Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Omar Chajjam wurde Mitte des vorigen Jahrhunderts durch die berühmte Versübertragung des englischen Dichters Edward Fitzgerald zu einem bekannten Namen in England und in den USA. Vor dem zweiten Weltkrieg wurde er als solcher auch in Deutschland in verschiedenen Übersetzungen viel gelesen. Seither aber sind sein Poetisches Werk, das zum Schatz der Weltliteratur gehört, und seine Person zunehmend aus dem Bewusstsein des literarischen und der kulturellen Öffentlichkeit Europas verschwunden. Selbst seiner bemerkenswerten Leistungen in Mathematik und Astronomie, für die er zu seinen Lebzeiten allein bekannt war, gedenken wir heute kaum noch. Seine Dichtung für die Leserschaft wiederzugewinnen, ist aber nicht nur von poetischem Interesse. Was selten gewürdigt wird, ist, wie sehr Chajjam in seinen Gedichten auch eine pointierte Welt- und Lebensauffassung ausbreitet, in der sich Lebensfreude, Ironie, religiöse und weltanschauliche Skepsis sowie eine Lebens- und Existenzphilosophie zu einer beispielhaft selbstbestimmenden liberalen Welt- und Lebenshaltung verbindet. Seine kühnen Ideen, seine unerhörte Freimütigkeit, seine Aversion gegen Heuchelei, seine Lust an der Provokation, seine beißende Satire, seinen scharfen Witz sowie die tiefe Humanität seiner Texte sind aktueller als je zuvor. Chajjam spricht vom Werden und Vergehen, von der Selbstgestaltung und der Selbstbefreiung des Menschen, von Liebe und Freundschaft, vom Leiden der Welt, von Schmerzen und von der Lust, vom Genuss des Augenblickes, von heiterer Muse und Gelassenheit, von Traum und Trunkenheit, vom Respekt vor der Natur und von der Begrenztheit allen Lebens. Die hier vorgelegte Edition bietet nicht nur eine gründliche und den Inhalt möglichst getreu wiedergebende Ausgabe, sondern enthält darüber hinaus eine umfangreiche Einleitung und einen detaillierten Kommentar. Sie trägt damit zum einen dem Sachverhalt Rechnung, dass Chajjam aus dem Bewusstsein der Gebildeten herausgefallen ist und dem Publikum neu vorgestellt werden muss. Zum anderen war es die Absicht des Autors, den philosophischen Gehalt und damit den Ernst der Chajjamischen Lebensauffassung durch die Ironie und Heiterkeit seiner Texte hindurch begreiflich werden zu lassen. Es sind schon viele Bücher über Chajjams Rubaijat geschrieben worden, keines jedoch mit dem Ziel, seine Lebens- und Existenzphilosophie zu erfassen und zugleich die Relevanz seiner kritischen Haltung für die Gegenwart wiederzugewinnen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 303
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Erster Teil
Lebensweg
Zweiter Teil
Chajjam als Dichter
I. Das Rubaijat
II. Dichterische Motive de Rubaijats
1. Dichtung als Selbstbefreiung und Weltverwandlung
2. Dichtung als Subversion
3. Dichtung als Ausdruck des Magischen
4. Unbeständigkeit des Daseins
5. Leben im Hier und Jetzt
Dritter Teil
Chajjams magisch-philosophische Dichtung
I. Aufeinanderfolge der Magie und Philosophie
1. Die Anschauung der magischen Welt
2. Die Anschauung der philosophischen Welt
II. Kernelemente der Chajjamischen Philosophie
III. Chajjams Lebensphilosophie
IV. Das Verhältnis von der Welt und vom Menschen
1. Die Wirklichkeit als beständiger Fluss
2. Grundsätze des Chajjamischen Skeptizismus
3. Freiheit und die schöpferischen Lebensformen
3.1. Die Rend-Gestalt und die Selbst-Evidenz
3.2. Die Besinnung auf das Innere
3.3. Die Leibhaftigkeit
3.4. Das Verhältnis des Selbst zum Ich
4. Erlebniswelt von Traum, Rausch und Natur
4.1. Der Traum
4.2. Der Rausch
a) Der Wein
b) Die Musik
4.3. Die Natur
5. Spiel, Kunst und Schein
5.1. Das Spiel
5.2. Die Kunst und der Schein
6. Der Augenblick
7. Die ewige Wiederholung des Gleichen
8. Das Schicksal
Schlusswort
Vierter Teil
Das Rubaijat
I. Formen der Weltbetrachtung
II. Der Rend und der Freiheitsdrang
III. Wein und Rausch
V. Vergänglichkeit des Daseins
IV. Augenblick und Ewigkeit
VI. Freude, Liebe und Naturerlebnis
VII. Entsetzlichkeit und der Schrecken des Seins
VIII. Humor, Ironie, Satire und Spott
IX. Schlusswort des Dichters
Anhang
Anmerkungen und Erläuterungen
Zum ersten Teil
Zum zweiten Teil
Zum dritten Teil
Zum vierten Teil
Literaturverzeichnis
Omar Chajjam ist einer der bedeutendsten Dichter Persiens aus der Zeit der klassischen Dichtung des Orients. Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde er durch die berühmte Versübertragung des englischen Dichters Edward Fitzgerald zu einem bekannten Namen in England und den USA. Vor dem zweiten Weltkrieg war er als solcher auch in Deutschland wohl bekannt und wurde in verschiedenen Übersetzungen fleißig gelesen. Seither aber sind sein Werk und seine Person zunehmend aus dem Bewusstsein des literarischen und der kulturellen Raums Europas verschwunden. Selbst seiner bemerkenswerten Leistungen in Mathematik und Astronomie, für die er zu Lebzeiten allein bekannt war, gedenken wir heute kaum noch. Seine Dichtung wiederzugewinnen, ist aber nicht nur von poetischem Interesse. Was selten angemessen gewürdigt wird, ist, wie sehr Chajjam in seinen Gedichten auch eine pointierte Welt- und Lebensauffassung ausbreitet. Wir haben es in Chajjam nicht nur mit einem Dichter zu tun, der schonungslos und mit schneidender Kritik den überkommenen Zeitgeist angreift, sondern auch mit einem Philosophen, dessen Gedankenmotive lebens- und existenzphilosophische Relevanz besitzen. Der Zweck der Neuherausgabe der Chajjamischen Gedichte besteht somit auch darin, Grundgedanken der in ihnen enthaltenen Lebens- und Existenzphilosophie herauszuarbeiten und ihre Aktualität zu zeigen. Zudem soll das „Magische“ an der Chajjamischen Poesie herausgearbeitet und dessen Einwirkung auf sein Denken hervorgehoben werden. Schließlich ist es auch ein Ziel dieser Ausgabe, die Kritik an einer rein wissenschaftlichen Weltbetrachtung, die Chajjam schon vor fast tausend Jahren geübt hat, in ihrer Bedeutsamkeit für unsere Zeiten erkennen zu lassen und sie der allgemeinen Wissenschaftsgläubigkeit gegenüberzustellen. Chajjam betont oft, dass sich aus den Naturwissenschaften sowie aus metaphysisch-religiösen Einstellungen alleine eine sinnvolle Weltbeschreibung nicht gewinnen lässt. Wir dagegen leben in einer Zeit, in der die Wissenschaften und die Technologie alle Bereiche des Lebens zu durchdringen scheinen. Denkstil und Sprachspiel der Wissenschaften beherrschen geradezu den Zeitgeist. Als Wirklichkeit begreifen wir, was sie uns als Wirklichkeit vorsetzen. Sie etablieren oberste Prinzipien und universale Gesetze, um die Welt zu vereinheitlichen und mithin umfassend zu beherrschen. Doch die damit einhergehenden Folgen sind erschreckend. Beispielhaft dafür sind die Manipulierung, Uniformierung und Nivellierung der Gesellschaft, die Zerstörung der äußeren und die Unterdrückung der inneren Natur, der Verlust der persönlichen Freiräume und die Repression gegenüber Nichtangepassten sowie ihr Ausschluss aus der Mitte der Gesellschaft. Dem modernen Menschen ist dabei auch die Fähigkeit abhandengekommen zu erkennen, in welchem Maße sein Inneres von Funktionen der herrschenden Systeme unterwandert ist und dass er mit einem verobjektivierten und mithin instrumentalisierten Blick auf eine nur scheinbar entzauberte Welt schaut. Chajjams Dichtung vermag zu helfen, sich dessen bewusst zu werden. Die Chajjamischen Weisheiten vermögen dazu beizutragen, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten, eine neue Welt-Vision zu entwickeln und sich die Freiheit der Wahl zu alternativen Lebenswegen zu eröffnen.
In diesem Sinne soll das Buch dazu beitragen, Chajjam als einen ursprünglichen Denker zu vergegenwärtigen, dessen Ideen bis heute nicht hinreichend gewürdigt worden sind. Darüber hinaus soll mit diesem Buch sein Protagonist, die Gestalt des Rends, dem Leser nahegebracht werden, der zwecks Selbsterzeugung frei von Zwängen und Schranken leben möchte und sich nicht scheut, Unerhörtes zu verkünden. Und schließlich soll auch die Psychologie von Chajjams Dichtung sichtbar werden. Seiner spontanen Seelenkunde, mit der Chajjam die Tiefen des Menschen ausleuchtet und dabei uns zeigt, aus welch’ einer Fülle der Existenzmöglichkeiten unser Leben besteht, deren Realität sich durch Sinnesenergien und die Natur des Unbewussten erleben lässt, wurde bisher zu wenig Beachtung geschenkt.
Javid Kazemi, August 2022
Omar Chajjam erblickte wahrscheinlich im März 1045 in der Stadt Nischapur im Norden des Iran das Licht der Welt. Nischapur zählte zur Sphäre Chorasan. Chorasan bedeutet das Land der aufgehenden Sonne (daher der Ausdruck Orient). Chorasan bestand aus eine Region der heutigen Staaten wie Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. Für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung Chorasans war die Seidenstraße von wichtiger Bedeutung. Gelegen an der Seidenstraße, wurde Nischapur zu einem wichtigen Zentrum für Handel und Kulturaustausch. Diese sehr reiche, blühende und wohlhabende Stadt wurde durch den wütenden Einfall der Mongolen fast vollkommen zerstört. Heute existieren nur Überreste der alten Stadt. Das Leben von Chajjam fällt genau in diese Zeit der kulturellen Blüte. Im Jahr 1038 wird Iran von Nomaden, den türkstämmigen Seldschuken, angegriffen. Sie besiegen die arabischen Herrscher und machen zunächst Nischapur und dann Isfahan zur Hauptstadt ihres Imperiums. Die Seldschuken waren mit der persischen Kultur und Sprache gut vertraut. Sultan Alp Arslan der Gründer des Seldschukenreiches interessierte sich sehr für die persische Kultur und Sprache, er machte den genialen und hochgebildeten Staatsmann, den 40-jährigen Perser Nisam-ol-Molk1 zu seinem Großwesir oder besser gesagt, zu seinem „Reichskanzler“. Er führte das Persische als Amtssprache am Hofe des Sultans ein und errichtete überall ein anspruchsvolles Bildungssystem, unter anderem in Nischapur. Vor allem sei hier die Errichtung der berühmten, nach ihm selbst benannten Hochschule „Nizamiya“ in Bagdad2 erwähnt. An der Nizamiya Universität bei Nischapur wurde Philosophie und Naturwissenschaften gelehrt. Einer ihrer hervorragenden Studierenden war der junge Chajjam. Er ging nach Mesopotamien und setzte sein Studium an der Nizamiya Universität bei Bagdad fort, dort fiel seine außergewöhnliche Begabung besonders auf, und es dauerte nicht lange, dass sein Name in aller Munde war. Nach Beendigung seines Studiums ging Chajjam auf Einladung von Nizam-ol-Molk nach Isfahan3. In Isfahan herrschte Malek Schah, der mächtigsten Herrscher des Seldschukenreiches. Chajjam genoss an seinem Hofe großes Vertrauen. Der König schätze Chajjam so sehr, dass er für ihn ein Observatorium bauen ließ. Weitere Städte, in denen Chajjam wirkte, waren Buchara und Zamarkand4, wo er die Algebra schrieb sowie die antike Stadt Balch5, die er sehr bewunderte.
Chajjam genoss als Universalgelehrter große Anerkennung. Er trat vornehmlich als Mathematiker, Astronom und Philosoph in Erscheinung. Er verfügte über ein großes Wissen aus den verschiedenen Kulturkreisen und war er in östlicher wie westlicher Philosophie gut bewandert. Seine wissenschaftlichen Leistungen waren für die damalige Zeit bahnbrechend. Er führte in die Geometrie und Algebra neue mathematische Lösungen ein, die bis in die Neuzeit hineinwirkten. Er war neben Mathematik stark an der Astronomie interessiert. Er ließ astronomische Instrumente konstruieren, ordnete Messungen und Beobachtungen an. Er nahm selbst an Forschungsarbeiten teil und kontrollierte sie streng und war auf höchste Perfektion bedacht. Mit ihm beginnen im Grunde die Zeitalter der wissenschaftlichen Astronomie, die durch Eroberungszug der Mongolen nicht weitergeführt werden konnte. Er erfasste die komplexe Laufbahn der Gestirne genauer als alle seine Vorgänger. Ferner ging er davon aus, dass die Erde als eine in sich im Weltall bewegende und um die eigene Achse drehende Scheibe oder Kugel darstellt. Im Auftrag von Malik Schah erarbeitete er auch einen neuen Kalender. Dabei berücksichtigte er die Sonnen-Jahre und nicht die Mond-Jahre der islamischen Zeitrechnung. Der Kalender, den Chajjam schuf, war viel präziser als gregorianische Kalander, den fast alle Europäischen Länder seit dem sechzehnten Jahrhundert gebrauchen. Damit versetzte er die Astronomen seiner Zeit in Staunen. Der neue Kalender besiegelte damit den Ruhm des Chajjams endgültig. Seinen weltweiten (Nach-) Ruhm verdankt Omar Chajjam jedoch seinem Rubaijat. Sie bestehen aus vierzeiligen Sinnsprüchen bzw. Gedichten. Warum Chajjam grade das Rubaijat als Form der Dichtung genutzt hat, wird uns später beschäftigen. Hier ist dazu nur so viel zu sagen, dass sie eine unvergleichbar scharfe Kritik und Skepsis und einen zuweilen offenen, zuweilen versteckten Stachel der Satire, der Ironie und des Spotts besitzt. In seiner Dichtung zeigte sich Chajjam somit auch als Humorist, der seinesgleichen suchte. Er griff in seinen Texten nicht nur schonungslos die lebensfeindliche Haltung der Orthodox religiösen an, sondern unterzog auch die ethisch-moralischen Grundhaltungen der abrahamitischen Religionen einer radikalen Kritik. Über Gott lassen sich demnach keine objektiven Erkenntnisse erlangen, weder durch Begriffe, noch durch Dogmen. Beeindruckend ist zugleich die veränderte Stimmung und Blickrichtung Chajjams hinsichtlich der Philosophie und der Naturwissenschaften. Mit großer Hellsichtigkeit misstraute er auch der Wissenschaft darin, ein objektives Bild von der Welt zu gewinnen, die Geheimnisse der Welt zu ergründen und in den Kern aller Fragen, die der Mensch sich im Hinblick auf sein eigenes Dasein und das Universum stellt, vorzudringen. Mathematik und Physik können letztlich kein klares und überschaubares Bild der Welt und der Wirklichkeit geben. Was der Mensch erfassen kann, ist nur das Äußere und die stumpf mechanischen Zusammenhänge. Der geheimnisvolle Vorhang, der das Weltgeschick verhüllt, bleibt uns für immer verschlossen. Daher lautete eine lakonische Bemerkung von ihm: auch der Meister bleibt schließlich ein Lehrling. Chajjam widersprach somit der Auffassung seines Lehrers Ibn Sina6 (Avicenna), genannt „Fürst der Philosophen“. Ibn Sina, der in Isfahan Medizin und Philosophie lehrte, vertrat eine rationalistische Weltanschauung. Er ging davon aus, dass der Mensch als denkender Geist zu immer höheren Erkenntnissen aufsteigen und das ewige Sein, also die Weltvernunft, erfassen könne. In einem Punkt folgte freilich Chajjam Ibn Sina. Ibn Sina war nämlich der erste Mediziner, der von dem engen Zusammenhang zwischen der körperlichen und seelischen Seite des Menschen ausging und der dabei entdeckte, dass viele Krankheiten auf Störungen dieses Zusammenhangs zurückzuführen sind. Ibn Sina unterschied in diesem Zusammenhang zwischen einem offenen Antrieb, dessen sich der Mensch bewusst ist, und einem verhüllten Antrieb, der in der Tiefe der Seele verborgen ist. Das Verborgene, das sichtbar werden will und soll, wird verdrängt. Dadurch entsteht im Menschen Frust, Beklemmung, Lustlosigkeit, Unzufriedenheit, kurzum Unbehagen. Ibn Sinas Psychologie wurde jedoch Jahrhunderte hinweg vernachlässigt. Er nahm im Grunde vieles von dem vorweg, was heute die Grundlage der modernen Psychologie darstellt. Chajjam war es, der die von Ibn Sina ins Bewusstsein gerückten Befindlichkeiten der Seele aufgriff und sie in seiner Poesie integrierte. Chajjam lebte in einer zutiefst beunruhigen Zeit. Zum einen besaßen Kreuzfahrer einen Teil des Orients. Das unvorstellbare Ausmaß an Gemetzel, Gräueltaten und Brandschatzen, die sie im Namen des Christentums begangen hatten, versetzten die Orientalen in Angst und Schrecken. Sie fühlten sich ernsthaft in ihrer Existenz bedroht. Um sich gegen die Kreuzzüge verteidigen zu können, war für sie die innere Einheit das höchste Gebot, welches sie nur auf dem Grund eines festen Glaubens an die vom Islam vorgeschrieben Gebote und Verbote sicher sein zu können glaubten. Ferner kam für Chajjam zu dieser Katastrophe ein zweites Ereignis mit religiösen Hintergründen hinzu. Blindwütige Anhänger der Ismaeliten, einer Sekte, die während des Widerstandes gegen die Kreuzzüge entstanden war, töteten den weltoffenen und kunstfreudigen Nisam-ul-Mulk. Vier Wochen später gelang es ihnen auch, den 37jährigen Malek Schah durch Vergiftung zu ermorden. Damit verlor Chajjam seine wichtigsten Gönner, zu denen er eine freundschaftliche Beziehung gepflegt hatte. Diese Ereignisse gefährdeten auch zunehmend den Zusammenhalt des Seldschukenreiches. Denn anstatt mit Kraft und Entschlossenheit gegen die von außen drohenden Gefahren vorzugehen, mussten mehrjährige Kämpfe um die Thronfolge ausgetragen werden. Dabei sahen die orthodoxen Glaubensgelehrten, die Chajjam wegen seiner Welt-Zugewandtheit und wegen seines Verlangens nach der Rückerinnerung an eine vergessene und unterdrückte Tradition mit Zorn und Argwohn beobachtet hatten, ihre Zeit gekommen, Chajjam zu brandmarken und die in Unruhe geratene Masse gegen ihn aufzuhetzen. Vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse dieser Zeit ist daher auch seine ablehnende Haltung gegenüber den Religionen zu verstehen. Chajjam war weise genug, um zu wissen, dass die Zeit gegen ihn stand. Daher zog er sich mit dem Bewusstsein zurück, dass es um ihn einsam werden würde, und wandte sich einer ästhetischen Lebensweise zu. So gelang es ihm, in einer friedlosen und unruhigen Zeit den inneren Frieden zu bewahren, der drohenden Gewalt mit Weisheit zu begegnen und die verbleibende Lebenszeit mit Bescheidenheit, Ruhe und Gelassenheit zu verbringen, dabei unermüdlich den eigenen Weg zu bestreiten und unerschütterlich an seinem Stolz, an seiner Hochstimmung und geistigen Freiheit festzuhalten. In dieser Phase seines Lebens entstand seine Dichtung, die in privaten Kreisen zirkulierte und berühmte Dichter Persiens inspirierte. Es war vor allem Hafis7, der Chajjams Gedanken in seiner Poesie aufnahm. Dennoch blieben seine Rubaijat vor der großen Masse Jahrhunderte lang verborgen. Als Philosoph, Astronom und Mathematiker wurde er allerdings weiterhin bewundert. Als Chajjam dann in Europa im 18. Jahrhundert entdeckt wurde, war die Zeit noch nicht reif für das Verständnis seiner Poesie, die der Sinnlichkeit huldigte, die sich mit Fragen von existenziellen Bedeutung beschäftigte und damit die Zerrissenheit und Ausweglosigkeit des menschlichen Leben vor Augen führte, die darüber hinaus die überlieferten religiösen Dogmen und Konzepte der drei monotheistischen Religionen gleichermaßen radikal in Frage stellte, verspottete und scharf angriff und zugleich dem wissenschaftlichen Denken vorwarf, keine Antworten auf die Fragen zu geben, die dem Leben entspringen, sondern allenfalls Scheinlösungen vorzulegen. Erst ab dem 19. Jahrhundert war in Europa der geistige Nährboden für die Poesie eines freiheitlich revolutionären Dichters einigermaßen reif. Ihm wurde jetzt Bewunderung und Anerkennung entgegengebracht. Von hier aus strahlte sein Ruhm in den Orient zurück. Als Zeichen der Verehrung und Wertschätzung gab man dem außergewöhnlichen Dichterphilosophen Omar Chajjam nunmehr den Beinamen „Hakim“, was „Weiser“ oder „souveräner Denker“ bedeutet.
Chajjams Gedichte sind - wie angedeutet - in Form von Rubaijat (Vierzeiler) erfasst. Rubaijat sind die älteste Dichtkunst im persischen Kulturkreis, und das Wort bedeutet übersetzt „vierstrophiges Lied“. Im deutschsprachigen Raum wird es als „vierzeiliger Sinnspruch“ oder einfach als „Vierzeiler“ bezeichnet. Von den vier Strophen werden die erste, die zweite und die letzte durch den Reim verbunden. Oft werden sie mit dem gleichen Wort gereimt. Die dritte reimlose Strophe dient als Steigerung und löst sich auf in die vierte Strophe, die eine besondere Pointe hat und den Höhenpunkt des Rubaijats darstellt. Sie zieht zudem die Konsequenz aus den vorherigen Strophen. Zur weiteren Eigentümlichkeit des Rubaijats gehört die gedrängte Länge (höchsten vierzehn Silben im Vers), die eine hohe gedankliche Konzentration erfordert. Es lässt folglich keine Weitschweifigkeit der Wortbildung zu, zumal der mitzuteilende Gedanke vollständig und ganz mit dem Ende der vierten Strophe seinen Abschluss finden muss. Um der erforderten Gedrängtheit der Gedanken gerecht zu werden, müssen sie fein geschliffen sein und zugleich aus Bildern und Metaphern bestehen. Sinnsprüche in der Gestalt vom Rubaijat eignen sich hervorragend zum Auswendig-Lernen und können entsprechen bei jeder Gelegenheit wie aus dem Stehgreif rezitiert werden. Daher gehört das Rubaijat zu der beliebtesten und volkstümlichsten Dichtkunst im persischen Sprachraum. Die Anziehungskraft und die sprachlichen Feinheiten des Chajjamischen Rubaijats kann nicht einmal annähernd in die deutsche Sprache übertragen werden. Ebenfalls gehen bei der Übersetzung der originale Rhythmus sowie die Melodie, aber auch die Leichtigkeit und die Flüssigkeit, die jeder Vers des Rubaijats auszeichnet, teilweise verloren. Wir finden bis heute keine Übersetzung, die das Höchstmaß an Stil und Form des Rubaijat wiedergeben könnte. Wie der Dichter Nizami zu Recht sagte, Dichtung ist im Unterschied zur Sprache der Wissenschaft unübersetzbar. Jede Übertragung ist nur ein Abglanz des Originals. Gleichwohl wurde bei der Übersetzung, soweit irgend möglich, der Versuch unternommen, die Stilhöhe und mithin den literarischen Rang des Originals wieder zu geben. Bilder, Gleichnisse, Metaphern etc. wurden in der Regel nicht angetastet. Klangspiele wurden nach Eventualität nachgeahmt oder durch Verwandtes ersetzt. Allerdings wurde nicht immer die strenge Regelung des Rubaijat beachtet. Bei manchen Rubaijat wurde zum Beispiel den beiden ersten und den beiden letzten Zeilen je einen gemeinsamen Reim gegeben. Zudem musste der Text an einigen Stellen, soweit zumutbar, ganz neu gestaltet werden. Denn das metrische Gerüst der Strophen, wie oben gesagt, ist sehr kurz. Nicht selten werden Metaphern etwa übereinander geschichtet und Hilfswörter weggelassen, um ein Maximum an Aussagen zu gewinnen.
Bevor wir uns genauer mit den Motiven seiner Dichtung beschäftigen, gehen wir der Frage nach, warum das Rubaijat einer der berühmtesten und beliebtesten Bücher wurde und nach wie vor im Orient ungeheure Popularität genießt. Auf diese Frage gibt es zunächst eine einfache Antwort: Es ist die leidenschaftliche und gefühlsbetonte Stimmung, die Chajjam ausdrückt. Sie spricht eigentlich jeden an, es geht um die menschliche Verfassung und die schmerzliche Ironie sowie die Erkenntnis: das Leben ist kurz, wir haben nicht lang zu leben, keiner bleibt, ein Jeder vergeht, also lasst uns das Leben bejahen und es genießen! Auf diese erste, auf der Hand liegende Erklärung, muss eine weitere folgen, nämlich der Verweis auf seine besondere Gabe, die existenziellen Tiefen und die Komplexität des Inneren der Menschen zu begreifen. Es hängt auch mit der Vielfalt der heterogenen Bilder und Gleichnisse, die seines Gleichens sucht, aber auch die gedankliche Tiefe und Klarheit, die kühnen Ideen, die unerhörten Freimütigkeit sowie die Aversion gegen die Heuchelei, zusammen. Es sind schließlich die Ironie, stichelnde Kritik, hemmungslose Provokation, reizbare Satire sowie scharfer Witz.
Insofern können wir sagen: die Motive der Chajjamischen Poesie sind umgreifend und von grundsätzlicher Art. Sie richten sich nicht nur auf Ausschnitte des Daseins, sondern haben dessen Ganzheit im Blick. Daher unterscheidet sich Chajjam auch von den verspielten Scheindichtern, die sich einer verbrauchten Sprache bedienen, oder Dichtern, die sich an den durch Erfahrung wahrzunehmenden allgemeinen Gesetzen und Regeln der Wirklichkeit orientieren, also Mimese und Nachahmung betreiben.
Chajjam will uns in das schöne Reich der Phantasie und des Traumes, in die ursprüngliche menschliche Urkraft und in die inneren Stimmen der Natur versetzen und zwar mit dem Ziel, uns im Interesse eines selbst gewählten und selbstbestimmten Lebens von äußern Hindernissen bzw. Zwängen zu befreien. So empfiehlt er uns, die Freiheit als etwas Primäres in Gedanken fest zu verankern und als Hauptquelle des menschlichen Daseins zu verinnerlichen. Einen solchen Grundgedanken finden wir zum Beispiel in folgenden Gedichten:
Gebe dich einen Augenblick hin der Stimmung der freien Natur,
So bist du ohne Furcht, selbst wenn dir Zwänge drohen auf deiner [Lebenstour.
Lebe mit Menschen von beschwingter Geisteskraft und vergesse nicht:
Das Leben gleicht dem Staub, dem Wind, dem Nebel und einem Hauch nur.
Solange du in deinem Körper Knochen, Adern und Haut hast,
Halte dich unbeirrt an den Säulen deines Schicksals fest!
Niemand beuge dein Haupt, wäre er auch der Rostam:
Die Gunst des Freundes vermeide, wäre sie selbst von Hatam.
Die Natur dient hier als Antriebskraft. So soll der Mensch die Wirkungskräfte der Natur mit seinem Geist verschmelzen lassen, um immerfort standhaft bleiben zu können. Mit Rostam ist hier der größte und vollkommenste Held der afghanisch-iranischen Epos „Schah-Namah“1 (das „Buch der Könige“) gemeint. In seinem Mut und seiner Stärke galt er als unvergleichbar. Seine Treue zum Land und seinem König und die Reinheit seines Denkens waren sprichwörtlich. Hatam, der eigentlich Hatim at-Tai heißt, war hochberühmter Dichter und ein Stammeshäuptling aus früharabischer Zeit. Er verkörperte Gastlichkeit und Hilfsbereitschaft. Seine allumfassende Großmut, sagt man, kannte keine Grenze. Der stolze und freie Mensch beugt also niemandem sein Haupt, selbst wenn er auch Rostam oder Hatim at-Tai vor sich hätte, sagt uns Chajjam. So wird die Freiheit als notwendiges Attribut der menschlichen Würde aufgefasst und ihr das Wesenselement des menschlichen Schicksals beigewohnt.
Chajjam sucht das Leben nicht nur in der frei gewählten und gestalteten Existenz selbst. Seine Sprache läuft zugleich auf eine andere Weltdeutung hinaus. Sie will ja die Welt im Ganzen verwandeln:
Verfügte meine Hand wie die des Schöpfers über das Himmelszelt,
Würde ich forträumen diese Kuppe über unserer Lebenswelt
Und würde eine neue Erde erschaffen,
Wo der Freie die Erfüllung seines Wünschens erhält.
Chajjam zeigt sich, wie oben gesehen, als autonom und ist selbst seines Handelns Vorbild. In dieser Haltung manifestiert sich, um es pointiert auszudrucken, das Subversive seines Denkens. Der Sinn seiner subversiven Haltung ist von doppelter Relevanz. Zum einen bedeutet sie das Niederreißen jeglicher Moralvorstellungen, die als Mittel der Bevormundung dienen. Zum anderen ermöglicht sie eine neue echte Lebensethik, die konträr zu alten Wertesystemen steht, die in sich selbst kein Ziel trägt, sich nicht auf unbedingte, unwandelbare Wahrheiten beruft. Eine solche Ethik will den Abbau eines erstarrten Denkens und möchte alle beharrenden Substanzen in bewegliche Daseinsformen auflösen. Es ist deshalb auch kein Wunder, wenn Chajjam ständig von Werden und Vergehen, von Bewegung und Wechsel, von ewigem Fließen spricht.
Das Subversive bringt Chajjam in der Gestalt des Rends am besten zum Ausdruck (R 32). Ohne sie wäre die Chajjamische Poesie schwer vorstellbar. Der Rend, mit dem wir uns im dritten Teil der Einführung noch genauer beschäftigen werden, dient als Symbol für einen unbändigen Freigeist und Freidenker. Er ist der strahlende Held, der im Stande ist, mit seinem Antlitz Licht in Dunkelheit jenes Denkens zu bringen, das sich starr an der Orthodoxie orientiert und abweichende Meinungen und Brüche nicht zulässt. Der Rend ist zugleich ein Individualist mit der Eigenschaft eines nicht greifbaren Vogels, der jenseits der gesellschaftlichen Konventionen lebt und mit leuchtendem und leichtem Gefieder darüber hinweg fliegt und alle Orte der Knechtschaft hinter sich lässt. Er ist ein Befreier seiner selbst und artikuliert sich in ihm Chajjams radikale Kritik an der herrschenden Moral- und Wertevorstellungen. Der Rend ist ferner der Wegbereiter für die Erschließung neuer Erlebnisbereiche, für die Erfassung neuer Denkhorizonte sowie für das Aufdecken ungenutzter Möglichkeiten. Daher soll sich der Mensch laut Chajjam die Eigenschaft der Rendan (=Plural von Rend) aneignen:
Solange du kannst, stehe den kühnen Rendan bei!
Die Pfeile des Betens und Fastens zerstöre dabei!
Komm mit dem alten Chajjam, lass den Weisen reden:
Atme Höhenluft, tue Gutes und lebe – wie ein Rebell – frei!
Chajjams Dichtung verrät aber zugleich, wie sehr er innerlich mit dem Magischen verbunden ist. Das Magische, mit dem wir uns im dritten Teil genauer beschäftigten, ist bei Chajjam die herrschende Idee in seiner Poesie, das Leitmotiv seiner Dichtung. Zum Magischen gehört insbesondere die Lust an der Verwandlung. Einige Beispiel sind hier anzudeuten:
Die Verwandlungsmöglichkeit sieht Chajjam im Eintauchen in die Natur. In seiner Dichtung stellt sie ein ausgebreitetes Spiegelbild der Seele und der weltumfassenden Kraft dar. Aus ihr gehen für ihn unmittelbar die wirklichen Quellen des Lebens hervor. Darum wird der Blick auf die Mannigfaltigkeit der Natur gelenkt. So findet Chajjam seine wahre Freude im Schatten der Rosen, auf der Blumenwiese, beim Mondschein und beim Sonnenaufgang, in Wolken und Regen, in Bächen und Gewässern. Ein ergreifendes Beispiel hier:
Von Himmelswolken rauschen die Regen, Wein-Rosen sind entzückt.
Bund leuchten alle Blumen, der Wiesengrund ist beglückt.
Lilien öffnen den Kelch, ich lasse den Wein fließen.
Wolken leuchten wie Veilchen, Jasminblüten sie ergießen, die Erde ist
[erquickt.
In diesen verschiedenen Stimmungen und Gefühlen, die die Natur vermittelt, wohnt für Chajjam das Magische inne. Elementar ist in diesem Zusammenhang, dass gleichzeitig aus seiner Naturpoesie ein freudiges Hochgefühl gegenüber der Welt emporsteigt:
Soweit ich blicken kann nach allen Seiten, ist ein Hochgenuss,
Durch die Landschaft rauscht der Kaussar-Fluss,
Selbst die Steppe strahlt jetzt wie Paradies – von der Hölle sprich nicht.
Genieß’ dieses Paradies mit deiner Himmelsschönen, das heiter ist und Licht!
Nach Chajjam bietet die Natur selbst, wie das Gedicht zeigt, eine paradiesische Atmosphäre. Deshalb stellt er den Fluss, der durch die Landschaft fließt, symbolisch mit dem im Paradies existierenden Quelle des Lebens, genannt „Kaussar-Fluss“ gleich. Da auf Erden also paradiesische Umstände bestehen, wäre es widersinnig, an Paradies und Hölle zu denken. Welcher Mensch, wie Chajjam an anderer Stelle bemerkt, hätte jemals Paradies und Hölle gesehen und wäre von dort zurückgekommen, um uns darüber zu berichten. Der Mensch soll sogar froh sein, nicht zu wissen, woher und wozu er kommt und wohin er geht. Er muss sich vielmehr der Natur zu wenden, um die Ruhe seiner Seele zu bewahren, um etwas von seiner Ursprünglichkeit zu erfahren, um den schöpferischen Geist seines Herzens und das eigentliche Verständnis seiner Seinsverfassung bewusst zu werden (R 41, 131, 136). Von diesem Standpunkt aus kann die ständige Verwandlung der Natur und die unmittelbare Erfahrung mit ihr als schöpferische Nachbildung und Verlebendigung von Seele und Geist angesehen werden. Darin liegt eine Verzückung, die ein neues, angstfreies Leben begründet. Chajjam will nicht nur genießen und Genuss schaffen, wenn er sich der Natur zuwendet. Er beabsichtigt auch, selber ein mannigfaltiger zu sein, er möchte die inneren und äußeren Schranken überwinden und grenzenlos werden in seiner Darbietung und Lebensanschauung.
Wie bei Chajjam wird auch bei Goethe der Bruch mit überkommen Autoritäten durch die freudige Hingabe an die lebendige und schöpferische Natur ersetzt. Das macht die Ganymed-Ode auf eindrucksvolle Weise deutlich:
Wie im Morgenrot
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne
Sich an meinem Herz drängt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne!
Daß ich dich fassen möchte’
In diesem Arm!
Ach, an deinem Busen
Lieg’ ich, schmachte,
Und deine Blumen, dein Gras
Drängen sich an mein Herz,
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind,
ruft drein die Nachtigall
Liebend nach mir aus dem Nebeltal.
Zur Teilnahme am schöpferischen Leben motiviert das Gedicht, indem es den Einzelnen in die beseelte Immanenz der Natur eintauchen lässt. Wie bei Chajjam erweckt Goethe auch die Liebe und Freude an der Mannigfaltigkeit des Kosmischen. So erheben sich aus den einzelnen Naturphänomenen die fördernde und verwandelnde Kraft und mithin entsteht das Gefühl eines neuen Lebens. Goethe entwirft also ein organisches Weltbild, das mit dem Chajjamischen ähnlich ist und die Definition, die Goethe dem Organischen gibt, macht dieses deutlich. Sie lautet: „Ein organisches Wesen ist so vielseitig an seinem Äußern, in seinem Inneren so mannigfaltig und unerschöpflich, dass man nicht genug Standpunkte wählen kann es zu beschauen.“2
Eine weitere Verwandlungsmöglichkeit sieht Chajjam in der „Verjüngung“ der Einstellung zum Leben. So soll die Erinnerung an die Tiefe und Fülle der Lebensfreude, die wir in der Jugendzeit und ihrem Zaubergarten erfahren haben, lebendig bleiben. So gesehen ist die Erinnerung an die Jugendzeit ein Spiegel der Rückbesinnung auf das Leben, die begleitet wird vom Gefühl einer frei erlebten Leidenschaft und Tiefe. Für Chajjam ist es vor allem das Wunder des Weines, womit wir uns im dritten Teil genauer beschäftigen werden, der die Verjüngung von Geist und Seele und damit eine neue Lebenslust bewirkt.
Trinke Wein, er gibt dir ein Leben für die Ewigkeit,
Er ist selbst Frucht und Genuss der Jugendzeit.
Es ist die Zeit der Rosenblüten, mit Wein im Freundeskreis.
Gib dich hin dem holden Augenblick, er ist die ganze Lebenszeit!
Auch der Anblick des Sakys hat für Chajjam etwas Magisches und vergegenwärtigt für ihn die Jugend. Der Saky ist die blühende junge Gestalt, die leichtfüßig ist, die musiziert, tanzt, lernbegierig den Meister begleitet und ihm den Wein einschenkt zur wahren Reinigung. Wie stark Chajjam von der jugendlichen Schönheit als Abglanz der magischen Herrlichkeit angetan ist, zeigt das folgende Gedicht:
O Saky, ein Jeder kennt meine Liebe zu dir, berüchtigt bin ich jetzt;
Meine Trunkenheit ist grenzenlos, sie spricht sich herum jetzt;
Trotz meines hohen Alters dein Rubin wie Wein mich trunken macht.
Du bist der Frühlingsschein, ich blühe neu, jung fühle ich mich – jetzt.
Das Magische sieht Chajjam auch in der Natur der Erotik und der Wollust. Sie stellen in seinen Gedichten ein Spiegelbild der Seele dar. Der erotische Trieb, der Liebesgenuss darf nicht unterjocht werden. Vielmehr gehört die Erotik zum Zauber der Lust, zum Abenteuer der magischen Verwandlung:
Komm Geliebte, lass uns trinken, wozu die Worte erklingen.
Deinen Mund, diesen Urquell des Lebens, möchte ich umringen.
O Schöne, du verwandelst mein Herz zu hellerem Schein.
Es atmet Wonne und Fröhlichkeit, wenn du tretest hier ein.
Stehe auf, o Abgott, um des Herzens Wünsche zu erfüllen.
Deine Augenweide löst all die Qualen.
Einen Krug mit Wein, ein gemeinsamer Trunk –
Bevor jene da aus unserer Erde Krüge herstellen.
Ein Krug Wein und ein gutes Liederbuch,
Ein halbes Brot zur Not für des Lebens Hauch,
Mich mit dir niederlassen in der Wildnis allein –
Dies könnte für uns ein wahres Paradies sein!
In der Chajjamischen Sinnlichkeit wird der Ursprung des Daseins lebendig, das heißt die Sinnlichkeit bzw. der Eros wird als Urquelle des Lebens wahrgenommen. So verdichtet sich sein ganzes Wesen nicht nur im Gefühl der körperlichen Berührung, sondern konzentriert auf den Genuss seiner Sinne und seiner Sinnlichkeit, auf Verwirklichung erotischer Wünsche und Phantasien, auf die Intensität seiner Gefühle und Leidenschaften. In diesem Erleben und Ausleben der Liebeslust offenbart sich unter anderem die Schönheit des Lebens und vollzieht sich die unmittelbare Erfahrung einer anderen Existenz. Die Hingabe an Sinnlichkeit und an Wollust wird also zu einer Kultur der Wärme und Sonne. Daher sagt auch unserer Dichter mit großer Emphase: „O Schöne, du verwandelst mein Herz zu hellerem Schein. / Es atmet Wonne und Fröhlichkeit, wenn du tretest hier ein.“ Hier erfährt Chajjam durch die Liebe eine erfühlte und lebensvolle Welt, die er dann als wahres Paradies bezeichnet. In vielen Weltanschauungen, die Neigung zu Dogmatismus und Intoleranz hatten, hatte weder die Liebeslust, noch die Frau einen berechtigten Platz inne und nicht weniger halten auch heute daran fest. Sie gingen voller Abneigung gegen Eros und Sexus vor. Insbesondere musste der Letztere unbedingt unterdrückt werden. Zudem wurde neben der Entfernung von der inneren Natur auch die Entfremdung der äußeren Natur durch Vernunftgläubigkeit erkauft. Um das zu überwinden, bejaht Chajjam den Eros und die die Natur als Grundlage der menschlichen Existenz. So will er nun ungehemmt in die Atmosphäre der Liebe und der Natur eintauchen, indem er sich mit seiner Geliebten in die endlose Weite der Wildnis begibt, wo die Unschuld der Natur und des Menschen zusammentrifft und einen neuen seelischen Aufschwung herbeiführen. Die Inbrunst der magischen Erlebnisse der Sinnenfreude geht also mit der Verehrung der Frau und des Naturerlebens eng einher, weil sie zur unerlöschlichen Eigenheit des Kosmischen gehören. Kurz: die Liebeslust wird zu einer direkten Offenbarung der lebendigen Natur selbst3.
Magisch ist Chajjams Poesie schließlich darin, dass sie die Selbstoffenbarung des Menschen widerspiegelt und sie zum Ziel hat, weil sie die Tiefen, die dunklen Regungen des Inneren, der Seele anspricht und sie in schöne Bilder übersetzt – dazu aber mehr im dritten Teil der Einführung.
Wir haben uns nun bereits mit mehreren in Chajjams Dichtung vorherrschenden Motiven befasst. Mit dem Klang der Lebensfreude und der Aufforderung, das Leben in vollem Umfang zu genießen, geht auch ein Gegenmotiv in seiner Dichtung einher, nämlich die Unbeständigkeit des Daseins. Das Bewusstsein davon hinterlässt bei Chajjam eine solche Schärfe und so umfassenden Einfluss, dass es seine Denkart und sein Weltbild durchgängig prägt. In freudigen, wehmutigen und schmerzhaften Gleichnissen bringt er sie zum Ausdruck. Von der Eigenartigkeit der ergreifenden und erschütternden Kraft dieser Bilder kann der Mensch sich kaum losbinden. Der Krug, den Chajjam im trunkenen Zustand zu Boden wirft, spricht zu ihm: einst war ich dasselbe wie du, du wirst auch sein, wie ich jetzt bin, und ein anderer Krug offenbart sein Geheimnis, dass er ehemals ein König war und von goldenem Becher trank und jetzt selbst dem Trinker zur Verfügung steht. Der Töpfer hat also Anlass genug, achtsam mit seinem Tone umzugehen, denn er könnte den Finger und die Hand von Königen auf seine Drehscheibe gebracht haben. Auch eine Tulpe ist möglicherweise vom Blut eines Königs, das Veilchen und der Wiesengrund vielleicht einem holden Mädchenauge- oder Antlitz entsprungen. Es ist nach Chajjam immer ein und denselben Kreislauf, dem der Mensch unterworfen ist. Ein sehr rührendes Bild von der Vergänglichkeit des Lebens zeigt uns das nachstehende Gedicht:
Dieser Krug war einst, wie ich, in der Freude der Liebe gefangen,
Hat in den Lockenringen der Geliebten gehangen.
Dieser Henkel, den du am Halse des Kruges siehst,
Ist eine Hand, die einst der Geliebten Hals umfangen.
Da niemand die Gewähr hat, über den Morgen zu verfügen,
Lasse uns mit träumendem Herz den Augenblick mit Freude genügen.
Trinke den Wein unter diesem Mondschein! O du mondengleich –
Der Mond wandelt ewig seine Bahn, Leben ist kurz auf dem Erdenreich.
Der Unbeständigkeit des Lebens bzw. dem Fluss der Zeit setzt Chajjam den Augenblick entgegen. Chajjams Augenblick besteht nicht aus einem Zeitmoment, in der sich Vergangenheit und Zukunft begegnen. Sie sind im Gegenteil für die gegenwärtigen Augenblick nicht bindend. Sehr oft betont er, dass es dem Menschen nicht nutzt, wenn er der Vergangenheit verhaftet bleibt und von der Zukunft sich beunruhigen lässt. Mit der Lebens- und existenzphilosophischen Bedeutung des Augenblicks beschäftigen uns genauer im nächsten Kapitel. Hier reicht es, folgendes festzustellen: Für Chajjam stellt der Augenblick ein Moment dar, in dem der Mensch die höchste und volle Heiterkeit seines Gemütes erreicht. Daher gilt es nach ihm, die Gegenwart ganz und voll auszukosten. So bezeichnet er den Augenblick als Frucht der Lebenszeit, als Quelle des Lebens (R 87, 90, 96) und als ausgezeichnetes Merkmal eines paradiesischen Lebens auf Erden (R 84, 100). Freude am Wein und Liebe, Begeisterung für Musik und Tanz und der Genuss der Natur erfahren daher ihre höchsten Entfaltungen in dem Chajjamischen Augenblick. Warum sollen wir all das, was im Paradies erlaubt ist, nicht schon im Hier und Jetzt auf Erden vollkommen erleben, fragt uns Chajjam. Dem Augenblick fällt also alles zu, was das Dasein lebenswert macht und ihm ein reines und freies Behagen sowie Schwung und Wagnis verleiht (R 33, 38, 40, 41). Es geht Chajjam folglich nicht nur um einen Hedonismus, sondern darüber hinaus um ein emphatisches Bekenntnis zu einem entfesselten Leben. Anstatt „mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausschließlich und immer beschäftigt zu sei, oder aber uns der Sehnsucht nach der
Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, dass die Gegenwart allein real und allein gewiß ist“, sagt Schopenhauer, „hingegen die Zukunft fast immer anders ausfällt, als wir sie denken; ja auch die Vergangenheit anders war; und zwar so, dass es mit beiden, im Ganzen, weniger auf sich hat, als es uns scheint. Denn die ferner, welche dem Auge die Gegenstände verkleinert, vergrößert sie dem Gedanken. Die Gegenwart ist allein wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte Zeit und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein. Daher sollten wir sie stets einer heitern Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche und von unmittelbaren Widerwärtigkeiten, oder Schmerzen, freie Stunde mit Bewusstsein als solche genießen, d. h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter über verfehlte Hoffnungen der Vergangenheit, oder Besorgnis für die Zukunft.“
Auch für Goethe ist der Augenblick die Lebenssumme und Verdichtung eines Erfahrungskosmos. Daher empfiehlt er: „Beharren Sie nur dabei und halten Sie immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“ Im West-Östlichen Divan spricht Suleika in heiteren Tönen:
Der Spiegel sagt mir, ich bin schön!
Ihr sagt: zu altern sei auch mein Geschick.
Vor Gott muß alles ewig stehen,
In mir liebt Ihn, für diesen Augenblick.
Und wir lesen in seiner Faust-Dichtung:
Solch ein Gewimmel möchte’ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn,
Zum Augenblick dürft’ ich sagen:
Verweile doch du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.
Ferner impliziert bei Goethe der Augenblick alle lebensnotwendigen Möglichkeiten. In ihm zeigt es sich, wie Goethe uns mitteilt, das Wunderbare schlechthin: “Das Wunder ist des Augenblicks Geschöpf.“4 Das genügt vorläufig. Wir werden uns in diesem Zusammenhang im dritten Teil noch einmal mit Goethe beschäftigen.