Operation Black List - Will Jordan - E-Book

Operation Black List E-Book

Will Jordan

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Beschreibung

Um ihren Namen reinzuwaschen, tritt sie ihrem tödlichsten Feind gegenüber

Alex Yates ist einer der besten Hacker der Welt. Doch seit er für seine illegalen Aktivitäten verurteilt wurde, schlägt er sich als Verkäufer durch und verdient nebenbei etwas Geld als IT-Experte. Als er zu einem geheimen Treffen mit einer mysteriösen Frau bestellt wird, weiß er zunächst nicht, wen er da vor sich hat: Es ist die ehemalige Doppelagentin Anya. Sie ist auf einem persönlichen Rachefeldzug gegen diejenigen, die sie einst zu Fall brachten, und erteilt Alex den härtesten Auftrag seines Lebens. Er soll in das streng bewachte Netzwerk der CIA eindringen und eine geheime Akte für sie beschaffen. Doch Anya hat mächtige Feinde, die jetzt auch Alex ins Visier nehmen!

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Seitenzahl: 675

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Buch

Der Londoner Alex ist IT-Experte und einer der besten Hacker überhaupt. Doch er wurde erwischt und wegen illegaler Aktivitäten verurteilt – nun ist er auf Bewährung. Er schlägt sich mehr schlecht als recht als Verkäufer durch und versucht, sich nebenbei als IT-Experte für schwierige Fälle etwas Geld dazuzuverdienen. Bei einem geheimen Treffen mit einem Unbekannten bekommt Alex den schwierigsten Auftrag seines Lebens: Er soll in das Netzwerk der CIA eindringen und eine streng geheime Akte beschaffen. Alex ahnt nicht, wer sich hinter dem Mandat verbirgt: Es ist die ehemalige russische Doppelagentin Anya. Sie verfolgt ihre ganz persönlichen Pläne und hat sich damit mächtige Feinde gemacht …

Autor

Will Jordan lebt mit seiner Familie in Fife in der Nähe von Edinburgh. Er hat einen Universitätsabschluss als Informatiker. Wenn er nicht schreibt, klettert er gerne, boxt oder liest. Außerdem interessiert er sich sehr für Militärgeschichte. Will Jordan hat bereits jede Waffe abgefeuert, die in diesem Roman erwähnt wird.

Von Will Jordan bereits bei Blanvalet erschienen:

Mission: Vendetta

Der Absturz

Gegenschlag

WILL JORDAN

OPERATION

BLACK LIST

Thriller

Aus dem Englischen

von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

Black List bei Canelo Digital Publishing, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2016 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkterstr. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Will Jordan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: © Johannes Frick, Neusäß

Umschlagmotiv: Getty Images/Gabe Rogel

und Shutterstock.com

Redaktion: Michael Rahn

BS · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-13479-2V001

www.blanvalet.de

Für Daniel –

der mich jeden Tag stolz macht

PROLOG

Istanbul, 10. Mai 2009

Das ist doch nicht möglich!

Das bin ich nicht. So bin ich doch gar nicht.

Seltsames Zeug schießt einem durch den Kopf, wenn man weiß, dass man gleich sterben wird. Ich hatte immer gehofft, dass ich in meinen letzten Augenblicken noch irgendetwas Tiefschürfendes oder Poetisches von mir geben würde, irgendeine großartige Erkenntnis als Frucht eines langen, erfüllten Lebens. Nur leider entspräche das nicht der Wahrheit.

Denn in Wahrheit bin ich gar nicht alt, weise oder erfolgreich. Ich habe einen langweiligen Job, lebe in einem bescheidenen Haus, zahle rechtzeitig meine Steuern und schütte mir morgens fettarme Milch aufs Müsli. Ich gehe keine Risiken ein und lege es nicht darauf an, mir Ärger einzuhandeln.

Im Großen und Ganzen bin ich der absolute Durchschnittstyp. Solide, öde, gesichtslos. Die Sorte Mensch, an der man auf der Straße jeden Tag ein Dutzend Mal vorbeiläuft und schon einen Herzschlag später vergisst, dass man sie gesehen hat. Und bis vor einer Woche dachte ich noch, es würde immer so weitergehen.

Aber ich schätze mal, dass jede Glückssträhne irgendwann zu Ende geht …

Durchgeschwitzt und mit rasendem Puls, schätzte Alex den klaffenden Spalt vor sich ab, den furchtbaren Abgrund und das vollgestellte Dach, das jetzt seine einzige Fluchtmöglichkeit war. Zwischen ihm und seiner Rettung lagen fünf Meter Luftlinie. Aber diese fünf Meter hätten ebenso gut fünfzig Kilometer sein können. Circa fünfundzwanzig Meter unter ihm verlief eine schmale Durchfahrt zwischen den beiden modernen Bürohäusern.

Es würde eine verdammt harte Landung werden, wenn er den Sprung riskierte, und seine Chancen standen nicht schlecht, sich dabei alle Knochen zu brechen oder vielleicht sogar wie ein Stein auf die Straße hinabzustürzen.

Aber er musste es versuchen.

Er machte einen Rückwärtsschritt und versuchte, die mentalen und körperlichen Reserven zu mobilisieren, die er für den Sprung brauchte. Er musste einfach die Gefahr vergessen und es darauf ankommen lassen.

Aber es ging nicht, das spürte er im selben Moment. Er hatte es ein paar Tage zuvor in London nicht hingekriegt, und jetzt würde er es auch nicht schaffen. Selbst jetzt, wo sein Leben nur noch an einem dünnen Faden hing, hatte er einfach nicht den Mumm dazu.

Eine schnelle Folge dumpfer Einschläge, gefolgt vom Geräusch splitternden Holzes, machte ihm klar, dass die provisorische Barrikade hinter ihm gerade zerlegt worden war.

»Keine Bewegung!«

Das war’s, es war vorbei. Ein einziger Augenblick machte alles zunichte – die einzige Chance zur Flucht, die ihm geblieben war, um das Vertrauen zu rechtfertigen, das man in ihn gesetzt hatte, und um zu beweisen, dass er überhaupt zu irgendetwas zu gebrauchen war. In diesem Moment verpuffte das alles.

»Umdrehen!«

Alex seufzte, griff nach dem kleinen USB-Speicherstick, den er um den Hals trug, und drehte sich langsam zu seinem Widersacher um.

Genau wie er es erwartet hatte, trug der Mann, der ein paar Meter entfernt dastand, lässige Freizeitkleidung, die über seinen tödlichen Auftrag hinwegtäuschte. Jeans, Wanderschuhe, die ihm bei der atemlosen Hetzjagd durchs Treppenhaus bestimmt gute Dienste geleistet hatten, und ein weit geschnittenes blaues Hemd, das die unförmige Schutzweste darunter nicht ganz kaschierte.

Er atmete etwas schwer, und auf seiner Stirn schimmerte ein dünner Schweißfilm. Der Anblick erfüllte Alex mit einer gewissen Genugtuung, als hätte er gepunktet, weil er seinen Gegner gezwungen hatte, sich richtig anzustrengen, um ihn zu töten.

Denn ganz sicher hatte der Mann genau das vor. Er richtete seine Waffe auf Alex’ Kopf und hielt den Finger am Abzug.

»Gib mir den Speicherstick!«, lautete sein barscher Befehl. Vielleicht war es ihm diesmal nicht ganz so leichtgefallen wie sonst, sein Opfer zu erwischen, aber jetzt hatte er die Lage völlig unter Kontrolle.

Alex riss sich den Speicherstick vom Hals, ließ ihn dann aber unvermittelt an der Baumwollkordel hinter sich über dem Abgrund baumeln. Es war so ein harmloses kleines Stück Technik, ein billiges Speichermedium, wie es alle benutzten, Büroangestellte ebenso wie jugendliche Musikfans. Aber das Äußere täuschte. Worauf es wirklich ankam, waren die darauf gespeicherten, codierten und chiffrierten Informationen.

Dafür war er achttausend Kilometer in der Welt herumgereist. Dafür hatte er sein Leben riskiert. Dafür würde er gleich sterben.

»Wenn Sie mich erschießen, lasse ich ihn fallen, und die Polizei wird ihn sicherstellen«, warnte er. »Dann finden sie die Schwarze Liste. Und damit all das, was Sie vertuschen sollten. Es hängt von Ihnen ab.«

Der Mann, sein Mörder, grinste. Es war das brutale Raubtiergrinsen eines Mannes, der es gewohnt war, andere gnadenlos und ohne Zögern ins Jenseits zu befördern. »Die Polizei? Bilden Sie sich etwa ein, unser Arm reicht nicht bis zu denen?«, spottete er. »Wir kriegen jeden. Also tun Sie sich einen Gefallen. Legen Sie das Ding auf den Boden und treten Sie zurück. Dann geht jeder seiner Wege, und die Sache ist erledigt.«

Alex hätte vielleicht gelacht, wenn ihn sein Scheitern nicht so fertiggemacht hätte. Es war völlig egal, was er tat und wie willig oder kooperativ er sich zeigte – es gab nur einen, der hinterher seiner Wege ginge. Und das war nicht er.

Alex war für diesen Mann nichts weiter als eine weitere Zielperson. Ein Problem, das man sich vom Hals schaffen musste. Ein dämlicher, ahnungsloser Zivilist, der nur deshalb so weit gekommen war, weil jemand ihm den Rücken freigehalten hatte, der weitaus cleverer und geschickter war als er. Eine Person, die vielleicht sogar schon ihr Leben geopfert hatte, um ihm etwas Zeit zur Flucht zu verschaffen.

Du hast es vermasselt!, warf ihm seine innere Stimme vor. Du hast das hier genauso vermasselt wie alles andere in deinem Leben. Eigentlich könntest du ihm gleich geben, was er will. Mach einen Rückzieher und gib auf, genauso wie du es sonst auch immer machst.

Dann tat Alex etwas, das er selbst niemals für möglich gehalten hätte.

»Nein«, sagte er mit einer Stimme, die trotz seines rasenden Herzschlags überraschend ruhig klang. »Diesmal nicht.«

Er machte einen Schritt rückwärts und stieg auf die niedrige Brüstung, die um das Gebäudedach lief. Unter ihm gähnte die schreckliche Kluft. Vor ihm stand ein bewaffneter Mann, der es darauf abgesehen hatte, ihn zu töten.

Ringsum, erhellt vom orangefarbenen Schein der unzähligen Lichter, die sich im dunklen Wasser des Bosporus spiegelten, lag die Altstadt von Istanbul.

Kein schlechter Platz für das Ende, dachte Alex, bevor er einen Schritt weiter auf den Abgrund zuging.

TEIL EINS

ANFÄNGE

1983 drang eine Hackergruppe namens »The 414s« in mehr als sechzig Computersysteme ein. Ihre Ziele reichten vom Los Alamos National Laboratory bis hin zum Memorial Sloan Kettering Cancer Center in Manhattan. Es handelte sich um den ersten Computerhack, über den in einem größeren Rahmen berichtet wurde.

1

London, zehn Tage zuvor

Es war Freitagabend. Der Trafalgar Square wimmelte von Touristen, Theaterbesuchern auf dem Weg zum nahe gelegenen Piccadilly Circus und von gestressten Angestellten, die sich nach einer anstrengenden Woche auf ihren langen Heimweg machten. Autos, Taxis und Busse drängelten sich auf den verstopften Straßen rings um den Platz, und dazwischen schlängelten sich Fahrräder und Mopeds, oft von gereiztem Gehupe begleitet, an den langsameren Fahrzeugen vorbei.

Es war einer jener milden, etwas diesigen Abende, wie sie für den Spätfrühling in der Metropole typisch waren, und nur eine kaum spürbare warme Brise strich durch die geschäftigen Straßen. Über den Köpfen begann die Sonne ihren langen Abstieg durch die wenigen zarten Wolken, die über den ansonsten strahlend blauen Himmel zogen.

Alex Yates schlürfte seinen Espresso und ließ dabei seinen Blick mit beiläufigem Interesse über den weiten Platz schweifen. Seine Augen blieben hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, während er alles auf sich wirken ließ. Drüben bei den Zierbrunnen, die den Platz flankierten, steuerte ein Trupp durchgestylter Aktienhändler aus dem nahe gelegenen Bankenviertel nordwärts, vermutlich zu einer jener angesagten Weinbars in Soho. Sie gaben sich gewichtig, waren teuer gekleidet und legten eine vorgetäuschte Munterkeit an den Tag, so als wollte jeder von ihnen seine Kameraden davon überzeugen, dass die globale Finanzkrise nur ein vorübergehendes kleines Unwetter war, das sich schon bald verziehen würde, wenn wieder einträglichere Zeiten zurückkehrten.

Nicht weit von dieser Zurschaustellung von verzweifeltem Optimismus hastete ein genervt aussehender Mann mittleren Alters mit schütterem grauen Haar in einem altmodisch geschnittenen Anzug zur Treppe der U-Bahn-Station Charing Cross. Ein hart arbeitender Mann – vielleicht von der Stadtverwaltung –, der sein Leben in einem schäbigen Büroverschlag vergeudet hatte, oder ein kleiner Angestellter, den Stress, Vorschriften und Termindruck vorzeitig hatten altern lassen.

Vor den Stufen streifte er eine Blondine, die sich langsam von der Nationalgalerie entfernte. Groß gewachsen und mit athletischer Figur, gekleidet in teure Jeans, eine schwarze, taillierte Bluse und eine geschmackvolle braune Lederjacke, war sie der Inbegriff lässiger Eleganz. Sie hatte ein ausgesprochen hübsches Gesicht mit einem ausländischen Einschlag, strahlte aber eine gewisse Härte aus, die Alex dazu brachte, etwas genauer hinzuschauen.

Vielleicht spürte sie seinen rastlosen Blick, wie es attraktive Frauen öfter taten, jedenfalls sah sie in seine Richtung, und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Selbst von der gegenüberliegenden Seite des Platzes aus verblüfften Alex ihre eisblauen Augen, deren Blick ihn zu durchbohren schien. Zweifellos fragte sie sich, ob er sich wohl als Stalker entpuppen würde.

Ihm war klar, dass er tunlichst vermeiden musste, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, deshalb schaute Alex rasch wieder weg und richtete den Blick auf die Zeitung vor ihm auf dem Tisch. Leute zu beobachten war immer eine gefährliche Angewohnheit, ganz besonders für jemanden wie ihn. Jedes Detail, das er jetzt betrachtete, würde sich ihm für immer einprägen und ihn zweifellos noch für Tage, wenn nicht Wochen belasten, obwohl sein Gedächtnis ohnehin schon vollgepackt war.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war fünf nach sechs. Sein Freund verspätete sich, und obwohl es noch zu früh war, sich über diese kleine Verspätung Gedanken zu machen, fühlte er sich zunehmend unwohl. Alles an diesem überstürzt anberaumten Treffen machte ihn nervös.

Er konnte es sich gerade noch verkneifen, schon wieder auf die Uhr zu schauen, schließlich waren seit seinem letzten Blick keine zwanzig Sekunden vergangen. Eine Verabredung in der Öffentlichkeit war ebenso unnötig wie riskant; er war ungeschützt, fühlte sich verwundbar und wie auf dem Präsentierteller.

Trotzdem war er da, saß in diesem Café an der Südseite des Platzes, trank bereits den zweiten Espresso, der seiner Nervosität ganz sicher nicht guttat, und wartete auf einen Mann, den er seit über zwei Jahren nicht gesehen hatte.

Warum er sich überhaupt auf ein Treffen eingelassen hatte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Seine letzte Zusammenarbeit mit Arran Sinclair hatte mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe und einem Eintrag ins Vorstrafenregister als Lohn für seine Mühen geendet. Es reichte schon aus, wenn man sie nur zusammen sah. Hatte ein Beobachter Zugriff auf die Zentrale Verbrecherdatei, könnte ihn das wieder ins Visier der Strafverfolgungsbehörden bringen. So etwas konnte er ganz bestimmt nicht gebrauchen.

Nichtsdestotrotz war Sinclair ein Freund. Vielleicht sogar noch mehr als das – er verkörperte die Erinnerung an eine Zeit, als Alex’ Zukunft noch weit vielversprechender ausgesehen hatte. Die Zeit, in der er noch von seinem Potenzial überzeugt war, im Leben einmal Großartiges leisten zu können.

Dieser Glaube mochte naiv gewesen sein, damals hatte es sich jedoch real angefühlt.

In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf den Tisch und riss ihn aus seiner Tagträumerei.

»Na, wie geht’s, mein Lieber?«, fragte eine vertraute schottische Stimme. Sie klang herzlich und jovial. »Lange nicht gesehen.«

Als er von seinem Kaffee aufsah, blickte Alex in das Gesicht eines Mannes, den er früher einmal für einen guten Freund gehalten hatte. Er war groß und schlank, wirkte aber ziemlich kräftig und athletisch und hatte die hellen, an einen Falken erinnernden Augen eines Mannes, der alles sah und dem nichts entging. Arran Sinclair war eine markante Erscheinung und hinterließ bei jedem, dem er begegnete, einen bleibenden Eindruck. Alex kannte ihn inzwischen seit fast zehn Jahren, und Arran schien in dieser Zeit kaum gealtert zu sein. Sein Gesicht war immer noch schmal und auf eine anziehende Art zerfurcht, und er trug sein widerspenstiges blondes Haar so lang wie früher. Er war fast zwei Meter groß und mit schlichten Jeans, einem Freizeithemd und einer bequem aussehenden Lederjacke bekleidet.

Allein sein Anblick war schon wie eine Reise in die Vergangenheit, und Alex wurde einen Moment von einem Schwall Erinnerungen überflutet.

»Arran«, sagte er schließlich und stand auf, um seinen alten Freund zu begrüßen. Selbst zu voller Größe aufgerichtet, war Alex einige Zentimeter kleiner als Sinclair, was ihn zwang, zu ihm aufzuschauen, als er ihm die Hand gab. »Schön, dich wiederzusehen.«

»Und dich erst. Es ist schon so lange her.« Sein Freund hielt einen Moment inne, als wollte er noch etwas sagen, fände aber nicht gleich die richtigen Worte. Stattdessen legte er die Hand auf die Lehne eines freien Stuhls am Tisch. »Was dagegen, wenn ich mich setze?«

»Na los.« Alex setzte sich wieder, während Sinclair seine Jacke auszog und ihm gegenüber Platz nahm. Ein paar Sekunden schwiegen beide Männer, und die Spannung, die zwischen ihnen beiden in der Luft gelegen hatte, wurde deutlich spürbar. Plötzlich von Angesicht zu Angesicht mit Arran konfrontiert, verschlug es Alex auf seltsame Weise die Sprache. »Du siehst gut aus«, sagte er, ohne recht zu wissen, warum. Plötzlich zeigte sich das einst so vertraute Grinsen in Sinclairs Gesicht, und er lachte zu Alex’ Verwunderung laut auf. »Warum habe ich nur plötzlich das Gefühl, bei einem richtig miesen Blind Date zu sein?«, fragte er, immer noch amüsiert.

Alex musste grinsen, und die Spannung zwischen ihnen löste sich. »Wenn du der Beste bist, den sie finden konnten, will ich mein Geld zurück.«

Ihre Unterhaltung wurde kurz unterbrochen, als eine Kellnerin kam und Sinclairs Bestellung aufnahm. Er orderte, wie immer, einen großen Caffè Latte mit zwei Portionen Espresso extra.

»Gewisse Dinge ändern sich anscheinend nie«, bemerkte Alex, als die junge Frau verschwand, um die Bestellung auszuführen. In all den Jahren, die er ihn nun kannte, hatte Alex nie erlebt, dass Sinclair etwas anderes bestellt hätte.

»Ich weiß eben, was ich mag.« Sein Freund winkte ab. »Aber genug davon. Was zum Teufel treibst du zurzeit? Du bist verdammt schwer aufzuspüren gewesen, selbst für mich.«

Das überraschte Alex nicht. Seit ihrer letzten Begegnung hatte er zweimal den Wohnsitz gewechselt. »Ich bin viel unterwegs«, antwortete er ausweichend. »Aber da wir gerade davon sprechen: Wie hast du mich überhaupt gefunden?«

Auf diese Frage schnitt Sinclair ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich musste Jill behelligen«, sagte er und schien mit einer zornigen Reaktion zu rechnen. »Tut mir leid, Mann, aber du warst nie online. Ich wusste nicht, wen ich sonst fragen sollte.«

Alex spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. Jill – noch eine Erinnerung an das Leben, von dem er wusste, dass es nie wieder so sein würde. Intelligent, enthusiastisch, ambitioniert und fleißig. Sie war mit nicht einmal dreißig bereits Partnerin in einer angesehenen Anwaltskanzlei. Jill gehörte zu jenen Menschen, die genau wussten, was sie aus ihrem Leben machen wollten und was sie dafür zu tun hatten.

So ein Mensch war er auch einmal gewesen.

Er musste ihr zugutehalten, dass sie sich länger mit ihm abgegeben hatte, als er es erwartet hatte. Sie war während des gesamten Prozesses an seiner Seite geblieben, hatte geduldig auf ihn gewartet, als er seine Gefängnisstrafe abbrummte, und sogar versucht, ihre Beziehung wiederzubeleben, als er endlich auf Bewährung freikam. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sie beide begriffen, dass es nie wieder so wie früher sein würde. Zu vieles hatte sich verändert, für sie beide.

Es war fast eine Erleichterung gewesen, als sie schließlich aufgab und Schluss machte. Wenigstens brauchte er nun nicht mehr die Demütigung ihrer beständigen Unterstützung für ihn zu ertragen, ihre aufmunternden Worte, wenn er sich mal wieder für irgendeinen Aushilfsjob beworben hatte und abgelehnt wurde. Ihrer beider Leben entwickelten sich in unterschiedliche Richtungen, und er glaubte, dass es für sie das Beste war, ihn losgeworden zu sein.

»Schon in Ordnung.« Alex presste die Worte zwischen den Zähnen hervor. »Sie hat dir bestimmt kein mieses Detail erspart.«

»Mehr oder weniger.« Sinclair war sensibel genug, zu spüren, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. »Sie … hat erwähnt, dass du jetzt im Elektrofachhandel tätig bist, Fernseher verkaufst und solche Dinge.«

Es war völlig sinnlos, ihm etwas vorzumachen. Alex sah seinem alten Freund in die Augen. »Für Leute mit meiner Vorgeschichte gibt es nicht gerade viele Jobs auf dem Arbeitsmarkt«, bemerkte er bissig. »Ich musste nehmen, was ich kriegen konnte.«

Sinclair schloss für einen Moment die Augen. Er hatte genau verstanden, was gemeint war. »Tut mir leid, Alex. Ich weiß, dafür kannst du dir nichts kaufen, aber ich meine es ernst. Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für dich …«

Er unterbrach sich, als die Kellnerin mit seinem Getränk zurückkam, aber ihm war deutlich anzusehen, dass ihm noch einiges auf der Zunge lag. Alex dagegen war froh über die Unterbrechung. Er brauchte und wollte Sinclairs Dankbarkeit nicht, und sein Mitgefühl noch viel weniger.

»Mich haben sie erwischt, dich nicht«, sagte Alex nur. »Es wäre sinnlos gewesen, dich da mit reinzuziehen. Außerdem hättest du das Gleiche auch für mich getan.«

Sein Freund nickte nur. Alex’ Worte schienen ihn irgendwie zu erleichtern, als hätte ihn das Thema schon seit Langem belastet.

»Also, Arran, was hat das Ganze zu bedeuten?«, fragte Alex, beugte sich vor und sah ihm in die Augen. Sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten zu erzählen war ja schön und gut, aber jetzt wollte er Antworten. »Nach all der Zeit kontaktierst du mich aus heiterem Himmel. Ich vermute, du hattest nicht vor, dich mit mir über meine Karriere zu unterhalten.«

Das reichte, um Sinclair in die Gegenwart zurückzuholen. Er nahm einen Schluck von seinem dampfenden Kaffee, erwiderte Alex’ fragenden Blick, und dann sagte er es, einfach so.

»Ich baue Valhalla wieder auf, Alex. Und ich will dich mit dabeihaben.«

Alex war froh, dass er gerade nichts trank, sonst hätte er sich verschluckt. Valhalla 7, die Gruppe hoch spezialisierter Hacker, die sie beide mitgegründet hatten und die sich schon vor langer Zeit aufgelöst hatte, wurde wieder zusammengetrommelt? Die bloße Nennung des Namens genügte, um sein Herz schneller schlagen zu lassen.

Er sah seinen Freund ungläubig an. »Ist das dein Ernst?«

Sinclair erwiderte nichts. Das war auch nicht nötig. Sein ruhiges, geradezu lässiges Benehmen stand in deutlichem Kontrast zur Brisanz der Situation. Ein Beobachter hätte anhand ihrer Körpersprache der Unterhaltung vielleicht keinen besonderen Stellenwert eingeräumt. Aber Alex wusste nur allzu gut, welche Bedeutung sie hatte.

»Mann! Hast du vergessen, dass ich wegen Hackens vor Gericht gekommen bin und zwei Jahre im Gefängnis absitzen musste? Kennst du meine Bewährungsauflagen nicht? Wenn ich nur in die Nähe von etwas Komplizierterem als einem Smartphone komme, steht mir richtiger Ärger ins Haus.«

Sein Freund nickte. Offenbar war er auf diese ablehnende Reaktion bestens vorbereitet. »Ich weiß, wie das für dich klingen muss«, räumte er ein. »Und ich weiß, dass es vermutlich das Letzte ist, womit du dich momentan beschäftigen möchtest, aber hör dir einfach an, was ich zu sagen habe.«

Alex lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und warf ihm einen langen, prüfenden Blick zu. Er war weder bekräftigend noch abweisend.

»Als sich Valhalla aufgelöst hatte, habe ich begonnen, eigene Aufträge anzunehmen«, erklärte Sinclair. »Ich habe ein paar feste Kunden gewonnen. Besonders eine Kundin hatte ausgezeichnete Empfehlungen. Ich habe fast das ganze letzte Jahr für sie gearbeitet und ein paar kleinere Jobs für sie erledigt.«

Alex zog eine Augenbraue hoch. »Eine Frau?«

Er sah, wie sein Freund schwach grinste. »Ich habe erst vor Kurzem herausgefunden, dass es eine Frau ist. Unsere Kommunikation lief ausschließlich über eine anonyme E-Mail-Adresse. Jedenfalls kam sie vor ein paar Tagen mit einem neuen Auftrag. Eine große Sache. Netzwerksicherheit. Ein Auftrag, wie wir ihn immer haben wollten, aber nie an Land ziehen konnten.«

Alex verzog sein Gesicht. »Regierung?«

Sinclairs Grinsen verstärkte sich. »Besser.«

Er griff in seine Jacke, zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und schob ihn über den Tisch. Neugierig faltete Alex den Zettel auseinander und überflog die Kurzfassung der Auftragsbeschreibung. Dann las er sie ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass seine Augen ihm keinen Streich gespielt hatten. Hatten sie nicht.

Er sah Sinclair ungläubig an. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf.

»Das ist lächerlich! Du meinst, du willst …?« Er zwang sich dazu, die Stimme zu senken, weil ihm plötzlich sehr bewusst wurde, dass sie sich in der Öffentlichkeit getroffen hatten. »Du willst die verdammte CIA hacken?«

Sinclair konnte sein Grinsen nicht mehr verbergen. Er fühlte sich jetzt ganz in seinem Element.

»Hast du schon eine Zelle in Guantanamo reservieren lassen?«, fragte Alex zynisch.

Aber sein Freund ließ sich von seinem Zynismus nicht im Mindesten anstecken. »Denk drüber nach, Alex. Bisher hat es noch keiner geschafft, durch ihre Firewalls zu kommen. Keiner anderen Gruppe ist das auch nur ansatzweise geglückt.«

»Aus gutem Grund«, pflichtete Alex ihm bei. »Es ist einfach unmöglich.«

»Jedes System hat einen Schwachpunkt«, konterte Sinclair in einem Tonfall, der klang, als würde er jemanden zitieren. »Man braucht nur Fähigkeiten, Planung und Geduld, um ihn herauszufinden.«

»Wo hast du das denn her?«

»Du hast das gesagt. Vor acht Jahren.« Sinclair neigte leicht den Kopf. »Es wundert mich, dass du dich nicht daran erinnerst, wenn man bedenkt …«

Aber vielleicht wollte er sich auch nicht mehr daran erinnern. Es klang nach dem aufgeblasenen Unfug, den er in einem anderen Leben von sich gegeben hatte. Vor der Gerichtsverhandlung, vor der Gefängnisstrafe und vor der bitteren Gewissheit, dass es nie wieder so sein würde wie früher.

»Damals lagst du genau richtig«, fuhr Sinclair fort. »Fähigkeiten und Geduld bringen wir mit. Und was das nötige Glück angeht, greift uns der Kunde unter die Arme.«

»Was willst du damit sagen?« Alex konnte jetzt mit vagen Andeutungen nichts mehr anfangen.

»Lass es mich mal so sagen: Sie hat Beziehungen. Ich kann dir zu diesem Zeitpunkt noch nichts Genaueres sagen, aber eines darfst du mir glauben: Die meisten Hackergruppen auf dieser Welt würden töten, um in die Finger zu bekommen, was sie uns gegeben hat. Wir haben einen Trumpf, den sonst niemand hat.« Er beugte sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab. »Stell dir nur eine Minute lang vor, dass wir es schaffen könnten. Stell dir vor, wir könnten ihre Firewall knacken und kämen da rein. Das könnte wirklich die Welt verändern. All diese Verschwörungstheorien über die Regierung, die ihre eigenen Bürger ausspäht, unschuldige Menschen kidnappt und foltert, Auftragsmorde und Staatsstreiche auf der ganzen Welt … Wir hätten die Beweise binär und schwarz auf weiß. Kannst du dir vorstellen, was das bedeuten würde? Kannst du dir vorstellen, was wir damit bewirken könnten?«

Während er redete, fixierte er Alex mit seinem Falkenblick. Seine vorgetäuschte, nonchalante Gelassenheit war wie weggewischt. Alex konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so erregt gesehen zu haben.

»All die aufregenden Dinge, die wir vorhatten … wie oft haben wir uns in der Kneipe einen hinter die Binde gegossen und davon geredet, einmal etwas richtig Bedeutsames zu machen«, fuhr er fort. »Weißt du, das ist unsere Chance, es wahr werden zu lassen. Eine zweite Chance, zu Ende zu bringen, was wir einmal begonnen haben – und solch eine Chance bekommt man nicht allzu oft.«

Alex hätte so etwas von einem Mann wie Sinclair erwarten müssen. Arran war schon immer ein Idealist gewesen, der an Informationsfreiheit um jeden Preis glaubte, und sein Alter schien seine Begeisterung dafür nicht zu schmälern. Sie war eher noch größer geworden. Die Jahre, in denen er gezwungen war abzuwarten, bis sich eine solche Chance bot, hatten zweifellos ihre Spuren hinterlassen.

»Deswegen willst du mich also ins Boot holen«, sagte Alex, dem klar wurde, dass seine speziellen Begabungen bei einem solchen Vorhaben unerlässlich waren. »Du brauchst mich, um die Firewall zu knacken.«

»Niemand knackt Verschlüsselungscodes so gut wie du, Alex. Du kriegst Sachen hin, bei denen wir anderen wie Amateure aussehen.« Sinclair seufzte und schaute seinen Freund über den Tisch hinweg an. »Ich bitte dich um deine Hilfe, Mann. Ich brauche deine Hilfe. Und ich bin bereit, dafür zu bezahlen.«

Ein weiteres Stück Papier wurde über den Tisch geschoben. Alex konnte nicht widerstehen und faltete es auseinander. Wieder war er von dem, was er da las, wie vor den Kopf gestoßen.

Einhunderttausend britische Pfund. Zahlbar in bar oder auf ein Konto seiner Wahl.

»Eine Hälfte als Vorschuss, den Rest bei Abschluss«, sagte Sinclair, als Alex schließlich zu ihm aufschaute. »Genug, um dein Leben wieder in die Spur zu bringen. Und glaub mir, wo das herkommt, gibt’s noch mehr.«

Alex fühlte sich, als würde die ganze Welt um ihn herumwirbeln. Das plötzliche Auftauchen Sinclairs hatte ihn mit einer Vielzahl neuer Möglichkeiten konfrontiert, Chancen, an die er schon lange nicht mehr geglaubt hatte, die aber plötzlich wieder ganz real zu werden schienen. Mit hunderttausend Pfund konnte er sein Leben umkrempeln und sich aus dem Sumpf ziehen, in dem er langsam versank. Vielleicht bedeuteten sie seine Rettung.

Aber es lag noch etwas anderes in Sinclairs Angebot, das viel wertvoller war. Es war die Chance, wieder mitzuspielen, wieder etwas Sinnvolles mit seinem Leben anzustellen, damit er wieder stolz auf sich sein konnte.

Einen Moment lang sah er die unglaubliche Zukunft, die hier zum Greifen vor ihm lag – Leistungen, Erfolge und die Gelegenheit, Dinge zu tun, über die die ganze Welt reden würde.

Alles war da und wartete nur auf ihn. Er brauchte nichts zu tun, als die Hand auszustrecken und sich darauf einzulassen.

»Ich kann nicht. Tut mir leid, mein Freund. Aber ich kann das nicht machen.«

Die Worte kamen ihm über die Lippen, bevor er es selbst realisierte. Es war, als ob der vernünftige Teil von ihm seine Macht über den ehrgeizigen jungen Mann, der er einmal gewesen war, unter Beweis stellen musste.

»Das letzte Mal, als ich mich an so was herangewagt habe, habe ich fast alles verloren.« Mit zitternden Fingern schob er den Zettel über den Tisch zurück zu seinem Freund. »Das stehe ich nicht noch einmal durch. Ich kann dir nicht helfen.«

»Alex, ich weiß, dass es Risiken gibt.« Sinclairs Stimme klang jetzt sanft und beruhigend. »Die gibt es immer, aber manchmal lohnt es sich, sie einzugehen. Ich kenne dich. Ich weiß, wer du bist und was du kannst. Du bist nicht so, wie all diese Leute hier«, sagte er und ließ den Blick über die wimmelnden Menschenmassen gleiten, die den Trafalgar Square bevölkerten. »Du und ich … wir sind zu Größerem geboren.«

Er seufzte, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und musterte seinen Freund bedauernd.

»Wenn du wieder zurückwillst, um Fernseher zu verkaufen und in irgendeiner Bruchbude zu hausen, ist das deine Entscheidung – ich kann dich nicht davon abhalten. Aber denk darüber nach, worauf du verzichtest. Ich biete dir die Chance, zu tun, wofür du geboren bist. Wir wissen beide, dass du es auch willst. Ist das hier nicht wert, alles zu riskieren?« Er ließ die Frage einen Moment lang im Raum stehen, weil er spürte, wie Alex’ Widerstand bröckelte. »Also, ich frage dich jetzt zum letzten Mal und will eine endgültige Antwort, alter Freund. Wofür entscheidest du dich?«

2

»Wofür entscheidest du dich?«

Alex blinzelte. Es kostete ihn Mühe, sich aus seinen Gedanken zu lösen – als würde er aus dem Morast eines trüben Teiches kriechen. Die Erinnerung an jenes Treffen vor drei Tagen am Trafalgar Square war verblasst, und die Realität gewann wieder die Oberhand, ganz gleich, wie widerwillig er sie an sich heranließ.

Er sah von dem Fernseher hoch, den er schon eine geraume Zeit lang angestarrt hatte, und blickte in das runde, freundliche Gesicht seines Kollegen Mike King.

Mike war ein paar Jahre älter und etliche Kilo schwerer als Alex. Mit seinem strubbeligen Haar, seinem Nicht-mal-Dreitagebart und den chronisch verknitterten Hemden sah er immer aus wie ein verkrachter Student, den man von der Uni geworfen und gezwungen hatte, sich wie ein Erwachsener zu benehmen. Seitdem lehnte er sich dagegen auf und war zumindest in diesem Punkt erfolgreich.

Nach allem, was Alex über ihn wusste, bestand sein Privatleben aus ausgedehnten Zechgelagen – über die er immer gern langatmige Anekdoten zum Besten gab – und Anfällen von Onlinespielfieber, die sich sogar noch länger hinziehen konnten. Der einzige Grund, warum er es überhaupt schaffte, wenigstens als Verkäufer angestellt zu bleiben, war seine fast übernatürliche Begabung, Leute dazu zu bringen, Dinge zu kaufen, die sie nicht haben wollten. Nichts entmutigte ihn, und deshalb schien ihn auch nichts bremsen zu können.

»Tut mir leid, Kumpel, was hast du gesagt?«, antwortete Alex, als er merkte, dass er überhaupt nicht zugehört hatte, weil er im Geiste immer wieder jedes Detail seiner Begegnung mit seinem alten Freund durchging.

Mike verdrehte die Augen und heuchelte verletzten Stolz. »So gespannt hörst du mir also zu, was? Ich habe dich gefragt, wo du Freitag lieber ein paar Drinks nehmen würdest. Im Dirty Dick’s oder in der Witness Box? Da ist das Bier nicht so gut wie im Dick’s, aber die Mädchen machen das wieder wett. In der Box hängen nur Schabracken und Omis herum.«

Alex schüttelte den Kopf. Bei ihm stand momentan so viel auf dem Zettel, dass eine Sauftour mit Mike so ziemlich das Letzte war, nach dem ihm der Sinn stand. Das letzte Mal, als Mike ihn dazu überredet hatte, auf ein paar gemütliche Feierabendbiere mitzukommen, war er am nächsten Morgen auf seinem Küchenfußboden aufgewacht – mit rasenden Kopfschmerzen, einem blauen Auge und einem rot-weißen Absperrkegel in der Zimmerecke. Er hatte bis heute keine Ahnung, wie er sich das alles eingehandelt hatte.

»Ich weiß nicht, ob ich es am Freitag schaffe, Kumpel«, sagte er entschuldigend. »Vielleicht nächstes Mal, ja?«

Mike beäugte ihn misstrauisch. Er mochte ein unreifer Faulpelz und Alkoholiker sein, aber manchmal hatte er auch einen verdammt guten Riecher. Irgendwas stimmte nicht mit Alex, das wusste er.

»Ist da was im Busch, Junge?«

»Ich hab einfach was anderes vor«, wich Alex aus.

Das Misstrauen wurde von einem wissenden Grinsen verdrängt. »Eine Frau, oder?«

»Nein.«

»Ein Mann?«

»Nein!« Alex biss die Zähne zusammen und ärgerte sich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Mike kannte in solchen Dingen kein Erbarmen. Hercule Poirot war nichts dagegen. Alex beugte sich leicht vor und senkte die Stimme. »Ich habe da noch etwas Nebenberufliches am Laufen, verstehst du?«

Mike grinste verschwörerisch. »Suchst du dir gerade fettere Jagdgründe?«

Damit hast du verdammt recht, dachte Alex und ließ seinen Blick über den spartanischen, schlecht ausgeleuchteten Verkaufsraum für Elektroartikel schweifen – die gleichgültigen Kunden, die trockene Luft der Klimaanlage, die Kaffeemaschine, die immer so seltsame Geräusche von sich gab, und das gelangweilte Personal, das überwiegend aus Studenten bestand, die hier für ein Trinkgeld arbeiteten. Sie versuchten, irgendwie durch den Tag zu kommen, und zählten wahrscheinlich die Minuten, bis sie endlich aus dem Saftladen herauskamen.

Wie hatte er in so einer Klitsche enden können? Er kannte die Antwort nur zu gut. Weil sie die Einzigen waren, die ihn genommen hatten. Einen Computerexperten mit Hochschulabschluss, der wahrscheinlich mehr vom Programmieren verstand als Bill Gates. Und jetzt hockte er hier und verscherbelte Laptops an Teenies, die nicht mal halb so alt waren wie er.

»Es ist nur eine einmalige Sache«, sagte er unbestimmt.

Mike wollte gerade etwas erwidern, aber das Piepen des Haustelefons in der Nähe sorgte für eine willkommene Unterbrechung. Alex’ Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer, als er sah, wer ihn anrief. Tim Dixon. Der Mann firmierte bei denen, die das Pech hatten, unter ihm arbeiten zu müssen, auch als der »Kotzbrocken«.

Dixons Büro war kaum sieben Meter entfernt, trotzdem bestand er darauf, die Leute anzurufen, anstatt einfach zu ihnen hinüberzugehen, als wollte er damit seine Macht demonstrieren.

Mit einem stummen Seufzer nahm Alex den Hörer auf. »Ja, Tim?«

»Alex. Genau der Mann, den ich sprechen wollte. Wir müssen uns unterhalten«, verkündete Dixon ohne lange Vorrede. »Kommst du bitte in mein Büro?«

Alex rutschte das Herz in die Hose. Wenn jemand zu einer kleinen »Unterhaltung« in Dixons Büro gerufen wurde, konnte es nur eines bedeuten: Er würde wegen irgendetwas zusammengestaucht werden.

»Kein Problem. Schon unterwegs.«

Als er den Hörer auflegte, heuchelte Mike Mitleid. »Nicht vergessen, Alter: Vorher schön eincremen. Das macht die Sache leichter.«

»Halt’s Maul!«, warf Alex über die Schulter zurück.

Mit manchen Leuten, die einem im Leben über den Weg laufen, kommt man einfach nie klar. Ob es nun an den unterschiedlichen Vorgeschichten liegt, ob die Persönlichkeiten einfach nicht zusammenpassen oder ob es einfach eine ganz normale Antipathie ist – es gibt immer Leute, mit denen man nie auf einer Wellenlänge liegt. Und wenn so ein Mensch ausgerechnet ein Abteilungsleiter ist, der Spaß daran hat, seine Untergebenen zu drangsalieren, kann man sich auf einiges gefasst machen.

So ging es Alex mit Tim Dixon.

Nachdem er sich durch den Mitarbeiterausgang aus dem Verkaufsraum gestohlen und die rohen Ziegelmauern der Gänge hinter dem Verkaufsbereich hinter sich gebracht hatte, stoppte er kurz vor Dixons Bürotür, um sich den Schlips glatt zu streichen, dann klopfte er an.

»Komm rein.«

Alex öffnete die Tür, die Dixon vom Rest der Etage trennte, und trat in ein kleines, enges Büro, das kaum größer war als ein durchschnittliches Badezimmer. Die Einrichtung war genauso billig, der Schreibtischsessel so unbequem wie alle anderen in dem Gebäude, aber es war immerhin ein eigenes Büro. Ein kleines Privileg, das seinen Besitzer über die anderen Angestellten erhob. Und Dixon war einer von denen, für die kleine Privilegien viel bedeuteten.

Er war Anfang vierzig, klein, untersetzt und kämpfte unermüdlich gegen jeden einzelnen dieser drei Punkte. Tim Dixon trug ein Hemd, das für seinen massigen Oberkörper zu klein war. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, um seine muskulösen Unterarme und die kräftigen Venen zu entblößen, die er seinem Training mit schweren Gewichten verdankte.

Er tat, als würde er arbeiten, und blickte mit demselben aufgesetzten Lächeln auf, wie es Alex’ Meinung nach Filmstars für übereifrige Reporter übrig hatten.

»Alex, wie geht es dir?«, fragte er in einem Tonfall, der verdeutlichte, wie vollkommen egal es ihm war. Er fuhr gleich fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Schließ die Tür und nimm Platz.«

Alex gehorchte und setzte sich wortlos hin. Dixon sagte auch nichts, sondern saß einfach da und schaute mit seinem leeren, seelenlosen Grinsen auf Alex. Die Sekunden schienen sich zu Stunden auszudehnen, während Alex nur abwartete, dem Summen der Klimaanlage und dem Ticken der Uhr an der Wand zuhörte.

Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. »Sie wollten mich sprechen?«, hakte er nach.

Dixon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte ihn nachdenklich. Zweifellos hätte er lieber einen teuren Ledersessel mit hochgezogener Rückenlehne gehabt, aber den wollte die Firma nicht genehmigen. »Alex, ich möchte dir eine Frage stellen, und ich will eine ehrliche Antwort. Haben wir ein Problem?«

Er verzog sein Gesicht. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Hmm«, erwiderte Dixon und griff nach einem Ausdruck auf seinem Schreibtisch. Er schob ihn zu Alex hinüber. »Weißt du, was das ist? Das ist eine E-Mail vom Leiter – dem Leiter – der Kundenbetreuung. Er will wissen, warum einer unserer Verkäufer die Kreditkartentransaktionen eines ganzen Tages gelöscht hat. Er will wissen, warum seine Leute ihre Zeit damit verschwenden müssen, jeden einzelnen Kunden anzurufen, um den Fehler unseres Verkäufers wieder auszubügeln. Er will wissen, wer dafür verantwortlich ist.« Er ließ das Papier auf dem Schreibtisch liegen. »Was soll ich ihm antworten, Alex?«

Alex spürte sofort alle Farbe aus seinem Gesicht weichen. Eigentlich war es eine banale Aufgabe, die täglichen Kartenumsätze aus der Kasse zu sichern, aber er war gestresst, abgelenkt und müde gewesen, als er es gestern erledigt hatte, und hatte sich die Mühe erspart, seine Arbeit hinterher noch einmal zu kontrollieren. Weil es vorher immer prima geklappt hatte, hatte er riskiert, die Prüfung einfach zu überspringen, um etwas schneller fertig zu werden.

Das war anscheinend ein Fehler gewesen.

Unterm Tisch ballte er die Hände langsam zu Fäusten. Von allem Mist, der passieren konnte, war so etwas das Allerletzte, was er jetzt gebrauchen konnte.

»Tim, das war …«

Dixon hob abwehrend seine Hand und würgte die Entschuldigung ab, noch bevor er sie hervorquetschen konnte. Aber das spielte auch keine Rolle, denn er hatte sowieso keine vernünftige Entschuldigung parat. »Ich will gar nichts hören, Alex. Hättest du deinen Job anständig gemacht und hinterher deine Arbeit noch mal gecheckt, wäre das nie passiert. Du warst schlampig und fahrlässig, und du bist schon lange genug dabei, um es besser zu wissen. Ich will dir eins ganz klar sagen: Bei jemandem mit deinem Führungszeugnis wird man automatisch hellhörig, wenn ein Problem mit Geld und Buchführung auftaucht. Stimmt’s oder habe ich recht?«

Alex erwiderte nichts. Eine Antwort wurde auch nicht erwartet.

»Und von deiner Zeiteinteilung will ich erst gar nicht anfangen«, fuhr er fort. »Du kommst spät, gehst früh und machst Anfängerfehler, die die Firma Geld kosten …« Er schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck spöttischer Missbilligung, bevor er ihn scharf ins Auge fasste. »Eines wüsste ich gern, Alex. Glaubst du etwa, diese Arbeit wäre unter deiner Würde?«

Das war der springende Punkt, das wusste Alex. Es war der wahre Grund, warum Dixon Alex mit solcher Inbrunst verabscheute. Er spürte etwas in Alex, was er selbst nicht besaß – die Fähigkeit, mehr aus seinem Leben zu machen. Und das beunruhigte und ärgerte ihn.

Dixon war nicht sonderlich intelligent und brachte nicht viel Verständnis für die Leute auf, die unter ihm arbeiteten. Wahrscheinlich war er auch in der Schule keine Leuchte gewesen, aber seine Zielstrebigkeit und sein Talent, Kenntnisse vorzutäuschen, hatten ihm trotzdem zu einer Position verholfen, in der er über eine gewisse – wenn auch begrenzte – Macht verfügte. Allem Anschein nach war er auch schon fast am Ende seiner Karriereleiter angekommen. Momentan hatte er aber einen höheren Rang in der Hackordnung als Alex, und das ließ er den Jüngeren nie vergessen.

»Denkst du vielleicht, du hättest was Besseres verdient? Hältst du dich irgendwie für was Besonderes?« Er ließ die Maske jovialer Professionalität fallen. Jahrelang hatte sich ein Missmut in ihm angestaut, der nun endlich ein Ventil gefunden hatte, und so schnell wollte er jetzt nicht lockerlassen. »Oder meinst du vielleicht, die Regeln sollten für dich nicht gelten, weil du so viel schlauer bist als wir anderen? Vielleicht denkst du sogar, du solltest hier an meiner Stelle auf dem Stuhl sitzen. Das tust du aber nicht, Alex, oder? Trotz all deiner tollen Uniabschlüsse und deinen Angeberjobs bist du immer noch ganz unten. Und da wirst du auch bleiben, weil du es einfach nicht draufhast, etwas Besseres zu machen.«

Alex schwieg, weil ihm keine passende Reaktion auf diesen Ausbruch einfiel. Der kaum verhüllte Hass in Dixons Stimme und der beißende Zynismus seiner Worte schockierten ihn zutiefst. Er hatte es immer irgendwie gespürt, aber dazusitzen und sich von dem Mann ungehemmt beschimpfen und herabsetzen zu lassen war für ihn wie ein Schlag ins Gesicht.

Sein Chef stieß einen Seufzer aus. Seine aufgesetzte professionelle Distanz kehrte zurück. Er ließ lange den Blick auf ihm ruhen und tat so, als würde er darüber nachdenken, was zu tun sei. Sie wussten beide, dass er sich seine Worte schon lange, bevor Alex ins Büro gekommen war, zurechtgelegt hatte.

»Es wird dazu eine offizielle Anhörung geben«, sagte er. »Ich werde die Leute von der Personalabteilung informieren und ein Meeting am Ende der Woche ansetzen.« Er war schon dabei, eine E-Mail zu verfassen, um den Prozess in die Wege zu leiten. »Ich schlage vor, du denkst in Ruhe darüber nach, was du sagen wirst, weil eine Menge Leute das Protokoll lesen werden.«

Alex ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand die Faust in den Magen gerammt. Wenn eine offizielle Anhörung mit der Personalabteilung angesetzt wurde, war eigentlich klar, worauf die Sache hinauslaufen sollte. Dixon hatte schon immer deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es ihm überhaupt nicht in den Kram passte, einen abgeurteilten Kriminellen übernehmen zu müssen – selbst nach verbüßter Strafe – und schon seit geraumer Zeit nach einem Vorwand gesucht, um ihn rauszuwerfen. Den Grund lieferte ihm Alex gerade auf dem Silbertablett.

Alex konnte sich fast bildlich vorstellen, wie erfreut Dixon gewesen war, als er die E-Mail des aufgebrachten Leiters der Kundenbetreuung in seinem Posteingang fand.

Dixon schaute von seinem Computer auf und zeigte zur Tür. »Du kannst gehen!«

Mike King wartete auf ihn, als er zurück an seinen Schreibtisch trottete. »Wie ist es gelaufen, Alter?«, fragte er in einer Mischung aus Sympathie und Spott.

Alex würdigte ihn keines Blickes, als er seine Jacke von der Stuhllehne nahm und hinausging. Er war am Boden zerstört.

Das war’s für mich – der Anfang vom Ende dessen, was sich lächerlicherweise mein Leben schimpfte. Brücken verbrennen und all das.

Ich glaube, wenn ich mutiger gewesen wäre, wäre ich zurück in Dixons Büro marschiert, hätte ihn an die Wand gedrückt und ihm gesagt, dass er sich seinen Mistjob in seinen herablassenden Arsch schieben kann. Ich hätte ihm gesagt, dass er ein jämmerlicher, engstirniger Vollidiot ist, der nur eine Stufe weiter oben auf der Hühnerleiter steht als ich. Ich hätte ihm gesagt, dass ich im Gegensatz zu ihm wenigstens einmal einen Höhenflug geschafft habe, bevor ich abgestürzt und verbrannt bin. Ich habe aber nichts dergleichen getan. Ich bin nur nach draußen gegangen, um stumm und bedrückt eine zu rauchen, habe mich bis 17 Uhr im Verkaufsraum herumgedrückt und bin dann mit eingezogenem Schwanz aus dem Gebäude geschlichen.

Ich würde gerne sagen, dass ich über solche Dinge erhaben wäre und mich nicht auf Dixons Niveau herablassen wollte, aber das entspräche nicht der Wahrheit. Ich habe mich nicht gewehrt, weil ich ganz tief drinnen wusste, dass er recht hatte. Dixon mag ein kleinkariertes, rachsüchtiges Arschloch sein, aber er hatte recht, was mich betrifft. Ich stehe auf der untersten Sprosse der Hühnerleiter, und vielleicht habe ich es wirklich nicht drauf, höher zu steigen.

Also habe ich es geschehen lassen.

Die Geschichte meines Lebens.

3

Stirlingshire, Schottland

Ihm lief die Zeit davon. Noch eine Minute, höchstens, dann hatte sein Verfolger ihn eingeholt. Es reichte gerade, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Das Postamt der kleinen Ortschaft Gargunnock in Stirlingshire war schon seit Stunden geschlossen, die Fenster dunkel und die Tür verriegelt, aber das spielte für ihn keine Rolle. Der knallrote, außen an die Wand geschraubte Briefkasten war alles, was er brauchte. Er wusste, dass man ihn gleich morgens leeren würde.

Mit quietschenden Reifen bremste er neben dem flachen Gebäude. Arran Sinclair riss die Tür auf und stieg aus dem Wagen. In der Hand hielt er einen zerknitterten Umschlag. Auf dem Weg hierher hatte er gerade noch Zeit gefunden, die Adresse auf den Umschlag zu kritzeln.

Es war eine kalte, windige Nacht, typisch für den fortgeschrittenen schottischen Frühling. Dichte Wolkenbänder verhüllten den Mond. Das leise Rascheln der Bäume in der nächtlichen Brise bildete einen trügerisch friedvollen Kontrast zum wilden Pochen seines Herzens, als er die Briefmarke auf den Umschlag klebte.

Am Briefkasten hielt er kurz inne, schaute auf den Brief hinunter und spürte den harten Plastikgegenstand, den er enthielt. Den Auftrag anzunehmen war ein Fehler gewesen. Das war ihm jetzt klar. Er war eine Nummer zu groß für ihn, und er wusste, dass er früher oder später dafür bezahlen würde.

Er konnte nur hoffen, dass der Empfänger des Briefes mehr Glück damit haben würde als er.

»Tut mir leid, Alex«, murmelte er und stopfte den Brief in den Kasten.

In dem Moment hörte er es. Unter das Rascheln der Bäume, das Seufzen des Windes und das Pochen seines Herzens hatte sich ein anderes Geräusch gemischt. Es war der hochtourig laufende Motor eines Wagens, der in seine Richtung fuhr.

Es war Zeit zu verschwinden.

Sinclair sprang zurück in sein Auto. Seine kurze Mission war erledigt. Zehn Sekunden später raste er schon wieder die gewundene Landstraße aus dem Ort hinaus und in Richtung der Hauptstraße nach Stirling, die sich etwa acht Kilometer vor ihm befand. Dicht an den Straßenrändern wuchsen Bäume, deren überhängende Äste eine Art natürlichen Tunnel bildeten, der das helle Licht seiner Scheinwerfer reflektierte.

Die schmale, unübersichtliche Straße würde seinen Verfolger bremsen, und das steil abfallende Flussufer zu seiner Rechten musste jeden Fahrer abschrecken, der noch halbwegs bei Trost war. Sinclair hätte fast gegrinst, als er das Gaspedal in Erwartung einer langen Geraden tiefer heruntertrat. Er war in dieser Gegend aufgewachsen, hatte hier Autofahren gelernt und kannte jede Biegung und jede Abzweigung dieser Straße wie seine Westentasche.

Er war klar im Vorteil gegenüber dem Wagen, der ihm folgte. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, sah er etwas vor sich in der Kurve. Etwas, das seinen Herzschlag beschleunigte und Adrenalin durch seine Adern rauschen ließ. Er stieg sofort in die Eisen und riss das Steuer herum. Die Reifen rutschten auf dem glatten Asphalt, und die niedrige Leitplanke kam immer näher, als der Wagen seitlich ausbrach.

Sinclair spannte alle Muskeln an in Erwartung dessen, was ihm bevorstand.

Die Leitplanke am Straßenrand leistete keinen nennenswerten Widerstand. Sie bog sich und wurde dann von dem Wagen zerfetzt, der in sie hineinkrachte. Das Fahrzeug kippte über die Kante, landete auf dem Dach und überschlug sich mehrfach auf dem steilen, buschbewachsenen Abhang, während es dem tiefer gelegenen, reißenden Fluss entgegenstürzte.

Als es schließlich auf dem Wasser auftraf, hatte sich der Wagen in eine Masse verbogenen und gestauchten Metalls verwandelt. Weil es nichts gab, das ihm genügend Auftrieb verschaffte, füllte sich das Wrack schnell mit eiskaltem Wasser und verschwand binnen Sekunden unter der Oberfläche. Es hinterließ nur eine von Trümmerteilen übersäte Spur, die von der Brutalität seiner letzten Augenblicke zeugte.

Und im Briefkasten des nahen Örtchens lag unbemerkt und ungesehen von dem Fahrer des Fahrzeugs, das nur eine Minute zuvor daran vorbeigefahren war, ein Brief und harrte seiner Beförderung.

4

Als Alex an diesem Abend nach Hause kam, hing der Himmel über der Hauptstadt voll düsterer grauer Wolken, die im Laufe des Nachmittags aufgezogen waren. Es regnete, aber es war kein schwerer Wolkenbruch, sondern dieses undefinierbare Nieseln, das sich auf Haut und Haare setzt und die Kleidung wirkungsvoller durchdringt als jeder Monsunregen.

Die Bahnstation, an der er zusammen mit all den anderen abgekämpften Pendlern ausstieg, lag etwa achthundert Meter von seiner Wohnung entfernt. So blieb die wenig erfreuliche Aussicht auf einen Lauf durch den Regen in einer Jacke, die für diese Anforderung ganz und gar nicht geeignet war. Er nahm den Karton der unterwegs gekauften Pizza als behelfsmäßigen Regenschirm und hastete durch die Straße zu dem grauen vierstöckigen Wohnblock, den er sein Zuhause nannte.

Aber die Pappe nützte auch nichts. Bis er endlich den Haustürschlüssel aus der Tasche geangelt hatte, war er fast bis auf die Knochen durchnässt. Der Pizzakarton löste sich zu einer feuchten Masse auf, was Alex’ Laune nicht gerade verbesserte, als er die zwei Etagen bis zu seiner Wohnungstür hinaufstapfte.

Die Wohnung, die er seit ungefähr einem Jahr gemietet hatte, war selbst seiner Meinung nach alles andere als vorzeigbar. Er stieß die Tür mit einem Fuß auf und ignorierte den Berg von Briefen, die sich dahinter auftürmten. Bei den meisten handelte es sich ohnehin um Wurfsendungen, Spendenaufrufe und irgendwelche Werbebroschüren, die ihn nicht interessierten.

Die Wohnung war eines dieser für den Londoner Westen typischen Ein-Zimmer-Apartments. Klein, beengt und unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Ein geschickter Inneneinrichter hätte der bescheidenen Wohnung vielleicht einen Anschein häuslicher Behaglichkeit geben können, aber Alex war nicht der Mann für so etwas. Das Mobiliar bestand ausschließlich aus Ikea-Pressspanmöbeln, die man nie vernünftig zusammenschrauben konnte, die Küche war vollgestellt und schmuddelig, und in der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr.

Alex ließ die Pizza auf den Küchentresen fallen, streifte die Jacke ab, löste seinen Dienstschlips und war froh, beide Teile loszuwerden. Er würde sie ohnehin nicht mehr brauchen, wenn Dixon in der Sache was zu sagen hatte.

Als er merkte, dass Regenwasser von ihm auf den Teppich tropfte, verzog er sich ins Badezimmer, um sich mit einem Handtuch trocken zu rubbeln. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel.

Sein hellbraunes Haar war triefend nass, in seinen grauen Augen zeigte sich keine Spur von Farbe, er hatte gleichmäßige Gesichtszüge, war weder hübsch noch hässlich, und sein Körper fing allmählich an, die jugendliche Spannkraft zu verlieren – die Jahre mit billigen Fertiggerichten und ohne jedes Training forderten ihren Tribut. Alex’ äußere Erscheinung war absolut durchschnittlich und unspektakulär.

Er war erst siebenundzwanzig, aber in diesem Moment sah er zehn Jahre älter aus und fühlte sich auch so. Sein Gesicht war eingefallen, er hatte vor Erschöpfung dunkle Augenringe, und sein Kinn war von Bartstoppeln überzogen. In den drei Tagen seit seinem Treffen mit Sinclair hatte er kaum ein Auge zugemacht. Er hatte immer wieder über ihr angespanntes Gespräch nachgedacht und sich gefragt, was aus der Sache wohl hätte werden können.

Selbstverständlich hatte er das Angebot seines Freundes abgelehnt. Sosehr er sich auch wünschte, die Zeit zurückdrehen und an das Leben anknüpfen zu können, das man ihm genommen hatte, war dies nicht der richtige Weg. Eine Gefängnisstrafe in seinem Leben war mehr als genug.

Also hatten sie sich getrennt, ohne zu einer Einigung gekommen zu sein, beide unglücklich und vom anderen enttäuscht. Sinclairs Abschiedsworte, die er Alex in einem mitleidigen Tonfall auf den Weg gab, hatten ihn zutiefst getroffen. Er wünschte ihm viel Glück für sein Restleben.

Alex wandte sich vom Spiegel ab, ging zurück in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Der Appetit auf die Pizza, die der Regen in eine matschige Pampe verwandelt hatte, war ihm vergangen. Der Alkohol würde ihm bessere Dienste leisten.

Er ließ sich auf die Couch fallen, riss die Bierdose auf und nahm einen kräftigen Schluck. Als das perlende Gebräu sich in seinem leeren Magen ausbreitete, verzog er das Gesicht. Der Regen tröpfelte immer noch gegen die Scheiben. Der orangefarbene Schein der Straßenbeleuchtung erhellte das Zimmer. Er ließ seinen Kopf nach hinten sinken und seufzte lange und verzweifelt.

Er hatte Sinclairs Angebot ausgeschlagen und sich von seiner Vernunft leiten lassen. Er hatte sich aus dieser Sache herausgehalten, die ihn diesmal lebenslänglich hinter Gitter hätte bringen können. Für einen Mann in seiner Lage war das die einzige richtige Entscheidung gewesen, das hatte er sich selbst schon unzählige Male gesagt. Aber warum ging es ihm nur so schlecht damit? Warum fühlte er sich, als hätte er den größten Fehler seines Lebens begangen?

Immer wieder gingen ihm die Worte seines Freundes durch den Kopf.

»Wenn du wieder zurückwillst, um Fernseher zu verkaufen und in irgendeiner Bruchbude zu hausen, dann ist das deine Entscheidung – ich kann dich nicht davon abhalten. Aber denk darüber nach, worauf du verzichtest. Ich biete dir die Chance zu tun, wofür du geboren bist. Wir wissen doch beide, dass du es auch willst. Ist das hier nicht wert, alles zu riskieren?«

Alex nahm noch einen Schluck Bier. Er hätte lieber etwas Stärkeres im Haus gehabt. Wenn es jemals einen passenden Zeitpunkt gab, sich in den Schlaf zu trinken, dann war er jetzt gekommen.

Aus einem plötzlichen Impuls heraus griff er nach unten und tastete unter der Couch herum, bis er mit der Hand gegen einen alten Schuhkarton stieß. Er holte ihn hervor, nahm den Deckel ab und stellte die Schachtel auf seinen Schoß, um ihren Inhalt zu inspizieren.

Alex hielt sich im Grunde für unsentimental. Er war nie jemand gewesen, der Andenken und Erinnerungsstücke sammelte, doch ein paar Fotos aus alten Zeiten bewahrte er noch auf. Sie waren ungeordnet und verblichen, aber immer noch brauchbar. Weil es ihm untersagt war, einen Computer zu besitzen, waren diese alten Fotos fast die einzigen Erinnerungsstücke aus einer Zeit, als sein Leben noch in anderen Bahnen verlief. Es waren viele Kindheitsfotos dabei, die ihn beim Auspacken von Weihnachtsgeschenken oder im Halloweenkostüm zeigten, oder später als Schüler mit unmöglicher Frisur und noch schlimmerem Benehmen. Das Foto, das ihn momentan am meisten interessierte, lag ganz oben auf dem Stapel. Er wusste das so genau, weil er schon seit zwei Nächten dasselbe Ritual wiederholte.

Das Foto war vor zehn Jahren aufgenommen worden, kurz nachdem er mit dem Studium begonnen hatte, und zeigte Alex auf einer durchgesessenen Ledercouch in seiner Studentenbude mit einer Flasche Bier in der Hand und flankiert von zwei jungen Männern, ebenfalls mit Bierflaschen bewaffnet. Der erste war eindeutig Arran Sinclair. Schon damals waren seine Erkennungszeichen – das ungebändigte blonde Haar und ein ansteckendes Grinsen – unverkennbar. Eigentlich unterschied sich das Gesicht auf dem Foto kaum von dem Mann, den Alex drei Tage zuvor getroffen hatte.

Sinclair schien alles zuzufallen. Er war groß, sah gut aus und hatte einen selbstsicheren, unbekümmerten Charme, der für sein jugendliches Alter ungewöhnlich war und Männer wie Frauen spontan für ihn einzunehmen schien. An weiblicher Aufmerksamkeit hatte es ihm während seiner Studienzeit jedenfalls nie gemangelt, was dazu beigetragen hatte, dass Alex gern Zeit mit ihm verbrachte.

Der zweite Mann hatte es nicht so gut getroffen. Es war ein kleiner, stämmiger Norweger mit einem runden Gesicht und langem dunklen Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Er grinste mit dem schwammigen Blick eines Mannes in die Kamera, der schon zu viel Alkohol intus hatte. Aber Gregar Landvik hat sich sowieso nie beherrschen können, dachte Alex mit einem finsteren Grinsen.

Die drei hatten sich während der chaotischen, überdrehten Phase am Beginn des neuen Semesters zusammengetan und waren trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Persönlichkeit schnell gute Freunde geworden. Alex konnte nicht genau sagen, was sie miteinander verband, aber irgendetwas hatte für die gegenseitige Anziehung gesorgt. Später hatten die drei Studenten ihr beachtliches Talent der Welt des Computerhackens gewidmet und irgendwann eine Gruppe Gleichgesinnter gegründet, die sie Valhalla 7 nannten. Eine Zeit lang waren sie sehr erfolgreich gewesen, aber ihre Arbeit brachte auch die Unterschiede zwischen ihnen zum Vorschein, die die Gruppe letzten Endes zerstörten.

ENDE DER LESEPROBE