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ER BEGEHRT ... ER BEISST SICH FEST ... UND SAUGT DIE SEELE AUS IHR HERAUS ... ... BEVOR ER IHR LEBEN NIMMT, DAMIT KEIN ANDERER ES TEILEN KANN Hannah Rohde, Hannovers beliebteste Radiomoderatorin, wird Opfer eines Stalkers und leidet zunehmend unter dem unsichtbaren Würgegriff des Unbekannten. Hilfe erhält sie von ihren besten Freundinnen, Lisa Schubert und Kristin Bäumer. Sie buchen eine Adria-Kreuzfahrt, um Hannah auf andere Gedanken und aus dem Fokus des Stalkers zu bringen. Doch sie alle haben den fanatischen Verfolger unterschätzt, der sein Ziel nicht aus den Augen lässt. Dabei schreckt er auch nicht vor Mord zurück. Als er erfährt, dass ihm Kristin Bäumer, stellvertretende Leiterin der OFA des LKA Niedersachsen, auf der Spur ist, eskaliert die Lage in einer der malerischen Hafenstädte. Das Team von Chef-Profiler Thorsten Büthe handelt sofort. Heimlich lassen sich die OFA-Beamten in Dubrovnik auf der Adriana einschiffen …
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Seitenzahl: 372
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8413-9
Carsten SchütteOpferbuchtEin Profiler-Thriller
Für Charly
Frankfurt, Herbst 2020
Erst als sie tot war, ließ er von ihr ab. Es war ein schreckliches und befreiendes Gefühl zugleich. Sie würde mit niemand anderem außer ihm mehr verbunden sein.
Bleich und ausgeblutet lag sie vor ihm, kaum mehr sie selbst. Doch er kannte sie genau, hatte sie genossen wie kein zweiter.
Ihm blieb die Erinnerung, die er mit niemandem teilen musste. Was sie beide erlebt hatten, sollte ein Geheimnis bleiben. Es würde nur ihnen allein gehören. Für immer, für die Ewigkeit.
Wie eine Zecke hatte er ihr aufgelauert, sie beobachtet, an ihr gerochen, sie gestreift.
Dann irgendwann – vollkommen unbemerkt von ihr – war er in ihre Aura eingedrungen. Sie konnte nichts tun, weil sie ihn nicht wahrnahm, bis er zubiss. Ja, er grub seine Werkzeuge endgültig und tief in ihre Seele und saugte.
Als sie sich voller Schreck seiner Existenz in ihr bewusst wurde, war es zu spät. Die Entwicklung nahm ihren Lauf. Zuerst kam der Schmerz, dann die Ohnmacht. Schwächer und schwächer wurde sie, wehrlos fast, bis er sich ihrer endgültig bemächtigte und zu Ende brachte, was ihr selbst nicht gelang.
Und doch sah es für einen Unbeteiligten so aus, als wäre sie zuletzt stark und Herr über sich allein gewesen, weil sie die Entscheidung getroffen hatte, selbst aus dem Leben zu scheiden.
Wie konnte jemand ahnen, dass dies der köstlichste und innigste Moment für sie beide gewesen war, als er ihre Schlagadern öffnete. Sein Werkzeug war ihr willkommen gewesen. Und er vollendete, was er begonnen hatte. Mit jedem pulsierenden Blutschwall machte er nach ihrem Geist auch ihren Körper ein für alle Mal und vollkommen widerstandslos zu dem seinen.
Er war wieder hungrig. Also folgte er ihr, biss sich fest und grub sich in ihr Leben ein. Immer tiefer und tiefer.
Er verfolgte jede ihrer Radiosendungen, wünschte sich Musiktitel und nahm an allen Gewinnspielen des Senders teil. Er inhalierte ihre sanfte Stimme, schloss die Augen und ließ seine Fantasie spielen.
Er war überall in den sozialen Medien mit ihr befreundet und tauchte über Facebook und Instagram in den Teil ihres Alltags ein, den sie von sich preisgeben wollte. Zudem war er ein leidenschaftlicher Sammler, der durch ihre aktuellen Informationen, ihre persönlichen Fotos und Kommentare sein Puzzle zusammensetzte.
Mit jedem neuen Detail drang er tiefer in ihr Leben ein, bis die noch blinden Flecke zunehmend gefüllt wurden. Die Sehnsucht nach ihr ließ ihm keine Ruhe mehr und hatte längst seinen Alltag bestimmt. Alles was ihm früher wichtig gewesen war, trat in den Hintergrund. Er wachte mit ihrer Stimme auf, sie begleitete ihn durch den Tag. Spätabends schlief er mit ihr ein und genoss sie in seinen Träumen.
Der erste Teil seines Puzzles der fünf Sinne war mittlerweile fast vollständig. Sein Gehör schien vorerst befriedigt zu sein.
Ihre Stimme konnte er von Millionen anderen unterscheiden. Sie war ihm vertraut, dennoch musste er dringend wissen, ob sie live und ohne Lautsprecher eines Radios eine ebenso erotische Wirkung auf ihn ausstrahlte.
Den zweiten Teil, das Sehen, konnte er bislang nur über das Netz befriedigen, doch das war immerhin ein Einstieg.
Er tastete sich langsam vor. Seine Vorfreude stieg Tag für Tag, von Stunde zu Stunde. Freitag sollte es endlich so weit sein. Der Radiosender hatte einen Tag der offenen Tür angekündigt und warb mit dem Slogan „Radio zum Anfassen“.
Genauso stellte er es sich vor. Die Moderatoren boten Führungen durch den Sender an und gestatteten es den Besuchern sogar, einen Musiktitel oder die Verkehrsnachrichten anzusagen. Auf diese Weise könnte er auf ihrem Stuhl sitzen. Hoffentlich klappte es und war nicht so voll.
Vielleicht gelang es ihm sogar schon am Freitag, die ersten Puzzleteile im Bereich des Geruchssinns und ebenfalls die des Haut- sowie Tastsinns zusammenzusetzen.
Er hatte viele Ideen und war jemand, der fokussiert plante, um sein Ziel zu erreichen und es dann in vollen Zügen zu genießen.
Er war schon ganz aufgeregt. Hannah bestimmt auch.
Die Zecke hatte ihren neuen Wirt gefunden und war bereit zuzubeißen.
Hannah Rhode war die Stimme des „Radio Kröpcke“, einem angesagten Sender Hannovers. Durch die Unterstützung vieler niedersächsischer Firmen war es dem Sender nach nur drei Jahren gelungen, sich eine Zuhörerschaft in unterschiedlichen Altersgruppen zu sichern, die kulturell interessiert waren. So wurde jungen Nachwuchsbands und Start-ups aus der Region die Möglichkeit geboten, sich selbst, ihre Musik und ihre Ideen vorstellen. In Interviews mit lokalen Künstlern und Gastronomen konnten Events, Lesungen und Ausstellungen präsentiert und beworben werden, die sich dadurch einer immer größeren Resonanz erfreuten. Der Musikstil war gemischt und wurde teilweise von den Zuhörern zusammengestellt. Durch die Unterstützung ansässiger Unternehmen konnte der Sender völlig auf die sonst übliche, oft nervige Werbung verzichten.
Hannah Rohde war das Zugpferd des Senders und begleitete die Hörer von 7 bis 15 Uhr durch den Tag. Auf kulturellen Veranstaltungen, die „Radio Kröpcke“ im Umland Hannovers durchführte, übernahm Hannah meist die Moderation. Sie war stets präsent und ein Sympathieträger. Dreimal in der Woche interviewte sie Menschen aus der Region, die Interessantes zu berichten hatten. Hannahs charismatische Ausstrahlung war sowohl über den Äther als auch im persönlichen Umgang einfach ansteckend. Mit ihren 48 Jahren wirkte sie sehr sportlich, hatte einen blonden Kurzhaarschnitt, kleidete sich modisch und war äußerst attraktiv.
Leider gab es im Leben auch andere Seiten, die jenseits des Glamours und der öffentlichen Fassade zutage traten, wenn keiner mehr hinschaute oder zuhörte. Hannah hatte sich von ihrem Mann getrennt, ihre Ehe war vor sechs Wochen nach 15 Jahren Dauer geschieden worden.
Ihr Ex-Mann hatte die große Altbauwohnung in der List behalten und Hannah ausgezahlt. Die Trennung war relativ harmonisch abgelaufen. Finanziell hatte man sich einigen können und verstand sich jetzt mit dem Abstand besser als zuvor. Oliver war als Ingenieur der Firma Siemens momentan in Oman und hatte ihr angeboten, so lange in der Wohnung zu bleiben. Hannah aber war Abstand wichtiger gewesen. Sie hatte sich ein kleines renoviertes Backsteinhaus in Großgoltern gekauft, in einem kleinen Dorf mit Blick auf den Deister. Ihre ständige Präsenz in Hannover ließ sie kaum abschalten. Sie hatte es lange genossen, gemeinsam mit ihrem Mann über die Lister Meile zu flanieren. Einen Café bei Ecco oder Da Toni, Hannah hier, Hannah da. Abends durch die Kneipenszene, leckere Restaurants, immer mittendrin. Sie hatten sich keine Zeit für sich gegönnt, keine kleinen Fluchten. Was sich rächen sollte. Jetzt genoss sie die Ruhe auf dem Land und hatte den Kontakt zu ihren langjährigen Freundinnen aus dem Raum Barsinghausen endlich wieder verstärkt. Die intensiven Gespräche beim gemeinsamen Kochen und einem guten Rotwein am Kaminfeuer hatte sie lange vermisst. Langsam fasste sie nun wieder Mut. Ihre Leidenschaft, sich in die Moderation bei „Radio Kröpcke“ im Kontrast zum ruhigen Landleben wieder engagiert einzubringen, brodelte von Neuem auf. Jede Veränderung war auch immer eine Chance, der sie sich nun bewusst wurde. Sie war zurückgekehrt.
Das Studio von „Radio Kröpcke“ befand sich im alten Karstadtgebäude nahe an dem gleichnamigen Platz, der an das historische Café erinnern sollte und seit Langem ein Mövenpick-Restaurant beherbergte.
„Radio zum Anfassen“ lockte Hunderte Besucher ins Studio. Am Eingang wurden Besuchergruppen von maximal 50 Personen im Halbstundentakt eingelassen. Man musste sich im Vorfeld anmelden und bekam eine Besuchszeit zugewiesen. Der Puzzlespieler befand sich in der Gruppe um halb zwölf, was ihm sehr wichtig war. Bis 12 Uhr führte Hannah Rhode durch den Sender. Nach einer Mittagspause bis 13 Uhr übernahm dann ihr Kollege Max Frisch, der allein wegen seines Namens die Frühschicht hätte bestreiten müssen, fand er und schmunzelte.
Die Gäste wurden im Besucherraum empfangen. Eine Mitarbeiterin des Senders, die sich als Frau Stich vorstellte, hielt einen Vortrag über die Entstehung sowie Philosophie des Senders und ging auf die Historie des ehemaligen Karstadt-Gebäudes ein. Sie kündigte an, die Gruppe nunmehr zu teilen und übergab die weitere Führung an zwei Volontärinnen. Gruppe I durfte im Studio beginnen, Gruppe II in den Redaktionsräumen. An der großen Studiotür leuchtete eine rote Warnlampe mit der Aufschrift „Live-Sendung – kein Zutritt“. Die junge Mitarbeiterin des Senders legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und mahnte zur Ruhe. Kurz nachdem das rote Licht grün wurde, öffnete sich die Tür und eine gut gelaunte Hannah Rhode bat die Gäste ins Sendestudio.
„Liebe Gäste, vielen Dank für Ihren Besuch. Wir haben aktuell etwa fünf Minuten, das heißt zwei Songs Zeit. Dann darf einer von Ihnen die nächsten beiden Titel ansagen. Anschließend haben wir zwei weitere Lieder Zeit, um Ihre Fragen zu beantworten. Also dann: Herzlich willkommen im Herzstück von ,Radio Kröpcke’“, begrüßte die Moderatorin ihre Gruppe und legte los. Hannah stellte ihren Werdegang bei „Radio Kröpcke“ und ihre Aufgaben in den verschiedenen Sendungen vor. Als sie auf die rote Digitalanzeige über dem Sendepult wies, die gerade von 120 Sekunden herunterzählte, fragte sie in die Gruppe: „Wer von Ihnen sagt die nächsten beiden Songs an? Es sind ‚Horny‘ von ,Mousse T.‘ und ‚Wind of Change‘ von den ,Scorpions‘. Natürlich beide aus Hannover. Wer möchte? Es kann nichts passieren. Sie dürfen sogar noch jemanden grüßen, wenn Sie mögen.“
Er zuckte kurz, hielt sich aber zurück. Es war zu früh und zu offensiv. Während er der Versuchung widerstand, wählte Hannah eine Hörerin Mitte fünfzig namens Angela aus, und die Moderatorin war in ihrem Element.
„Liebe Fans von ,Radio Kröpcke’, die leider nicht live im Studio sein können. Ich freue mich, gerade 25 treue Hörer im Studio begrüßen zu dürfen. Vor mir steht also meine heutige Kollegin, die euch die nächsten beiden Songs präsentieren wird. Liebe Angela, stell dich bitte kurz vor – und los geht’s“, kündigte Hannah an.
Angela war zwar aufgeregt, moderierte die beiden Songs aber sicher an und grüßte ihre Familie aus Davenstedt. Dann hatte Gruppe I noch fünf Minuten.
Er stand in der hinteren Reihe und genoss den Anblick. Hannahs frecher Kurzhaarschnitt passte zu dem taillierten Hosenanzug, der ihre durchtrainierte Figur betonte. Ihr Lächeln war ehrlich, und ihr Blick schweifte durch die Gruppe. Als sich ihre Blicke trafen, bemerkte er ein Blinzeln und ein lächelndes Zucken um ihre Mundwinkel. Sie hatte ihn wahrgenommen und angelächelt. Diese liebevolle Reaktion stellte er nur bei sich fest. Den anderen Gästen begegnete sie zwar höflich, aber nicht so offen wie ihm. Ohne sich in den Vordergrund zu spielen, rief er aus der letzten Reihe: „Hannah, machst du wieder ein Selfie mit uns im Hintergrund?“
Er hatte das schon online bei früheren Gruppen beobachtet. Hannah nickte, nahm ihr Handy und hielt es über ihren Kopf, drehte sich mit dem Rücken zu ihren Fans und rief: „Frisbee!“
Dann folgten die Selfies mit ihren Fans. Die Uhr zählte runter. Ihm blieb nicht viel Zeit. Hannah hatte ihr Handy auf das Studiopult gelegt, während sie mit ihren Gästen posierte. Schnell, bevor sich die Bildschirmsperre einschaltete, griff er das Handy. Gott sei Dank, es war noch offen. Er aktivierte Bluetooth, legte sein iPhone direkt auf den Bildschirm von Hannahs Telefon, tippte etwas ins Display und beobachtete die Stoppuhr. Noch 65 Sekunden ...
„So, ihr Lieben, leider muss ich euch jetzt wieder hinausbitten. Toll, dass ihr uns besucht habt. Viel Spaß noch und bis bald“, verabschiedete sich Hannah unter dem Beifall der Gruppe.
Sie blickte suchend auf den Moderationstisch. Er bückte sich, versuchte einen Blickkontakt zu vermeiden und gab ihr das Handy zurück.
„Sorry, das ist wohl runtergefallen“, rechtfertigte er sich. Als sie ihn dabei an seiner Hand berührte, explodierte es in ihm. Er musste sich bemühen, in der Gruppe unauffällig unterzutauchen, die das Studio unter Führung der Volontärin wieder zu verlassen hatte. Würde man das Selfie von Hannah mit ihren Fans auf der Homepage des Senders betrachten, wäre er wohl der Einzige in Gruppe I gewesen, der verdeckt in der hinteren Reihe stand. Bei der Besichtigung der Redaktionsräume ließ er sich zurückfallen und inhalierte den Geruch an seinem Handrücken, an dem ihn Hannah berührt hatte. Es war so, als ob er ihn für immer und ewig auf seiner emotionalen Festplatte ablegen wollte. Als er mit seiner Zunge genüsslich über die Stelle fuhr, ließ er seine Fantasie spielen und speicherte auch ihren Geschmack ab. In seinen Gedanken führte er die neuen Puzzleteile hinzu, lächelte verschmitzt und dachte an die Teile, die er nun sukzessive ergänzen würde. Er war zufrieden und auf einem guten Weg.
Ihm war bewusst, dass Hannah bald Feierabend hatte. Also postierte er sich mit seiner BMW R 1200 GS so, dass er die Ausfahrt der Tiefgarage für die Mitarbeiter im Blick hatte. Auf einem ihrer Instagram-Fotos war ein roter Audi TT Roadster zu sehen gewesen. Er musste nicht lange warten. Kurze Zeit später schoss Hannah mit ihrem Cabrio die Garagenauffahrt hoch und hatte bereits das Dach geöffnet. Für März war das Wetter super, denn die Sonnenstrahlen verursachten schon Frühlingstemperaturen. Er hätte sich gar keine Mühe geben müssen, um ihr Auto zu identifizieren, denn ihr Kennzeichen lautete „H-HR 1973“. Wie einfach.
Mit seiner großen BMW war es einfach, ihr trotz ihres flotten Fahrstils unauffällig durch die Rushhour Hannovers zu folgen. Ihm war bekannt, dass sich Hannah von ihrem Mann getrennt hatte und dass sie aus der gemeinsamen Wohnung in der List ausgezogen war. Mit seinen Möglichkeiten hatte er aber noch keine neue Adresse herausfinden können. Sie hatte sich offensichtlich noch nicht umgemeldet. Über den Bremer Damm, den Westschnellweg und den Deisterkreisel fuhr Hannah recht sportlich auf die Bornumer Straße, wobei sie die geltenden Geschwindigkeitsregeln ignorierte. Als er beruhigt feststellte, dass ihre GPS-Daten sicher übertragen wurden, ließ er sich zurückfallen, damit sie ihren Verfolger nicht bemerkte. In der kurzen Zeit, in der er ihr Handy ungesichert zur Verfügung gehabt hatte, war es ihm gelungen, einen Trojaner zu installieren, der nicht nur ihre Standortdaten übertrug, sondern ihm Zugriff auf sämtliche Dateien ihres Handys ermöglichte.
Er hatte es geschafft und sich in ihr wie eine Zecke festgebissen. Er steckte in Hannah fest und hatte nicht vor, sie jemals wieder zu verlassen. Er war ein Teil von ihr, nur dass sie den Biss noch nicht bemerkt hatte oder je bemerken würde, bevor es zu spät war.
Sie fuhr weiter auf die B 65, an Gehrden vorbei, durch Leveste in Richtung Deister. Er kannte die Strecke gut. Sie führte in den kleinen Gebirgszug im Westen Hannovers, den Nienstädter Pass, der für seine kurvenreichen Serpentinen besonders bei Motorradfahrern beliebt war. Sie ließ Eckerde hinter sich und bog in Großgoltern in die Gutsstraße, die direkt zu einem Rittergut führte. Hier stoppte sie. Das Rittergut Großgoltern war eine angesagte Eventlocation für Hochzeiten und Ausstellungen. Er fuhr nach rechts in die Hauptstraße Richtung B 65 ab, drehte auf dem Parkplatz des Freibades Goltern und tuckerte gemütlich durch den Ort. Dann bog er zum Rittergut rechts ab und folgte dem roten Blinken auf seinem Handy. Der Audi TT war auf dem Hof vor einem kleinen Backsteinhaus gegenüber der Gutsanlage geparkt worden. Er bewegte seine schwere BMW auf den Hof des Gutes und stellte fest, dass in der alten Maschinenhalle, dem größten Veranstaltungsraum des Gutes, gerade die Tische für eine große Feier, vermutlich eine Hochzeit, eingedeckt wurden. Hier schien eine Gesellschaft von über 100 Personen zu erscheinen, sodass am heutigen Abend viele Fahrzeuge parken und etliche Menschen auch noch zu später Stunde unterwegs sein würden. Da fiel er gar nicht auf, dachte er, und sagte mit leiser Stimme zu sich: „Bis heute Abend, Hannah.“
Jan war besessen. In wohligen Gedanken steuerte er seine Maschine routiniert und sicher durch den Feierabendverkehr nach Garbsen, einer Stadt am Rande Hannovers. Im Stadtteil „Auf der Horst“ war er in einer kritischen Zeit dieser Gegend aufgewachsen und zur Schule gegangen. Auch sein Elternhaus hatte enorm zu seiner Entwicklung beigetragen. Dort waren Alkoholkonsum und häusliche Gewalt ständige Begleiter gewesen. Als sein Vater an einer Leberzirrhose starb, hatte Jan gerade einmal das zwölfte Lebensjahr erreicht. Seiner Mutter mussten wegen der schweren Diabetes und des starken Tabakkonsums kurze Zeit darauf beide Unterschenkel amputiert werden. Sie war drei Jahre später in einem Pflegeheim gestorben. Im Alter von 15 Jahren hatte seine zweijährige Odyssee in verschiedenen Jugendeinrichtungen begonnen, in denen Gewalt, auch sexueller Art, an der Tagesordnung gewesen war. Als der Bruder seines Vaters verstarb, bot seine Tante Mimi ihm an, zu ihr zu ziehen. Jan überlegte nicht lange, denn so konnte er wieder nach Garbsen in den Stadtteil Berenbostel übersiedeln. Tante Mimi wohnte in einer Dreizimmerwohnung im Seeweg, gegenüber einem handwerklichen Bildungszentrum direkt am Berenbosteler See.
Ursprünglich war Jan ein guter Schüler gewesen, den seine damalige Lehrerin ins Herz geschlossen hatte. Sie versuchte seinerzeit vergeblich, auf die Eltern Einfluss zu nehmen und Jan schulisch zu fördern. Ihre Bemühungen misslangen. Als Jan seine Tante einmal bei einem Einkauf begleitete, traf er im „Shopping Plaza“ seine ehemalige Lehrerin. Beide waren dieser Begegnung gegenüber so aufgeschlossen, dass sie sich in der dortigen Eisdiele eine ganze Stunde über Jans Entwicklung und die Rückkehr nach Garbsen austauschten.
Durch ihre Vermittlung war es Jan gelungen, wieder schulisch Fuß in der IGS Garbsen zu fassen. Der Nachzügler bestand sein Abitur, schloss 2017 sogar ein Informatikstudium ab und gründete eine bis heute erfolgreiche kleine Firma für Softwareentwicklung für Sicherheitsunternehmen.
Tante Mimi unterstützte Jan während des Studiums auch finanziell. Dankbar besuchte Jan sie in dieser Zeit regelmäßig und organisierte in ihrem letzten Lebensjahr einen Pflegedienst für sie, der Mimi täglich aufsuchte. Er selbst war leider nicht mehr vor Ort. Jan hatte mit der Firmengründung gleichzeitig auch seinen Wohnsitz in Frankfurt gewählt. Hier bemühte er sich, die ansässigen Banken und Versicherungen als Kunden zu gewinnen, was ihm sukzessive auf unkonventionelle Weise gelang. Er hackte sich in die Systeme der Firmen und zeigte ihnen nicht nur die Sicherheitslücken, sondern auch seine Softwarelösung auf, um das Leck zu schließen.
Seine Tante war inzwischen verstorben und hatte Jan die Eigentumswohnung vererbt, die er zwar für den Verkauf vorbereitete, wobei er sich aber Zeit ließ. Manchmal war ein zweiter Wohnsitz, an dem er nicht gemeldet war, sehr nützlich. Zudem war es von Berenbostel nach Großgoltern ein Katzensprung.
Jan hatte seine schwere BMW in der Tiefgarage geparkt und bereitete sich für einen schönen Abend mit Hannah vor. Sein ehemaliges Zimmer war von Mimi nie verändert worden. Jan hatte es mittlerweile wie eine Gedenkstätte samt Altar eingerichtet. Nur dass Hannah Rhode noch mitten im Leben stand und starr vor Schreck gewesen wäre, wenn sie erahnt hätte, welche Informationen Jan bereits über sie gesammelt hatte. Der Biker zog seine Lederkombi aus und setzte sich ungeduldig in Unterwäsche vor seinen Computer. Virtuell bediente er die Tastatur und konnte gleichzeitig auf drei Monitoren Hannahs Profile bei Facebook, WhatsApp und Instagram betrachten. Doch das war nicht alles. Er konnte sie darüber hinaus auch einhacken. Jan war erleichtert, dass alles so funktionierte, wie er es geplant hatte, und schmunzelte, als er den Chat zwischen Hannah und ihren Freundinnen las. Mit Lisa und Kristin hatte sie sich um 19 Uhr in Großgoltern zu einem leckeren Essen samt Plausch über alte Zeiten bei Kaminfeuer und Rotwein verabredet.
Da blieb ihm noch genug Zeit, sich auf einen schönen Abend mit den Damen vorzubereiten. Voller Vorfreude genoss er die heiße Dusche und sein Kopfkino.
Eine halbe Stunde später warf sich Jan in Schale, überprüfte den Sitz seines dunkelblauen Anzuges und zog die Krawatte über dem weißen Hemd zu, die er passend in dunkelrot gewählt hatte. So würde er Hannah gefallen, hoffte er. Jan war mittelgroß, schlank, fast schlaksig und wirkte mit seinem Ansatz zur Glatze eher bieder. Er wurde stets älter als seine 38 Jahre geschätzt, was dem zehnjährigen Altersunterschied zu Hannah entgegenkam.
Wie immer war Jan gut vorbereitet. Für die nächsten zwei Wochen hatte er sich einen unauffälligen VW Golf von Sixt am Flughafen Langenhagen geliehen. Die Flotte an Leihwagen war hier so groß, dass nicht nur baugleiche Fahrzeuge, sondern exakt identische Modelle angeboten wurden, die sich in Nuancen durch verschiedene Ziffern in den Kennzeichen unterschieden. Er ließ sich zwei solcher Kennzeichendoubletten bei einem Schildermacher anfertigen, druckte sich die kopierten TÜV- und Zulassungsstempel als Aufkleber aus und konnte feststellen, dass es überhaupt nicht auffiel. Welche Polizeistreife hielt schon einen VW Golf einer Autovermietung an, in dem ein biederer Herr mit Glatze saß? Bei einer Halterüberprüfung war der Leihwagen der Firma Sixt zuzuordnen, und selbst bei einem Blick in die Papiere musste man schon besonders aufmerksam sein, denn das Kennzeichen unterschied sich nur durch eine Ziffer. Mit dem Risiko, dass sich in Hannover beide VW Golf mit dem identischen Nummernschild begegnen würden, konnte er leben. Er schätzte es zwar nicht als unwahrscheinlich ein, doch welcher Nutzer kannte schon das Kennzeichen seines Leihwagens, schmunzelte er zu Recht. So fuhr er gut gelaunt und gestylt nach Großgoltern, um einen schönen Abend zu verbringen.
Sein Plan schien aufzugehen. Der Andrang der Hochzeitsgäste war wie zu erwarten stark und die ausgewiesenen Parkplätze auf einer nahen Wiese bereits gefüllt. Wie auch Jan, suchten die späten Gäste in der Dämmerung einen Platz in den umliegenden Gassen und parkten wild auf den Grünstreifen. Fußwege oder gar Parkbuchten boten sich in dem kleinen Ort lediglich auf der Hauptstraße an. Abseits der Gutsstraße fand Jan seine Lücke und machte sich auf den Weg zum Rittergut, der direkt an Hannahs gemütlichem Backsteinhaus vorbeiführte. Erste Blüten bildeten sich an den Bäumen und Sträuchern aus. Das Blattwerk hatte sich noch nicht entwickelt, sodass die Gärten und beleuchteten Häuser frei einsehbar waren. Hannah hatte zudem ihren Garten geschmackvoll mit Lichtkugeln in unterschiedlichen Größen illuminiert. Jan freute sich, dass ihm der Einblick in das Wohn- und Esszimmer samt des gemütlichen Kaminfeuers gewährt wurde. In der Einfahrt parkte hinter dem roten Audi TT unter dem Carport ein MINI Cooper in British Racing Green. Er sah, wie Hannah die beiden Freundinnen umarmte und ihnen ein Begrüßungsgetränk reichte, wobei es sich aufgrund der Glasform um einen Sekt oder Prosecco handeln durfte. Wie gern hätte er mit angestoßen.
Durch den milden Frühjahrsabend drangen nur wenige Geräusche aus der Maschinenhalle nach außen. Jan vernahm einen Tusch des DJs und vermutete die Ankündigung der Willkommensrede des Brautpaares. Er vermutete, dass nun alle Gäste eingetroffen sein durften, die das Hochzeitsbuffet und später die Party genießen würden. Draußen war es mittlerweile ruhig und einsam. Jan schlug den Kragen seines Mantels über dem Anzug höher, steckte sich seine Bluetooth-Kopfhörer in die Ohren und lehnte sich an einem Kastanienstamm. Dort öffnete er ein selbst entwickeltes Programm in seinem Xiaomi, mit dem er auf das Mikrofon von Hannahs Samsung Galaxy S21 zugreifen konnte. Jetzt war er Teil dieses gemeinsamen Kaminabends, wobei er trotzdem neidisch war, nicht direkt mit dabei zu sein, denn es wurde merklich kühler. So musste er sich mit den warmen Gedanken, die sich in ihm ausbreiteten, vorerst zufriedengeben.
In den folgenden Gesprächen konnte er die Freundinnen, die er bislang nur aus den WhatsApp-Kontakten als Lisa und Kristin wahrgenommen hatte, schließlich zuordnen. Lisa war Mitte vierzig und hatte ihre langen, braunen Haare zusammengebunden. Sie war schlank, modisch gekleidet und recht attraktiv. Auch Kristin schätzte er im gleichen Alter ein. Mit ihrer durchtrainierten Figur wirkte sie entsprechend agil und trug kurze, wilde, rotbraune Haare.
Das Trio unterhielt sich über alte Zeiten. Hannah gewährte ihren Freundinnen tiefe Einblicke in ihr früheres Eheleben samt ihrer Scheidung. Jan war beruhigt, dass sie ebenso erwähnte, weder einen neuen Partner zu haben noch suchen zu wollen. Hannah war ihre aktuelle Unabhängigkeit wichtig, erklärte sie den beiden. Ihre aktuelle Situation sah sie als Chance, ihr Leben neu zu strukturieren. Dabei kam sie überraschend gut zurecht. In den bestärkenden Reaktionen ihrer Freundinnen und den typischen Floskeln: „Und wie geht’s euch so?“, erfuhr Jan, dass Lisa als Gynäkologin im Krankenhaus Gehrden und Kristin beim LKA Niedersachsen arbeitete. Jan stutzte kurz. Er empfand diese Information aber nicht als Gefahr, sondern sah darin eher eine Herausforderung, seine Pläne noch detaillierter vorzubereiten. In diesem Moment war Jan derart auf das Gespräch und die Mimik der Freundinnen konzentriert, dass er den Hundehalter samt seines frei laufenden, dunkelbraunen Labradors nicht wahrnahm. Der kräftige Rüde lief ins Gebüsch, blieb an der Kastanie stehen und schlug so laut an, dass die Frauen ihre Unterhaltung unterbrachen und in den Garten schauten. Jan erschrak völlig unvorbereitet, fing sich aber schnell wieder. Der Hundehalter rief seinen Hund zurück, als Jan vorsichtig hinter dem Baum vortrat.
„Guten Abend, der passt aber gut auf und hat mich doch tatsächlich beim Gassigehen erwischt.“ Er grinste. „Entschuldigung, ich musste auch mal hinter einen Baum“, rechtfertigte sich Jan, zog bezeichnend seine Hose hoch und trat auf die Straße.
„Habt ihr auf der Feier denn keine Toiletten?“, fragte der Hundehalter, wartete die Antwort aber nicht ab, sondern trottete kopfschüttelnd mit seinem Labrador weiter.
Jan blickte sich kurz zum Backsteinhaus um, stellte aber beruhigt fest, dass die Frauen wieder in ihr Gespräch vertieft waren. Niemand war misstrauisch geworden. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Jan zog es nun vor, die Beobachtung abzubrechen und über einen Bogen an der Maschinenhalle vorbei zu seinem VW Golf zurückzukehren. Trotz seines Mantels war er durchgefroren. Daher ließ er sich auf der Rückfahrt nach Garbsen von der Sitzheizung und seiner Fantasie durchwärmen. Auf einem nahe gelegenen Parkplatz an der B 65 hielt er kurz an. Seine installierte Software ermöglichte ihm, sowohl das Mikrofon als auch die Kamera von Hannahs Handy aus der Ferne zu aktivieren. Erneut lauschte er den anregenden Unterhaltungen der Freundinnen, lehnte sich zurück und legte seine Hände in den Schoß.
Es war ein toller Abend gewesen. Lange hatte Hannah nicht mehr so viel Wein getrunken. Sie musste mit ihren Freundinnen Jahrzehnte nachholen, in denen sich ihr Kontakt gelockert und sie sich aus den Augen verloren hatten. Damit das nicht noch einmal passierte, war zum Abschied gleich ein neuer Termin vereinbart worden. Alle drei wollten sich in 14 Tagen bei Lisa in Gehrden treffen, um die tiefe Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Gestern hatte Hannah vor den beiden sprichwörtlich die Hosen heruntergelassen und Dinge von sich preisgegeben, die sie nüchtern sicher für sich behalten hätte. Aber eigentlich waren genau dafür echte Freundinnen da, und Hannah war sich sicher, dass ihre intimen Geheimnisse diesen Kreis nie verlassen würden.
Als hätte sie den Verlauf des Abends erahnt, hatte sie im Vorfeld ihre Frühschicht gegen das Nachmittagsprogramm getauscht und war einigermaßen ausgeschlafen. Sie ließ sich auf der Fahrt nach Hannover den Wind um die Ohren pfeifen und hatte das neue Album von „Fury in the Slaughterhouse“ aufgedreht. Sie liebte es, offen zu fahren, und nutzte ihren Audi TT Roadster ganzjährig. Hannah war gut drauf und freute sich auf die Moderation ihrer Sendung.
Auch Jan fühlte sich ausgeschlafen. Er blickte von seinem Balkon auf den Berenbosteler See, während er an einem Becher mit heißem Kaffee nippte. Obwohl er den gestrigen Abend der drei Freundinnen bis zu ihrem Abschied live mitgehört hatte, ließ er es sich zur Einstimmung des neuen Tages nicht nehmen, den Besuch immer und immer wieder Revue passieren zu lassen. Jan lachte und fühlte mit den Frauen, als hätte er neben dem Trio auf dem Sofa gesessen.
Dass seine Überwachungstechnik problemlos funktionierte, machte Jan zufrieden und stolz. Er hatte sich sogar in die Audi-App gehackt und war jetzt nicht nur in der Lage, den Standort des Audi TT zu orten. Nein, er vermochte den Roadster sogar zu öffnen und wieder zu verschließen. Das konnte sich noch als nützlich erweisen.
Zufrieden schwang sich Jan auf seine BMW und kaufte in einem Blumenladen in der „Roten Reihe“ in Berenbostel eine langstielige, weiße Baccararose für Hannah. Er wollte ihr eine Freude bereiten. Vorsichtig steckte er die Rose in seine große, seitliche Packtasche, bevor er sich auf den Weg in die Innenstadt von Hannover machte. Jan kurvte durch den Stadtkern und die angrenzenden Stadtteile. Stets suchte er nach alternativen Fahrtrouten, um Strecken abzukürzen und eventuelle Verfolger abschütteln zu können. Er war gerne vorbereitet.
Kurz nach halb sieben kam es endlich: Das Signal auf seinem Handy zeigte eine Bewegung des Audi TT an, als Hannah die Tiefgarage des Senders verließ. Die Moderatorin steuerte ihren Roadster über den Königsworther Platz und den Bremer Damm zum Deisterkreisel. Dort wartete Jan und hängte sich in der Bornumer Straße in sicherer Entfernung an das Cabrio. Er musste nicht lange warten, denn Hannah bog links auf den Kaufland-Parkplatz ab und parkte den Audi, ohne das Verdeck zu verschließen. Als sie den Supermarkt betrat, fiel ihr der Motorradfahrer, der sich ihrem TT näherte, nicht auf.
Jan schmunzelte. So einfach hatte er sich den Einstieg in Hannahs Leben gar nicht vorgestellt. Er passierte mit seiner schweren BMW langsam das offene Cabrio und platzierte die Baccararose heimlich auf dem Fahrersitz.
Im Supermarkt hatte Hannah ihren Weinvorrat wieder aufgestockt und sich gut eingedeckt. Als sie beim Einsteigen die langstielige Baccararose bemerkte, sah sie sich um und hoffte vergeblich, den Verehrer unter den vielen Nutzern des Parkplatzes ausmachen zu können. Ihr zweiter Blick fiel unter die Scheibenwischer oder an die Seitenscheiben, ob jemand seine Visitenkarte hinterlassen hatte. Nichts. War das wieder irgend so ein Wahlkampf, in dem Rosen an potenzielle Wähler verteilt wurden? Aber in solchen Fällen diente die Rose ja als Türöffner, um mit dem Kandidaten ins Gespräch zu kommen. Dass so jemand Blumen einfach ins Cabrio legte, passte nicht ins Bild. Egal, Hannah freute sich und hoffte, den unbekannten Verehrer irgendwann einmal kennenzulernen. Lächelnd fuhr sie vom Parkplatz, was Jan nicht verborgen blieb. Ihm wurde warm ums Herz. Seine Partie war eröffnet.
Im Gegensatz zu Hannah hatte sich Kristin Bäumer nach dem gemeinsamen Abend freigenommen. Sie verfügte durch ihre Einsätze stets über einen Puffer an Überstunden, den sie für solche Gelegenheiten nutzen konnte. Das OFA-Team des LKA Niedersachsen hatte gerade eine Fallanalyse von zwei Cold Cases abgeschlossen, die sie zu einer Tatserie zusammenführen und einem Serientäter zuordnen konnten, der bislang leider noch nicht ermittelt worden war. Das Team bereitete gerade die Präsentation vor der Mordkommission in Cuxhaven sowie das Analyseprotokoll vor, in dem die methodischen Arbeitsschritte und Tathypothesen samt Täterprofil transparent erläutert wurden.
Das unwiderstehliche Lächeln von Hannah ging Jan nicht mehr aus dem Kopf. Seine Aktivitäten ihr gegenüber wurden direkter. Die nächste Rose klemmte morgens unter dem Scheibenwischer ihres Audi TT, der zu Hause unter dem Carport geparkt war. Die Botschaft des Verehrers lautete: „Ich weiß auch, wo du wohnst“, und verursachte Unbehagen bei Hannah. Er bombardierte sie rund um die Uhr mit Anrufen, WhatsApp-Mitteilungen und Nachrichten sowie Freundschaftsanfragen auf Facebook. Die Moderatorin tat es anfangs als wirres Zeug eines Spinners ab. Das sollte sich jedoch ändern.
Es geschah an einem sonnigen Frühlingsmorgen. Hannah war froh, ihn ohne den Trubel der Großstadt beginnen zu können. Noch vor der heißen Dusche ging sie aus der Küche hinaus und gönnte sich einen Kaffee im Garten mit Blick in die Zeitung. Nur zufällig sah sie in Richtung der Wohnzimmer-Terrassentür und erstarrte. Dann schrie sie plötzlich auf und ließ ihren Becher fallen. Sämtliche Fenster zum Garten waren mit Fingermalfarben bekritzelt. Von roten Herzen, aus denen Blut floss, über weibliche Körper mit eingeführten Messern bis hin zu sexualisierten Darstellungen war alles vertreten.
Sie verspürte Ekel und hatte Angst, einfach nur pure Angst.
Die alarmierte Polizei aus Barsinghausen nahm den Sachverhalt auf und erfragte, ob Hannah Strafantrag wegen Sachbeschädigung stellen wolle.
„Wegen Sachbeschädigung? Ich werde belästigt, ja sogar bedroht, und Sie sprechen von Sachbeschädigung?“, empörte sie sich voller Unverständnis.
Die Beamten versuchten ihr die Rechtslage zu erklären. Sie müssten erst einen Tatzusammenhang zu den anderen angezeigten Handlungen prüfen.
Völlig außer sich rief Hannah ihre Freundin beim LKA an, die zusagte, nach ihrem Dienst bei ihr vorbeizuschauen.
Doch vorher nahm der Tag seinen Lauf. Die Moderatorin war ein Profi im Job und ließ sich in der folgenden Morgensendung nichts anmerken. Sie scherzte redegewandt mit den Zuhörern und erfüllte live Musikwünsche.
„Hallo, hier ist Hannah Rohde von ,Radio Kröpcke‘. Wen habe ich der Leitung?“, sprach sie den nächsten Hörer an.
„Hi, Hannah, ich bin’s. Der Fenstermaler.“ Stille.
Sie schluckte unhörbar und fing sich wieder. „Hallo Fenstermaler, was möchtest du hören?“
„,Once Upon a Time in the West‘ von Ennio Morricone“, antwortete der Hörer mit monoton tiefer Stimme.
Mit leichter Unsicherheit wollte Hannah die Situation retten. „Sorry, wir sind ein fröhlicher Sender, und den Titel haben wir nicht in der Liste. Kann ich dir eine Alternative anbieten?“
„Das ist der Titelsong von ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘ von Sergio Leone. Er ist für dich. Spiel es oder ich komme wieder, Hannah“, hauchte er in den Äther wie in einem schlechten Horrorfilm. Hannah schluckte.
„Sorry, Fensterputzer. Wir wollen unsere Hörer unterhalten und nicht erschrecken. Vielleicht ist die Telefonseelsorge der bessere Ansprechpartner. Hallo, hier ist Hannah von ,Radio Kröpcke‘. Wen habe ich in der Leitung?“, moderierte sie mit deutlich zittriger Stimme weiter und hoffte auf einen Musikwunsch mit einem langen Song. Der Aufnahmeleiter entschied, 30 Minuten nonstop aus der Retorte weiterzusenden, und ließ die völlig verstörte Hannah ablösen.
Die Moderatorin berichtete ihrem Team unter Tränen von der Entwicklung der letzten Tage, die sie anfangs nicht ernst genommen hatte. Nicole, die für den Schnitt verantwortlich war, nahm ihre Kollegin tröstend in den Arm, als der Tontechniker auf sie zukam.
„Hannah, das wird jetzt ganz bitter, aber schau mal bitte.“
Er zeigte ihr eine öffentliche Facebookseite, auf der sie als ,geilste Moderatorin von Radio Kröpcke‘ mit provokativen Nacktfotos für frivole Hörerwünsche warb. Hannah brach völlig zusammen und kauerte heulend am Boden.
Kristin ließ ihre Beziehungen im LKA zur forensischen IT-Abteilung spielen, die bei der Auswertung von Hannahs Samsung S21 einen Trojaner identifizieren konnten.
„Kristin, du kannst davon ausgehen, dass jemand einen Vollzugriff auf das Handy deiner Freundin hat. Um diese Spy-App zu installieren, musste er jedoch etwa eine Minute unmittelbaren Kontakt zum Handy gehabt haben. Diese App bietet dem Hacker die Möglichkeit, selbst E-Mails und Chats in ihrem Namen zu führen. Er kann sich sämtlicher Fotos bedienen und nach Belieben das Mikrofon und auch die Kamera ein- und ausschalten, wann und wo er will. Es ist zudem ein Kinderspiel, mit diesen Zugriffen auch Facebook-Accounts zu eröffnen und ihre Fotos durch Montagen in sexistischen Darstellungen zu veröffentlichen“, bestätigte die Gutachterin.
„Das haben wir uns schon fast gedacht, Heike. Gibt es eine Möglichkeit, an die Daten des Stalkers zu kommen und die Zugriffe zurückzuverfolgen?“, erkundigte sich die Profilerin.
„Leider nein. Ich kann euch nur anbieten, den Trojaner zu neutralisieren“, bot die Forensikerin an.
Kristin Bäumer wägte ab: „Ich glaube, dass wir diesen Umstand als Vorteil nutzen sollten. Vielleicht können wir den Stalker aus seinem Versteck locken. Jetzt sind wir ihm erstmals einen Schritt voraus. Ich halte dich auf dem Laufenden, Heike. Vielen Dank für dein Engagement.“
Dieses Ergebnis stellte Kristin im OFA-Team vor, das sensibel und auch mit Sorge aufgenommen wurde.
„Hannah hat bereits Anzeige im Kommissariat in Barsinghausen erstattet. Die bisherigen Nachstellungen des noch unbekannten Stalkers waren strafrechtlich bisher nicht verfolgbar. Ihr wurde die Hinzuziehung eines Anwaltes und die Dokumentation sämtlicher Handlungen, die sie dieser Person zuordnet, angeraten. Einem unbekannten Täter können nun mal selbst über einen Anwalt keine Unterlassungsverfügungen zugestellt werden. Die Ratschläge der Beratungsstellen, die sie konsultiert hat, lassen sich nicht umsetzen. Wie soll sich eine bekannte Radiomoderatorin aus allen sozialen Medien und der Öffentlichkeit zurückziehen? Hannahs Hilflosigkeit und Verzweiflung ist kaum noch ertragbar. Können wir ihr trotzdem helfen?“
„Ich schätze, dass du die Antwort auf deine Frage schon kennst. Was ist deine Idee, Kristin?“, fragte Thorsten Büthe, Chef der OFA, der seine Vertreterin seit fast dreißig Jahren kannte.
„Wir setzen eine Ente auf den Teich. Ich verabrede mich mit Hannah über ihr Telefon, und wir treffen uns in Hannover mit dir, Carlotta. Ich biete ihr deinen psychologischen Rat an, um den Stalker neugierig zu machen. So wie ich ihn einschätze, wird er sich nicht nur mit dem Wissen des Treffens zufriedengeben, sondern auch sehen und erleben wollen, was und wer sich dahinter verbirgt. Wie früher, seid ihr, Thorsten, Maik und Thomas das Observations- und hoffentlich auch das Zugriffsteam und schlagt zu, wenn wir ihn identifiziert haben. Was meint ihr? Macht ihr mit?“, versuchte Kristin die Runde zu überzeugen.
Der OFA-Chef rümpfte die Nase: „Also eine private Freizeitaktion der OFA unter psychologischer Aufsicht? Meinst du das, Kristin?“
„Da offiziell niemand was macht, genau so“, reagierte Kristin schnippisch.
Thorsten Büthe blickte in die Runde und erahnte die Antwort seines Teams.
Thomas Schulte warf in seiner erfrischenden Art ein: „Wir waren lange nicht mehr gemeinsam auf der Piste. Ich bin dabei.“
Maik Holzner gab zu Bedenken: „Grenzwertig, aber ergibt Sinn.“
Die Psychologin Carlotta Bayer-Westholdt blieb ihrer Art entsprechend zurückhaltend, aber aufgeschlossen.
„Okay, dann sind wir einstimmig im Boot. Ich gehe weiter davon aus, dass du auch eine Idee hast, wo wir dieses Treffen optimal umsetzen können, Kristin“, vermutete Thorsten.
„Na klar. Was haltet ihr vom Parkdeck? Im Beachclub ,Schöne Aussichten 360°‘ gegenüber der Markthalle haben wir alles unter Kontrolle. Ein Zugang von Personen ist nur über die Fahrstühle oder das Treppenhaus möglich. Wir können sogar die einfahrenden und geparkten Fahrzeuge überprüfen. Wenn er unser Treffen beobachten will, muss er auf das Parkdeck kommen und kann uns nicht durch die Lappen gehen“, überzeugte Kristin.
„Coole Idee und tolle Location“, lobte Thomas.
„Okay, dann müssen wir uns und dann noch mit deiner Freundin über einen Termin abstimmen“, schlug Thorsten vor.
Bevor jemand aus dem Team antworten konnte, warf Kristin ein: „Freitag 19 Uhr! Passt das allen? Hannah hat schon zugesagt, ein Tisch ist reserviert.“
Als sich alle verwundert ansahen, ergänzte Kristin: „Kenne ich euch oder kenne ich euch nicht?“
Nach der fast erzwungenen gemeinsamen Zustimmung des Teams erinnerte Thorsten: „Okay, denkt bitte daran: Das ist ein Freizeittreffen, kein Dienst. Also keine Waffen, keine Funkgeräte. Ist das klar?“
Alle nickten, wobei Thomas resümierte: „Prima, ich melde mich freiwillig zur Observation des Treppenhauses. Von der Cocktailbar habe ich einen prima Blick und Alkoholkonsum ist super als Tarnung. Konspirativer geht es nicht.“
Kristin und Hannah verabredeten sich über das infizierte Handy, und die Profilerin pries die psychologische Beratungskompetenz ihrer LKA-Psychologin zum Thema Stalking an.
Hoffentlich biss er an.
Die Profiler nahmen schon um 18 Uhr ihre Positionen ein. Maik genoss im Außenbereich des Burgerladens „Kunstwerk“ vor dem Haupteingang des Parkhauses seine Position und hatte so sämtliche Zugänge von Personen und Einfahrten aller Fahrzeuge im Blick. Thomas saß im Eingangsbereich der Bar auf dem Parkdeck und jeder, der den Dachgarten betrat oder verließ, musste ihn passieren. Thorsten hatte sich einen Platz an der Hauptbar gesichert, um sowohl den später reservierten Tisch als auch Thomas am Haupteingang im Blick zu haben.
Auch Jan war früh unterwegs. Er steuerte seine schwere BMW aufmerksam von der Osterstraße durch die Röselerstraße zur Markthalle. Dabei bestätigte sich, was er vermutet hatte. Im Burgerladen neben dem Parkhaus konnte er einen der LKA-Profiler erkennen, der sich gerade bei einem vermutlich alkoholfreien Bier einen Burger schmecken ließ. Es war einfach, denn die OFA war des Öfteren in den Medien samt Fotos präsent, was sich nun rächte. An einen Zufall dachte er dabei nicht. Durch die erst reaktivierten Standortdaten des Handys von Hannah war er misstrauisch geworden und hatte Zugriffe in tiefe Menüstrukturen des Samsung S21 festgestellt, die er nicht von Hannah erwartet hätte. Die Beamten waren nun sensibel und hatten seinen Trojaner entdeckt. Anstatt diesen einfach nur zu eliminieren, hatten sie das Treffen arrangiert, um ihn zu identifizieren. Nicht schlecht, aber Jan gab nicht so leicht auf, sondern stellte sich der Herausforderung. Er parkte sein Motorrad am Aegi. Hier trafen sich an jedem Freitagabend hannoversche Motorradfahrer zum fachlichen Austausch, sodass die BMW nicht auffiel. Er schlenderte mit seinem Rucksack vor das Rathaus und nahm auf einer Parkbank Platz. Es war ja noch früh.
Pünktlich um 19 Uhr erschien Hannah im Sichtfeld von Maik vor dem Parkhaus. Sie traf auf Carlotta und Kristin, die ihrer Freundin die LKA-Psychologin vorstellte. Das Trio fuhr mit dem Fahrstuhl auf das oberste Parkdeck 6, das sich im Sommer in die Strandbar „Schöne Aussicht 360°“ verwandelte. Sie wurden an ihren reservierten Tisch begleitet, nutzten die Happy Hour und bestellten drei Mojitos. Die drei Observanten verständigten sich über WhatsApp in der OFA-Gruppe. Keiner von ihnen hatte eine verdächtige Person bemerkt. Auch Kristin hatte ihre Freundin nicht in die Überwachung eingeweiht, um das Gespräch so unbefangen wie möglich führen zu können, ohne dass es dem Stalker auffiel. Sie gingen weiter davon aus, dass er über das Mikrofon von Hannahs Handy mithörte.
Kristin und Thorsten verstanden sich blind. Als sich ihre Blicke trafen, erkannte sie in seiner Mimik, dass es noch keinen verdächtigen Kontakt gab.
Sie klönten und das Team wartete weiter.
Aber Jan war ein geduldiger Jäger, der bis zum richtigen Zeitpunkt ausharrte. Um Viertel vor acht entschloss er sich zu agieren.
Während sich die drei Damen angeregt unterhielten, nahm Thorsten als Erster das penetrante Summen einer überdimensionalen Hornisse wahr, erschrak und rief sofort seinen Kollegen im Burgerladen an.
„Maik, er nutzt eine Drohne! Sieh dich um! Von irgendwo her muss er sie steuern. Ich schicke dir Thomas mit runter“, brüllte der OFA-Leiter in sein Handy.
Sein Kollege an der Bar verstand sofort und sprintete das Treppenhaus herunter zu Maik Holzner.
Thorsten Büthe konnte nichts weiter tun, als die Flugbahn der Drohne zu verfolgen und mit seinem iPhone aufzunehmen.
Das fliegende Auge erfasste den Tisch der drei Frauen und flog im Sturzflug sogar unter den Sonnenschirm, der an dem Tisch aufgestellt war.
Hannah schrie vor Schreck panisch auf und lief zum Ausgang, Carlotta folgte ihr. Kristin drehte mit voller Kraft wie auf einer Segelregatta an der Kurbel des Sonnenschirmständers, um die Drohne unter dem Schirm zu blockieren. Der Pilot war allerdings derart versiert, dass er sein Fluggerät kurz zur Seite kippte und geschickt wie ein Kunstflieger auswich. Anstatt sich nun zurückzuziehen, steuerte er die Drohne zuerst direkt auf Kristin, dann auf Thorsten zu. Dabei stoppte er unmittelbar vor den Gesichtern der Profiler und wedelte die bedrohliche Hornisse hin und her, als würde sie den Kopf schütteln. Nach dieser Show hob sie ab und schoss über die Markthalle hinweg in einem großen Bogen in Richtung der Aegidienkirche. Thorsten wollte seinen Kollegen die aktuelle Flugrichtung durchgeben, als er eine erneute Positionsänderung in Richtung des Landtages wahrnahm. Es hatte keinen Zweck.
Kristin stellte Hannah ihren Chef vor, während sie weinend in den Armen von Carlotta lag.
„Du bist in Sicherheit, er ist weg“, versuchte Kristin ihre Freundin zu beruhigen.
Anschließend informierte sie Hannah sensibel über das Ergebnis der Handyuntersuchung und klärte sie über den eigentlichen Zweck dieses Treffens auf. Die Radiomoderatorin starrte entsetzt auf ihr Handy und warf es schreiend über die Brüstung des Parkdecks. Es zerschellte auf dem Asphalt der Marktstraße, ohne jemandem zu schaden.
Maik und Thomas kamen völlig außer Atem mit roten Gesichtern zurück und schüttelten resigniert den Kopf. Sie hatten nichts. Die gepeinigte Hannah saß mit leerem Blick in einem Strandkorb, hielt eine Tasse heißen Kaffee vor ihr Gesicht und fixierte den Dampf, der aus ihr aufstieg.
Carlotta nahm Kristin an die Seite und flüsterte ihr zu: „Wir können Hannah in diesem Zustand unmöglich alleine in ihrem Haus lassen. Kannst du sie begleiten oder sie erst mal bei dir aufnehmen?“
„Das würde ich gern tun, aber nach dieser Nummer heute ist uns allen klar geworden, mit welchem Kaliber wir es hier zu tun haben. Wir müssen umgehend gemeinsam klären, wer jetzt aktuell welche Maßnahmen zum Schutz von Hannah trifft und wie wir diesen Typen schnellstmöglich stoppen. Ich habe da ein ganz ungutes Gefühl“, orakelte Kristin und ergänzte in der ganzen Runde: „Thorsten, wir können uns hier nicht mehr ausklinken. Wir sollten diese Aktion im Gesamtkontext einer sicherlich nicht mehr abstrakten Gefährdung sehen und komplett einsteigen. Was meinst du?“
„Da hast du absolut recht. Dieser Stalker ist nicht nur technisch versiert, sondern derartig abgebrüht, wie ich es kaum erlebt habe. Er hat unsere Maßnahmen komplett einkalkuliert und ausgehebelt. Jeder andere Täter hätte sich zurückgezogen, dieser Typ sucht gezielt die Konfrontation, lässt seine Drohne provokativ vor unserer Nase tanzen und uns als Deppen dastehen. Wir stimmen uns mit den Kollegen in Barsinghausen über erforderliche Schutzmaßnahmen ab und müssen Hannah aus der Schusslinie nehmen. Du hast den besten Draht nach Basche (so wird Barsinghausen von den Einheimischen genannt), kannst du die Absprachen treffen?“, bat Thorsten Büthe.
„Mache ich. In Anbetracht der Arbeit, die jetzt vor uns liegt, kann ich mich nicht auch noch um Hannah kümmern. Ich werde unsere Freundin Lisa bitten, sie vorerst bei sich aufzunehmen. Sie haben in Gehrden ein großes Anwesen mit einem kleinen Gästehaus“, bot Kristin an und griff direkt zum Handy. Bei Lisa waren keine großen Erklärungen nötig, sie stimmte sofort zu.
„So, das geht klar. Lisa bereitet alles vor, sodass Hannah heute schon einziehen kann. Maik, Thomas, lässt euer heutiger Alkoholkonsum zu, dass ihr nach Großgoltern fahrt, mit Hannah ein paar Sachen holt und sie nach Gehrden bringt?“, hinterfragte Kristin vorsichtig.
Die beiden grinsten: „War alles alkoholfrei.“