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**Über das Auftauen des Herzens eines Grinchs** Juna liebt Weihnachten und alles, was dazu gehört. Passenderweise lebt sie im echten Weihnachtsmanndorf Lapplands inmitten der finnischen Natur zwischen Rentieren und einem Haufen Besucher. Eines Tages strandet der mürrische Levi in diesem Touristen-Hotspot. Schnell stellt sich heraus, dass genau dieser Ort seine persönliche Hölle ist, denn mit Weihnachten kann er überhaupt nichts anfangen. Trotzdem kommen Juna und Levi sich nach und nach näher und das Eis zwischen ihnen beginnt zu schmelzen. Bis sie herausfindet, warum Levi sich nicht für das Fest der Liebe erwärmen kann … Eine einzigartige Winter Romance im weihnachtlichen Finnland – gefühlvoll und herzzerreißend schön! //»Lovely Hateful Christmas« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//
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Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
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Christelle Zaurrini
Lovely Hateful Christmas
**Über das Auftauen des Herzens eines Grinchs**
Juna liebt Weihnachten und alles, was dazu gehört. Passenderweise lebt sie im echten Weihnachtsmanndorf Lapplands inmitten der finnischen Natur zwischen Rentieren und einem Haufen Besucher. Eines Tages strandet der mürrische Levi in diesem Touristen-Hotspot. Schnell stellt sich heraus, dass genau dieser Ort seine persönliche Hölle ist, denn mit Weihnachten kann er überhaupt nichts anfangen. Trotzdem kommen Juna und Levi sich nach und nach näher und das Eis zwischen ihnen beginnt zu schmelzen. Bis sie herausfindet, warum Levi sich nicht für das Fest der Liebe erwärmen kann …
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Vita
© privat
Christelle Zaurrini wurde 1992 in Luxemburg geboren und lebt heute in Brandenburg. Anders als bei den meisten Autoren lernte Christelle erst spät, wie schön das geschriebene Wort sein kann. In welche Welten es die Leser entführen kann. Ihre Leidenschaft sind Liebesromane, die einen Funken Drama und Tiefgang beinhalten. Und doch stets mit einem Happy End enden, denn wenn schon das Leben nicht immer eines bietet, sollten es zumindest die Bücher.
16. Dezember
Levi
Wenn das, was da vom Himmel fällt, Schnee ist, dann habe ich in meinem Leben noch nie richtigen Schnee gesehen. Die Flocken sind so dicht, dass meine Scheibenwischer genauso gut aufhören könnten, sich in Lichtgeschwindigkeit von einer Seite zur anderen zu bewegen. Es würde keinen Unterschied machen. Vor gut zehn Minuten wurde die Musik, die aus meinem Radio dringt, von einem ungesunden Schleifen aus der Motorgegend des Autos durchbrochen. Weil Leugnen für mich meistens die naheliegende Lösung ist, habe ich das Radio auf volle Lautstärke gedreht, und das Geräusch auf meine Scheibenwischer geschoben.
Als es jedoch stärker wird und plötzlich ein lauter Knall ertönt, wird mir klar, dass ich am Arsch bin. Leugnen klappt … oft jedoch nur für kurze Zeit. Da der Motor offensichtlich den Geist aufgegeben hat, versuche ich den Wagen noch mit seinen letzten Metern zum Straßenrand rollen zu lassen und hoffe, dass ich hier mitten in der Einöde nicht von einem Bären gefressen oder in seine Höhle geschleift werde. Gibt es in Finnland eigentlich auch Eisbären? Obwohl ich hier geboren bin, lebe ich seit meinem neunten Lebensjahr in England bei meiner Tante und bin bis jetzt nicht wieder hierher zurückgekommen.
Und besonders herzlich hat mich dieses Land nicht empfangen: Schnee, Schnee, Schnee und Dunkelheit. Genau das, was mein Herz nicht gerade höherschlagen lässt. Zu erwarten war es allerdings, als ich mich vor zwei Monaten dazu entschlossen habe, über die Weihnachtszeit herzukommen.
Mit gefrorenen Fingern suche ich nach der Telefonnummer eines Abschleppdienstes und gebe meine ungefähren Daten durch. Zumindest das Internet und das Netz funktionieren hier mitten im Wald einwandfrei.
Dass dieser verrostete Opel Corsa das einzig verfügbare Auto am Flughafen war, hätte mir zu denken geben müssen. Aber ich wollte mich einfach nur in meinem Hotel in Kittilä an die Bar setzen, ein paar Bier trinken und meine Gedanken vernebeln lassen. Da hätte ich eigentlich schon vor Stunden ankommen müssen, wäre mein Flug wegen der schlechten Wetterbedingungen nicht nach Helsinki verschoben worden, wo ich mir das Auto mieten musste. Mittlerweile bereue ich es, dass ich nicht auf den nächsten Flug gewartet habe, doch da mir niemand sagen konnte, wann der stattfinden würde, habe ich mich in meiner Starrköpfigkeit dagegen entschieden.
Frustriert schlinge ich meine dicke Winterjacke enger um mich und bewege meine Füße im Fußraum, damit meine Zehen nicht nacheinander abfrieren. Eigentlich bin ich niemand, der in Selbstmitleid versinkt, aber diese Reise verlangt mir alles ab. Als wäre ich nicht schon angespannt genug, weil ich wieder hier bin, da musste jetzt echt noch mein Auto den Geist aufgeben? Keine Ahnung, ob ich hier lebend wieder herauskomme. Okay, vermutlich werde ich das, aber das Warten auf den Abschleppdienst gleicht einem Urlaub im Gefrierfach eines Kühlschranks.
***
Eine halbe Stunde später begrüße ich einen bärtigen Mann, der in dicke Winterklamotten eingepackt aus seinem Abschleppwagen springt.
»Wie lange wird das etwa dauern?«, frage ich ihn zerknirscht, während eiskalter Wind um meine Nase weht und ich mich beherrschen muss, mich nicht in seine Arme zu werfen, um der Kälte zu entkommen. Ein bisschen Anstand habe ich zu seinem Glück noch, weshalb ich dem Drang nicht nachkomme.
Der Mann gibt lediglich ein paar bärenartige Geräusche von sich, während er die Motorhaube meines Wagens öffnet. »Hm. Na ja …« Wieder grummelt er etwas in seinen Bart. »Bis Weihnachten auf jeden Fall. Das sieht nach einem Motorschaden aus, Junge.«
»Bis Weihnachten?«, entfährt es mir.
Er blinzelt ein paar Mal, sagt jedoch nichts. Ein Schulterzucken und ein schläfriger Blick sind das höchste aller Gefühle, die ich von ihm ernte. Seufzend lasse ich die Schultern hängen. Weihnachten … Das Fest der Liebe. Für mich ist es nur eine Erinnerung an alles, was ich verloren habe. Es war eine echt beschissene Idee hierherzukommen. Leider erkenne ich das ein paar Augenblicke zu spät.
»Okay. Kann mich jemand nach Kittilä fahren?«
Er schüttelt den Kopf. Darauf zu warten, dass er mir einen Gegenvorschlag macht, stellt sich als vergebens heraus. »Okay«, wiederhole ich matt und suche online nach einem Hotel in der Nähe. »Fuck!« Wenn ich die Preise so ansehe, wäre ich doch besser von einem Bären mit in seine Höhle geschleppt worden. Vierhundert Euro für eine Nacht.
»Teuer, was?« Während er mein Auto an seinen Abschleppwagen hängt, wirft er mir einen amüsierten Blick zu.
Sadisten! Alles Sadisten hier!
»Ja«, murmele ich. »Scheißteuer.« Ich scrolle weiter, bis ich ein Angebot finde, was sich besser anhört als alle anderen. Hundertfünfzig Euro die Nacht und nur fünf Kilometer entfernt. Als ich den roten Schriftzug »nur noch ein Zimmer« lese, denke ich nicht lange darüber nach. Ohne mir Bilder anzusehen oder die Beschreibung zu lesen, gebe ich meine Daten ein und buche dieses Zimmer für eine Woche. »Fahren Sie mich an diese Adresse?«, frage ich und erhasche zum ersten Mal so was wie ein Lächeln. Ob mir das gefällt oder eher Angst einjagen soll, weiß ich allerdings nicht so genau.
Juna
»Komm her, Junge!«, rufe ich den schönsten Hund, den ich jemals gesehen habe. Snow ist ein Husky wie er im Buche steht. Eisblaue Augen – so wie meine – ein weiß-graues Fell und der anmutige Gang eines Königs. Er ist wunderschön und ich denke, dass er das ganz genau weiß. Er strahlt eine Arroganz und Überlegenheit aus, die man beim Menschen verurteilen würde. Nicht so bei Snow. Denn wenn er dich liebt, dann hast du einen Freund fürs Leben.
Es ist verrückt zu sagen, dass ein Hund dein bester Freund ist, aber bei mir trifft genau das zu. Ihn und seine Geschwister aufzuziehen war das Highlight meines Lebens. Unfassbar nervenaufreibend, aber auch eine wunderschöne Erfahrung. Aus irgendeinem Grund hat seine Mutter die Babys verstoßen und sie wären ohne unsere Hilfe gestorben. Das ist jetzt ein Jahr her und in dieser Zeit sind sie alle aufgeblüht. Bei seinen fünf Geschwistern blitzt hin und wieder noch das Welpen-Gehabe auf, Snow hingegen ist eindeutig der Rudelführer und ermahnt sie oft zur Ruhe. Er ist kein Schoßhündchen, aber mir weicht er nicht von der Seite. Ihn jetzt dabei zu beobachten, wie er seine Nase tief in das kalte Weiß gräbt, um sie Sekunden später mit voller Wucht hochzureißen und nach dem Schnee zu schnappen, lässt mich laut lachen. Erst eine halbe Stunde ist es her, dass die dicken Flocken weniger geworden sind. Sofort habe ich mich in meine Thermounterwäsche, meine Wollsocken und den dicksten Overall geworfen, den ich finden konnte, und habe Snow aus seinem Gehege geholt. Der Schnee liegt hoch und genau das liebe ich. Das Geräusch des Neuschnees, wenn er unter meinen Schuhsohlen knirscht und in sich zusammensinkt. Die Atmosphäre in diesem verschneiten Märchenwald, durch den ich gerade mit Snow tapse, lässt mich innehalten und die Augen für einen Moment schließen. Tief atme ich die sauerstoffreiche Luft ein. Wir befinden uns im Herzen des Winters. Das bedeutet hier lange, kalte Nächte und an guten Tagen zweieinhalb helle Stunden. Es dauert nicht mehr lange, bis die Sonne jeden Tag weiter in den Himmel steigt und wir die Chance haben, endlich wieder mehr Licht zu tanken. Mir machen die Dunkelheit und die Kälte nichts aus. Im Gegenteil sogar: Ich liebe den finnischen Winter. Nur noch mehr liebe ich Weihnachten und alles, was damit zu tun hat.
Das ist ein Grund, wieso ich vor zwei Jahren mit siebzehn von Helsinki nach Rovaniemi gezogen bin … Na ja, genaugenommen ist das der einzige Grund, wieso ich es getan habe. Als ich Daddy erzählt habe, dass ich zukünftig als Elfe im Weihnachtsmanndorf arbeiten würde, hat er nur den Kopf geschüttelt und sich ein Schnapsglas mit Koskenkorva Wodka eingeschenkt. Erst als er es leergetrunken hat, kam er mit gerunzelter Stirn zu mir, hat sich auf unser braunes Ledersofa neben mich gesetzt und gefragt, was zur Hölle ich mir dabei denke. Er war nicht wütend, hat sich nur fürchterliche Sorgen um mich gemacht. Für meinen Vater bin ich immer noch ein kleines Mädchen. Zu meinem Glück waren meine Mutter und meine kleine Schwester Lene auf meiner Seite. Sie haben verstanden, wieso ich diesen Weg einschlagen wollte. Nicht nur für mich, sondern auch für Oma …
Oma war mindestens ein genauso großer Weihnachtsfan wie ich. Zur schönsten Zeit im Jahr sah man unser Haus schon aus einem Kilometer Entfernung strahlen. Es war ein kleines bisschen kitschig, aber immer geschmackvoll. Oma war die Dekorations-Meisterin und ich war ihre Gehilfin.
»Was ist denn da?«, frage ich Snow, der wie vom Blitz getroffen stehen bleibt und den Kopf schnuppernd nach rechts reckt. Ich knie mich neben ihn, wobei ich mich konzentrieren muss, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Während ich versuche zu erkennen, was seine Aufmerksamkeit erregt hat, grabe ich meine Finger tief in sein flauschiges Fell. »Hallo?«, rufe ich, als ich ein Fluchen höre. Eigentlich müssen die Gäste nicht durch den Schnee stapfen, um zum Dorf zu gelangen. Der offizielle Parkplatz führt über einen Weg hinein, der stets freigeräumt ist. Obwohl es nicht meine Aufgabe ist, laufe ich so schnell ich kann in die Richtung, aus der das Fluchen kommt. Wütende Gäste sind keine einfachen Gäste, dennoch setze ich mein breitestes Grinsen auf. Snow ist schneller als ich und als der Mann ihn auf sich zustürzen sieht, fällt er rückwärts auf seinen Hintern.
Jetzt bloß nicht lachen! Dem Fluchen nach zu urteilen ist es ein alter Mann, der sich hier verirrt hat.
***
Levi
»Fuck!« Mein Herz hämmert wie verrückt in meiner Brust, während ich dieses Monster mit hastigen Armbewegungen verscheuchen will. Im ersten Augenblick dachte ich, ein Wolf käme auf mich zugestürzt. In diesem Hinterland wäre das wahrscheinlich gar nicht so ungewöhnlich. Ich war mir sicher, dass mein letztes Stündlein geschlagen hat. Alles, was ich jemals aus der Serie »Abenteuer Survival« über das Verscheuchen eines wilden Tieres gelernt habe, habe ich vergessen. Bear Grylls wäre schwer enttäuscht von mir! Ich glaube kaum, dass eine Taktik darin besteht, ängstlich auf dem Boden zu kauern. Ein Glück, dass es nur ein Hund ist.
Jetzt liege ich hier wie ein Käfer auf dem Rücken und spüre, wie meine Hose sich immer weiter mit dem unter mir tauenden Schnee vollsaugt und mich nach unten zieht. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr wie zwanzig, sondern wie zwei. Zu allem Überfluss wurde ich bei dieser peinlichen Aktion auch noch beobachtet. Von einem Mädchen, das sich offenbar ein Lachen unterdrücken muss, als es mit fast tanzenden Schritten auf mich zukommt.
***
Juna
»Kann ich dir helfen?«, frage ich freundlich und erkenne, dass ich mich geirrt habe. Vor mir liegt kein alter Mann, sondern jemand in meinem Alter. Vielleicht ein wenig älter. Sein Gesicht ist zerknirscht und die Klamotten eindeutig nicht für diesen Spaziergang geeignet. Die Jeans, die er trägt, sind schon jetzt völlig durchnässt.
»Geht schon«, murmelt er. Unterdessen versucht er sich hochzustemmen, rutscht jedoch immer wieder mit seinen nackten, vor Kälte erröteten, Händen aus und landet wieder im hohen Schnee.
Bevor er sich noch einmal wehren kann, greife ich nach seinem rechten Arm und hieve ihn hoch. Im Augenwinkel erkenne ich, dass Snow ihn anspringen will, doch ich bringe ihn mit einem einzigen Kommando dazu, sich hinzulegen. Nur noch seine funkelnden Augen ruhen auf uns. Er ist der geborene Wachhund, was mir bei unseren Spaziergängen im Wald die nötige Sicherheit gibt.
»Ich bin Juna«, stelle ich mich vor, während ich in meinem Rucksack nach einem zweiten Paar Handschuhen suche. Ich bin immer gerne für alle Eventualitäten ausgerüstet. Auch mit größter Achtsamkeit kann es passieren, dass man eine vereiste Stelle übersieht und sich volle Kanne hinlegt. Kein zweites Paar Handschuhe zu haben, bedeutet hier draußen dann, dass ich mich zwischen meinem geliebten Waldspaziergang und abgestorbenen Fingerspitzen entscheiden müsste. Mit einem unerwarteten Besucher, der diesen durchkreuzen würde, habe ich allerdings nicht gerechnet. Ich notiere mir also auf meinem imaginären Merkzettel: zukünftig zwei Paar Ersatzhandschuhe einpacken.
»Levi«, brummt er. Snow lässt er dabei nicht aus den Augen. Snows Blick nach zu urteilen beruht die Skepsis allerdings auf Gegenseitigkeit. »Er … er wird mir doch nichts tun, oder?«
»Nein«, antworte ich amüsiert. »Du darfst nur auf keinen Fall den Augenkontakt verlieren.«
Angestrengt starrt er den Husky weiter an, wirkt aber mit jeder Sekunde angespannter. »Ich … habe eine Schneeflocke im Auge.«
Lachend gebe ich Snow mit einer Handbewegung und einem Pfiff zu verstehen, dass er zurück zum Dorf laufen soll, was er ein wenig widerwillig dann auch tut. »Das war nur ein Scherz.«
Zum ersten Mal sieht Levi mich wirklich an und nachdem er sich das Auge gerieben hat, tue ich es ihm gleich. Er sieht gut aus. Bei meinem Job lerne ich eher selten Jungs kennen.
Okay, das war gelogen. Nur sind diese Jungs entweder so jung, dass ich mich strafbar machen würde oder sie sind mit ihren Freundinnen hier. Und da vergebene Jungs zu daten für mich ein absolutes No-Go ist, sind auch diese von vorneherein ausgeschlossen. Ob Levi Single ist?
Seine Augen sind im Gegensatz zu meinen dunkel, genauso wie seine Haare. Wo meine in den vom Schnee reflektierenden Sonnenstrahlen weiß schimmern, verschlucken seine sämtliches Licht.
Als ein Zittern seinen Körper durchströmt, erinnere ich mich, dass ich immer noch die Handschuhe in den Händen halte und reiche sie ihm. Kurz begutachtet er sie kritisch, weil das pink-rote Muster eindeutig nicht seinem Stil entspricht, doch die Kälte überwiegt und er schlüpft hinein. Sie sind ein schöner Kontrast zu seinen schwarzen Klamotten und passen perfekt zu seinen roten Wangen, die aussehen, als hätte jemand minutenlang ohne Rücksicht auf Verluste hineingezwickt.
»Damit sehe ich aus wie ein verdammter Riese«, brummt er und dreht die Hände vor seinen Augen. Schmunzelnd muss ich erkennen, dass er recht hat. Levi überragt mich um einige Zentimeter und seine Hände sind eindeutig nicht so zierlich wie meine. Mommy sagt immer, ich habe die Hände einer Fee, woraufhin Dad dann sagt: Zum Glück nicht die eines Kobolds.
Und wo er recht hat, hat er recht.
Die Handschuhe enden bereits in der Mitte seiner Handfläche, aber da immerhin seine Finger geschützt sind, gehe ich nicht auf seine Nörgelei ein.
»Willst du ins Weihnachtsmanndorf?«, frage ich, während er sich bückt, um seine Tasche zu nehmen und sich über die Schulter zu werfen.
»Nein.« Er kramt nach seinem Smartphone und zeigt mir die Adresse, die darauf zu sehen ist. »Ich will zu dieser Adresse.«
Verwirrt bitte ich ihn, mir die Adresse noch einmal genauer zu zeigen. »Das …« Belustigt hebe ich eine Augenbraue. »Ist das Weihnachtsmanndorf.«
»Auch das noch … der dicke Mann mit dem langen Zottelbart ist mein Vermieter«, haucht er und vergräbt das Gesicht in der nun behandschuhten Hand. Als er wieder aufblickt, zieht er die Luft ein und nickt mir zu. »Hilfst du mir hinzukommen?« Er sieht sich um und für ihn muss es hier überall gleich aussehen. Bäume und Schnee, soweit das Auge reicht. »Sonst erfriere ich hier draußen noch und ende als Wolfsfutter.«
Obwohl ich nicht ganz verstehe, wie er hier landen konnte, ohne überhaupt ins Weihnachtsmanndorf zu wollen, gehe ich vor. Meinen freien Tag habe ich mir anders vorgestellt und obwohl er nicht gerade den fröhlichsten Charakter zu haben scheint, ist da etwas an Levi, was meine Neugierde weckt.
Levi
Junas Blick huscht über die schneebedeckten Bäume, als sähe sie dort etwas, was für meine Augen unsichtbar bleibt. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich auf jeden meiner Schritte konzentrieren muss oder daran, dass ich die Faszination für Schnee nie so wirklich verstanden habe. Wo alle meine Freunde sich weiße Weihnachten gewünscht haben, habe ich sogar Regen bevorzugt. Bei beidem wird man nass, nur dass einem bei Schnee zusätzlich die Eier einfrieren.
Typisch für Finnland ist es in der einen Minute noch hell und in der nächsten sieht man kaum noch die Hand vor den Augen. Hätte Juna mich nicht im Wald aufgelesen, wäre ich spätestens jetzt hoffnungslos aufgeschmissen. Wahrscheinlich hätte mich schon längst ein richtiger Wolf in der Mangel, während ich erstarrt in irgendeinem Graben kauern und versuche würde, mich an irgendeine Survival-Regel zu erinnern. Die Henkel der Tasche graben sich schmerzhaft in meine Schulter, während ich Juna stumm folge und hoffe, dass kein Elch hinter einem der Bäume auftaucht. Wieso zur Hölle gibt es hier auch so viele mörderische Tiere? Die größte Angst vor einem Tier hatte ich in London, als mich eine übergeschnappte Gans verfolgt hat, doch das war kein Vergleich zu den Bedrohungen an diesem Ort.
»Was hat dich eigentlich hierher verschlagen?« Weil sie so nah vor mir läuft, sehe ich, wie sie ihre weißblonden Haare zur Seite wirft, um mich über die Schulter hinweg anzusehen. »Nach einem Weihnachtstourist siehst du nicht gerade aus.« Ein Schmunzeln liegt in ihrer Stimme, dabei hat sie damit genau ins Schwarze getroffen.
»Mein Auto ist liegengeblieben.« Ich ziehe scharf die Luft ein. »Mit mir hast du wohl den größten Grinch der Weltgeschichte erwischt.«
Kichernd dreht sie sich im Kreis, die Arme weit ausgebreitet. »Spoiler: Am Ende wächst sogar sein Herz und er feiert mit allen anderen Weihnachten.«
Ich atme geräuschvoll aus. »Das Ende ist unrealistisch.«
Juna schüttelt den Kopf. »Wetten, dass sich deine Meinung dazu ändern wird?«
Ein Lächeln zupft an meinen Lippen. »Das bezweifle ich.« Vielleicht denkt sie, dass ich Weihnachten nur nicht mag. Oder, dass ich nur cool sein will – eine antrainierte Abneigung sozusagen – aber so ist es nicht. Früher habe ich Weihnachten geliebt und an alles geglaubt: an den Weihnachtsmann, fliegende Rentiere und an Weihnachtswunder. Nur habe ich viel zu früh die bittere Realität kennenlernen müssen. Das restliche Jahr bin ich nicht ganz so ein Miesepeter, aber die Weihnachtszeit holt das Schlechteste von mir an die Oberfläche. Sogar meine Freunde halten sich in dieser Zeit von mir fern. Es grenzt also an ein Wunder, dass ich Juna noch nicht innerhalb weniger Minuten verschreckt habe.
»Und dich? Was machst du hier so mitten im Wald?« Meine Füße beginnen langsam eiskalt zu werden. Wie lange dauert es wohl, bis Zehen abgefroren sind? Kleine Eiskristalle bilden sich zwischen Schuh und Socke und brechen bei jedem Schritt knisternd.
»Ich arbeite hier.« Sie nimmt meine Hand und beschleunigt ihre Schritte. »Da vorne ist es! Komm, du hast es bald geschafft!« Ich folge ihrem Blick und sehe die ersten Lichter, die sich um die Dächer der Häuser schlingen. Schon von weitem höre ich wie Last Christmas aus den Boxen dröhnt. Das wohl fürchterlichste und schnulzigste Lied auf diesem Planeten. Ich hasse es.
***
Juna
Ich liebe dieses Lied! Obwohl es hier draußen immer kälter wird, erwärmt sich mein Inneres bei jedem Ton, der meine Ohren erreicht. Summend schwebe ich durch den Schnee und lasse Levis Hand nicht los, weil ich befürchte, dass er sonst wieder langsamer wird. Er scheint sich nicht gerade darüber zu freuen, hier zu sein. Doch das wird sich ändern, wenn er sich endlich aus diesen nassen Klamotten schälen und in die Sauna hüpfen kann. Eine halbe Stunde in der Sauna und die Welt ist wieder in Ordnung.
Die bunten Lichter, die um mich herum funkeln, bestätigen mir mal wieder, dass ich hierhergehöre und ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Das hier ist mein Zuhause. Das Dorf ist brechend voll, wie immer. Sogar im Sommer tummeln sich hier Menschen, die den Wohnort des berühmtesten Mannes der Welt sehen wollen. Doch im Winter und vor allem im Dezember ist hier die Hölle los.
»Hey, Kira! Hast du heute Schicht?«, frage ich meine Freundin, die gerade an uns vorbeiläuft und ihre rote Mütze aufsetzt.
Sie grinst mich mit einem gehetzten Gesichtsausdruck an. »Ich bin viel zu spät dran! Das wird dem Weihnachtsmann überhaupt nicht gefallen.«
»Halte dich besser von der Deko fern!« Lachend treibe ich sie zur Eile an. Seit wir auf YouTube ein Video gesehen haben, in dem ein Einkaufszentrums-Weihnachtsmann einen Teenager mit einer großen Zuckerstange verprügelt hat, ziehen wir unseren Weihnachtsmann damit auf, dass wir vor ihm sputen, bevor er uns auch verprügelt. Dabei ist unser weißhaariger Freund der netteste Mensch der Welt – der Weihnachtsmann eben.
»Hast du eigentlich immer so gute Laune?«, fragt da plötzlich Levi abfällig und ich überlege, ob ich ihn Grinch oder doch eher Scrooge nennen soll. Wobei Grantelbart auch ein passender Name wäre.
»Mit guter Laune lebt es sich leichter, Grantel.« Ich deute auf das Häuschen, in dem die Gäste einchecken sollen. »Da vorne kannst du dich anmelden. Ich muss los. Plätzchen backen.«
***
Levi
Während ich Juna hinterhersehe, frage ich mich, ob ich sie womöglich verschreckt habe und nehme mir vor, sie später zu suchen, um mich zu entschuldigen.
Sie hat mir ihre Handschuhe gegeben und mir aus diesem Wald hinausgeholfen und ich habe nichts Besseres zu tun, als sie mit meiner schlechten Laune runterziehen zu wollen? Dieses Land verwandelt mich wirklich in ein vorpubertäres Kind.
»Tief durchatmen, Levi!«, wiederhole ich die Worte, die mir meine Tante Ann immer eintrichtert, wenn ich mal wieder die Kontrolle verliere. Es war nicht leicht für mich mit neun Jahren zu ihr zu ziehen und ich habe mich oft falsch verhalten, hatte die falschen Freunde, falschen Ideale und keine Perspektive. Ich war verletzt und wütend auf die ganze Welt. Wütend auf meine Tante und wütend auf mich.
Meine Tante hat mir geholfen, mit meinen Dämonen umzugehen, aber jetzt ist sie nicht hier.
Nachdem ich drei Mal tief Luft geholt und sie wieder vollends rausgelassen habe, fühle ich, wie der Druck in meiner Brust weniger wird. Manchmal neige ich dazu, mich in Gefühle hineinzusteigern, die mich von innen vergiften.
Weil ich die nächsten Tage irgendwie überstehen und nicht wie ein Häufchen Elend in irgendeiner Ecke landen will, ringe ich mir ein Lächeln ab, als ich die Rezeption betrete. Sogar hier wird man von Weihnachtsschmuck, Girlanden und Lichterketten geradewegs erschlagen. Weiter lächeln, Levi!
»Hey«, begrüße ich eine ältere Dame, die in ihrer Elfenuniform nahezu kindlich wirkt.
Ihr Lächeln ist im Gegensatz zu meinem echt und herzlich. »Hallo und herzlich willkommen in unserem schönen Weihnachtsmanndorf. Wie darf ich Ihnen helfen?« Feine Fältchen bilden sich um ihren Mund und auf der Stirn. Es gibt Menschen, die mit dem ganzen Gesicht lächeln. Sie ist eine davon.
»Ich bin Levi Kaaro. Ich habe vor einer Stunde ein Haus hier gemietet. Für eine Woche.« Weil hier drin sicherlich dreißig Grad herrschen, schäle ich mich aus Junas Handschuhen und lege sie auf den hölzernen Tresen vor mir. Die Elfe tippt meinen Namen in den Computer ein und sieht mich mit einem Lächeln an.
»Das Super-Spar-Haus«, sagt sie überrascht. »Wir vermieten dieses Haus nicht oft, aber ich bin mir sicher, dass Sie viel Spaß haben werden.«
Während sie in einer Schublade nach dem Schlüssel sucht, macht sich in mir ein mulmiges Gefühl breit. Dass das Zimmer verdammt günstig war, hat mich in dem Moment nicht stutzig gemacht. Jetzt frage ich mich, was ich mir mit dem Sparpreis eingebrockt habe. Ob es gleich neben den Klos ist? Oder vor einer Müllkippe? Vielleicht spukt es aber auch darin. Vielleicht hätte ich mir die Anzeige doch mal durchlesen sollen. Na ja, jetzt ist es ohnehin zu spät. In dieser Dunkelheit werde ich einen Teufel tun und mir eine neue Bleibe suchen. Mit einem Geist komme ich schon zurecht.
Aus Angst vor der Antwort hake ich nicht weiter nach, was es mit dem Sparpreis auf sich hat und nehme den Schlüssel dankend entgegen. Er ist alles andere als filigran, doch vermutlich soll es zu dem rustikalen Stil dieses Ortes passen. Ich verabschiede mich, stopfe die albernen Handschuhe in meine Jackentasche und mache mich auf den Weg.
Meine Hütte ist eines von vielen roten Gebäuden, die sich mit genügend Abstand aneinanderreihen. Von außen lässt sich zumindest kein Nachteil gegenüber den anderen Hütten erkennen. Ich rieche keinen Müll und sehe keine Klos weit und breit. Die weißen Bordüren, die sich um die Hütte ziehen, rahmen sie perfekt ein. Wäre ich nicht so erschöpft, könnte ich den Anblick beinahe genießen. Jetzt will ich allerdings einfach nur meine Schuhe ausziehen, ein heißes Bad nehmen und mich hinlegen.
Sobald ich die Tür mit meinem Schlüssel öffne, strömt mir der Duft von frisch gebackenen Plätzchen entgegen.
Eines muss man den Betreibern ja echt lassen: Sie haben wirklich an alles gedacht.
***
Juna
Zufrieden begutachte ich mich im Spiegel und finde, dass mein neues Lieblingsstück meine Augen noch mehr zur Geltung bringt. Wenn ich nicht gerade meine Elfenuniform am Körper trage, lebe ich in kitschigen Weihnachtspullovern – je kitschiger, desto besser. Ugly Christmas Sweater sind bei mir der Renner. Meine Eltern haben mir gestern ein kleines Paket geschickt, weil sie auf dem Flohmarkt einen gefunden haben, den sie für mich ergattern mussten. Von meiner rechten Halsseite bis zur Hälfte meines linken Arms ist ein wunderschönes Rot mit Schneeflockenprint zu sehen. Parallel dazu ist unten dasselbe Print gedruckt, jedoch mit einem mitternachtsblauen Hintergrund. Und das Highlight in der Mitte ist ein freundliches Schneemanngesicht, das jeden angrinst, der vor mir steht.
Weil meine Plätzchen mittlerweile die perfekte Bräune haben müssten, husche ich ins Wohnzimmer, wo es mollig warm ist und erstarre, als ich Levi entdecke. Er sieht mich mindestens so perplex an wie ich ihn.
Verwirrt dreht er sich auf dem Absatz um und verschwindet durch die Tür. Als er wieder reinkommt, wirkt er nicht weniger verdutzt. »Das hier ist doch die Zwölf?«
Nickend stehe ich da und ziehe meinen Pullover ein Stückchen tiefer, weil ich bis auf ihn und meinen Slip nichts trage. Sobald ich Zuhause war, habe ich mich aus meinen Klamotten geschält und es mir gemütlich gemacht.
»Aber … wieso …« Er schüttelt den Kopf. »Was machst du hier?«
»Was machst du hier?«, gebe ich die Frage zurück, doch in demselben Moment beantworte ich sie mir selbst.
Während ich ins Badezimmer husche, um mir meine Yogahose überzuziehen, spüre ich seinen Blick auf mir. Für gewöhnlich begrüße ich die Neuen nicht halbnackt. Normalerweise werde ich allerdings auch vorher gewarnt, wenn jemand hier einzieht. »Du hast das Schnäppchenhaus gebucht, nicht wahr?«, rufe ich ins Wohnzimmer, in dem er jetzt steht.
»Ja?« Es klingt wie eine Frage. Offenbar hat er die Beschreibung nicht gelesen.
»Schon mal darüber nachgedacht, warum es Super-Spar-Haus genannt wird?«, will ich von ihm wissen. Als ich nun angezogen wieder zurückkomme, laufe ich an ihm vorbei zu dem großen Eichenschrank am Eingang und nehme eine meiner grünen Elfenmützen heraus. Dass Levis Hose den ganzen Boden volltropft, stört in diesem Augenblick keinen. Feierlich schreite ich auf ihn zu und vielleicht … ganz vielleicht gibt es mir ein bisschen Genugtuung, als ich ihm die Mütze über den braunen Haarschopf stülpe. Ich bin kein schadenfroher Mensch, aber das hier nennt sich Karma. Sein schockierter Blick ist einfach ein Bild für die Götter. »Willkommen im Team, Helfs-Elf.«
***
Levi
Das kann doch nur ein ganz gewaltiger Scherz sein! Ich soll an diesem Ort arbeiten? Ausgerechnet ich, Levi Kaaro in der Rolle als Elf? Das wäre die perfekte Vorlage für einen dieser klischeehaften Weihnachtsfilme. Einer in denen der Weihnachtsmuffel schlechthin im allerletzten Moment ein ganzes Fest für seine Familie organisieren muss und alles außer Kontrolle gerät und er am Ende sogar Weihnachten liebt. Nur dass ich bis auf Tante Ann keine Familie habe und dass das hier kein verdammter Film ist!
Ich spüre, wie das Seil meiner Frustrationsgrenze immer weiter gespannt wird, bis es zu reißen droht. Zum Durchatmen ist es längst zu spät.
Obwohl Juna offenbar immer noch auf eine Reaktion wartet, drehe ich mich um und schließe die Augen. Ich darf nicht ausflippen. Nicht jetzt und nicht hier, wo niemand ist, der mich wieder beruhigen kann.
Tante Ann wollte mich schon seit Jahren zu einem Psychologen schicken, aber ich habe immer abgeblockt. In den letzten Jahren habe ich versucht, ihr gegenüber immer mehr zu verschleiern, wie es mir wirklich geht. Sie hat genauso viel verloren wie ich und ich habe nicht das Recht, sie immer und immer wieder daran zu erinnern.
Doch vielleicht hatte sie recht. Sie wusste wohl, dass der Schein trügt. In England gibt es nicht so viele Faktoren, die diese Hässlichkeit in mir hervorbringen können. Hier in meinem »Heimatland« habe ich das Gefühl, dass ich von Sekunde zu Sekunde gereizter werde. So vieles erinnert mich an damals …
Hastig greife ich in meiner Jackentasche nach meinem Telefon, öffne die erstberste Tür, die ich finden kann und finde mich in einem winzigen Gästeklo wieder. Ich wähle mit zittrigen Fingern Tante Anns Nummer. Es dauert keine zwei Sekunden, da hebt sie ab.
»Hallo, mein Junge. Wie geht es dir?«
Ich stoße die Luft aus, was Antwort genug für sie ist.
»Alles wird gut, Levi. Du bist so ein tapferer Junge. Ich bin unheimlich stolz auf dich.«
Ich grabe mir die Fingernägel in die Handfläche. »Du weißt nicht, wie ich mich fühle«, brumme ich in den Hörer.
»Doch …« Ich höre ihr schweres Schlucken sogar durch das Telefon. »Doch, mein Schatz. Das weiß ich.« Ein paar Sekunden verstreichen, in der niemand von uns etwas sagt. »Wie war dein Flug?«
Tante Ann ist der einzige Mensch auf diesem Planeten, der weiß, was damals passiert ist. Seit ich zu ihr gezogen bin, habe ich meine Vergangenheit verdrängt und mit keiner Menschenseele darüber gesprochen. Vermutlich ist Verdrängung nicht die beste Herangehensweise, aber die einfachste allemal. Während ich ihr erzähle, dass einfach alles schiefgegangen ist, was ich mir so gründlich vor meiner Abreise überlegt habe, ziehe ich meine Jacke aus und werfe sie ungalant auf den Klodeckel. In dieser Wohnung müssen es dreißig Grad sein, was vermutlich auch der Grund ist, wieso Juna hier ohne Hose herumgelaufen ist. Ein Fakt, der mich in einer anderen Situation sicherlich nicht kaltgelassen hätte, weil sie in diesem Aufzug echt gut ausgesehen hat.
Nachdem ich die ganze Leidensgeschichte der letzten Stunden in einer Tirade von mir gegeben habe, höre ich, wie meine Tante den Lautsprecher wieder ausstellt und den Hörer ans Ohr hält. Vermutlich hat sie nebenbei das Bett gemacht oder gekocht und seltsamerweise beruhigt mich dieser Gedanke. Sie war schon immer ein gelassener Mensch. Ganz anders als ich. Wo ich mich wegen einer lächerlichen Kleinigkeit aufregen kann, bleibt sie selbst bei einer Tragödie völlig ruhig.
»Versuch die Zeit irgendwie zu genießen. Vielleicht lernst du ja etwas in dieser Situation.«
Ich lehne mich gegen die Wand und lasse meinen Kopf dagegen fallen. »Und was sollte das sein?«
Sie lacht leise. Ich sehe die Lachfältchen vor meinem inneren Auge, die ihr Gesicht verzieren. »Dass das Schicksal dich manchmal aus einem guten Grund an bestimmte Orte führt.«
»Du weißt, dass ich nicht an Schicksal glaube«, murmele ich. Genaugenommen glaube ich an gar nichts mehr. Weil in diesem Augenblick die Lüftung angeht und dieses Geräusch mich wahnsinnig macht, verlasse ich mein Versteck wieder. Im Flur ist es jedoch nicht unbedingt ruhiger.
»Das solltest du aber, mein Junge.«
Ich verdrehe die Augen, bleibe dann jedoch an Juna hängen, die gerade völlig verkohlte Plätzchen in den Mülleimer wirft. Wahrscheinlich hat mein Auftauchen dazu geführt, dass sie nun erneut backen muss. Ich beobachte sie dabei, wie sie Mehl, Zucker und diverse andere Zutaten wahllos in eine Schüssel gibt und miteinander verrührt.
Als Juna erneut zu dem Mehl greift – wovon sie schon eindeutig zu viel drin hat – schüttele ich den Kopf. »Ich muss auflegen. Ich ruf dich morgen an.«
»Gut. Aber vergiss nicht: Ich bin da, wenn du mich brauchst.«
Ein letztes Mal schließe ich die Augen und lasse ihre Worte auf mich wirken. Wie immer schafft diese Frau es, mir einen Teil meines Ballasts abzunehmen. Sie ist nicht meine Mutter und hat auch nie so getan, doch bei ihr fühle ich mich verstanden und das ist mehr, als mir sonst jemand geben kann.
Nachdem ich mich verabschiedet und aufgelegt habe, gehe ich vorsichtig auf Juna zu und stütze mich mit den Händen auf die Arbeitsfläche, auf der sie gerade noch mehr Mehl verstreut, um den Teig zu verteilen. Auch in dieser Situation, die echt beschissen ist, kann ich den Drang nicht ignorieren, diese teigähnliche Pampe zu nehmen und in die Mülltonne zu schleudern. Jahrelange Prägung durch meine Tante haben dazu beigetragen, dass ich ein Perfektionist bin, was Backen angeht.