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Der Umzug nach Finnland sollte für die Zwillingsschwestern Julia und Lily ein Neuanfang sein, doch als Julia nach einem Autounfall ins Koma fällt, nimmt sie einen Teil von Lilys Seele mit sich. Die aufgeweckte junge Frau fällt in ein tiefes Loch aus Trauer und Einsamkeit, aus dem sie kein Entrinnen sieht. Bis sie den lebensfrohen Musiker Mika kennenlernt, der jeden Tag lebt, als wäre es sein letzter. Der Lily die schönen Seiten des Lebens zeigen und ihr Lächeln wiederbringen will ... Es handelt sich um ein gemeinsames Projekt mit der Autorin Sarah Stankewitz. (Die perfekte letzte Nacht) Beide Teile können unabhängig voneinander gelesen werden und handeln von anderen Charakteren. Durch Crossover sind beide Bücher miteinander verbunden. Eine Geschichte über Finnland, Musik, die Liebe, das Leben, neue Hoffnung und das Loslassen.
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Seitenzahl: 350
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Für jeden, der sein Licht verloren hat und erkennen musste, dass auch die Dunkelheit wunderschön sein kann.
Kapitel Eins
EIN ANFANG UND EIN ENDE
Kapitel Zwei
ZWEI MONATE OHNE DICH
Kapitel Drei
KÄSENACHOS UND TRÄNEN
Kapitel vier
EIN SILVESTERMAHL FÜR DEN KATER
Kapitel Finf
WEIL ICH ES WERT BIN
Kapitel Sechs
NORDLICHTER UND EINE GELBE MÜTZE
Kapitel Sieben
VALENTINSTAG
Kapitel Acht
12. MÄRZ 10:30
Kapitel Neun
BEERDIGUNG
Kapitel Zehn
EIN SCHLÜSSEL AUS SICHERHEITSGRÜNDEN
Kapitel Elf
NEUANFANG
Kapitel Zwölf
EIN UNGEPLANTER GASTAUFTRITT
Kapitel Dreizehn
EIN KUSS AUF DIE STIRN
Kapitel Vierzehn
EIN LETZTER KONTAKT
Kapitel Fünfzehn
ÜBERRASCHUNGSAUSFLUG
Kapitel Sechzehn
ROVANIEMI & RENTIERE
Kapitel Siebzehn
NEUE SCHRITTE GEHEN
Kapitel Achtzehn
WIESO WEINST DU? – WEIL ICH GLÜCKLICH BIN.
Kapitel Neunzehn
BIS ÜBER BEIDE OHREN VERLIEBT?
Kapitel Zwanzig
SEI WIE DER SKANDINAVISCHE HIMMEL!
Kapitel Einundzwanzig
UNSER … MEIN GEBURTSTAG
Kapitel Zweiundzwanzig
NEUES SHOPPINGINVENTAR
Kapitel Dreiundzwanzig
HOFFNUNG UND GLÜCK
Kapitel Vierundzwanzig
PERFECT
Kapitel Fünfundzwanzig
POLARLICHT
Kapitel Sechsundzwanzig
BLAUE LICHTER
Kapitel Siebenundzwanzig
WIEDER IM KRANKENHAUS
Kapitel Achtundzwanzig
MIKA
Kapitel Neunundzwanzig
SECHS MONATE SPÄTER
Kapitel Dreißig
DREI JAHRE SPÄTER
In meiner Vorstellung begrüßt Finnland uns mit Sonnenschein. Nur für uns, weil es sich so sehr über unsere Ankunft freut. Der Regen, den ich durch das kleine Flugzeugfenster sehe, belehrt mich eines Besseren. Gebannt sitze ich davor wie ein kleines Kind, umklammere den Rand und tue alles dafür, jeden Bruchteil unserer neuen Heimat in mich aufzusaugen.
»Rutsch mal!« Julias Kichern lässt mein Herz vor Freude explodieren. In den letzten Wochen war sie so sehr mit der Planung für unseren Umzug beschäftigt, dass ich sie oft nur noch müde und erschöpft erlebt habe. Ich lehne mich rüber und im Fenster erscheint ein beinahe identisches Spiegelbild zu meinem. Julia hat im Gegenzug zu mir ihre blonden Haare zu einem Zopf geflochten und trägt kein Make-Up. Die meisten würden uns nicht voneinander unterscheiden können. Ihre Augen leuchten, als sie das viele Grün sieht, das von beinahe noch mehr Blau unterbrochen wird.
»Das ist wirklich das Land der tausend Seen!«
Der Regen macht dieses Bild nicht weniger schön und ich bin mir sicher, ich werde heute Nacht von dieser Aussicht träumen. »Lass sie uns zählen! Ich beginne rechts, du links!«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass unser Sitznachbar über uns den Kopf schüttelt. Zugegeben für unsere 23 Jahre könnte man uns für kindisch halten. Doch ebenso muss ich zugeben, dass mir das sowas von am Arsch vorbei geht. Andere Meinungen interessieren mich nicht. Bis auf die von Jules und sie würde niemals schlecht über mich denken.
Als das Flugzeug weiter sinkt und wir die Sitze aufstellen, uns anschnallen und auf die Landung bereit machen sollen, haben wir 42 Seen gezählt. Ich reiche Jules einen Kopfhörer und suche Point Of No Return von Sunrise Avenue raus. Mit einem tiefglücklichen Lächeln lehne ich den Kopf gegen die Lehne, umfasse mit der linken Hand meine Armstütze und mit der rechten die Hand meiner Zwillingsschwester. 42 von 1000. Ich freue mich schon, alle irgendwann zu kennen.
Die Landung ist sanft und es gäbe keine bessere Stimme als die von Samu Haber, die uns hätte in Finnland willkommen heißen können. Während das Flugzeug zum Stehen kommt, die meisten unserer Mitpassagiere eilig aufstellen, drängen und schnellstmöglich flüchten wollen, lehne ich den Kopf gegen Julias Schulter und sie ihren gegen meinen. Synchron wippen wir mit den Beinen zu dem Song. Immer wieder. Bis wir die letzten sind und auch endlich unser altes Leben hinter uns lassen. Es sind nur ein paar Schritte, die uns vor unserem Traum trennen.
Der Wind, der uns entgegenschlägt, ist eisig und der Regen sogar noch kälter. Hand in Hand laufen wir die Treppe hinunter und unten angekommen, ziehe ich meine Schwester lachend an mich. Alles an diesem Land fühlt sich anders an. Als wäre es ein Hoffnungsträger. Ein Schritt genügt, damit es auch unsere Hoffnung trägt. Julia nimmt meine Hand und dreht mich im Kreis. Sie bewegt ihre Hüften und während wir immer wieder von Leuten beobachtet werden, tanzen wir uns zum Flughafen vor. Mit nassen Haaren und federleichtem Herzen.
Zuhause. Schlussendlich.
»Halt still!«, rufe ich Jules lachend zu, während ich versuche, die richtige Farbe für ihre neuergatterte Pudelmütze zu finden. Mit geschlossenen Augen dreht sie sich im Kreis. Wie immer haben wir Kopfhörer in den Ohren. Vor zwei Wochen haben wir uns Bluetooth Kopfhörer gekauft, damit wir auch auf eine kleine Entfernung immer dieselbe Musik hören können. Sie vertraut meinem Geschmack. Auch, wenn wir sonst sehr unterschiedlich sind, hat uns die Musik schon immer verbunden. Genauso wie die Kunst. Sie dreht sich schneller, als der Refrain von Junebug von Robert Francis mit all seiner Kraft anschlägt.
Ich sitze auf einem umgestürzten Baumstamm, der meine Hose binnen weniger Minuten vollkommen durchweicht hat und habe endlich den passenden Gelbton gefunden. Die ersten Pinselstriche auf einem leeren Blatt sind immer die aufregendsten. Sie entscheiden, ob das Bild am Ende rund ist oder nicht. Ob ich die Proportionen gut eingeschätzt habe oder improvisieren muss. Es ist jedes Mal ein Abenteuer. So, wie unser Umzug nach Finnland. Die Entscheidung war das leere Blatt, das Buchen des Fluges der erste Pinselstrich. Hinter Julia male ich einen graublauen Himmel, der unter der Last des darin sammelnden Schnees beinahe zu Platzen scheint. Die Wolken wirken schwer und tief.
Weil Jules nicht stillhält, male ich sie als bunten Schemen vor einer sonst ruhigen Stadt. Obwohl Helsinki in meinen Augen nicht düster und traurig wirkt, nutze ich hauptsächlich Grautöne, weil Jules buntes Wesen dadurch nur noch besser zum Vorschein kommt.
»Gestern Abend hat man Nordlichter sehen können«, erkunde ich sie und ziehe eine Schnute. Sie hält inne, richtet ihre Mütze und setzt sich neben mich. Schnell drehe ich das Bild weg, weil es noch nicht fertig ist und sie es bis dahin nicht sehen soll.
»Schwesterherz. Wir werden noch unzählige Male die Möglichkeit bekommen, dieses Spektakel zu sehen. Immer mit der Ruhe.«
Ich stecke das Zeichenpapier in meine Mappe, lege sie neben mich auf den Baumstamm und lasse mich rückwärtsfallen, bis ich mit dem Rücken auf dem nassen Gras lande. »Ich kann nicht fassen, dass wir jetzt wirklich hier sind. Es fühlt sich an, als hätten wir unser Leben lang nur auf diesen Moment gewartet und jetzt, wo wir hier sind ... «
»Ich weiß.« Julia wirft mir ein ruhiges Lächeln zu. Es fühlt sich unwirklich an. So, als wäre ein Traum in Erfüllung gegangen und man wisse jetzt nicht mehr, wovon man sonst noch träumen soll. Obwohl wir gleich alt sind, hat sie sich immer für mich verantwortlich gefühlt. Ohne Eltern aufzuwachsen, war nicht gerade einfach. Lind auch, wenn ich sie nie darum gebeten habe, hat sie das Ruder in die Hand genommen. Sie war es auch, die unsere Wohnung gefunden hat. Sie hat den Flug gebucht. Julia ist mein Schutzengel, seit ich denken kann. Die Sonne, die langsam hinter ihr unter geht, verleiht ihr einen Heiligenschein und mein Herz hüpft. Dieses Bild wird mir im Kopf bleiben. »Jetzt sind wir hier und das ist alles, was zählt.« Sie zuckt mit den Schultern. »Lass uns das hier genießen.« Sie schließt die Augen, lehnt sich nach hinten und stützt sich mit den Armen ab, um das Gesicht noch einmal der Sonne zuzuwenden.
»Okay. Einfach genießen.«
Little Things von One Direction begleitet meinen Streifzug durch die Wohnung, in welche Julia und ich vor zwei Monaten eingezogen sind. Während das Gemüse gemächlich auf der Herdplatte vor sich hin köchelt, bringe ich mein neues Tuch an der einen Schräge meiner Schlafzimmerdecke an. Lind das ganz ohne Hilfe. Ich bin verdammt stolz auf mich.
Das orientalische Muster passt perfekt zu dem gemütlichen Ambiente, das ich mir eingerichtet habe. Breit grinsend lasse ich mich auf meine Matratze fallen und breite die Arme aus. Endlich habe ich es geschafft. Mein Zimmer könnte glatt Pinterest entsprungen und ich nicht glücklicher sein. Überall brennen Kerzen in pastellenen Farben. An den Wänden hängen Bilder von Jules und mir, Zitate aus meinen Lieblingsbüchern und meine liebsten Aquarelle. Auch das Bild mit dem bunten Schemen vor Helsinki habe ich aufgehangen und mustere es genau. Hin und wieder fallen mir erst später Details auf, die ich vorher nicht bemerkt habe. Das Lachen zum Beispiel, das zwar nicht wirklich zu sehen ist, welches man jedoch mit jeder Faser seines Körpers spürt. Mit ausgestreckten Fingern greife ich nach meinem Hängestuhl, den ich leicht anstupse. Vor einem Jahr hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich irgendwann eine eigene Wohnung habe. Überwältigt von meiner Freude strampele ich kreischend auf dem Bett herum, ehe ich höre, wie das Wasser im Topf überschwappt. »Mist!« Schnell stürme ich barfuß die moderne Holztreppe herunter und laufe zur Kochnische, um das Schlimmste zu verhindern. Die Herdplatte zischt und dampft, und obwohl ich daran denke, dass ich gerade erst alles saubergemacht habe, weicht das Grinsen nicht von meinen Lippen. Mein Leben ist perfekt. Seit unserer Zeit in dem Kinderheim haben wir England nicht verlassen und jetzt können wir eine Wohnung in Helsinki unser Eigen nennen. Okay, die Wohnung ist nur gemietet und für zwei Leute eigentlich viel zu klein, aber das stört uns nicht. Ich sage immer, wir hätten uns im Bauch unserer Mutter die winzigste Wohnung der Welt geteilt, dann können wir uns auch mit dieser hier begnügen. Immerhin tritt hier niemand dem anderen das Knie in den Bauch.
Privatsphäre war unser Leben lang ein Fremdwort und auch jetzt ist es mir egal, weshalb ich Jules das kleine Schlafzimmer überlassen und mich für die offene Galerie als Schlafplatz entschieden habe. Genaugenommen liebe ich es. Ich liebe es, vom Bett aus alles im Blick zu haben, was wir uns aufgebaut haben. Von oben aus kann ich sogar durch die bodentiefen Fenster im Wohnzimmer schauen, die auch jetzt noch leichtes Licht von der Laterne davor hineinfallen lassen. Früher hatte ich große Schlafprobleme. Nachtangst und generelle Angst vor dem Schlafen, Albträumen und dem Alleinsein. Irgendwann haben die Betreuer gemerkt, dass es mir hilft, wenn Jules bei mir im Bett schlafen darf. Danach sind die Ängste verschwunden. In den ersten Nächten hier hatte ich Angst vor der Angst, doch bis auf Probleme mit dem Einschlafen, sind meine Nächte bisher ruhig geblieben. Wenn ich nicht schlafen kann, drehe ich mich zur Seite und beobachte den Schnee, der die Erde wie eine weiße Decke überzieht. Während in einigen Ländern schon eine einzige Schneeflocke den ganzen Verkehr lahmlegt und für Massenpanik sorgt, sind die Finnen diese Unmengen des weißen Zaubers gewöhnt. Bisher habe ich niemanden darüber fluchen hören oder Panik in den Augen der Autofahrer aufblitzen sehen. Für sie ist es normal und ich kann es kaum erwarten, dass es auch für mich zum Leben dazugehört. Bald bin ich eine echte Finnin und laufe mit kurzen Hosen im Winter durch die Gegend oder gehe Eisbaden. Der Gedanke gefallt mir.
Es war schon immer ansträngend, nach Beständigkeit im Leben zu suchen. Vor allem, wenn man in einem Kinderheim aufwächst. Jules und ich kamen mit drei Jahren dorthin. Zwillinge zu vermitteln ist offenbar eine ziemlich schwierige Angelegenheit. Einmal gab es ein junges Paar, das eine von uns adoptieren wollte. Wir waren gerade fünf Jahre alt und sie wählten Jules. Als Kind versteht man nicht, wieso man getrennt wird. Dass der andere die Chance auf eine Familie hat. War sie liebenswerter? Netter? Besser? Und man versteht erst recht nicht, wieso man nicht gemeinsam diese Chance erhält. Damals waren meine Ängste schlimmer denn je. Ich erinnere mich nicht an viel aus dieser Zeit, doch diese Angst steckt so tief in meinen Knochen, dass ich sie nicht vergessen würde. Heute noch erinnere ich mich an diese Leere in mir, diese unbändige Trauer, die nur fünf Tage anhalten musste, da das Paar sie wohl auch bei meiner Schwester bemerkt haben muss. Von da an gab es keine Interessenten mehr. Viele unserer Freunde gingen. Manche kamen zurück, doch die wenigsten haben wir je wiedergesehen. Auch unsere Betreuerinnen wechselten ständig. In diesem Heim gab es nichts, was an ein Zuhause erinnern könnte. Weshalb wir uns, als wir mit vierzehn Jahren erfuhren, dass unsere Eltern nicht aus London, sondern aus Finnland stammten, schnell einig waren, dass wir eines Tages nach Hause zurückkehren würden. Nichts hielt uns dort. Keine schönen Erinnerungen, keine Familie. Wir hatten nur uns und daran würde kein Ort auf der Welt etwas ändern. Also beschlossen wir, mit 18 Jahren auszuwandern. Ganz so geklappt hat das natürlich nicht, doch fünf Jahre nachdem wir das Heim verlassen durften, hatten wir genügend Geld gespart, um uns unseren Traum zu erfüllen.
In wenigen Minuten müsste sie von der Arbeit kommen. Auf diesen Tag warte ich schon seit einem Monat. Jules hat gleich nach unserer Ankunft hier einen Job in einer Kunstgalerie gefunden, in dem sie vollkommen aufgeht. So sehr, dass sie kaum Zeit für mich findet. Ich hätte mich genauso gut da bewerben können, doch ich muss gestehen: Ich mag Bilder nur, wenn ich sie selbst malen kann. Es geht mir gar nicht so sehr um die Kunst an sich. Viel mehr um das Erschaffen. Darum, die Bilder in meinem Kopf, die ich manchmal nicht beschreiben kann, verdeutlichen zu können.
Ich freue mich sehr, dass sie eine Leidenschaft gefunden hat, doch heute Abend hat sie mir versprochen, ganz für mich da zu sein. Ein gemeinsames Essen mit einem anschließenden Besuch im The Riff, einer kleinen süßen Bar, die ich zufällig bei einem meiner Spaziergänge durch die Stadt entdeckt habe. Ich habe keine Ahnung, welche Band heute dort spielt, und eigentlich ist mir das auch egal. Musik ist mein Leben und ich liebe es, neue Bands zu entdecken. Gerade, als ich den kleinen Zweimanntisch fertig gedeckt und einen Blumenstrauß mit unseren Lieblingsblumen, rosa Lilien, in der Mitte platziert habe, klingelt mein Handy. »Schwesterherz!«, begrüße ich Jules freudestrahlend, ehe ich den Topf endgültig von der Herdplatte nehme, um ihn auf dem Tisch zu platzieren. Ich setze mich auf mein unterschlagenes Bein.
»Hey.« Ihre Stimme klingt entschuldigend und sofort halte ich inne.
»Nein! Nicht heute, Julia!«, stoße ich hervor, ohne meine Enttäuschung zu verbergen. Wenn sie so klingt, kann es nur eines bedeuten: Sie muss länger arbeiten.
Mein Zwilling holt tief Luft. »Es tut mir fürchterlich leid, Lil!«
Mit einem genervten Brummen spieße ich ein Stück Brokkoli auf, den ich nur gekocht habe, weil Jules ihn so mag, und stopfe ihn mir in den Mund. Angewidert verziehe ich das Gesicht.
»Sei nicht sauer! Ich versuche rechtzeitig da zu sein. Wir treffen uns einfach im The Riff, okay?«
Viel zu energisch rutsche ich mit dem Stuhl nach hinten, sodass ein lautes Quietschen bis zu Julia durchdringen muss. Ich nehme den Topf und halte ihn demonstrativ über den Mülleimer. Obwohl sie es natürlich nicht sehen kann, schenkt mir dieser kleine Protest ein wenig Genugtuung. »Ich bin nicht sauer, ich bin enttäuscht! Wenn du irgendwelche französischen Schwarzweiß-Filme anschauen willst, suche ich auch nicht nach Ausreden! Und du weißt, wie schrecklich ich das finde!«
Sie seufzt, während ich mich zur Kühltruhe beuge und eine Pizza ans Licht zaubere. Scheiß auf Gemüse! »Es ist keine Ausrede! Ich habe mich wirklich gefreut, den Abend mit dir zu zelebrieren!« Zelebrieren. Solche Wörter benutzt meine Schwester, wenn sie sich zu viele Gedanken über ihre Worte macht. Als würde sie sich hinter diesen Wörtern verstecken. Genauso wie: Affektiert, oder eloquent. Wörter, die mich nur die Augen verdrehen lassen. »Ich zelebriere jetzt meine fettige, ungesunde Pizza!«
Sie seufzt erneut. Gramvoll! »Ich muss jetzt auflegen, Lil.«
»Tschüss!« Obwohl ich spüre, dass sie noch etwas sagen will, lege ich auf und fühle mich sofort wie eine eingeschnappte kleine Göre. Ich habe kein Recht darauf, auf sie wütend zu sein. Jules liebt ihren Job und hat es verdient, so sehr darin aufzugehen. Wenn jemand es verdient hat, dann sie. Und doch kann ich nichts gegen meine Gefühle tun. Es fällt mir nun Mal schwer, neue Leute kennenzulernen. Bisher hat es uns immer gereicht, den anderen zu haben. Jetzt scheint sie ein völlig neues Leben zu beginnen und ich habe Angst, irgendwann keinen Platz mehr darin zu haben. Mein Herz schlägt schmerzhaft gegen meine Brust bei dem Gedanken daran, kein Teil mehr davon zu sein. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, dennoch ist mein Stolz immer noch größer, sodass ich schmollend im Schneidersitz vor dem Ofen hocke und dem Fett zusehe, wie es aus meiner Pizza emporsteigt.
Meine Wut auf meine Schwester ist verpufft, sobald ich die ganze Pizza verputzt habe und mich kaum noch rühren konnte. Vermutlich wäre das Gemüse doch die bessere Wahl gewesen. Natürlich habe ich es nicht weggeworfen, sondern fein säuberlich in eine Glasschüssel gepackt und im Kühlschrank verstaut. Die vergangene Stunde habe ich genutzt, um mich abzulenken. Zuerst habe ich durch Youtube gescrollt und einige interessante Kanäle gefunden. Leider konnte mich keiner davon lange genug mein schlechtes Gewissen lindern. Nach Youtube waren etliche Social-Media-Kanäle an der Reihe. Was diese Aktion geschafft hat, ist einen Shoppingrausch auszulösen. Als würden diese Plattformen genau wissen, was ich suche, wurden mir schimmernde Aquarellfarben angezeigt, die ich unbedingt haben musste. Natürlich ist es dabei nicht geblieben und es mussten auch Pastellfarben, Chrom und Farben mit einer besonders schönen Verpackung einziehen. Ob das nötig war? Vermutlich nicht. Ob ich mich besser fühle? Auf jeden Fall. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wenn ich die Bestellung bezahlen muss. Weil ich immer noch zu viel Zeit habe, habe ich mich eine halbe Stunde zu früh in meine dicken Winterklamotten gepackt und suche nun nach meinen Lieblingsboots. Meine blonden Haare habe ich zu einem lockeren seitlichen Zopf geflochten und unter dem schlammgrünen Parka trage ich mein liebstes Strickkleid. Wenn mich etwas aus einer schlechten Stimmung befreien kann, dann sind es schöne Dinge. Klamotten, Dekoartikel, Musik – und unnötig viel Geld für Farben ausgeben. Alles, was mein Herz begehrt. So dick eingepackt, dass man mich für einen laufenden Kleiderberg halten könnte, schließe ich die Tür hinter mir zu und lasse mich noch ein wenig tiefer in meinen grob gestrickten Schal sinken. Die Luft ist beißend. Dicke Schneeflocken rieseln auf mich herab und funkeln im Licht der Laternen. Sie beleuchten mir den ganzen Weg bis zur Hauptstraße. Weil ich Jules überraschen und mich entschuldigen will, bin ich auf dem Weg zu einem süßen kleinen Café, um ihr ihren neuen Lieblingskaffee zu besorgen, bevor ich sie von der Arbeit abhole. Einen Iced Frappuccino mit extra viel Karamell. Keine Ahnung, wie sie bei dieser Kälte sowas trinken kann, aber man könnte fast sagen, sie sei süchtig danach. Nach dieser netten Geste kann sie unmöglich nachtragend sein. Vor allem, wenn ich ihr intensiv verdeutliche, wie sehr meine Hände durch die Kälte draußen und ihres Getränkes frieren mussten. Ich kenne meine Schwester besser als mich selbst und doch hat sie es wieder einmal geschafft, dass jetzt ich mich schuldig fühle, obwohl doch sie es ist, die mich versetzt hat. Kopfschüttelnd über mich selbst sehe ich von links nach rechts, ehe ich über die Straße laufe. Dort angekommen lenken blaue Lichter meine Aufmerksamkeit auf sich. Immer mehr Menschen versammeln sich auf der Straße, obwohl es hier draußen bitterkalt ist. Je näher ich dem Café komme, umso heller werden die Lichter und umso mehr Menschen stehen vor ihren Haustüren und starren die Straße hinunter. Die Jacken enger um ihre Körper schlingend wandern die Blicke zu der Unfallstelle. »Was ist passiert?«, frage ich auf Finnisch, was wir uns seit Jahren selbst beibringen. Eine junge Frau deutet auf die blinkenden Lichter. »Vor zehn Minuten sind zwei Autos frontal ineinander gerast.«
»Scheiße«, murmle ich, woraufhin sie nur traurig nickt und ihre Jacke noch enger um sich zieht. Obwohl mich ein ungutes Gefühl beschleicht, will ich keinesfalls wie ein Gaffer wirken und führe meinen Weg fort. Die Polizisten können unmöglich erwarten, dass die Leute nicht mehr an dem Unfallort vorbeigehen. Trotzdem gebe ich mir alle Mühe, nicht zur Straße zu schauen. Ich will vorbildlich sein. Die Polizisten ihren Job machen lassen. Den Betroffenen ihre Würde lassen.
Als ich nur noch wenige Meter entfernt bin, muss ich mich regelrecht durch die Menschenmasse hindurch schieben. Offenbar sieht nicht jeder das Thema Würde so wie ich. Das hier ist schlimmer als auf einem Justin Bieber Konzert. Die Leute tuscheln. So anders als woanders auf der Welt scheint es hier doch nicht zu sein. Gerüchte verbreiten sich wohl auf der ganzen Welt blitzschnell.
»Ich habe gesehen, wie es passiert ist. Wirklich unheimlich.«
»Einer der Fahrer ist tot.«
»Das arme Mädchen.«
Bei dem letzten Satz erstarre ich. Mein Puls beginnt zu rasen, doch ich kann mich nicht mehr rühren. Es gibt viele Mädchen in Helsinki. Sie sprechen nicht von Julia. Der Zufall wäre gigantisch. Wieso sollte ausgerechnet sie es sein? Und was, wenn ... Apathisch starre ich auf einen Mantelärmel direkt vor meinen Augen. Das kann nicht sein, oder? Das darf nicht sein. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergeht, bevor ich mich aus meiner Starre lösen kann, um den Blick langsam zur Straße wandern zu lassen. Ich will nicht sehen, was dort vor sich geht. Ich will nicht sehen, was ich zu sehen befürchte. Und doch muss ich. Langsam drücke ich mich an den Leuten vorbei. Mit jedem Schritt wird mir übler. Bei jeder Berührung wird mir schwindeliger. Jeden Meter, den ich weiter an den Unfallort herankomme, hämmert mein Herz fester gegen meine Brust. Sobald ich den letzten Mann vor mir zur Seite geschoben habe, vernebeln mir Tränen die Sicht. Sie füllen meinen Hals, drohen mich zu ersticken. Noch ehe ich mir sicher bin, dass eines dieser Autos wirklich meiner Schwester gehört, beginne ich zu laufen. Immer schneller irre ich über die Straße, auf der sich Polizisten nur so tummeln. Einer versucht mich aufzuhalten, doch ich reiße mich los. Die Tränen laufen jetzt ungehindert über mein Gesicht, ich schluchze, schreie, sterbe.
Taumelnd komme ich vor dem Krankenwagen zu stehen. Ein Sanitäter packt mich bei den Schultern, doch alles, was ich tun kann, ist auf die Frau zu starren, die auf die Liege im Innern bugsiert wird. Dieselben Augen. Derselbe Mund. Dieselben Haare. Sie ist mein Ebenbild. Und doch sieht sie jetzt so anders aus. Alles ist rot.
Winselnd gehe ich zu Boden. Ich kann nicht sprechen oder ihren Namen rufen. Kann nicht denken oder atmen. Ich kann nur noch fühlen. Dieses Loch, das mitten in mein Herz gerissen wird.
Seit einer halben Stunde wiederhole ich den Text von Rise Up von Andra Day wieder und wieder. Ich saß auf dem Boden, habe weder die Kälte gespürt, noch den Asphalt unter mir. Habe nicht die Menschen um mich herum gehört oder die Sirene, mit der meine Schwester ins Krankenhaus gefahren wurde. Ein Teil von mir sitzt immer noch da, während ein anderer sich auf den Text konzentriert und nicht auf die weißen Fliesen vor meinen Augen. Ich weiß nicht, wie ich in dem Taxi gelandet bin. Ich weiß nur noch, wie ich mir immer wieder gesagt habe, dass ich aufstehen muss. Aufstehen vom Boden, aufstehen aus meiner Angst. Aufstehen für meine Schwester. I rise up.
Sie haben mir nichts gesagt, außer, dass sie operiert wird. Eine halbe Stunde. Eine Stunde. Zwei. Immer noch konzentriere ich mich auf den Song und meinen Herzschlag. Er schlägt für sie, macht weiter, weil er es muss. Mittlerweile fühlen sich meine Beine taub an, genauso wie meine Lippen und mein ganzes Gesicht. Sämtliche Spannung ist aus meinem Körper gewichen.
Sie schafft das.
Sie ist stark.
Sie ist die stärkste Person, die ich je kennengelernt habe.
Sie ist die stärkste Person, die ich je geliebt habe.
Eine Träne kullert über meine Wange, doch ich wische sie nicht weg. Das habe ich vor einer Stunde aufgegeben. Was, wenn sie geht? Wohin soll ich dann gehen? Wie soll ich bleiben, ohne sie? Wieder gleitet eine Träne über mein nasses Gesicht.
»Miss Walker?« Mein Herzschlag setzt aus und ich schaffe es gerade so, dem Arzt, der sich vor mich gehockt hat, in die Augen zu sehen. Er legt eine Hand auf mein Knie. Mitleid. Ein Wort in meinem Kopf. Ein Ausdruck auf seinem Gesicht. Das will ich nicht sehen.
»J -Ja«, stottere ich krächzend.
»Ihre Schwester hat die Operation überstanden -«
Ein erleichtertes Schluchzen dringt aus meiner Kehle und sofort fließen die Tränen ungehindert. Am liebsten würde ich ihn umarmen, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht bleibt unverändert. Das ist nicht alles.
»Allerdings wurde sie sehr schwer verletzt und liegt derzeit im Koma.«
»Koma«, hauche ich. Bilder von Krankenhausbetten bilden sich in meinem Kopf. Desinfektionsgeruch in der Nase. Leere Augen, unbeweglicher Körper. »Wird ...« Mein Herz bricht in so viele Einzelteile, dass es unmöglich sein wird, alle wieder zusammenzufugen. »Wird sie wieder aufwachen?«
Er befeuchtet seine Lippen und steht auf, sodass ich zu ihm aufsehen muss. »Das ist ungewiss.«
Schweißgebadet und schreiend wache ich auf. Im nächsten Augenblick sitze ich senkrecht im Bett. Wo bin ich? Was ist passiert? Ich sehe mich um, warte darauf, dass Julia die Treppe hochgeflitzt kommt, um mich zu beruhigen. Bis mich die Realität mit voller Wucht trifft. Sie wird nicht kommen. Sie kann mir die Angst nicht nehmen. Wie kann man seinen Schmerz im Schlaf vergessen? Vergessen, dass alles auf dem Kopf steht? Ein Moment genügt, um das Leben für immer zu verändert. Ein Moment, in dem die Zeit stillsteht und du nur hilflos dabei zusehen kannst, wie die Welt in tausend Scherben zerspringt. Dieser Moment überrollte mich an jenem Abend und in jeder folgenden Nacht wie ein Bus. Jede Nacht, in der ich aufwache und für eine Sekunde vergesse, woher meine Angst kommt. Woher die Stille in der Wohnung kommt und wieso ich allein mit meinem Kummer auskommen muss. Julias Autounfall ist erst zwei Monate her und doch fühlt es sich wie ein ganzes Leben an. Kaum noch kann ich mich an die Lily von davor erinnern. War ich wirklich einst glücklich? Habe ich mir früher den Kopf über Banalitäten wie Musik oder Klamotten zerbrochen? Erschöpft lege ich mich wieder hin, drehe mich zur Seite. Auf meinem Nachttisch liegt das Paket mit den Farben, die ich an ihrem Unfallabend bestellt habe. Bisher habe ich sie nicht ausgepackt und weiß auch nicht, ob ich es tue, bevor sie aufwacht. Die Welt hat ihre Farben verloren und in meinem Kopf entstehen keine Bilder mehr. Ich reiße meinen Blick davon los und sehe aus den Fenstern. Es schneit wie die letzten Tage und Wochen, doch ich finde keinen Trost darin. Mein Herz ist schwer und voller Trauer. Ein letztes Mal an diesem Morgen schließe ich meine brennenden Augen, um mich nur noch kurz vor der Welt und ihren spitzen Reißzähnen zu verstecken. Wenn ich nur lange genug hierbleiben würde, würde sie mich vielleicht vergessen. Doch dann erinnere ich mich daran, dass Jules noch da ist und mich braucht. Sie ist nicht tot. Sie wird wieder aufwachen. Sie weiß doch, dass ich sie brauch. So wie ich wie, dass sie mich brauch. Ich kann sie jetzt nicht im Stich lassen, weshalb ich mich zwinge, aus dem Bett zu klettern. Früher begleitete mich immer irgendein Lied, doch seit ihrem Unfall ertrage ich es nicht mehr. Musik schenkt mir Glück und das ist das letzte Gefühl, das ich zurzeit zulassen kann. Sobald sie wieder bei mir ist, können wir all die Lieder hören, die ich in der letzten Zeit verpasst habe. Mit langsamen Bewegungen putze ich mir die Zähne, vermeide es aber, mich im Spiegel anzusehen. Dort erwartet sie mich und will mir all die Schuld zusprechen, die sich tief in meinem Herzen verbirgt. Ohne mir die Haare zu machen, oder mir etwas anderes als das alte Shirt und die Jogginghose anzuziehen, die ich seit Tagen trage, schlüpfe ich in Jacke und Schuhe und mache mich auf den Weg ins Krankenhaus.
Ich würde den Weg zu ihrem Zimmer im Schlaf wiederfinden, so oft war ich in den vergangenen Monaten hier. Niemand fragt mich, was ich hier suche, weil sie mich alle schon kennen. Ich habe mit jedem Arzt und jeder Schwester gesprochen und sie angefleht, ihr zu helfen. Doch jeder von ihnen hat mich nur traurig angesehen, aufmunternd gelächelt oder meine Schulter getätschelt. Nichts davon hat mir geholfen, weil es ihr nicht helfen konnte. Das Zimmer ist strahlend weiß und ich denke daran, dass ihr das gefallen würde. Julia war schon immer anders als ich. Ich liebe Farben und Muster und das Chaos, Julia liebt, abgesehen von der Kunst, Ordnung, Struktur und Minimalismus. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und lasse mich langsam auf den Stuhl vor ihrem Bett sinken. Wie apathisch starre ich meine Schwester an. Ihre blauen Augen, die jetzt geschlossen sind. Ihr wunderschönes Lächeln, das jetzt hinter einem Schlauch versteckt bleiben muss. Ihre hohen Wangenknochen, die jetzt in blau und lila Tönen leuchten. Ich spüre das Zittern nicht mehr, das mich seit Tagen heimsucht, ich kann es nur noch an ihrer Hand sehen, auf die ich es übertrage. Was würde ich dafür geben, wenn sie von sich aus zittern würde.
Zittere! Zittere!
Sanft rüttle ich an ihrer Hand, werde dann schneller, panischer. Zitterei
»Los! Tu etwas!« Die Stimme, die ich höre, kann unmöglich meine eigene sein. Sie ist mir ebenso fremd wie diese Leere in meinem Inneren. Etwas fehlt. Ein Teil meines Herzens ist unwiderruflich zerbrochen in winzig kleine Scherben. Vielleicht ist es so, dass Zwillinge sich ein Herz teilen. Es schlägt synchron in zwei Körpern und wenn eine Hälfte aus dem Takt kommt, entsteht eine schmerzhafte Melodie. Die unsichtbare Hand verengt sich immer weiter um meinen Hals, bis ich tränenüberströmt nach Luft schnappen muss. Sie zittert nicht. Schluchzend lasse ich ihre Hand los, beuge mich mit bebendem Körper nach vorne und vergrabe das Gesicht in ihrer Bettdecke. Sie riecht nach Weichspüler. Nach Flieder. Ich sauge den Duft tief ein und frage mich, ob sie es auch riecht. Es duftet nach unserer Kindheit. Nicht nach der traurigen Kindheit in den Heimen. Nein, sie erinnert an die Kindheit bei unseren Eltern. Bevor sie aus dem Leben gerissen wurden. Wieder lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Ich bin traurig und wütend. So unglaublich wütend. Und so unglaublich traurig. Alles, was ich tun kann, ist an dem letzten Funken Hoffnung festhalten. »Heute hat sich ein Sonnenstrahl durch die dunkle Wolkendecke gekämpft.«
Jules würde sofort erkennen, dass mir das gut gefallen hat. Ich muss mir Stimme nicht vorstellen, weil ich sie so gut kenne wie meine eigene.
»Ich habe mir vorgestellt, dass du ihn spürst und den Kopf drehst, um ihn auch sehen zu können.« Ich frage mich, was sie wohl denkt. Ob sie es gerne sehen würde. Ob ich es ihr beschreiben sollte?
»Er war so gelb wie deine Mütze. Die liegt übrigens auf deinem Bett, weil ich ja weiß, wie sehr du die liebst.« Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich versuche an ihm vorbeizuschlucken. »Wenn du nach Hause kommst, kannst du dich auf etwas freuen. Ich habe die passenden Handschuhe gefunden.«
Es vergehen Stunden, in denen ich neben dem Bett meiner Zwillingsschwester sitze und ihr von allem Möglichen erzähle. Von Dingen, die wir gemeinsam erlebt haben und Dingen, die noch sein werden. Ich weiß nicht, was davon mir mehr wehtut. In drei Stunden muss ich zur Arbeit und allein der Gedanke daran, sie hier zurückzulassen, bringt mich um. Sie hat doch nur mich. Bevor sich wieder Tränen in meinen Augen sammeln können, klopft es an der Tür und Aria tritt ein. Eigentlich heißt sie Arja, doch sie hat mir erzählt, dass sie irgendwann nach Amerika will und sich deshalb gleich einen amerikanischen Namen gegeben hat. Außerdem möge sie Aria aus Pretty Little Liars so gerne. Sie ist eine der wenigen Schwestern, die mir nicht ununterbrochen traurige Blicke zuwerfen. Sie hat ihre langen braunen Haare zu einem hohen Zopf gebunden und sieht in ihrer weißen Uniform und den großen, grünen Reh-Augen aus wie ein Engel. Auf ihren Lippen liegt ein ehrliches Lächeln, als sie ein Tablett mit Suppe und Brot auf den kleinen Holztisch neben mir absetzt. »Hey, Lily. Hast du Hunger?« Matt lächelnd schüttle ich den Kopf. Sie braucht nicht zu fragen, wie es mir geht, weil das für die ganze Welt erkennbar ist. Obwohl sie vermutlich genug Arbeit hat, setzt sie sich kurz zu mir und mustert Julia. »Du solltest trotzdem etwas essen. Es bringt niemandem etwas, wenn du dich zu Tode hungerst. Schon gar nicht deiner Schwester.«
Ich schlucke schwer, ehe ich mich der dampfenden Schüssel zuwende. »Es ist seltsam, all das zu tun, während sie nur noch im Bett liegen kann und vor sich hinvegetiert.« Meine Stimme klingt müde und erschöpft. Genauso, wie ich mich fühle.
Aria tätschelt meine Hand und lächelt mich aufrichtig an. »Du brauchtest etwas Ablenkung. Geh doch mal mit mir und meinen Freunden aus.«
»Danke für das Angebot«, erwidere ich, obwohl ich nicht vorhabe, es anzunehmen. Es fühlt sich falsch an, auch nur daran zu denken ohne Julia Spaß zu haben.
Noch während Aria neben mir sitzt, öffnet sich die Tür erneut und eine weitere Schwester steckt den Kopf herein. Da ist es wieder: Das Mitleid.
»Miss Walker? Dr. Koski würde Sie gerne sprechen.«
Ich kneife die Augen zusammen und sehe Aria fragend an, doch sie scheint nicht zu wissen, worum es geht. »Soll ich dich begleiten?«
Keine Ahnung, wieso sie so nett zu mir ist, aber weil ich Angst vor jedem Gespräch mit Julias Ärzten habe, nehme ich ihr Angebot nickend an. Sie legt mir eine Hand auf den Rücken und schenkt mir so die notwendige Kraft, mich zu erheben. Mit einem Kuss auf Jules Stirn verabschiede ich mich von ihr. Der Weg ins Arztzimmer fühlt sich an wie der Weg zur Guillotine. Nur, dass er mir nicht den Kopf abhacken, sondern das Herz herausreißen will. Aria weist mich an, kurz zu warten, als sie drinnen verschwindet. Ich sehe mich um und wünschte, ich wäre irgendwo anders. Irgendwo, wo es mehr Farben als weiß und rot gibt.
Es dauert nicht lang, ehe Aria mir die Tür wieder öffnet. Auf ihrem Gesicht liegt jetzt ein anderer Ausdruck, der mir ganz und gar nicht gefällt.
»Setzen Sie sich bitte.« Dr. Koski ist jünger als die meisten Ärzte, die ich kenne und doch benimmt er sich wie ein alter Mann. Früher fand ich männliche Ärzte unfassbar sexy, doch sobald sie einem nur noch schlechte Neuigkeiten liefern, verlieren sie jeglichen Sexappeal. Er deutet auf die beiden freien Stühle vor seinem großen Eichentisch und nimmt selbst dahinter Platz. Auf ihm stehen Bilder seiner Frau und seiner drei Kinder. Sie sehen glücklich aus.
»Sagen Sie einfach, wieso ich hier bin«, bitte ich ein wenig zu schroff. Er hat mir nichts getan, doch allein mit seinem Gesicht verbinde ich nur Schmerz.
Dr. Koski verschränkt die Hände über seinem Schreibtisch und beugt sich ein Stück weit nach vorne. »Ihre Schwester liegt seit fast drei Monaten im Koma«, beginnt er und macht eine kurze Pause, als müsse ich diese Tatsache erst verarbeiten. Als wisse ich nicht, wie lange sie schon hier ist. 83 Tage. Genau 1968 Minuten. 118.085 Sekunden. 118.086, 118.087. Ich rühre mich nicht. »Wir haben etliche Tests durchgeführt und es tut mir sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber sie wird mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nie wieder aufwachen.«
Bei seinen Worten verkrampfe ich, kralle die Fingernägel in das Polster unter mir, doch sie dringen nicht wirklich zu mir durch. »Aber sie lebt noch? Ihr Körper ... ihre Seele ... Das kann gar nicht sein. Sie haben doch gesagt, dass sie vielleicht wieder aufwacht. Das haben Sie selbst gesagt!« Meine Stimme wird hysterisch, kreischend und gleichzeitig so unfassbar dünn. Das halbe Herz in meinem Körper wird überwältigt von Gefühlen, auf die ich nicht gefasst war. Schmerz, Angst, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit. Ich habe den Ausdruck, von Gefühlen überwältigt zu sein, nie verstanden. Bis jetzt. Mir war nicht klar, zu welcher Intensität der Mensch imstande ist zu fühlen. Es erdrückt mich, verängstigt mich. Diese Gefühle kann man nicht überleben, also vergrabe ich sie unter dem einzigen Gefühl, das ich zu bändigen vermag: Wut. Ich richte sie auf den Arzt vor mir, auf die Welt, auf mich.
»Ihre Schwester ist offiziell hirntot, Miss Walker. Es tut mir furchtbar leid. Lediglich die Maschinen halten sic am Leben. Da die Vollmacht bei Ihnen liegt, müssen Sie entscheiden, ob wir diese ausschalten sollen.«
»Ich soll ...« Sie umbringen. Alles um mich herum beginnt sich zu drehen. Aria greift geistesgegenwärtig nach meiner Hand und hält mich so im Hier und Jetzt gefangen, obwohl ich am liebsten abdriften würde. In eine andere Welt, ein anderes Leben, wo ich nicht diese Entscheidung treffen muss. Wo dieser Mann nicht von mir erwartet, meine Schwester umzubringen. Dabei besteht doch noch die Chance! Natürlich besteht diese noch, das hat er doch selbst gesagt. Höchstwahrscheinlieh. Das ist doch nicht endgültig!
Dr. Koski schenkt mir einen mitleidigen Blick, den er vermutlich wie aus einem Speicher abrufen kann. Bestimmt übt er ihn vor dem Spiegel. Wie sehr ich ihn hasse! Ihn und sein blödes Mitleid! »Ich kann mir vorstellen, wie schwer das für Sie sein muss, aber denken Sie, dass Ihre Schwester das gewollt hat?«
Ich lache stumpf auf. »Sie können es sich vorstellen? Sie haben also auch schon einmal den einzigen Menschen umgebracht, den sie je geliebt haben?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, aber ...«
»Dann können Sie es sich auch nicht vorstellen!«, unterbreche ich ihn zischend. Rational gesehen weiß ich, dass er keine Schuld daran trägt. Er ist lediglich der Überbringer dieser furchtbaren Nachricht, doch rein gar nichts in mir reagiert gerade rational. Wie sollte es? Er sagt mir, meine Schwester sei weg. Das in dem Bett dort oben nur noch ein Körper liegt, der durch Maschinen am Leben gehalten wird. Und doch ist es das Einzige, was mir noch von ihr bleibt.
»Miss Walker, überlegen Sie es sich noch einmal. Ihre Schwester ist Organspenderin und ...« Er beugt sich vor, um nach meiner freien Hand zu greifen, doch ich ziehe sie blitzschnell weg.
»Halt! Sie können mich nicht erpressen! Dazu haben Sic kein Recht! Ich wünsche jedem, dass er ein Organ erhält. Ich würde Ihnen meine Organe geben, ohne zu zögern, aber meine Schwester ...« Ich schluchze unweigerlich auf, obwohl ich mir geschworen habe, nicht zu weinen. »Meine Schwester ist nicht tot! Sie wird wieder aufwachen!«
»Natürlich.« Dr. Koski senkt kurz den Blick, als wolle er sich bei mir entschuldigen, doch ehe er noch einmal versuchen kann, mich zu überreden, erhebe ich mich und gehe zur Tür. »Solange meine Schwester noch lebt, wird hier rein gar nichts abgeschaltet. Das ist mein letztes Wort!«
Wenn es überhaupt möglich ist, ist der Schmerz heute sogar noch größer als an allen Tagen zuvor. Früher haben Julia und ich die Weihnachtstage so sehr herbeigesehnt, dass wir die Wochen davor früher ins Bett gingen und später aufstanden, damit diese Zeit schneller herbeirückt. Heute bereue ich es, denn all das waren Momente, die wir verschwendet haben. Erinnerungen, die wir nicht geschaffen haben und an die ich mich jetzt nicht klammern kann. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und all die wenigen Augenblicke einsammeln, um nur noch ein paar neue Minuten mit Julia zu verbringen.
An Weihnachten verwandelte sich das Heim in etwas Magisches. Es war die einzige Zeit, an der wir alle wie eine Familie waren. Besucher gab es keine und alle Kinder bekamen Geschenke. Wir aßen an reichlich gedeckten Tischen, sangen Lieder, tranken heiße Schokolade und durften bis spät in die Nacht wachbleiben. An Weihnachten hatten wir das Gefühl, als wären wir ganz normale Kinder und brauchten keine Angst vor dem Alleinsein zu haben.
Heute fühle ich mich einsamer als jemals zuvor.
Den ganzen Tag über verschanze ich mich im Bett und versuche zu schlafen. Wegen der verschlossenen Vorhänge kann ich nicht sehen, ob es draußen schon dunkel ist, doch selbst wenn ich es wüsste, würde das keinen Unterschied machen. Die Sonne geht um diese Jahreszeit schon um drei Uhr mittags wieder unter. Mich in meinem Selbstmitleid suhlend höre ich plötzlich etwas an meiner Tür kratzen. Zunächst versuche ich das Geräusch zu ignorieren, doch als es mir immer schwerer fällt, mich auf meinen Sumpf aus Trauer und Wehleidigkeit zu konzentrieren, schlurfe ich hinunter zur Haustür. Ich halte sie strickt im Auge, da ich sonst wieder eine Ewigkeit vor Julias Zimmertür verharre und sie anstarre.
»Ist da jemand?«, frage ich und erkenne sofort, dass das der perfekte Anfang eines Horrorfilms sein könnte. Ich schüttle den Kopf. Selbst, wenn hinter der Tür ein Axtmörder auf mich warten würde, würde er sich sicher nicht zu erkennen geben. Ein leises Miauen ertönt auf der anderen Seite und sofort macht mein Herz einen Satz. Ich öffne die Tür und vor mir sitzt ein dicker braungrau getigerter Kater. Sein Schwanz zuckt, während er mich aus seinem einen Auge ansieht. Wieder gibt er ein heiseres Maunzen von sich, als wolle er um Eintritt bitten. Mein Schweigen nimmt er wohl als Einladung ein, denn Sekunden später huscht er unbeeindruckt von mir zur Tür herein und steift in unserer Wohnung umher. Völlig baff verharre ich, die Tür in der Hand und sehe dem Kater, der laut zu schnurren anfängt, hinterher.