Onkel Wanja - Anton Tschechow - E-Book

Onkel Wanja E-Book

Anton Tschechow

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Das beschauliche Leben, das Sonja und ihr Onkel Wanja auf dem Gut ihrer verstorbenen Mutter führen, gerät aus den Fugen, als ihr Vater in Begleitung seiner überaus schönen zweiten Frau Elena aus der Stadt anreist. Wanja und der Arzt Astrow, in den Sonja heimlich verliebt ist, beginnen, um die Gunst der schönen Elena zu buhlen. Während die Arbeit auf dem Hof zusehends vernachlässigt wird, beginnt ein zerstörerischer Gefühlsreigen. Anton Tschechow erweist sich auch in diesem Drama als ein Autor, der die Abgründe und Motive seiner Figuren psychologisch geschickt und meisterhaft darzustellen weiß.

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Seitenzahl: 97

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Anton Tschechow

Onkel Wanja

Szenen aus dem Landleben in 4 Akten

Aus dem Russischen von Andrea Clemen

Fischer e-books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Personen

ALEXANDER WLADIMIROWITSCH SEREBRJAKOW, Professor im Ruhestand

 

ELENA ANDREJEWNA, seine Frau

 

SOFJA ALEXANDROWNA(SONJA), seine Tochter aus erster Ehe

 

MARJA WASSILJEWNA WOJNIZKAJA, Witwe eines Geheimen Rates, Mutter der ersten Gattin des Professors

 

IWAN PETROWITSCH WOJNITZKIJ (WANJA), ihr Sohn

 

MICHAIL LJWOWITSCH ASTROW, Arzt

 

ILJA ILJITSCH TELEGIN, verarmter Gutsbesitzer

 

MARINA TIMOFEJEWNA, die alte Kinderfrau (NJANJA)

 

EIN ARBEITER

 

Die Handlung spielt auf dem Gut der Serebrjakows.

Erster Akt

Garten. Man sieht einen Teil des Gartens mit der Terrasse. In der Allee unter einer alten Pappel ein Tisch, zum Tee gedeckt, Bänke, Stühle, auf einer der Bänke liegt eine Gitarre. Nicht weit vom Tisch eine Schaukel. Gegen drei Uhr nachmittags. Es ist trüb. Marina, eine dicke, schwerfällige alte Frau, sitzt am Samowar, strickt einen Strumpf; Astrow geht neben ihr auf und ab.

MARINA schenkt ein Glas Tee ein

Hier, mein Lieber.

ASTROW nimmt unwillig das Glas

Eigentlich will ich gar keinen.

MARINA

Vielleicht möchtest du ein Gläschen Wodka?

ASTROW

Nein. Ich trinke nicht jeden Tag Wodka. Außerdem ist es zu schwül.

Pause

Njanja, wie lange kennen wir uns jetzt?

MARINA überlegt

Wie lange? Gott, hilf meinem Gedächtnis … du bist hierher gekommen, in unsere Gegend … wann? … da hat Wera Petrowna noch gelebt, Sonjetschkas Mutter. Die letzten zwei Winter, die sie noch lebte, hast du uns oft besucht … Dann sind es jetzt elf Jahre … Denkt nach Vielleicht auch mehr …

ASTROW

Habe ich mich sehr verändert in dieser Zeit?

MARINA

Ja, sehr. Damals warst du jung und schön, jetzt bist du alt geworden. Und schön bist du auch nicht mehr. Außerdem trinkst du gern Wodka.

ASTROW

Ja … In zehn Jahren bin ich ein anderer Mensch geworden. Und was ist die Ursache? Ich habe zuviel gearbeitet, Njanja. Von früh bis in die Nacht, immer auf den Beinen. Ruhe kenne ich nicht. Nachts liegst du unter deiner Decke und hast Angst, gleich schleppen sie dich wieder zu irgendeinem Kranken. In der ganzen Zeit, die wir uns kennen, habe ich nicht einen freien Tag gehabt. Wie soll man da nicht alt werden? Und auch das Leben an sich ist langweilig, dumm, schmutzig … Es verschlingt einen, dieses Leben. Um dich herum sind nur Sonderlinge, lauter Sonderlinge. Und wenn du zwei, drei Jahre unter ihnen lebst, wirst du allmählich, ohne es zu merken, selbst ein Sonderling. Ein unentrinnbares Schicksal. Zwirbelt seinen langen Schnurrbart Was für ein ungeheurer Schnurrbart ist mir da gewachsen … Ein dummer Schnurrbart. Ich bin ein Sonderling geworden, Njanja … verblödet bin ich noch nicht, Gott sei es gedankt, mein Gehirn funktioniert noch, aber meine Gefühle sind abgestumpft. Ich will nichts, ich brauche nichts, ich liebe niemanden … Nur dich liebe ich vielleicht noch. Küßt sie auf den Kopf Ich habe in meiner Kindheit auch so eine Njanja gehabt.

MARINA

Vielleicht möchtest du eine Kleinigkeit essen?

ASTROW

Nein. In der dritten Fastenwoche bin ich nach Malizkoje gefahren wegen der Epidemie … Flecktyphus … In den Hütten lagen die Leute einer neben dem andern … Dreck, Gestank, Rauch, auf dem Boden mitten unter den Kranken die Kälber … und dazwischen noch die Ferkel … Den ganzen Tag habe ich geschuftet, habe mich nicht ein Mal hingesetzt, nicht gegessen, nicht getrunken … und endlich komme ich nach Hause – sie lassen mir keine Ruhe, bringen mir den Weichensteller von der Eisenbahn, ich lege ihn auf den Tisch, um ihn zu operieren, und plötzlich stirbt er mir unter dem Chloroform weg. Und da, als ich es gar nicht brauchen konnte, wurden meine Gefühle wach, und mein Gewissen quälte mich, als hätte ich ihn mit Absicht umgebracht … Ich habe mich hingesetzt und die Augen geschlossen – so – und gedacht: Ob die Menschen, die zweihundert Jahre nach uns leben werden, für die wir jetzt den Weg bereiten, mit einem guten Wort unser gedenken werden? Nein, Njanja, sie werden unser nicht gedenken!

MARINA

Die Menschen nicht, aber Gott wird unser gedenken.

ASTROW

Ich danke dir. Das hast du schön gesagt.

Wojnizkij tritt auf.

WOJNIZKIJ kommt aus dem Haus, er hat nach dem Frühstück geschlafen und sieht zerknittert aus. Er setzt sich auf die Bank, rückt seine elegante Krawatte zurecht.

Ja …

Pause

Ja …

ASTROW

Ausgeschlafen?

WOJNIZKIJ

Ja … Bin ich. Gähnt Seitdem der Professor und seine Frau hier sind, ist das Leben ganz aus den Fugen geraten … ich schlafe zu den unmöglichsten Zeiten, zum Frühstück und zu Mittag esse ich die verschiedensten Delikatessen, trinke Wein … ungesund ist das alles! Früher gab es nicht eine freie Minute, Sonja und ich haben gearbeitet – alle Achtung! Jetzt arbeitet nur noch Sonja, und ich schlafe, esse, trinke … Schlimm!

MARINA wiegt den Kopf

Eine Wirtschaft! Der Professor steht um zwölf auf, aber von morgens früh an kocht der Samowar und wartet auf ihn. Bevor sie kamen, haben wir immer um eins gegessen, wie alle Menschen, jetzt essen wir um sieben. Nachts liest der Professor und schreibt, und plötzlich um zwei läutet es … Oh, Gott, was ist los? Tee will er. Also muß man die Leute wegen ihm wecken, den Samowar aufstellen … Eine Wirtschaft!

ASTROW

Und bleiben sie noch lange?

WOJNIZKIJ pfeift

Noch hundert Jahre. Der Professor hat beschlossen, sich hier niederzulassen.

MARINA

Jetzt zum Beispiel. Der Samowar steht schon zwei Stunden auf dem Tisch, und sie sind spazierengegangen.

WOJNIZKIJ

Sie kommen, sie kommen … Reg dich nicht auf.

Man hört Stimmen. Aus der Tiefe des Gartens kommen, vom Spaziergang zurückkehrend, Serebrjakow, Elena Andrejewna, Sonja und Telegin.

SEREBRJAKOW

Göttlich, göttlich … eine wundervolle Landschaft.

TELEGIN

Ja, großartig, Euer Exzellenz.

SONJA

Morgen fahren wir zum Forstrevier, Papa. Magst du mit?

WOJNIZKIJ

Herrschaften, Teetrinken!

SEREBRJAKOW

Meine Freunde, schickt mir den Tee in mein Arbeitszimmer, seid so liebenswürdig! Ich muß heute noch etwas tun.

SONJA

Im Forstrevier wird es dir sicher gefallen …

Elena Andrejewna, Serebrjakow und Sonja gehen ins Haus. Telegin geht zum Tisch und setzt sich neben Marina.

WOJNIZKIJ

Es ist heiß, es ist schwül, aber unser großer Gelehrter geht in Mantel und Galoschen, mit Schirm und Handschuhen.

ASTROW

Er schont sich eben.

WOJNIZKIJ

Wie schön sie ist! Wie schön! In meinem ganzen Leben habe ich keine schönere Frau gesehen.

TELEGIN

Ob ich übers Land fahre, Marina Timofejewna, ob ich durch den schattigen Garten gehe oder diesen Tisch hier betrachte, bei allem empfinde ich eine unbeschreibliche Wonne! Das Wetter ist märchenhaft, die Vögel singen, wir alle leben in Frieden und Eintracht – was wollen wir mehr? Nimmt das Glas Ich danke Ihnen von Herzen!

WOJNIZKIJ verträumt

Diese Augen … Eine wunderschöne Frau!

ASTROW

Erzähl etwas, Iwan Petrowitsch.

WOJNIZKIJ träge

Was soll ich dir erzählen?

ASTROW

Gibt es nichts Neues?

WOJNIZKIJ

Nein. Es ist alles wie immer. Ich bin wie immer, höchstens etwas schlechter, ich bin nämlich faul geworden, ich tue nichts, knurr nur vor mich hin wie ein alter Knacker. Und meine alte Dohle, maman, plappert immer noch von der Emanzipation der Frauen, mit einem Auge schaut sie schon ins Grab, mit dem anderen sucht sie in ihren schlauen Büchlein nach der Morgenröte eines neuen Lebens.

ASTROW

Und der Professor?

WOJNIZKIJ

Und der Professor sitzt wie immer vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht in seinem Arbeitszimmer und schreibt. »Die Stirn gekraust, den Geist gespannt, so schreibt er Oden am laufenden Band. So schreibt und schreibt er immerfort und hört doch niemals ein lobendes Wort. Weder über sich noch über seine Oden.« Armes Papier! Er sollte lieber seine Autobiographie schreiben. Das wäre ein prachtvolles Sujet! Ein Professor im Ruhestand, verstehst du, ein alter Zwieback, eine gelehrte Flunder … Gicht, Rheumatismus, Migräne, vor Eifersucht und Neid ist ihm die Leber geschwollen … Und da lebt diese Flunder auf dem Gut seiner ersten Frau, nicht etwa aus Freude, sondern weil sein Geldbeutel ein Leben in der Stadt nicht erlaubt. Unentwegt jammert er über sein Unglück, obwohl er in Wirklichkeit außergewöhnliches Glück hat. Nervös Überleg dir mal, was für ein Glück! Der Sohn eines einfachen Küsters, ein Seminarist, bringt es bis zum Gelehrten, zum Professor, wird Seine Exzellenz, Schwiegersohn eines Senators usw. usw. Das ist alles übrigens unwichtig. Aber nimm zum Beispiel folgendes. Seit fünfundzwanzig Jahren liest und schreibt der Mann über Kunst und versteht dabei von Kunst absolut nichts. Seit fünfundzwanzig Jahren kaut er fremde Gedanken wieder über Realismus, Naturalismus und allen möglichen anderen Unsinn; seit fünfundzwanzig Jahren hält er Vorlesungen und schreibt über Dinge, die gescheiten Menschen längst bekannt sind und dumme nicht interessieren: Das heißt, seit fünfundzwanzig Jahren drischt er leeres Stroh. Und dabei – was für ein Eigendünkel! Was für Prätentionen! Er ist bereits im Ruhestand, aber nicht eine lebende Seele kennt ihn, er ist vollkommen unbekannt. Er hat also fünfundzwanzig Jahre lang einem anderen Menschen den Platz weggenommen. Und sieh ihn dir an: Er schreitet wie ein Halbgott!

ASTROW

Es scheint, du beneidest ihn.

WOJNIZKIJ

Ja, ich beneide ihn! Und was für ein Erfolg bei den Frauen! Kein Don Juan hat so einen überwältigenden Erfolg gekannt. Seine erste Frau, meine Schwester, ein wundervolles sanftes Geschöpf, rein wie der blaue Himmel hier, edel, großmütig – sie hatte mehr Verehrer als er Schüler – liebte ihn, wie nur reine Engel jemanden lieben können, der genauso rein und wundervoll ist wie sie selbst. Meine Mutter, seine Schwiegermutter, betet ihn an bis zum heutigen Tag, und bis zum heutigen Tag flößt er ihr heiligen Schrecken ein. Seine zweite Frau, eine Schönheit, klug – ihr habt sie eben gesehen –, hat ihn geheiratet, als er schon alt war, hat ihm ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre Freiheit, ihren Glanz geopfert. Weshalb? Warum?

ASTROW

Ist sie dem Professor treu?

WOJNIZKIJ

Ja. Leider.

ASTROW

Warum leider?

WOJNIZKIJ

Weil diese Treue verlogen ist von A bis Z. Dahinter steckt viel Pathos, aber keine Logik. Einen alten Ehemann betrügen, den du nicht ausstehen kannst, ist unmoralisch, aber deine arme Jugend, deine lebendigen Sinne in dir abtöten, das ist nicht unmoralisch.

TELEGIN mit weinerlicher Stimme

Wanja, ich liebe es nicht, wenn du so redest. Nein, wirklich … Wer seine Frau oder seinen Mann betrügt, ist ein unredlicher Mensch, der ist auch imstande, sein Vaterland zu verraten.

WOJNIZKIJ ärgerlich

Stell deinen Springbrunnen ab, Waffel!

TELEGIN

Erlaube, Wanja! Meine Frau ist mir am Tag nach unserer Hochzeit mit ihrem Geliebten davongelaufen – aufgrund meines ungefälligen Äußeren. Und trotzdem habe ich meine Pflicht nicht verletzt, bis heute liebe ich sie und bin ihr treu, ich helfe ihr, wo ich kann, und habe mein Vermögen geopfert für die Erziehung der Kinderchen, die sie von ihrem Geliebten bekommen hat. Mein Glück ist verloren, aber mein Stolz ist mir geblieben. Und sie? Ihre Jugend ist dahin, ihre Schönheit ist unter dem Einfluß der Naturgesetze verwelkt, ihr Geliebter ist gestorben … Was ist ihr geblieben?

Es kommen Sonja und Elena Andrejewna. Etwas später Marja Wassiljewna mit einem Buch, sie setzt sich hin und liest, man reicht ihr Tee, sie trinkt, ohne aufzublicken.

SONJA hastig zu Njanja

Da sind Bauern gekommen, Njanja, Liebe. Geh und sprich mit ihnen, den Tee schenke ich ein … Schenkt Tee ein

Njanja geht ab. Elena Andrejewna nimmt ihre Tasse und trinkt, sie setzt sich auf die Schaukel.

ASTROW zu Elena Andrejewna

Eigentlich bin ich wegen Ihres Mannes hier. Sie haben geschrieben, er sei ernsthaft krank, Rheumatismus und noch irgend etwas, aber, wie man sieht, ist er kerngesund.

ELENA ANDREJEWNA

Gestern abend hat er gejammert. Er klagte über Schmerzen in den Beinen, aber heute ist alles gut …

ASTROW

Und ich komme Hals über Kopf dreißig Werst hergejagt. Aber gut, es ist ja nicht das erstemal. Dafür werde ich bis morgen hierbleiben und mich wenigstens einmal quantum satis ausschlafen.

SONJA