufen verbrennen.“
Ina saß mit gesenktem Blick am Tisch und lauschte Belana aufmerksam. „Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie ich mich da gefühlt hätte.“
Belana nickte. „Das war zum Glück vor meiner Geburt. Es gibt jedoch kleine Gruppierungen, die von schwarzer Magie angezogen wurden und Rache an den Menschen schworen. Die dunkle Macht vergiftete ihre Seelen und ließ sie keine Güte, Zuneigung oder Nächstenliebe mehr empfinden.“
Belanas Gesicht war ernst und traurig. „Richard Manas war eines der Kinder, die ihre Mütter verbrennen sahen und Rache schworen. Er wurde zum Mächtigsten aller Magier, bis er am 20. Dezember 1812 gefangen und in das Geschichtenbuch Kinder und Hausmärchen der Gebrüder Grimm verbannt wurde. Auf den Tag genau 200 Jahre später entkam er allerdings. Viele Hexen und Magier schlossen sich zusammen, um ihn mit vereinten Kräften wieder einzusperren. Leider gab es dabei viele Magiebegabte wie Salvador und Miro, die den Kampf mit ihrem Leben bezahlten.“
Eine weitere Träne lief Belana über die Wange, die sie rasch beiseite wischte. „Aber zum Glück verfügen wir über Magie, die es uns ermöglicht, uns nicht komplett zu verlieren.“
Alle saßen still am Tisch, in Gedanken versunken sahen sie zu, wie die Sonne sang und der Mond den Abend erhellte.
Ina gähnte. „Der Tag ist aber besonders schnell vorübergegangen!“
Marnie stand auf und brachte Ina in das Zimmer ihres Bruders. Der Raum wirkte, trotz der Jahre bewohnt, die seit Miros Tod vergangen waren. Auf dem Schreibtisch direkt am Fenster hatten eine alte Schreibmaschine und ein blinkendes Funkgerät ihren Platz. Ein Fernrohr stand gen Himmel geneigt direkt neben dem Fensterbrett. Die Wände waren mit Zeichnungen von weit entfernten Planeten versehen, die sich bis unter die Decke erstreckten. Viele kleine Lämpchen in der Deckenkonstruktion erweckten den Eindruck hunderter leuchtender Sterne.
Marnie strich mit ihrer Hand über die Schreibmaschine. „Unser Computer ist vor einigen Jahren kaputtgegangen, Miro fand das Teil eh blöd, er hat Briefe immer gern per Post verschickt. Es war nur praktisch für den Schulunterricht zuhause. Wir lernen hier bis zum vierzehnten Lebensjahr grundlegende Schulfächer von zu Hause aus, verbunden über ein magisches Netzwerk am Computer.“
Mit gesenktem Blick verließ sie langsamen Schrittes den Raum. „Miro fehlt mir manchmal sehr! Ich wünsche dir eine gute Nacht. Du findest mich direkt nebenan, wenn du etwas brauchst!“
Ina hängte ihre Jacke und Jeans an den Bettpfosten und legte sich in das weiche Bett, Owen sprang auf einen Stuhl, der danebenstand, und sah sie mit großen Augen an.
„Ach, nun guck nicht so! Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen wird! Wenn ich zu Hause bin, erwartet mich der Anpfiff des Jahrhunderts. Morgen früh ist Schule, Pünktlichkeit ist da Pflicht.“
Owen mauzte eine leise Melodie. Ein musikalisches Tier, dachte Ina in dem Moment, in dem sie eindöste.
Es war stockduster, als Ina aufwachte und auf ihre Armbanduhr sah. „Vier Uhr.“
Ina stand auf und schlüpfte in ihre Kleidung. Sie kraulte Owen sanft, um ihn zu wecken. Im Flur klopfte sie an Marnies Zimmertür, um ihr mitzuteilen, dass sie zurück in die Menschenwelt müsste.
Mit zerzaustem Haar öffnete Marnie ihre Tür. „Ist es schon morgen?“
Ina nickte. „So ziemlich, ist aber noch sehr früh. Trotzdem würde ich mich gern auf den Weg machen.“
Marnies Mundwinkel sackten hinunter. „Schade, dass du nicht länger bei uns bleibst. Ich versuche, dir beim Wechsel in deine Welt beizustehen. Viel kann ich zwar nicht tun, aber so bist du wenigstens nicht allein.“
Ina legte eine Hand auf Marnies Schulter. „Danke, das weiß ich zu schätzen.“
„Kommst du denn zurück und gehst hier zur Academy?“, fragte Marnie.