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Zuerst schleicht er sich in deine Wohnung – dann in dein Herz. Ceciles schlimmster Albtraum wird wahr: Nachts steht plötzlich ein fremder Typ in ihrem Bad. Dass Trevor sie nicht ausrauben will, bringt sie aus dem Konzept – genau wie seine blauen Augen. Ohne es zu wollen, laufen sich die beiden immer wieder über den Weg, und es knistert immer heftiger zwischen ihnen. Was Cecile nicht ahnt: Trevor ist zwar nicht aus kriminellen Absichten in ihrer Wohnung gelandet, aber sein Bruder sitzt hinter Gittern – und dessen Tat ist eng mit Ceciles Leben verknüpft. Eine weitere knisternde Romance von Sarah Saxx: "Snowflakes All Around Us"
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Seitenzahl: 453
TRIGGERWARNUNG:
Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können.
Deshalb findet ihr hier einen Hinweis zum Inhalt.
ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.
Als Ravensburger E-Book erschienen 2023
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2023 Ravensburger Verlag GmbH
Text © 2023 Sarah Saxx
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur, www.textbaby.de
Umschlaggestaltung: Andrea Janas unter Verwendung von Fotos von © Depositphotos (bluehand) und © Shutterstock (tomertu und donikz)
Lektorat: Franziska Jaekel
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-473-51175-4
ravensburger.com
FÜR ANIKA – UND FÜR ALLE
MÄDCHEN UND FRAUEN, DIE AUF IHRE TRÄUME
UND IHR BAUCHGEFÜHL HÖREN.
IHR MACHT ALLES RICHTIG.
The Fire – Clear Blue Fire
One For The Road – Arctic Monkeys
Sinister Kid – The Black Keys
Devil’s Backbone – The Civil Wars
Dead Man Walking –WAR*HALL
Heat Stroke – Black Math
Dead Weight –PVRIS
Wild Stare – Giant Rooks
Dear No One – Tori Kelly
Not Worth the Whisky – Sarah King
The Wire –HAIM
Back To Black – Amy Winehouse
Bomb Through the Breeze – Hannah Wicklund
Criminal – Fiona Apple
Dangerous – Royal Deluxe
Nightstand – Sarah King
1121 – Halsey
Where Are You? – Elvis Drew, Avivian
I Put A Spell On You – Annie Lennox
Diese Playlist findest du auch auf Spotify unter »One Stolen Night – by Sarah Saxx«.
An das Gefühl, allein zu wohnen, musste ich mich erst gewöhnen. Meine Mitbewohnerin und Freundin Nicola war vor knapp zwölf Stunden ausgezogen und schon fühlte ich mich seltsam einsam. Was verrückt war, denn auch zuvor war ich an einigen Abenden allein gewesen und es hatte mich nicht gestört. Doch zu wissen, dass ihr Zimmer leer war, dass ich sie nicht einfach anrufen konnte und sie innerhalb kürzester Zeit zu Hause sein würde, wenn ich sie bräuchte, sorgte für eine nervige innere Unruhe.
Ich schaltete den alten Flachbildfernseher ein, den sie mir überlassen hatte, was zum Glück für ein wenig Ablenkung sorgte – bis ich ein seltsames Geräusch hörte. Als würde Eisen auf Eisen schaben.
Sofort schaltete ich den Fernseher auf stumm.
Da war es schon wieder.
Eine Gänsehaut schüttelte mich und mein Herzschlag verdreifachte sich – mindestens.
Das kam von draußen! Da musste jemand die Feuerleiter hinabklettern! Ob es im Haus brannte? Meine Horrorvorstellung schlechthin …
Tief sog ich Luft ein. Roch ich Rauch?
Nein, oder?
Ich warf einen kurzen Blick durch den Türspion auf den Flur, in dem nur das Licht der Notbeleuchtung brannte – wie immer, wenn sich dort niemand aufhielt. Also wagte ich es, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen. Aber es duftete nur dezent nach dem leckeren Brot, das die alte Miss Dixon aus Apartment 1B im Erdgeschoss manchmal buk.
Leise schloss ich die Tür wieder und lauschte.
Erneut hörte ich das Geräusch. Mein Herz polterte wild in der Brust.
Schnell huschte ich ins Badezimmer, von wo aus ich einen Blick nach draußen werfen konnte.
Scheiße! Da war tatsächlich jemand auf der Feuerleiter. Doch die Person benutzte sie nicht, um das Haus zu verlassen, sondern kletterte nach oben.
Ich zuckte zurück.
Rasch löschte ich alle Lichter. Oder war das ein Fehler?
Falls die Person auf der Suche nach einer Wohnung war, in die sie einbrechen konnte, wäre es vielleicht falsch zu suggerieren, dass gerade niemand zu Hause war. Aber nun war es zu spät. Wer auch immer da heraufkam – und mit welcher Absicht –, war inzwischen fast auf meiner Höhe. Und nein, ich würde nicht einfach zusehen, wie hier jemand einstieg.
Ohne zu zögern, eilte ich in mein Zimmer, wo Dads Baseballschläger hinter der Tür lehnte. Ich hatte ihn irgendwann mitgehen lassen, weil mein Vater damit sowieso nur auf dumme Gedanken kommen würde und ich schon länger überlegt hatte, mir etwas zur Selbstverteidigung zu besorgen – offenbar zu Recht.
Den Schläger mit beiden Händen umklammert, beobachtete ich den dunklen Schatten und hoffte, dass er in den vierten Stock weiterklettern würde. Doch der Schatten hielt an meinem Badezimmerfenster und ging davor in die Knie.
Heftig atmend lauschte ich in die Stille. Das Rütteln und Schaben von Holz ertönte. Er machte sich am Fensterrahmen zu schaffen!
Mist, Mist, Mist! Wieso ausgerechnet heute? Am ersten Abend, an dem ich allein war.
Mühsam kämpfte ich gegen die aufsteigenden Tränen.
Bloß nicht heulen. Keine Schwäche zeigen. Tief durchatmen.
Entschlossen hielt ich den Schläger fester, wich langsam zurück und lehnte die Badezimmertür leise von außen an. Ich versteckte mich hinter der Wand und lauschte heftig atmend.
Ein Rums ertönte. Das Fenster war geschlossen worden. Ob von innen oder von außen wusste ich nicht. Doch ich würde es gleich herausfinden.
Ich wollte nicht das Opfer sein, das auf seinen Peiniger wartete. Ich wollte mich nicht irgendwo verkriechen und mich beklauen lassen. Es war wirklich nicht viel, was ich besaß, aber selbst für mein altes Handy würde man auf dem Schwarzmarkt noch ein paar Dollar bekommen. Mal abgesehen von dem Trinkgeld, das ich heute in meiner Schicht verdient hatte und zusammen mit meinem Mietanteil in der Zuckerdose in meinem Zimmer aufbewahrte. Überhaupt nicht auffällig. Nicola hatte mich mehrfach darauf hingewiesen, aber selbst nachdem vor einer Weile bei Miss Dixon eingebrochen worden war, hatte ich mir keinen neuen Aufbewahrungsort für mein Bargeld gesucht. Jetzt könnte ich es bereuen, wenn es zum Diebesgut werden würde.
Mit diesem Gedanken stieg unbändige Wut in mir auf. Ich würde nicht zulassen, dass sich irgendein Idiot an meinen Sachen vergriff.
Drohend hob ich den Baseballschläger und riss die Tür zum Bad auf. »Verdammte Scheiße, wer bist du und was tust du in meiner Wohnung?«, brüllte ich aus Leibeskräften, während ich gegen den Impuls ankämpfte, loszurennen und mich in Sicherheit zu bringen.
ZWEI WOCHEN ZUVOR
»Wir müssen reden.«
Der Satz meiner Mitbewohnerin Nicola ließ mich zusammenzucken, als ich am Freitagnachmittag vor dem Kleiderschrank stand und die frische Wäsche einräumte. Besonders deshalb, weil es kein fröhliches »Komm, lass uns ein wenig quatschen« war. Im Gegenteil, schlechtes Gewissen schwang in ihren Worten mit, Vorsicht und vielleicht auch ein bisschen Sorge – wie ich ihre Nachricht aufnehmen oder wie ich darauf reagieren würde?
Sie lehnte am Türrahmen und schaute mich abwartend an.
»Okay …«
Mit dem Kopf deutete sie hinter sich. »Kommst du mit ins Wohnzimmer? Mir wäre es lieber, wenn wir uns hinsetzen.«
Das ungute Gefühl verstärkte sich und ich überlegte, was vorgefallen sein könnte. Hatte sie sich an meinen Lebensmitteln im Kühlschrank bedient? Aber das wäre nicht schlimm und sicher kein Grund, so zögerlich zu sein.
Hatte sie sich mal wieder Klamotten aus meinem Schrank geliehen und womöglich unabsichtlich ein Loch oder Flecken hineingemacht? Das wäre ärgerlich, aber trotzdem kein Drama. Mit dem Job als Empfangsdame im Restaurant konnte ich mir zwar gerade so meinen Teil der Miete, die restlichen Fixkosten und etwas zu essen leisten, doch selbst wenn sie eine Bluse oder einen Pulli von mir geliehen und kaputt gemacht hätte, würde ich ihr dafür nicht den Kopf abreißen. Mal abgesehen davon, dass sie mir das Kleidungsstück anstandslos ersetzen würde, wie ich sie kannte. Die meisten meiner Klamotten hatte ich sowieso vom Wühltisch oder aus Secondhandläden.
Oder hatte ich etwas angestellt oder etwas Falsches gesagt? Doch ich war mir keiner Schuld bewusst.
Nicola ließ sich auf die abgewetzte braune Couch sinken und blies sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die gleich darauf wieder an Ort und Stelle landete.
»Was ist los? Ehrlich gesagt machst du mir ganz schön Angst.« Verlegen lachte ich auf.
Sie biss auf ihre Unterlippe und machte es sich im Schneidersitz bequem. »Also … du weißt ja, dass ich mit meinem Job im Callcenter nicht wirklich glücklich bin und mich deshalb für andere Stellen beworben habe.«
Ich nickte. Das war ein ständiges Thema zwischen uns, weil sie regelmäßig müde und vor allem völlig aufgelöst nach Hause kam. Sie arbeitete in der Verwaltung des Callcenters und ihr Chef war ein richtiger Mistkerl, der sie sogar anschrie, wenn der Kaffee zu heiß war, den sie ihm bringen musste.
»Nun, es ist so … ich habe endlich einen neuen Job.«
»Echt?«, sagte ich, aber es klang eher fragend als euphorisch, weil sie immer noch ein Gesicht zog, als würde sie gleich ihr Erstgeborenes opfern müssen.
»Ja, es ist ein richtig guter Job. Du erinnerst dich an das Bewerbungsgespräch bei der Marketingfirma vor zwei Wochen, als ich mir den schwarzen Blazer von dir geliehen habe?«
Ich nickte.
»Sie haben mir eine Zusage gegeben. Bessere Bezahlung, spannenderer Arbeitsbereich und mit ziemlicher Sicherheit ein angenehmerer Chef.«
Wir schmunzelten beide, denn Letzteres war nicht schwer.
»Die Sache ist die: Der Hauptsitz dieser Firma ist in Chicago. Und sie wollen mich dort haben.«
Mein Herz sackte ungefähr dorthin, wo eben noch das ungute Gefühl gesessen hatte.
»Aber … wir wohnen in New York!« Langsam wurde mir klar, worauf dieses Gespräch hinauslief. »Du wirst von hier weggehen …«
Nicola nickte betreten.
Seit einem knappen Jahr teilte ich mir diese Wohnung mit ihr. Kaum dass ich mit der Highschool fertig gewesen war und einen Job gefunden hatte, der mich allein über Wasser halten würde, hatte ich mich auf Wohnungssuche begeben. Ich hätte es weder bei meiner Mutter länger ausgehalten, die dauernd mit Alkoholproblemen zu kämpfen hatte, noch bei meinem Dad, der immer wieder arbeitslos und zudem spielsüchtig war und sämtliche Schlupflöcher im Sozialsystem ausnutzte, um sich durchzuschummeln. Mal davon abgesehen, dass er garantiert mein Gehalt für sich beansprucht und mich auf diese Weise an sich gebunden hätte. Deshalb hatte ich beschlossen, mir eine eigene Bleibe zu suchen. Durch Zufall war ich auf Nicolas Inserat gestoßen, die ein Zimmer in ihrer Wohnung vermietete. Sie war drei Jahre älter als ich und ihr vorheriger Mitbewohner war mit seinem Freund zusammengezogen. Sein Glück war somit auch meines. Noch am Besichtigungstag hatte ich den Vertrag unterschrieben. Und das, obwohl ich definitiv nicht der Typ für Spontanaktionen und Fremden gegenüber grundsätzlich skeptisch war. Bei Nicola hatte ich allerdings gleich ein gutes Gefühl gehabt – und ich hatte mich nicht getäuscht.
»Ich habe ein echt schlechtes Gewissen deswegen und kann mich noch gar nicht richtig darüber freuen, weil ich … na ja … Die Firma möchte, dass ich in zwei Wochen anfange.« Sie knibbelte an ihrer Nagelhaut am Daumen und schaffte es nicht, mir ins Gesicht zu schauen.
»Okay, das kommt nun wirklich überraschend. Hast du denn überhaupt eine Wohnung in Aussicht?«
Nicola nickte zaghaft. »Sie stellen mir für die ersten drei Monate ein Apartment zur Verfügung. Danach muss ich selbst etwas gefunden haben.«
»In zwei Wochen schon«, murmelte ich und stand auf, eine Hand an der Stirn. »Das bedeutet, ich muss mir ebenfalls eine neue Bleibe suchen. Am besten noch heute.«
»Du kannst hierbleiben, Cecile. Das heißt, wenn du möchtest. Freddy hat mir damals auch die Wohnung überschrieben, als er ausgezogen ist. Das ist zwar etwas Papierkram, den kann ich aber gern übernehmen. Der Vermieter war schon in der Vergangenheit sehr offen und ich glaube, dass es auch diesmal keine Probleme geben wird. Immerhin ersparen wir ihm dadurch die Arbeit, nach neuen Mietern zu suchen.«
Wie paralysiert nickte ich. »Gut, okay. Aber das bedeutet, dass ich einen neuen Untermieter brauche. Zu lange kann ich es mir nicht leisten, die ganze Miete zu stemmen.«
Zwar hatte ich ein bisschen Geld zur Seite gelegt, davon wollte ich mir jedoch irgendwann ein paar Tage Auszeit gönnen. Seit zwei Jahren träumte ich davon, im Sommer an die Westküste zu fahren. Bestenfalls irgendwo nach Kalifornien … Meinen eigentlichen Wunsch, irgendwann aufs College zu gehen und Pharmakologie zu studieren, hatte ich inzwischen als unrealisierbar abgehakt. Für ein Stipendium kam ich nicht infrage und das Geld für die Studiengebühren hatte ich nicht – und würde es nie haben.
»Am besten gebe ich noch heute ein Inserat auf. Aber …« Ich schaute auf meine Armbanduhr. »Ich muss in spätestens einer Stunde auf Arbeit sein.«
Die Zeit, die mir blieb, reichte genau, um zu duschen, mir die Haare zu machen, mich anzuziehen und zu schminken. Fotos von der Wohnung aufzunehmen und mit einer entsprechenden Beschreibung online zu stellen, würde unweigerlich dazu führen, dass ich zu spät komme – und das konnte ich mir nicht leisten. Es sei denn, ich würde das Duschen und Stylen ausfallen lassen – aber das war genauso unmöglich. In meinem Job hatte ein gepflegtes Äußeres oberste Priorität.
»Mach dir keinen Kopf, ich kümmere mich auch darum. Das ist schließlich das Mindeste, was ich als Entschuldigung für den ganzen Stress tun kann, den du jetzt durch mich hast. Ich mache ein paar Fotos und bereite die Anzeige vor. Dann musst du sie nur noch lesen, ändern, was dir nicht gefällt, und kannst sie hochladen.«
Mechanisch nickte ich. »Gut, das klingt … gut. Danke. Ich muss dann …« Mit dem Daumen zeigte ich über meine Schulter in Richtung Badezimmer.
»Na los, sieh zu, dass du zur Arbeit kommst!«
Rasch verließ ich das Wohnzimmer. Im Moment konnte und wollte ich nicht darüber nachdenken, was das alles für mich bedeutete. Ich würde meine Freundin verlieren. Klar, wir würden in Kontakt bleiben, aber dass ich sie nicht mehr jeden Tag sehen würde, war ein herber Schock für mich, den ich erst verdauen musste.
Ich duschte im Schnellverfahren, war jedoch die ganze Zeit mit den Gedanken bei Nicolas Jobzusage und den Auswirkungen. Die Ungewissheit, wer in ihr Zimmer einziehen würde, nagte an mir und hatte mich voll im Griff.
Ich war ein Gewohnheitstier und hatte auch nach meinem Einzug eine Weile gebraucht, um mich in der neuen Situation zurechtzufinden. Gut, vielleicht war es völlig normal, dass ich mich erst nach ein paar Wochen zu Hause gefühlt hatte, auch wenn ich mir die Wohnung ausgesucht und zu Nicola schnell einen Draht gefunden hatte. Wir lagen einfach auf einer Wellenlänge. Sie nicht länger in meiner Nähe zu wissen, schmerzte.
Mit einem Handtuch rieb ich über meine kurzen Haare und föhnte sie anschließend trocknen. Der Sommer war gefühlt vorbei und mit feuchten Haaren erkältete ich mich schnell.
Mit etwas Haarwachs stylte ich meine Frisur. Vor einigen Wochen hatte ich den Schritt gewagt und den Bob abschneiden lassen. Zu lange hatte ich auf andere gehört, die mir von kurzen Haaren abgeraten hatten, weil ich dann durch meine nicht gerade kurvige Figur angeblich noch jungenhafter aussehen würde. Aber ich betonte meine großen Augen gern mit Kajal und Mascara und auf meinen Lippen glänzte so gut wie immer etwas Lipgloss. Das musste für das Unterstreichen meiner Weiblichkeit genügen. Abgesehen davon war die kurze Frisur unglaublich praktisch und ich hatte mich noch nie so wohl in meiner Haut gefühlt.
Wenig später stand ich hinter Nicola und schaute ihr über die Schulter, während ich meine weiße Bluse in die dunkelgraue Stoffhose schob, die Teil meiner Arbeitskleidung war. Dabei betrachtete ich die Fotos, die sie bereits hochgeladen hatte. Auf der ersten Aufnahme war unser Wohnzimmer mit den abstrakten Kunstdrucken zu sehen, die ich von einem Flohmarkt mitgebracht hatte und die seitdem über dem Sofa hingen. In der Küche hatte Nicola offensichtlich schnell die Kaffeetassen in die Spülmaschine gestellt und unsere Espressomaschine geschickt in Szene gesetzt. Das letzte Bild zeigte ihr Zimmer mit der grau-schwarz gemusterten Tagesdecke auf dem Bett, wo wir so manchen Netflix-Marathon verbracht hatten. Ich vermisste Nicola und diese Abende schon jetzt.
Mit einem unterdrückten Seufzen überflog ich das Inserat, das sie erstellt hatte.
»Klingt gut. Danke«, sagte ich ehrlich und zog den Blazer über.
»Klar, das ist doch das Mindeste.« Sie sah mich an und das schlechte Gewissen stand ihr nach wie vor ins Gesicht geschrieben.
Ein Lächeln hob meine Mundwinkel. Dennoch war ich mir sicher, dass ich nicht verbergen konnte, wie nervös mich die Situation machte, dass sie auszog. Doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, warf ich ihr eine Kusshand zu, nahm meinen Trenchcoat und meine Tasche und verließ nach einem letzten Blick in den Spiegel die Wohnung.
»Hey, Cecile, alles okay bei dir?« Elaine musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Du siehst aus, als hätte dir jemand den letzten Bagel vor der Nase weggeschnappt.«
»Haha.« Halbherzig lachte ich auf und schloss meine Tasche im Spind des Personalraums ein, bevor ich mich zu meiner Kollegin umdrehte. »Wenn es nur das wäre. Aber ich stehe vor einem ganz anderen Problem. Meine Mitbewohnerin zieht aus und … ich brauche entweder jemanden, der bei mir einzieht, oder eine neue Wohnung. Allein kann ich mir die Miete leider nicht leisten.«
»Hmm …« Elaine legte den Kopf schräg. »Einen Nachmieter zu finden, dürfte doch nicht schwierig sein. Bestimmt ist das Zimmer morgen schon vergeben.«
Während ich neuen Lipgloss auftrug, suchte ich nach den richtigen Worten, um ihr zu erklären, warum das nicht so einfach war. »Na ja, ich … bin in dieser Hinsicht sehr eigen, fürchte ich. Fremden Menschen gegenüber bin ich grundsätzlich vorsichtig. Und selbst wenn ich das Gefühl habe, die Person könnte passen, brauche ich eine Weile, um sie kennenzulernen und Vertrauen zu fassen. Ich meine … immerhin schlafe ich im Zimmer nebenan.«
Elaine runzelte die Stirn. Offensichtlich schien sie das Problem nicht zu verstehen.
»Ich schlafe dort. Was, wenn jemand in der Nacht in mein Zimmer schleicht? Oder wenn ständig irgendwelche fremden Leute in der Wohnung herumhängen? Glaub mir, auf so etwas möchte ich lieber verzichten.«
Elaine blies die Backen auf. »Okay, du machst dir eindeutig zu viele Gedanken.«
Nicht wenn du wüsstest, in welchen Familienverhältnissen ich aufgewachsen bin, dachte ich zerknirscht.
Als ich noch bei meiner Mutter gewohnt hatte, kamen und gingen immer mal wieder seltsame Typen. Auch wenn ich mein Zimmer abschließen konnte, hatte ich in diesen Nächten nie gut geschlafen.
Elaines Behauptung ließ ich unkommentiert. Meine Vergangenheit ging niemanden etwas an.
»Vielleicht«, sagte ich nur schulterzuckend. »Na gut, bis dann.« Wir würden uns gleich wiedersehen, wenn sie das Essen servierte, während ich neue Gäste zu ihren Tischen führte.
Das Eleven Madison Park war ein Dreisternerestaurant am Madison Square Park im Stil des Art déco. Ich liebte die mehrere Meter hohen Fensterfronten und den Stuck, genau wie die stilvolle Einrichtung. Das Essen war Kunst auf Tellern und zudem eine Geschmacksexplosion.
»Na, alles klar so weit?«, fragte ich Holly, die ich meistens nur beim Schichtwechsel sah und heute ablöste.
»Ja, bis jetzt ist es ruhig. Wir haben eine große Gesellschaft im hinteren Bereich, da sind schon alle da. Und am Abend hat eine Familie neben der Bar für eine Geburtstagsfeier reserviert. Da darf ab achtzehn Uhr niemand mehr sitzen, damit die Tische umgestellt und gedeckt werden können.«
Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich noch eine gute Stunde hatte, bevor der Bereich frei sein musste. Meistens klappte das gut, da Holly, unser Kollege Marcus und ich die Reservierungen genau abstimmten, damit genügend Zeit für die Vorbereitung der Tische und den einen oder anderen Sonderwunsch blieb.
»Wurde das volle Programm gebucht?« Normalerweise waren die Tische standardmäßig gedeckt, aber gegen einen Aufpreis boten wir natürlich mehr: silberne Kerzenhalter, aufwendige Blumendekoration, Serviettenringe.
»Jep, Elaine weiß Bescheid.«
Ich nickte. »Gut, dann kann ich ja übernehmen. Hab einen schönen Abend.«
»Danke, gleichfalls.« Sie winkte mir zu und verschwand im Personalraum.
Auf dem Computer ging ich kurz die Reservierungsliste und die belegten Tische durch, ehe ich einen Rundgang durch das Restaurant machte, ein paar Stühle zurechtrückte und mir so einen Überblick verschaffte. Das Telefon hatte ich bei mir, um eingehende Anrufe entgegennehmen zu können.
Als ich keine Minute später zurück am Empfangstresen war, warteten dort vier Personen. Es waren vermutlich Eltern mit ihren erwachsenen Söhnen, die ungefähr in meinem Alter sein mussten. Optisch konnten sie jedenfalls nicht abstreiten, miteinander verwandt zu sein. Das mittelbraune Haar der drei Männer war hinten kurz und oben länger. Sie hatten dieselben charakteristischen dichten Augenbrauen und alle trugen einen Bart. Einer der beiden Söhne hatte die braunen Augen von seinem Vater geerbt, der andere hatte genauso stechend blauen Augen wie seine Mutter, deren blonde, kinnlange Haare perfekt geföhnt waren und die mich äußerst pikiert anfunkelte.
»Angeblich eines der besten Restaurants in New York, und dann steht man hier als Gast wie bestellt und nicht abgeholt, weil der Empfang nicht besetzt ist«, raunte sie ihrem Mann in einer nicht gerade diskreten Lautstärke zu.
»Herzlich willkommen im Eleven Madison Park, mein Name ist Cecile und ich bin für die Tischeinteilung zuständig. Sie haben reserviert?« Normalerweise stellte ich mich nicht mit Namen vor – er prangte sowieso auf dem kleinen silbernen Schild über meiner Brust –, aber ich hatte die Erfahrung gemacht, dass die schlechte Laune der Gäste dadurch etwas abgemildert wurde. Zumindest meistens. Bei der blonden Dame schien es nicht zu klappen.
»Selbstverständlich, schon vor Wochen. Und jetzt stehen wir hier wie … Idioten und niemand bringt uns zu unserem Tisch.«
Ich schluckte meinen Ärger hinunter und behielt mein Lächeln bei. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Auf welchen Namen läuft die Reservierung?«
»Collins, vier Personen«, schaltete sich ihr Mann ein, der mich nicht weniger von oben herab musterte.
Ein kurzer Blick zu den beiden Söhnen zeigte mir, dass sie die Situation kaltließ – oder es war ihnen unangenehm, denn sie schauten nicht in meine Richtung, sondern sahen sich im Restaurant um.
Die Frau schnalzte ungeduldig mit der Zunge, weshalb ich mich sofort dem Computer zuwandte. Sie hatten einen Tisch am Fenster und ich konnte nur hoffen, dass sie sich nicht beschwerten, weil es dort zu hell war oder sie sich zu sehr beobachtet fühlten. Bei Gästen wie diesen wusste man schließlich nie.
»Bitte folgen Sie mir«, sagte ich immer noch freundlich und ging voraus zu dem ihnen zugewiesenen Tisch. »Ihre Kellnerin wird sofort für Sie da sein.«
»Das hoffe ich doch«, raunte die Frau ihrem Mann zu. »Keine Ahnung, warum das Restaurant so gelobt wird. Die Behandlung der Gäste ist wirklich unterstes Niveau.«
Den ansteigenden Ärger über ihre Dreistigkeit drängte ich zurück. Stattdessen wünschte ich ihnen einen angenehmen Aufenthalt und guten Appetit und ließ die vier schließlich allein.
Auf dem Weg zurück zum Empfangstresen lief ich Elaine über den Weg, die diesen Gästen zugewiesen war. »Vorsicht, bissig an Tisch siebzehn«, flüsterte ich ihr im Vorbeigehen zu.
Sie nickte knapp und ich wünschte ihr, dass diese Familie ihr den Abend nicht völlig vermieste.
Alles in mir bebte vor Wut, als ich mich setzte. Fiel nur mir auf, wie unverschämt und respektlos Mom, nein, unsere Eltern sich anderen gegenüber verhielten? Wobei, nicht einfach anderen, sondern eindeutig jeder Person gegenüber, die sie nicht zu ihrer Gesellschaftsschicht zählten – und das schloss alle ein, die für jemanden arbeiteten. Es spielte keine Rolle, ob es sich dabei um ihre eigenen Angestellten bei Collins Cosmetics handelte, den Verkäufer an der Theaterkasse, der vorhin die reservierten Karten für das spätere Abendprogramm nicht gleich gefunden hatte, oder die Restaurantmitarbeiterin.
Mein Bruder Liam schwieg freundlich lächelnd und spielte wie immer den braven Sohn. Er würde vermutlich nie etwas sagen oder tun, was unseren Eltern missfallen könnte. Als ihr Liebling genoss er diesen Status in vollen Zügen. Er war ihre große Hoffnung und sollte das Familienunternehmen später erfolgreich weiterführen. Das war auch der Grund, weshalb er hier in New York an der Columbia University Wirtschaft studierte. Schon jetzt nahm er neben seinem Studium an Vorstandssitzungen und wichtigen Meetings teil, um bestens über die firmeninternen Abläufe informiert zu sein. Dabei hatte er noch vier Semester vor sich. Entweder flog er dazu extra nach Chicago oder er war per Videokonferenz anwesend – je nachdem, wie es sein Stundenplan zuließ.
Ich gönnte ihm seine Sonderstellung, denn ich würde nie die Führung von Collins Cosmetics übernehmen wollen. Zudem haderte ich seit Beginn meines Chemiestudiums an der University of Chicago damit, ob ich überhaupt irgendwann ins Familienunternehmen einsteigen sollte. Nicht nur, weil ich ewig der kleine Bruder bleiben und Liam untergeordnet sein würde. Ich wäre dort für die Entwicklung neuer Produkte zuständig – das hatten Mom und Dad so für mich vorgesehen. Trotzdem war es ihr Traum. Ich hatte dem Ganzen mehr oder weniger nur deshalb zugestimmt, weil sie schon immer davon gesprochen hatten, ihren beiden Söhnen irgendwann das Unternehmen zu übergeben. Es war also beschlossene Sache, seit wir zur Welt gekommen waren.
Mit Liam redete ich selten über meine Zweifel. Er war vom Traum unserer Eltern überzeugt und arbeitete hart daran, ihn zu erfüllen. Manchmal glaubte ich sogar, dass er das alles selbst aus ganzem Herzen wollte. Die wenigen Male, in denen ich versucht hatte, meine Bedenken mit ihm zu teilen, hatte er mich nicht ernst genommen. Es sei die Aufregung vor dem Studium, die Angst vor der Verantwortung danach. Ein Zeichen des Wandels, der uns vom Teenager zum Mann machte. Er glaubte daran, dass sich diese Unsicherheit im Laufe der Zeit legen würde, ich hingegen tat es nicht.
Und gerade heute war wieder einer dieser Tage, an denen ich mir nicht sicher war, ob ich all das tatsächlich wollte. Ob ich wirklich Seite an Seite mit Mom unter der Regie von Dad arbeiten konnte.
Sie war für die Entwicklung neuer innovativer Produkte zuständig, die Menschen länger jung und vital aussehen lassen sollen. Allein bei dem Gedanken daran, in drei Jahren neben, nein, unter meiner Mutter zu forschen – so lange, bis sie sich mit Dad aus dem Unternehmen zurückzog –, wurde mir heiß und kalt zugleich. Unsere Eltern waren erst einundfünfzig und würden sich bestimmt nicht so schnell in den Ruhestand verabschieden. Und selbst wenn, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie Liam und mir sofort die volle Verantwortung überließen und sich aus unseren Entscheidungen heraushielten.
Liam strich sich über seinen Bart und musterte mich von der Seite. Offenbar spürte er meine Zweifel und meine Wut. Fragte er sich, was ich gleich tun würde? Dachte er, ich würde etwas zu Mom sagen, weil sie die freundliche Empfangsdame derart abwertend behandelt hatte?
Nein, da biss ich mir lieber auf die Zunge. Die beiden hatten ihre festgefahrenen Ansichten zu dem Thema und würden sich nicht belehren lassen. Schon gar nicht von ihrem jüngsten Sohn, der ab und zu aus der Reihe tanzte. Wie damals, als ich es gewagt hatte, mich für eine Ausbildung bei der Polizei zu interessieren. Diesen Gedanken hatten sie quasi im Keim erstickt. Genau wie meine »Schnapsidee«, vor Antritt des Studiums für eine Weile die Welt zu bereisen. Auch dass es nicht wie bei Liam mein oberstes Ziel gewesen war, Klassenbester und Schulsprecher zu sein, konnten sie bis heute nicht verstehen.
»Guten Tag, mein Name ist Elaine und ich bin heute für Sie da«, stellte sich die Bedienung bei uns vor und unterbrach meine Gedanken, während sie die Speisekarten austeilte.
Ich schlug die Karte auf und linste über den Rand hinweg zu dem hohen Tisch am Eingang, an dem die Empfangsdame stand und gerade telefonierte. Am liebsten wäre ich zu ihr gegangen und hätte mich für meine Mom entschuldigt. Vielleicht würde ich das später sogar machen.
»Was darf ich Ihnen zu trinken servieren?«
»Bringen Sie uns zwei Gläser Ihres besten Champagners. Und Wasser für unsere Söhne.« Dad fragte nicht einmal, ob wir eventuell etwas anderes bestellen wollten.
»Ich nehme auch ein Wasser dazu«, sagte Mom. »Du weißt, ich bekomme immer Kopfschmerzen von Schaumwein.«
»Sehr wohl.« Elaine deutete höflich eine kleine Verbeugung an und ließ uns wieder allein. Dass weder Mom noch Dad ihr einen Blick, geschweige denn ein freundliches Wort oder ein Lächeln geschenkt hatten, schien sie nicht zu stören. Vielleicht war sie es auch einfach gewöhnt, versnobte Gäste wie meine Eltern zu bedienen.
»Na ja, abgesehen davon, dass das Personal ein unmögliches Verhalten an den Tag legt, ist es hier ganz nett.« Mom sah sich in dem Saal mit den unglaublich hohen weißen Wänden um, an denen vereinzelt große abstrakte Malereien hingen. Kunstvoller Stuck zierte die Decken, hohe Fenster erstreckten sich über eine komplette Seite. An schönen Tagen wurde der Raum bestimmt ausreichend erhellt, während die gemütlich gepolsterten Sessel und die Holzelemente an den Trennwänden warme Akzente setzten. Doch heute hingen schwere Wolken über der Stadt, sodass die Spots in der Decke und die großen Messinglampen den Saal in ein angenehmes Licht tauchten. Überhaupt war hier alles sehr edel gehalten. Das spiegelte sich auch im Essen wider, was mir nicht nur die Speisekarte, sondern auch die angerichteten Teller an den Nebentischen verrieten.
»Ich weiß nicht, wer sich hier unmöglich verhalten hat, abgesehen von dir«, murmelte ich vor mich hin, aber offenbar nicht leise genug.
»Wie bitte?« Ihr scharfer Ton hätte mich einschüchtern sollen, bewirkte jedoch das Gegenteil. Ich hatte es satt, mich immer zurückzuhalten und mir ihre taktlose Art anhören zu müssen.
»Die Frau am Empfang hat nur ihren Job gemacht. Bestimmt hat sie lediglich andere Gäste zum Tisch geführt – genau wie uns. Auch die Kellnerin war ausgesprochen höflich und freundlich. Ich weiß also nicht, was du auszusetzen hast.«
Doch, ich wusste es.
Ich hatte das Eleven Madison Park vorgeschlagen, um hier Liams einundzwanzigsten Geburtstag zu feiern – und ich hatte ihr noch nie etwas recht machen können.
Dabei hatten wir uns vor allem nach Liam gerichtet. Weil an der Columbia einige wichtige Prüfungen bevorstanden, wollte er lieber in New York bleiben und nicht zu Hause in Chicago feiern. Durch die Flüge hätte er zu viel Zeit verloren. Also hatten wir uns dazu entschlossen, ihn zu besuchen.
»Trevor Jonathan Collins, hüte besser deine Zunge. Oder hast du vergessen, dass du mit deiner Mutter sprichst?« Sie zischte mir die Worte über den Tisch zu, gerade laut genug, dass ich sie hören konnte. In ihren Augen funkelte es.
»Bitte, keine Diskussion«, raunte Dad, weil er einen Aufstand und die damit verbundene unnötige – negative – Aufmerksamkeit vermeiden wollte. »Heute ist Liams Geburtstag und den wollt ihr ihm sicher nicht vermiesen.«
Ich hielt Moms zornigem Ausdruck stand, schwieg jedoch. Meinen Teil, den ich loswerden musste, hatte ich gesagt.
»Erzähl mal, wirst du auch mit deinen Freunden feiern?«, wandte sich Dad schließlich an Liam, der schweigend unser Blick- und Wortduell verfolgt hatte.
Mein Bruder antwortete nicht sofort. Erst als ich ihn anschaute und merkte, dass er mich ins Visier genommen hatte, nickte er. »Ja, für morgen ist etwas mit ein paar Freunden geplant.«
»Das freut mich für dich.« Dad wirkte zufrieden, bestimmt auch, weil er erfolgreich einen Streit zwischen Mom und mir verhindert hatte. »Und sonst läuft alles gut?«
»Sicher. Das Studium ist anspruchsvoll, aber interessant. Ich überlege, noch einen Master anzuhängen. Eventuell als Fernstudium, dann könnte ich dich parallel vor Ort unterstützen, Dad, und dich etwas entlasten.«
Unser Vater nickte. »Wenn du das möchtest … Was genau schwebt dir denn vor?«
Liam schaute kurz in meine Richtung. Für mich war dieser Plan ebenfalls neu. Dass er mit dem Gedanken spielte, hatte er mir bisher nicht erzählt.
»Nun, da gibt es ein paar Studiengänge, die mich interessieren würden. Eine finale Entscheidung habe ich noch nicht getroffen.«
»Ich kann gern alles mit dir durchgehen, wenn du möchtest. Dann könnten wir gemeinsam eine Wahl treffen, was für Collins Cosmetics am besten wäre.«
»Eine gute Idee.« Liam lächelte, doch ich kannte ihn gut genug. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Bestimmt wollte er etwas studieren, was einzig und allein ihn interessierte – völlig irrelevant, ob das Familienunternehmen davon profitieren würde oder nicht.
Zum Glück wurden in diesem Moment unsere Getränke serviert.
»Haben Sie schon gewählt, was Sie essen möchten?« Auch diesmal war die Bedienung – Elaine – äußerst freundlich. Falls sie die Überheblichkeit unserer Eltern störte, ließ sie es sich nicht anmerken.
Wir bestellten, und als wir wieder allein waren, erhob Dad sein Glas. »Auf Liam, auf die Zukunft von Collins Cosmetics.«
»Happy Birthday, mein Schatz«, gurrte Mom und beugte sich zu meinem Bruder, um ihm einen angedeuteten Kuss auf die Wange zu geben.
»Alles Gute«, murmelte ich und nickte ihm zu.
Er lächelte und ich wusste, er war froh, dass wir uns hatten.
Ich trank einen Schluck, als die Empfangsdame wenige Meter von uns entfernt neue Gäste an ihren Platz führte. Ihren Namen hatte ich mir aus Ärger über das Verhalten meiner Mutter leider nicht gemerkt, dabei hatte sie sich auch persönlich vorgestellt. Und allein ihre mutige Frisur machte sie schon interessant. Nicht jeder Frau würde so ein Kurzhaarschnitt stehen, aber mit ihren großen Augen und den Sommersprossen wirkte sie ausgesprochen attraktiv.
Ein Tritt gegen den Schuh lenkte meine Aufmerksamkeit zurück zu Liam. Er grinste und schaute mich fragend an. Doch ich schüttelte nur den Kopf und versuchte, der Unterhaltung unserer Eltern zu folgen, die irgendetwas von ihren Freunden Constance und Russell im Country Club erzählten.
»Ihre Tochter Linda studiert übrigens in Princeton. Sie ist so eine wohlerzogene junge Frau. Ihr solltet euch das nächste Mal treffen, wenn du wieder in Chicago bist«, meinte Mom schließlich an Liam gewandt.
Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. »Wieso nicht.«
»Was ist mit Evangeline?«, fragte ich meinen Bruder. Ich wusste, dass er schon öfter mit ihr ausgegangen war. Sie kannten sich von der Columbia, aber sie würde Mom vermutlich nicht genügen, da sie aus keiner einflussreichen Familie stammte. Evangeline hatte den Studienplatz nicht durch das Geld ihrer Eltern bekommen, sondern wegen ihrer herausragenden Leistungen.
Liam zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich nur ein paarmal mit ihr getroffen.«
»Du hast eine Freundin?«, fragte Dad interessiert.
»Ja«, antwortete ich im selben Moment, als Liam »Nein« sagte.
»Dein Bruder wird wohl wissen, ob er eine Beziehung führt oder nicht«, wies mich Mom zurecht.
Ich sah, wie Liams Kiefer mahlten. Kurz schenkte er mir einen eindringlichen Blick, dann wandte er sich an Mom. »Du kannst mich Linda gern vorstellen, wenn ich euch das nächste Mal besuche.«
Verdammt, was war mit dem Kerl los? Hatte es zwischen Evangeline und ihm einen Streit gegeben? War sie doch nicht so toll, wie er mir beim letzten Mal vorgeschwärmt hatte? Oder ließ er sich nur erneut von Mom und Dad in eine Richtung biegen, in der sie ihn haben wollten, und stellte dabei mal wieder seine eigenen Wünsche zurück?
Das Essen hatte wie erwartet fantastisch geschmeckt. Mom hatte natürlich trotzdem etwas auszusetzen gehabt und Dad war mit dem Trinkgeld ziemlich sparsam gewesen. Liam schwieg zu beidem. Ob es unter seiner Oberfläche ebenfalls brodelte, konnte ich nicht erkennen. Falls ja, hatte er sein Pokerface perfektioniert.
Ich war froh, dass sich unsere Wege im Anschluss zumindest für ein paar Stunden trennten. Mom und Dad fuhren zurück ins Hotel, um sich für das Theater zurechtzumachen, während Liam und ich noch auf seinen Geburtstag anstoßen und uns mit unserem gemeinsamen Kumpel CJ treffen wollten. Seit mein Bruder in New York studierte, sahen wir uns viel zu selten. Und CJ hatte ich auch schon fast ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Zuletzt, als er im März seine Eltern in Chicago besucht hatte.
Als wir aus dem Restaurant traten, hatte der Himmel diese eigenartige Farbe zwischen schwarz- und ultramarinblau angenommen. Es war frisch, aber nicht kalt, und es herrschte nach wie vor dichter Verkehr.
Unzählige Lichter hüllten uns in die helle Blase der Stadt, in der es von Menschen wimmelte. Es war laut und grell und voll und aus allen Ecken stiegen uns die unterschiedlichsten Gerüche in die Nase.
»Was genau ist mit Evangeline?«, fragte ich, kaum dass wir uns von unseren Eltern verabschiedet hatten und allein waren.
Liam zuckte mit den Schultern und hielt am Fußgängerüberweg. »Sie ist … nett, aber es ist nichts Exklusives.«
Die Ampel schaltete auf Grün und wir überquerten die Straße.
»Also ist es dir egal, wenn sie sich auch mit anderen trifft?«
»Klar«, meinte er, klang dabei jedoch nicht wirklich überzeugt.
Ich merkte, wie uns drei junge Frauen interessiert musterten, die gerade aus dem Madison Square Park kamen.
»Kennst du Linda überhaupt?«
»Wen?«
»Na, die Tochter von Russell und Constance Goodwin. Schon vergessen? Die, mit der Mom dich verkuppeln will.«
Stirnrunzelnd sah er mich an und wich einem kleinen Jungen auf einem Scooter aus, als wir den Park betraten. »Ich habe sie ein paarmal gesehen, weiß also, wie sie aussieht.«
»Dir ist klar, dass Mom dich nicht ganz uneigennützig an Lindas Seite sieht, oder?« Den Kommentar konnte ich mir einfach nicht verkneifen.
»Und? Sollte mich das stören? Mit Evangeline sehe ich keine gemeinsame Zukunft. Wir haben Spaß miteinander, aber ich habe keine Gefühle für sie, und sie weiß das. Wir treffen uns hin und wieder, doch ich will mich nicht in etwas hineinsteigern, was nicht da ist. Und wenn es Mom glücklich macht, dass ich Linda date, mache ich es. Sollte es zwischen uns funken, ist es schön für alle Beteiligten. Falls nicht, wird Mom sich damit abfinden müssen, dass ihre Schwiegertochter nicht die Tochter ihres Schönheitschirurgen ist.«
Ich verkniff mir, ihn darauf hinzuweisen, dass Mom in diesem Fall wahrscheinlich alles daransetzen würde, die beiden trotzdem zu ihrem Glück zu zwingen. Wobei Mom für Liams Entscheidung eher Verständnis aufbrachte, als wenn ich es wäre, der sich nicht ihrer Wahl fügte.
Wir durchquerten den Madison Square Park, gingen am Madison Square Fountain vorbei, aus dem munter das Wasser plätscherte und vor dem eine kleine Jazzband spielte. Auf dem Flatiron Public Plaza zwischen dem Broadway und der 5th Avenue blieb ich kurz stehen, um ein Foto des Flatiron Building zu machen.
»Warte, stell dich dort hin, dann bist du mit auf dem Foto«, wies Liam mich an.
Ich gab ihm mein Handy, baute mich vor dem berühmten Gebäude in Bügeleisenform auf und schob lässig die Hände in die Taschen meiner Stoffhose, während Liam fotografierte.
»Komm, noch ein gemeinsames!«, sagte ich dann.
Wir baten zwei Passanten um ein Foto, die unseren Wunsch erfüllten, ohne mit meinem Handy abzuhauen.
Nachdem wir uns bedankt hatten und das Ergebnis sahen, lachte ich. »Typisches Touri-Foto – check. Und jetzt lass uns endlich zu CJ gehen, er wartet bestimmt schon auf uns.«
Eine Weile redeten wir über unser Studium und was in den Studentenwohnheimen los war, was sich im Grunde nicht allzu sehr voneinander unterschied, obwohl wir in zwei verschiedenen Städten studierten. Doch dann konnte ich nicht anders, ich musste das Thema von vorhin noch einmal ansprechen.
»Die junge Frau im Restaurant hat mir richtig leidgetan.«
»Die Bedienung?«
»Nein, am Empfang. Mom verhält sich manchmal echt unmöglich.«
Liam zuckte mit den Schultern. »So ist sie eben.«
»Mag sein. Trotzdem stört es mich, wie sie mit anderen umspringt. Als wären sie weniger Wert, als wären sie … Dreck.«
Liam schnaubte. »Du übertreibst. Ich weiß, du und Mom habt momentan nicht gerade den besten Draht zueinander, aber du solltest …«
»Was? Soll ich einfach hinnehmen, dass sie so ist?«
»Ja!«
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Sprachlos schüttelte ich den Kopf.
»Du wirst sie nicht mehr ändern können, Trevor. Akzeptiere ihre Art und mach es selbst besser. Abgesehen davon hat diese – nicht gerade beste – Charaktereigenschaft sie zu der Frau gemacht, die fest hinter ihrer Meinung steht. Mom lässt sich nicht einschüchtern. Und sie hatte es bestimmt nicht immer leicht, den nötigen Respekt der anfangs größtenteils männlichen Angestellten zu bekommen.«
»Nein, Liam, das sehe ich nicht so. Man überzeugt mit Fachwissen, mit Können. Aber nicht dadurch, dass man andere abwertend behandelt und sie dastehen lässt, als wären sie dümmer, schlechter oder weniger Wert als man selbst. Das ist ein Unterschied«, hielt ich dagegen und konnte nicht fassen, dass ich gerade mit meinem Bruder diese Unterhaltung führen musste.
»Du hast recht. Aber man darf trotzdem auch auf Gebieten, in denen man nicht vom Fach ist, eine eigene Meinung haben und diese vertreten.«
»Du bist Moms Liebling und daran wird sich nichts ändern«, sagte ich kopfschüttelnd. »Dass du sie verteidigst, hätte ich mir denken können.«
Liam boxte mir eine Spur zu fest gegen die Schulter. »Jetzt hör auf zu winseln und verdirb mir nicht die Laune. Wir wissen beide, dass unsere Eltern … speziell sind. Und ich verstehe dich. Dennoch kann ich nur wiederholen, was ich vorhin gesagt habe: Mach es besser als die zwei. Das ist auch mein ewiger Leitspruch.« Er zwinkerte mir zu und nahm mir damit zumindest einen Teil meines Ärgers.
Verbissen presste ich die Lippen aufeinander und nickte. Denn von der Sache mit unseren Eltern einmal abgesehen, hatte er definitiv recht: Wir sollten uns nicht die Laune verderben lassen. Ich war in New York, um Zeit mit ihm zu verbringen und seinen Geburtstag zu feiern. Und genau das würden wir gleich tun.
Eine halbe Ewigkeit später drückte Liam endlich einen Klingelknopf.
»Hätte ich gewusst, dass ich dafür fast dreißig Minuten lang durch die Stadt laufen muss, hätte ich auf ein Uber bestanden.« Theatralisch stützte ich mich auf den Knien ab.
»Du übertreibst schon wieder. Und so weit war das auch nicht.«
»Wenigstens weiß ich jetzt, wieso du CJ nicht öfter besuchst. Von der Columbia hierher muss es fast eine Tagesreise sein«, zog ich ihn auf.
»Keine halbe Stunde mit der U-Bahn«, meinte er grinsend und drückte gegen die Tür, als der Summer ertönte.
CJ erwartete uns an der Wohnungstür. Seine rotbraunen Haare leuchteten uns von Weitem entgegen und er empfing uns mit einem Lächeln. »Na endlich, ich dachte schon, ihr würdet mich heute versetzen.«
»Auf keinen Fall! Wenn ich in der Stadt bin, kannst du darauf wetten, dass wir uns sehen.« Ich schenkte ihm eine halbe Umarmung und betrat seine kleine Wohnung.
»Hey, du hast einen neuen Fernseher!« Liam begutachtete den Flachbildschirm, der an der Wand neben der Tür hing.
»Ja, schon eine Weile.« CJ ging in die Küche und holte drei Bier aus dem Kühlschrank.
»Was war mit dem alten?« Ich sah mich in der Wohnung um, während Liam sich auf die Couch sinken ließ. Zwei Türen führten vom Wohnzimmer mit der offenen Küche weg – vermutlich ein Schlafzimmer und ein Bad. CJ hatte nicht viel Zeit mit der Dekoration verschwendet, aber an einer Wand hingen Fotos aus unserer Kindheit und von anderen Freunden aus Chicago.
»Der war kleiner als mein Computermonitor«, erklärte CJ mit einem Grinsen und zeigte auf seinen Schreibtisch. »Den habe ich bei meinem Umzug aus Chicago hierher mitgenommen.«
»Ah, ich erinnere mich vage.«
CJ war in unserer Nachbarschaft aufgewachsen und hatte an der New York University Maschinenbau studiert. Danach hatte er gleich ein Jobangebot bekommen und arbeitete seitdem in einer Konstruktionsfirma in der Nähe des Hudson River.
Er reichte uns das Bier und wir machten es uns auf der Couch neben Liam gemütlich.
»Jungs, so schön, euch zu sehen.« CJs Worte klangen ehrlich und mit einem Lächeln auf den Lippen musste ich ihm zustimmen. Viel zu lange hatte ich nichts von ihm gehört und jetzt hier mit ihm zu sitzen, versetzte mich zurück in die Zeit, als wir alle noch in Chicago zu Hause gewesen waren.
CJ war fünf Jahre älter als ich, aber der Altersunterschied hatte nie ein Problem dargestellt. Wir hatten uns schon immer wie Brüder verstanden, auch wenn wir nicht täglich aufeinandergeklebt hatten. CJ war einer dieser Menschen, die man vielleicht zweimal im Jahr sah und trotzdem das Gefühl hatte, als wäre es erst gestern gewesen. Genauso kam es mir auch jetzt vor, mit dem Unterschied, dass nur noch einer von uns illegal Bier trank.
Die gute Stunde Fahrt mit der U-Bahn zu meiner Mom nutzte ich, um auf dem Handy den Wohnungsmarkt zu sondieren. Vielleicht fand ich ja ein kleines bezahlbares Apartment für mich allein. Auch wenn wir das Inserat gestern online gestellt und sich bereits ein paar Leute gemeldet hatten, die nähere Informationen wollten, machte mich die Vorstellung nach wie vor nervös, Nicolas Zimmer an eine mir völlig fremde Person zu vermieten. Doch je länger ich die Anzeigen durchblätterte, desto mehr wurde mir bewusst, welches Glück ich mit dem Apartment hatte. Es lag in der Nähe meiner Arbeit und war trotzdem nicht utopisch überteuert. Sicher würde ich etwas abseits eine günstigere Wohnung finden. Aber erstens war ich von dem Luxus verwöhnt, es nicht weit zum Restaurant zu haben, und zweitens lagen diese Wohnungen in Gegenden, in denen ich lieber nicht allein sein wollte. Das hatte ich alles bereits hinter mir. Immerhin war ich aus so einem Viertel weggezogen, weil ich mich dort nicht sicher gefühlt hatte.
Am Pelham Parkway angekommen stieg ich aus der U-Bahn und ging das letzte Stück zu Moms Wohnung zu Fuß. Auf dem Weg machte ich halt im Supermarkt und kaufte Milch, Bagels, Brot, Wurst, Käse und Kaffee sowie ein paar Dosen Ravioli und Bohnensuppe für sie ein.
Wann immer ich sie besuchte – und das kam im Schnitt alle zwei Wochen vor –, wusste ich nicht, ob ich es beruhigend oder traurig finden sollte, dass sich hier überhaupt nichts veränderte. Aus dem Liquor-Store kamen die gleichen Leute wie früher und in Josys Friseurladen wurde nach wie vor lautstark diskutiert. Nur die ratternde U-Bahn, die in diesem Abschnitt oberirdisch fuhr, übertönte für einen Moment den Straßenlärm, die quengelnden Kinder und den Streit von zwei Männern, bei dem es wohl um einen Kratzer am Auto ging.
Im Treppenhaus begegnete ich Miss Colonel. Keine Ahnung, ob das wirklich ihr Name war, aber seit ich mich zurückerinnern konnte, nannten die Leute im Haus sie so. Sie trug einen dicken Winterparker, den sie über ihrem massigen Körper nicht schließen konnte, und Sandalen ohne Socken zu einem geblümten Kleid. Ihr missmutiges Gemurmel ignorierte ich wie jedes Mal und schloss schließlich die Wohnungstür meiner Mom auf.
Auch wenn ich mich angekündigt hatte, war ich nervös. Keine Ahnung, was – und vor allem wer – mich heute hier erwarten würde.
Leichter Mief schlug mir entgegen, als ich das Wohnzimmer betrat. »Mom? Ich bin’s!«
»Ich komme gleich«, hörte ich sie aus dem Badezimmer rufen, kurz darauf rauschte die Toilettenspülung.
In der Zwischenzeit riss ich die Fenster auf und ließ Frischluft in die Wohnung. Sie mochte keinen Durchzug, aber die Luft war wirklich verbraucht.
»Cecile, wie geht es dir?«
Ich drehte mich zu meiner Mom um und lächelte. »Gut, und dir?«
Sie ging zur Einkaufstüte, um nachzusehen, was ich mitgebracht hatte, brach ein Stück von einem Bagel ab, das sie im Mund verschwinden ließ, und schloss kauend die Fenster.
»Du weißt schon …« Sie ruderte mit den Armen und setzte sich schließlich auf die Couch. »Ich versuche nach wie vor, weniger zu trinken. Inzwischen bin ich bei sechs Uhr abends angelangt.« Stolz lächelte sie.
»Das ist großartig«, sagte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob sie mich und sich selbst damit belog oder wirklich die Finger vom Alkohol lassen konnte.
Um meine Unsicherheit darüber zu verbergen, räumte ich die Lebensmittel weg und kochte Kaffee.
»Oh, und ich kann eventuell wieder arbeiten. Drüben, im Supermarkt. Regale einräumen und so … Na ja, ich hoffe, dass ich dort anfangen kann.«
»Hey, das sind ja gute Neuigkeiten!« Ich setzte mich zu ihr, während die Kaffeemaschine vor sich hin gluckerte.
»Ja, mal abwarten.« Sie lachte heiser. »Mein Lebenslauf ist immerhin sehr lückenhaft. In der Stellenausschreibung steht, dass sie eine zuverlässige Arbeitskraft suchen.«
»Aber das bist du doch!«
»Du kennst mich. Irgendwann werde ich wieder in ein Tief fallen und gehe nicht zur Arbeit. Das war’s dann mit dem Job.«
Ich legte meine Hand auf ihre, sah in ihr vom Alkohol gezeichnetes Gesicht und ihre großen braunen Augen, die ich von ihr geerbt hatte. »Rede offen mit dem Chef. Wirklich, Mom. Die Menschen schätzen Ehrlichkeit. Es macht dich stark, wenn du deine Schwächen nicht unerwähnt lässt. Denn aufrichtig dazu stehen, kann nicht jeder.«
Sie schnaubte. »Ich soll also da reingehen und sagen, dass ich eine labile Alkoholikerin bin, die unter Umständen nicht zur Arbeit kommt, weil sie einen mentalen Breakdown hat und sich lieber besäuft, als ihren Job zu machen?«
»Genau so solltest du es vielleicht nicht formulieren.« Schmunzelnd stand ich auf und goss Kaffee und etwas Milch in zwei Tassen, mit denen ich zu ihr zurückkam. »Aber du könntest sagen, dass du unbedingt beweisen willst, dass du den Job gut erledigst, selbst wenn du neben vielen positiven Tagen hin und wieder schlechte hast. Dass du um diese Chance bittest und alles geben wirst, um das Team und dich selbst nicht zu enttäuschen.«
Zweifelnd hob sie eine Augenbraue. »Ach, ich weiß nicht.«
Mit einem Schulterzucken blies ich über den Tassenrand. »Einen Versuch wäre es wert. Was hat dir das Vorgaukeln falscher Tatsachen bei deinen vorherigen Jobs gebracht?«
Den Blick auf den Kaffee in ihrer Hand gerichtet, wischte sie sich über die Nase. »Du hast recht, ich sollte es versuchen. Entweder nehmen sie mich so, wie ich bin, und wissen, was sie erwartet, oder sie lassen es bleiben. Vermutlich wäre ich den Job sowieso spätestens beim nächsten Streit mit Saul los.«
»Du triffst dich wieder mit ihm?«
Mit Saul führte sie seit Jahren eine On-off-Beziehung. Der Kerl war grundsätzlich ganz okay, sie hatte definitiv schlimmere Typen mit nach Hause gebracht. Er hatte zumindest einen Job und schnorrte Mom nicht ständig an. Und er nahm keine Drogen, was mich sehr erleichterte. Einen Mann, der sie zusätzlich zu Alkohol und Zigaretten auch noch von anderen Giften abhängig machte, konnte sie echt nicht gebrauchen.
»Ja, na ja … Er ist jetzt wieder öfter hier. Hat mich überredet, nur noch nach einer bestimmten Uhrzeit zu trinken. Zu zweit fällt uns das irgendwie leichter.« Sie lächelte verlegen und zündete sich eine Zigarette an.
»Mom! Bist du verliebt?« Schmunzelnd stieß ich ihr in die Seite, was ihr tatsächlich etwas Farbe ins Gesicht zauberte.
»So würde ich das nicht gleich bezeichnen. Aber … er tut mir gut.«
»Das sehe ich.« Ich schlang einen Arm um sie und drückte sie.
»Und was ist mit dir? Wie läufts auf der Arbeit?«, wechselte sie das Thema, wie immer, wenn ihr etwas unangenehm war, und sog an ihrem Glimmstängel.
»Alles bestens so weit. Der Job macht meistens Spaß.«
»Meistens? Okay, wem muss ich eine Abreibung verpassen?« Sie schlug die Faust in ihre Handfläche.
Ich dachte an die Frau von gestern, die von meinen Problemen vermutlich nicht einmal ansatzweise eine Ahnung hatte. Die mehr als deutlich gemacht hatte, dass eine gewaltige Kluft zwischen uns klaffte. Wobei für ihren Mann und ihre Söhne ihr Verhalten wahrscheinlich nichts Neues war. Bestimmt hatten sie ihr gedanklich auch noch zu ihrer Wortwahl gratuliert.
»Niemandem, Mom. Das würdest du dir nicht leisten können.« Ich zwinkerte ihr zu und trank einen großen Schluck Kaffee, während sie mit einem mitfühlenden Blick Rauchschwaden in die Luft blies.
Auf dem Weg nach Hause dachte ich noch viel darüber nach, was Mom gesagt hatte. Nicht zum ersten Mal versuchte sie, trocken zu werden. Und nicht zum ersten Mal hoffte ich, sie würde es schaffen, auch wenn ich mit ziemlicher Sicherheit wusste, dass die Enttäuschung kommen würde. Trotzdem wollte ein Teil von mir daran glauben, sie könnte es packen.
Zumindest hatte ich durch sie gelernt, dass ich mein Schicksal selbst in den Händen hielt. Ich konnte mir ein anderes Leben aufbauen, wenn ich hart genug dafür arbeitete. Deshalb war ich auch aus unserem Viertel in der Bronx weggezogen. Vielleicht war es ein Irrglaube, dass eine neue Nachbarschaft meine Zukunft positiver formen würde als die alte, aber bisher schien es zu funktionieren. Dass ich den Job im Eleven Madison Park ergattern konnte, begründete ich jedenfalls vor allem mit dem klaren Ziel vor Augen, ein besseres Leben zu haben als meine Mom. Auch wenn sich mein größter Wunsch, das College zu besuchen, nicht erfüllt hatte.
Kurz vor meiner Wohnung hielt ich noch bei Benny’s Burritos und nahm mir etwas zu essen mit. Nicola war heute nicht zu Hause und für mich allein wollte ich keine Pfannen abwaschen müssen.
Schmerzlich wurde mir bewusst, dass das gemeinsame Kochen mit ihr ebenfalls bald der Vergangenheit angehörte und ich diese Tradition womöglich mit niemandem fortführen konnte. Da ich nicht oft übrig gebliebenes Essen von der Arbeit mitnehmen konnte, es mir jedoch auch nicht leisten konnte, auf Dauer nur von Burritos, Pizza oder Sushi zu leben, würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als für mich allein zu kochen.
Gott, Nicola fehlte mir jetzt schon, und dabei war sie noch nicht einmal weg!
Mit schwerem Herzen ging ich die Treppen hinauf und schloss die Wohnung auf, als sich die Tür nebenan öffnete.
»Hey, Jeff.« Ich winkte unserem Nachbarn zu, mit dem wir den ein oder anderen witzigen Fernsehabend verbracht hatten und mit dem Kaffee im Treppenhaus besser schmeckte, als erwartet.
»Hallo, Cecile. Wie nett von dir, mir mein Mittagessen zu liefern.« Mit einem frechen Grinsen nahm er mir die Burritos-Tüte aus der Hand und tat so, als würde er damit in seiner Wohnung verschwinden wollen.
Lachend eilte ich ihm hinterher. »Mit dem nächsten Lohn lade ich dich ein. Vorausgesetzt, ich kann mir dann überhaupt noch leisten, etwas zu essen zu kaufen.«
Stirnrunzelnd drehte er sich zu mir um und gab mir die Tüte zurück. »Sag nicht, die haben dir die Stunden gekürzt.«
»Hast du es noch nicht gehört?«
»Nein, was?« Das Fragezeichen über seinem Kopf wurde größer.
»Nicola zieht nach Chicago.«
»Echt?«
In wenigen Worten erzählte ich ihm, wie sich das Ganze ergeben hatte und dass wir für Nicolas Zimmer bereits ein Inserat aufgegeben hatten.
»Na gut, solange du bleiben kannst und jemand Neues einzieht, ist doch alles in Butter.«
»Du weißt, dass wir von mir reden?«
Jeff seufzte und lehnte sich an den Türrahmen. »Mach nicht im Vorfeld ein Problem aus einer Sache, wo vielleicht gar keins ist. Lass es einfach auf dich zukommen und sprich mit den Leuten, die sich für das Zimmer interessieren. Wer weiß, vielleicht ist jemand dabei, den du genauso nett findest wie Nicola.«
Meine Augen weiteten sich. »Oh, Jeff! Willst du bei mir einziehen?«
»Was?« Etwas überrumpelt schaute er mich an.
»Ja! Das ist die beste Idee überhaupt. Du sparst Miete, hast trotzdem dein eigenes Zimmer und musst nicht mal einen neuen Wohnsitz anmelden. Nur die Türnummer ändert sich für dich. Und wir beide verstehen uns super, du wärst der perfekte WG-Partner.«
Lachend schüttelte er den Kopf. »Ich fühle mich geehrt, Cecile, aber ich bin mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Glaub mir, meine eigenen vier Wände sind mir mehr als heilig.«
Enttäuscht schob ich die Unterlippe vor. »Aber gib zu, der Vorschlag war gut.«
»Mach dir keinen Kopf. Du packst das bestimmt.« Er zwinkerte mir zu und ging zur Treppe. »Ach ja, hab ich fast vergessen … Vorhin war dein Vater da.«
Beinahe wäre mir die Burrito-Tüte aus der Hand gefallen. »Du meinst … hier an meiner Wohnung?«
Er nickte.
»Was hast du ihm gesagt?«
»Dass du nicht da bist und ich nicht weiß, wann du wiederkommst. Könnte also sein, dass er demnächst wieder auf der Matte steht.«
Ich bedankte mich bei ihm und betrat schließlich die Wohnung. Die Nachricht über meinen Vater machte mich nachdenklich. Seit ich hier wohnte, hatte er mich nur einmal besucht. Es war keine zwei Monate nach meinem Einzug gewesen und damals hatte er einen ziemlichen Aufstand gemacht, der die Aufmerksamkeit einiger Nachbarn auf sich gezogen hatte. Es ging um irgendwelche offenen Rechnungen eines Mobilfunkbetreibers, die an seine Adresse geschickt worden waren. Selbst nach einer halben Stunde heftiger Diskussionen hatte er sich nicht davon überzeugen lassen, dass nicht ich diese Verträge abgeschlossen hatte. Ich konnte mir gerade so eine Prepaidkarte leisten und würde auch dabei bleiben, bis sich meine finanzielle Situation gefestigt hatte. Das hatte er mir jedoch nicht glauben wollen und mich als geldgierige Lügnerin beschimpft, bis ich ihn mit den Worten rausgeschmissen hatte, dass er verschwinden und sich aus meinem Leben raushalten sollte.