Option Färöer - Ein Färöer-Krimi - Jógvan Isaksen - E-Book

Option Färöer - Ein Färöer-Krimi E-Book

Jógvan Isaksen

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Mörderische Spannung auf den Färöer: Zuerst stirbt ein Radiomoderator, danach wird eine Bank überfallen und kurz darauf wird ein verhafteter Verdächtiger tot in seiner Zelle aufgefunden. Als auch noch ein Zeitungsreporter ermordet wird, entscheidet sich der Journalist Hannis Martinsson diese Verbrechen aufzudecken. Denn vier Morde in zwei Wochen – dies ist definitiv ungewöhnlich für ein kleines Völkchen wie die Färinger. Doch inwiefern sind der tote Nachrichtensprecher, ein jugendlicher Stadtstreicher mit einem Lohnbuchhalter und dem Reporter der christlichen Zeitung verbunden? Gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen diesen Morden? Eine geheimnisvolle Kontonummer führt den Journalisten nach Rom. Und immer wieder taucht der pleite gegangene Anlagefonds Gaia International auf, hinter dem der Schiffsreeder Hanus i Rong stecken soll....

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Seitenzahl: 323

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Jógvan Isaksen

Option Färöer - Ein Färöer-Krimi

Saga

Option Färöer - Ein Färöer-Krimi ÜbersetztChristel Hildebrandt Copyright © , 2019 Jógvan Isaksen und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726344103

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Einsam und kalt und grauer Oktober, fern die Flügelschläge der Zugvögel bringen eine Botschaft ob von Liebe, Gesang und Sonne, der Oktober herrscht, es gibt keinen Schimmer, keine Hoffnung.

(J. H. O. Djurhuus)

Präludium

Henry Mancini. Der Nachrichtensprecher war sich ganz sicher, dass es Henry Mancini mit seinem Orchester war. Wenn der betagte Mitarbeiter aus dem Norden für die Mittagsmusik verantwortlich war, stand fast immer Mancini auf dem Programm. Nur falls er übermütiger Laune war, ertönte James Last im ganzen Land. Wenn seine Stimmung jedoch auf den Nullpunkt sank, gab es kein Pardon; klassische Musik bis zum Abwinken. Und sobald er Strawinsky auflegte, wussten alle: Es kamen schwere Zeiten. Dann schien es, als brächen die Mittagstische zusammen und alle Gespräche erstarben.

So hatte dieser Mann, der einen harten Dialekt sprach, die färöische Bevölkerung seit einem Menschenalter mit fester Hand gelenkt. Niemand konnte sich daran erinnern, dass es jemals anders gewesen war, und niemand rechnete damit, dass es sich je ändern würde. Die Mittagsmusik des Radiosenders war so gesetzmäßig wie das Wetter: Man konnte nichts daran ändern, sie lag außerhalb des menschlichen Einflusses.

Der Nachrichtensprecher saß am grünen Tisch und blätterte die Meldungen durch, die er gleich vorlesen sollte. Das Meiste waren Übersetzungen aus der dänischen Presseagentur, aber schließlich war die Redaktion unterbesetzt und es somit unmöglich, für jede Sendung originelle Nachrichten zu bekommen. Aber etwas Färöisches gab es doch. Ja, da. Ein Mann aus Eiði war 101 Jahr alt geworden und der Gemeinderat gab ein Fest. Das war doch eine gute Nachricht.

Der Werbeblock war länger als die Nachrichten, aber der Sender verdiente nun einmal gut damit, also durfte man sich nicht beschweren. Er stieß die Papiere zu einem ordentlichen Stapel mit schnurgeraden Kanten auf. Er hatte gern Ordnung in seinen Papieren und überhaupt um sich herum.

Er schaute auf das schwarze Mikrofon und die rote Lampe. Wenn die Lampe leuchtete, war er auf Sendung. Der Techniker auf der anderen Seite der großen Glasscheibe hob die Hand, bereit, sie fallen zu lassen, wenn die Uhr zwanzig Minuten nach zwölf zeigte. Die Leute regten sich ständig darüber auf, dass die Nachrichten nicht pünktlich begannen. Dieses Mal sollte es klappen.

Noch fünfzehn Sekunden, der Sprecher nahm einen Schluck Wasser, um seine Kehle zu säubern. Das Wasser hatte einen bitteren Geschmack und der Magen revoltierte, als es hinunterrann. Der Schmerz kam umgehend, sodass er sich über dem Tisch zusammenkrümmte und das Glas losließ, dessen Inhalt sich über die weißen Nachrichtenblätter ergoss.

Der Techniker schaute unverwandt auf die Uhr und sah nicht, was im Studio vor sich ging. Um Punkt zwanzig Minuten nach zwölf schaltete er das Mikrofon ein.

Der Sprecher hatte rasende Kopfschmerzen und ihm war speiübel. Er bekam keine Luft, stöhnte und keuchte, etwas erwürgte ihn.

Der Techniker und die färöische Bevölkerung hörten zunächst ein Röcheln und Stöhnen aus den Lautsprechern und dann das Geräusch eines Menschen, der sich übergibt.

Der Moderator lag über dem schmalen Tisch und umklammerte mit beiden Händen die gegenüberliegende Tischkante. Er war rot im Gesicht, und während sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, öffnete und schloss er den Mund wie ein Fisch, der an Land geworfen worden war.

An einigen Mittagstischen blieben die Gabeln in der Luft stehen, aber nur für einen kurzen Moment, dann wurden die unappetitlichen Geräusche mit der Bemerkung beiseitegeschoben, dass er dieses Mal aber wirklich zu viel getrunken hätte. Jetzt war es allerhöchste Zeit, ihn zur Entziehungskur in die Klinik von Velbastaður zu schicken.

Als der Techniker ins Studio kam, lag der Körper des Nachrichtensprechers bewegungslos über dem Tisch. Nur die Arme, die herunterhingen, schaukelten leise hin und her. Und als der Techniker sich über das Gesicht mit den aufgerissenen Augen beugte, war ihm, als nehme er den Geruch von Mandeln wahr.

1

Der Rundfunkmitarbeiter Páll Hansen hatte in einem der hellroten Reihenhäuser in Berjabrekka gewohnt. Der Name an sich war ja nicht schlimm, aber es gab keinen Skandal und kein Unglück, das einer Baustelle zustoßen kann und das diese neuen Reihenhäuser nicht betroffen hätte. Wie üblich trug niemand die Schuld. Die Verantwortung wurde in einem ewigen Kreislauf von Pontius zu Pilatus und wieder zurück geschoben und die Besitzer der Häuser waren die Betrogenen.

Jetzt saß ich in meinem frisch erworbenen alten Volvo vor Hansens Haus und versuchte, mit mir selbst einig zu werden, inwieweit ich mich schämen müsste, wenn ich mich an Páll Hansens Witwe wenden würde, die Frau des früheren Journalisten beim färöischen Rundfunk.

Die Oktoberkälte kam langsam von den Bergen im Norden heruntergekrochen und harmonierte ausgezeichnet mit den Gefühlen, die in mir aufschwappten. Frierend und mit einer Antriebskraft, die nicht einmal die Zeiger einer Uhr bewegen würde, saß ich da und starrte vor mich hin. Ich dachte über existenzielle Fragen nach. Wo kommen wir her? Warum sind wir hier? Und wohin werden wir ziehen? Aber das dauerte nur einen kurzen Augenblick, denn ich kannte mich selbst gut genug, um zu wissen, dass sich, wenn ich einmal damit anfangen würde, an der Oberfläche der großen Fragen des Daseins zu kratzen, der Kater nur verschlimmern würde.

Ich schaute auf die Uhr. Kurz vor elf.

Am Samstagabend war ich in der Stadt gewesen, und den Sonntag hatte ich, wie so oft, im Bierclub vertan. Genau diese Handlungen begannen jetzt, meine Gedanken zu dominieren.

Aber dabei konnte ich nicht stehen bleiben und mit meiner reichhaltigen Erfahrung als Therapeut konnte ich die diversen Katzentiere beiseiteschieben.

Montagmorgen, kalt, bewölkt, aber trocken.

Páll Hansen war vor vierzehn Tagen vor eingeschaltetem Mikrofon gestorben. Das ganze Land war in heller Aufregung gewesen. Schließlich geschah es nicht alle Tage, dass man bei einem Mord zuhörte. Diese unangenehme Begebenheit verschaffte den Leuten einen wohligen Schauer. Endlich gab es etwas, was man gemeinsam hatte, und wenn die Leute zusammenkamen, war oft die Rede davon, was sie sich gedacht hatten, als sie die merkwürdigen Geräusche im Radio hörten.

Die Polizei stand vor einem Rätsel.

Mein Freund beim Kriminalkommissariat, Karl Olsen, hatte mir erzählt, dass der Sprecher mit Blausäure vergiftet worden war. Dass sie keine Ahnung hatten, wie diese ins Glas gekommen war oder wer sie dort hineingekippt hatte. Auf den Fluren des Senders liefen ständig Leute hin und her, deshalb mussten viele Verhöre durchgeführt werden. Mehr bekam ich nicht aus ihm heraus. Ich hatte auch das Gefühl, dass die Polizei gar nicht mehr wusste.

Meine Gründe herumzuschnüffeln waren ganz persönlicher Natur. Vor zwei Monaten war ich nach langer Zeit im Ausland wieder zurück auf die Färöer gezogen. Ich arbeitete als Freelancer beim Blaðið und wurde nach dem Stoff bezahlt, den ich ablieferte. Aus Themen, über die andere viel besser als ich Bescheid wussten, konnte ich nichts herausholen, aber wenn es sich um einen Mord handelte, bei dem die Polizei im Dunkeln tappte, hatte ich die gleichen Chancen wie alle anderen. Das bildete ich mir jedenfalls ein.

Im Übrigen hatte ich Páll gekannt, vor ungefähr fünfzehn Jahren besuchten wir gemeinsam die Journalistenhochschule in Århus.

Der Unterschied zwischen uns beiden, abgesehen von den drei Jahren, die Páll jünger war, bestand darin, dass er seine Ausbildung beendete, was ich nicht tat. Seitdem hatte ich mich in großen Teilen der Welt herumgetrieben, während Páll versucht hatte, sich in der färöischen Gesellschaft hochzuarbeiten.

Ich stieg aus dem Auto und ging zu einer Tür, an der ein selbst gemachtes hellblaues Porzellanschild sagte, dass hier Kirstin und Páll Hansen wohnten.

Ich drückte auf den Klingelknopf und hörte es im Haus klingeln.

Eine ganze Weile geschah gar nichts und ich wollte es gerade noch einmal versuchen, als die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde.

Zwei erschrockene graue Augen schauten zu mir heraus.

»Wer sind Sie?«, fragte eine zitternde Stimme.

»Mein Name ist Hannis Martinsson, ich habe Páll gekannt.« Ich hielt es nicht für angebracht, schon jetzt das Blaðið zu erwähnen.

Der Türspalt wurde ein wenig größer und ich sah eine schmächtige Frau in den Dreißigern. Das glatte Haar hing strähnig und leblos herunter und die Ohren stachen dazwischen hervor. Das Weiße in ihren Augen war hellrot, das Gesicht streifig von Tränen. Der geblümte Kittel sah aus, als sei er seit einer Woche nicht gewaschen worden. Die ganze Erscheinung wirkte verwahrlost und erzählte davon, wie schnell jemand von einem gestandenen Mitglied der Gesellschaft zum Verlierer werden kann.

»Ich weiß nicht ...«, kam es zögernd aus dem erschrockenen Gesicht, aber sie schloss die Tür nicht.

»Páll und ich haben zusammen in Århus studiert, vielleicht kann ich irgendwie helfen?«

Kirstin Hansen starrte eine Weile mit leerem Blick vor sich hin, dann drehte sie sich um und verschwand im Haus. Die Tür blieb offen und ich nahm das als Zeichen, dass ich hereinkommen durfte.

Im Eingang standen einige Paar Schuhe, darunter auch Kinderschuhe, aber sonst war der Flur leer. Im Wohnzimmer hatte Kirstin Hansen sich auf ein großes, braunes Cordsofa gesetzt, das zusammen mit zwei Sesseln mit dem gleichen Bezug das gesamte Mobiliar des Wohnzimmers ausmachte. Die Wände waren frisch gestrichen, weiß, und es waren noch keine Gardinen aufgehängt.

Die blasse Frau wirkte vollkommen verloren in dem leeren Wohnzimmer und man hatte den Eindruck, dass hier der einsamste Mensch der Welt saß.

Und das war sie vielleicht ja wirklich, aber das war nicht meine Sache.

»Hat Páll mich nie erwähnt?«, fragte ich, nur um ein Gespräch in Gang zu bekommen.

»Nein«, erklang es fern und abwesend. »Nein, ich glaube nicht, ich weiß nicht«, fügte sie gedämpft hinzu, sodass ich kaum die Worte verstand.

»Du weißt nicht, ob er Feinde oder etwas in der Richtung hatte?«

Jetzt kam die Frau auf dem Sofa im Zimmer an, sie streckte ihren Rücken und ihre grauen Augen drückten mit einem Mal Trotz und Wut aus.

»Ich habe es der Polizei mindestens fünfzig Mal gesagt: Páll hatte keine Feinde. Jedenfalls keine, die man so nennen könnte. Alle mochten ihn und er war doch erst sechsunddreißig Jahre alt. Was soll jetzt aus mir und unserer kleinen Tochter werden? Wir sind gerade erst eingezogen, wie soll ich das schaffen? Mein Gehalt reicht nicht mal für die Miete.« Sie schaute sich um, als suche sie eine Antwort.

Wenn sie eine Antwort auf ihre Frage erwartete, hatte sie sich nicht den richtigen Gesprächspartner ausgesucht. Ich war Weltmeister darin, keine Antworten auf welche Fragen auch immer zu haben.

»Was willst du? Warum bist du hergekommen?«, fragte Kirstin Hansen mit einer Stimme, die sich anhörte, als würde sie ihre letzten Kräfte mobilisieren.

»Ich möchte einfach herausfinden, wer Páll ermordet hat. Wenn er nicht Selbstmord begangen hat – es gibt Leute bei der Polizei, die das glauben.«

»Páll wäre nie auf die Idee gekommen, Selbstmord zu begehen.« Jetzt blitzten ihre Augen auf, und die Kraft, die die Frau auf dem Sofa nun ausstrahlte, zeigte, dass sie es mit der Zeit schaffen würde. Sie war stärker, als sie jetzt erschien. »Páll liebte uns viel zu sehr, als dass er so etwas hätte tun können. Der Gedanke ist ... wahnsinnig«, fast zischte sie es.

»Ich wollte dich nicht verletzen. Ich habe nur die Möglichkeiten erwähnt, die infrage kommen. Hat Páll die ganze Zeit beim Rundfunk gearbeitet, seit er zurückgekommen ist?«, beeilte ich mich hinzuzufügen, bevor sie mit neuen Protesten aufwarten konnte.

Sie schwieg eine Weile.

»Wir sind erst seit drei Jahren wieder auf den Färöern und die ersten beiden Jahre hat Páll bei Gaia International gearbeitet. Als die Pleite machten, ist er zum Rundfunk gegangen.« Sie schaute vor sich auf den Boden. »Er hätte nie für diese Kerle von Gaia arbeiten sollen, das habe ich ihm so oft gesagt, aber das Gehalt war dort deutlich höher. Nur – was nützt das, wenn es nie ausbezahlt wird? Im letzten halben Jahr haben wir nicht eine einzige Öre gekriegt. Die Direktoren haben Páll alles Mögliche versprochen und er war ja so gutgläubig ... Jetzt hatten wir endlich alles geregelt, und nun das ... Mein Leben ist eine Hölle, eine Hölle, eine Hölle ...«, murmelte sie vor sich hin.

Es gab keinen Grund, sie weiter zu quälen, also stand ich auf, verabschiedete mich und ging leise meiner Wege.

2

Während ich in die Stadt fuhr, dachte ich über Gaia International nach. Wie in allen unseren Nachbarländern jammert auch bei uns das Volk über die hohen Steuern.

Und genau dieses Gejammer hatte die Gesellschaft Gaia ausgenutzt.

Man konnte soundso viele Anteile an einem Tanker kaufen, brauchte auch nur eine kleine Anzahlung zu leisten, bekam aber den größten Teil der Steuergutschrift sofort. Der Rest konnte nach und nach bezahlt werden, aber die Werbeanzeigen versprachen, dass die Frachtschiffe große Gewinne erbringen würden, mit denen man die Anteile dann bezahlen konnte.

Die Gesellschaft erbrachte tatsächlich einen großen Überschuss, aber nur den Männern, die hinter Gaia International standen.

Der Ölfrachtmarkt lief schlecht und die Schiffe machten reichlich Defizite. Die mussten von den Anteilseignern ausgeglichen werden, während die Muttergesellschaft gleichzeitig noch zwanzig Prozent aller Einlagen für die Verwaltung brauchte. Ob es gut oder schlecht lief, konnte Gaia eigentlich egal sein, sie kassierten auf jeden Fall ihren Teil.

Hinzu kam, dass die Schiffe mit sechzig, siebzig Prozent Staatsgarantie gebaut worden waren. Als es also zur Zwangsversteigerung kam – was viele bereits von Anfang an prophezeit hatten –, saßen das Land und die Anteilseigner mit ihrem Jammer da.

Es war ein Riesenskandal gewesen und hatte mehrere Gerichtsverfahren gegeben. Aber es war nie bewiesen worden, dass die Gesellschaft irgendetwas Ungesetzliches getan hatte. Dass es moralisch verwerflich war, Menschen dazu zu verlocken, ihre Spargroschen auf dieses riskante Spiel zu setzen, daran gab es für viele keinen Zweifel. Die Kommentare der Presse waren scharf gewesen und die Urteile, die gesprochen worden waren, nicht gerade mild. Aber die Zeitungsleute wurden von der Staatsanwaltschaft gebremst.

Páll Hansen hatte also bei Gaia gearbeitet und schlechte Erfahrungen gemacht. Einiges von dem, was die Zeitungen über die Sache geschrieben hatten, hatte ich noch im Gedächtnis, aber zu der Zeit war ich viel herumgereist, sodass ich nicht alle Details mitbekommen hatte. Immerhin konnte ich mich noch schwach daran erinnern, dass der Direktor das Land verlassen hatte und sich später herausstellte, dass er nur dem Namen nach Direktor war. Wer wirklich hinter der Gesellschaft stand und die Fäden zog, das wurde nie geklärt.

Das war ja auch eigentlich ganz gleich. Das dahingeschiedene Gaia-Unternehmen und die Steuerspekulationen hatten wohl kaum etwas mit Pálls Tod zu tun.

Seine Frau wusste nichts, die Polizei wusste nichts und ich wusste auch nichts. Die Dreieinigkeit der Unwissenheit. Aber irgendwo saß einer, der etwas wusste, und diesen Mann musste ich suchen. Oder diese Frau. Es hieß ja, dass Gift eine Frauenwaffe sei, aber in diesen Zeiten der Gleichstellung konnte man nie wissen. Männer brachten Frauen mit Gift um, während Frauen dafür die Männer mit Jagdgewehren durchlöcherten.

Wie viele andere stellte ich den Wagen in der Fußgängerzone im Zentrum ab und ging in die Konditorei, um zu Mittag zu essen. Meine Mahlzeit bestand aus zwei Scheiben Weißbrot und einer Kanne Kaffee. Während ich aß, blätterte ich die Zeitungen durch und hörte die Nachrichten im Radio. Alles war wie gehabt, Zeitungen wie Rundfunk.

Nach den Nachrichten, als die Musik wieder das fast vollständig besetzte Lokal durchströmte, schaute ich mich diesseits und jenseits des Fensters ein wenig um. Um diese Zeit gab es draußen nicht besonders viel zu sehen und in der Konditorei gehörten die meisten Gesichter zu Stammgästen, die hier regelmäßig verkehrten.

Ein paar ältere Männer, die sich jeden Tag in der Mittagspause trafen. Geschäftsleute und Unternehmer, die einander schnell über irgendetwas informieren mussten, bevor das nächste Treffen von Rotary oder Lions stattfand. Alle trugen sie graue Anzüge; die Grauschattierung der Anzüge wechselte mit den Jahreszeiten. Goldene Abzeichen blinkten auf den Revers.

Und dann waren da die Junggesellen, von den Dreißigern aufwärts bis ins Pensionsalter. Sie waren nicht so gut gekleidet wie die Direktoren, trugen oft ihre Arbeitskleidung, aber einige auch Anzüge, die jedoch selten frisch gebügelt waren. Wenn man diese Herren näher betrachtete, wurde deutlich, dass das Hemd auch nicht den ersten Tag in Gebrauch war.

Einige verheiratete Männer im besten Alter wurden während der Mittagspause ebenfalls regelmäßig in der Konditorei gesehen. Das waren Männer, denen nicht im Traum einfallen würde, ihre Frauen irgendetwas zu fragen oder ihnen irgendetwas zu erzählen. Sie taten, was sie wollten. Sie waren nach der letzten Mode gekleidet, und wenn man unter die Tische guckte, konnte man feststellen, dass ihre Schuhe frisch geputzt waren. Sie dachten nicht an ihre Ehefrau, sondern an das Mädchen, das sie als Nächstes verführen wollten. Diese Männer waren oftmals Vertreter, Handelsreisende oder Geschäftsleute, die mit dem Allerneuesten vom Neuen handelten. Sie blieben nur selten lange an einem Ort, lebten ein abwechslungsreiches Leben, und es schien immer, als würden sie ökonomisch keine Sorgen haben.

Abgesehen von den Kellnerinnen waren fast keine Frauen zu sehen. Ausgenommen eine Gruppe Schulmädchen und hier und da eine Frau, die von einem der männlichen Gäste mitgebracht worden war. In der Mittagspause waren die Männer absolut in der Überzahl. Zu anderen Tageszeiten war es gerechter verteilt.

»Was starrst du denn so vor dich hin?«, donnerte ein Orkan von einer Stimme über meinem Kopf, und als ich gleichzeitig einen kräftigen Schlag auf die Schulter bekam, hatte ich keinen Zweifel mehr, wer der Neuankömmling war.

Es war Haraldur, der Wirt des Eyskarið, der im blauen Overall dastand und auf mich herabschaute. Er war ein breitschultriger, kräftiger Mann von Ende vierzig mit einem rotbäckigen Gesicht und Augen, die wie gefrorenes Wasser funkelten. Dunkles Haar und ein Bart, in dem einzelne graue Haare zu finden waren, umrahmten sein Gesicht.

»Ich suche Antwort auf die tiefsten Geheimnisse des Lebens«, erklärte ich ironisch.

»Na, dann bist du hier ja an der richtigen Stelle«, nickte Haraldur und ließ sich von oben auf einen Stuhl fallen.

»Die Konditorei bietet dir ein komplettes Abbild des Lebens, dargestellt als eine eintönige Wüstendurchquerung, bei der sich wie die Jahreszeiten alles wiederholt.«

Ich warf ihm einen Blick über den Tisch zu. Er kugelte sich vor Lachen.

»So drückt ihr Journalisten euch doch immer aus, wenn ihr einen Leitartikel schreibt, oder?« Er erstickte fast an seinem Lachen.

Ich antwortete nicht, schaute nur auf die Sverrisgøta hinaus. Keine Menschenseele.

»Immer mit der Ruhe, nun sei mal nicht beleidigt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, deine Frau hat dich verprügelt. Aber Duruta ist immer noch in Dänemark, oder?«

Ich nickte. Ja, Duruta war in Dänemark und das ließ meine Laune nicht gerade besser werden. Duruta und ich waren seit ein paar Monaten zusammen und jetzt machte sie einen Kursus an der Polizeischule in Kopenhagen. Sie war nämlich Polizistin. Sie würde erst zu Weihnachten wieder zurückkommen.

»Hast du nichts anderes im Kopf als Selbstmitleid?« Haraldurs Stimme klang immer noch spöttisch, aber ich hörte eine Spur Ungeduld heraus.

»Ich denke nicht an Duruta. Und was das Selbstmitleid angeht, so solltest du mich besser kennen.«

»Ja, ja. Aber wie du hier sitzt, siehst du aus wie ein zerlegter Dorsch mit Seeteufelvisage, also muss was los sein.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht ist es das Wetter ... Und dann die Sache mit Páll Hansen. Ich war bei seiner Witwe, aber da habe ich nichts rausgekriegt. Heulen und Zähneklappern. Doch, etwas habe ich erfahren. Páll hat eine Zeit lang für Gaia International gearbeitet, aber das hat sicher nichts mit seinem Tod zu tun.«

»Nee, sicher nicht«, stimmte Haraldur geistesabwesend zu.

»Weißt du was über Gaia International?«, fragte ich.

»Wie bitte, über Gaia?« Haraldur warf den Kopf nach hinten und war wieder voll da. »Nein, nicht viel. Es stand damals eine ganze Menge in der Zeitung, aber ich habe nicht alles gelesen. Wenn man so blöd und gierig ist, in ein Schiff zu investieren, nur um Steuern zu sparen, darf man meinetwegen gern Bankrott gehen. Das nenne ich selbst schuld.«

»Und was ist mit den staatlichen Zuschüssen? Schließlich müssen du und ich dafür geradestehen.«

»Ja, aber ist es nicht immer so? Ich meine, wenn es um Bestechung und Vetternwirtschaft geht, da könnten unsere Politiker noch die sizilianische Mafia beraten.« Haraldur breitete die Arme aus, als wolle er das ganze Lokal umarmen. »Aber weißt du was, lass uns zum Fischen rausfahren. In anderthalb Stunden ist Gezeitenwechsel. Wenn wir wollen, dann jetzt.«

3

»Verflucht, du fasst den Fisch an, als wäre er eine kränkelnde Jungfrau.« Haraldur klemmte seine Angel fest und nahm mir den Schellfisch ab. »Hier, so geht das!«

Er griff mit einem Finger ins Auge, mit dem anderen hinter die Kiemen und dann schnitt er. Er machte das mit einer einzigen Handbewegung, dann warf er den Fisch zu den etwa zwanzig Dorschen und Schellfischen, die wir bereits gefangen hatten. Ein Lengfisch befand sich auch in dem Haufen.

Wir hatten verschiedene Stellen ausprobiert. Wir waren bei Borðan gewesen, um einen Platz zwischen Holið und Kirkjubønes zu finden, doch die Ausbeute war mager. Nur zwei Fische unter der Mindestgröße, die wir wieder ins Wasser warfen; das war alles. Dieser großartige Fang kostete uns zwei Haken, die an dem schorfigen Meeresboden hängen geblieben waren.

Aber jetzt waren wir hier und warfen unsere Angeln aus, was das Zeug hielt. Wir brauchten den Köder nur auf den Grund sinken zu lassen und wieder raufzuziehen. Mehrere Male hatten wir zwei, drei Fische dran. Sie schluckten die Haken und die Köder, ohne zu zögern. So macht das Angeln wirklich Spaß.

Die Stelle war nicht unbekannt. Einige hundert Meter vom Land entfernt in gerader Linie zwischen der Spitze von Kirkjubønes und Glyvursnes. Man wusste nur nie, wann es sich bezahlt machte, es hier zu versuchen.

Eine Viertelstunde später war Schluss mit dem Fangglück. Wir fuhren zurück und versuchten es noch einmal, aber der Fisch war weg, also fuhren wir heim.

Nachdem wir die Rani II in Bakki festgemacht hatten, lud Haraldur mich zu sich ein, damit wir frischen, gekochten Dorsch und Leber zum Abend essen konnten. Er erwähnte auch, dass er Bier und Schnaps im Haus hatte.

Wie die meisten Bewohner der Färöer aßen wir bei laufendem Radio und hörten schweigend die Nachrichten. Eine alte Tradition. Neben den üblichen Berichten über das Elend im Lande und in der Welt war Hauptthema ein Banküberfall oben im Norden, bei Streym. Die Diebe waren durch ein Fenster eingestiegen, und da es keine Alarmanlage gab, konnten sie in aller Seelenruhe den Tresor mit einem Schneidbrenner aufschweißen und sich mit zwei Millionen Kronen wieder davonmachen.

Aus einem Gespräch mit dem Bankdirektor ging hervor, dass man am Sicherheitssystem gespart habe, man jetzt aber in allen Abteilungen Alarmanlagen installieren wolle. Hier hätte ein gewisses Sprichwort gut gepasst, aber der Interviewer meinte vielleicht, dass man lieber kein Salz in die Wunde streuen sollte, deshalb begnügte er sich damit, das Mikrofon zu halten und zu schweigen.

Am Nachmittag hatte man einen jüngeren Mann, einen alten Bekannten der Polizei, aufgegriffen, der am folgenden Morgen dem Richter vorgeführt werden sollte.

»Das hätten wir sein sollen, was?« Haraldur hob sein Schnapsglas: »Prost!« Er leerte es in einem Zug, und auch ich folgte der Landessitte.

»Nein, der Meinung bin ich nicht«, erklärte ich, nachdem der scharfe Nachgeschmack vom Schnaps verschwunden war. »Diese Art von Diebstahl zahlt sich nicht aus. Die Diebe werden fast immer geschnappt, zum einen, weil sie sich dumm anstellen, zum anderen, weil die Gesellschaft alles daransetzt, die Täter zu finden. Wenn du es dagegen wie Gaia machst, dann musst du schon unwahrscheinliches Pech haben, falls überhaupt jemand herausfindet, was da eigentlich vorgegangen ist, und einen Prozess anstrengt. Und wenn es tatsächlich zu einer Anklage kommt und die Staatsanwaltschaft den Prozess gewinnt, dann gibt es einfach nichts zu holen. Die GmbH oder die AG ist Konkurs gegangen. Der Gewinn liegt weit über dem, was du dir bei einem Bankraub jemals beschaffen kannst.«

»Du und deine Gaia.« Haraldur schenkte die Gläser voll. »Geld, Geld, Geld ... Die Leute reden über nichts anderes mehr. Ja, ja, ich weiß nur zu gut, wie es um das Land steht, aber deshalb müssen wir doch nicht die ganze Zeit nur über Geld reden. Wir sind doch keine Dänen!«

Er prostete mir zu und trank und das Gleiche tat ich. Jetzt war es langsam an der Zeit, dafür zu sorgen, dass der Montag nicht fließend ins Wochenende überging. Noch ein paar Schnäpse, und Haraldur und ich würden im Eyskarið enden, in dem wir beide Mitglied waren – das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Der Eyskarið war eigentlich im Sommer bei einem Versuch, mich umzubringen, bis auf die Mauern niedergebrannt, aber während ein neues, schöneres Haus gebaut wurde, war man bei Strond untergekommen. Haraldur war der Wirt des alten Eyskarið gewesen und auch jetzt noch beteiligt, obwohl er nicht mehr so stark im Club engagiert war wie früher. Er hatte angefangen, mit der Rani II auf Fischfang zu gehen – dass die erste Rani auf dem Grund des Meeres landete, daran hatte ich auch meinen Anteil. Ich wusste, dass Haraldur zeitweise unten in Vágsbotnur Fisch verkaufte, aber viel brachte das nicht. Auch wenn die Fische ausgenommen und gesäubert waren, gaben die Leute lieber das Doppelte aus für ein Filet aus irgendeiner Tiefkühltruhe in der Stadt. Das Essen sollte die heutigen so zartbesaiteten Färinger möglichst nicht daran erinnern, wo es herkam. Man wollte es lieber in Plastik eingepackt haben, denn dann sah es ausländischer Ware ähnlich.

Bei Haraldur zu Hause gab es nicht besonders viel, was an das Plastikzeitalter erinnerte. In dem alten Haus auf Reyni war es ziemlich unordentlich, und das war es eigentlich immer, aber es war eine sehr gemütliche Unordnung. Einige Kleidungsstücke waren nicht an Ort und Stelle gehängt – Haraldur war Junggeselle –, aber ansonsten war das Wohnzimmer von seinen Interessen geprägt: Bögen und Bleilote für Angelschnüre – Haraldur goss sie selbst –, ein zerlegtes Jagdgewehr auf dem Couchtisch und auf dem Schreibtisch am Fenster große Aufstellungen für Ahnentafeln.

Ahnenforschung beherrschte das Land wie ein Albtraum und niemand konnte mit erhobenem Haupte herumlaufen, wenn er nicht seine Verwandtschaft mit Heini Havreki oder irgendeinem norwegischen Bischof bewiesen hatte. Nólsoyar-Páll war ein fester Orientierungspunkt in der Ahnenforschung, und das nicht nur für Familien aus Kirkjubø. Die Beharrlichsten hatten sowohl Egil Skallagrimsson als auch König Sverre auf ihrer Seite.

Ich hatte nichts dagegen, dass Haraldur von dieser schrecklichen Seuche befallen war, denn so hatte ich etwas, womit ich ihn ärgern konnte. Ich fragte ihn gern, ob es denn wahr sei, dass er vom Skopper Hansen abstamme, oder ob seine ganze Familie nicht eher türkischer Abstammung sei. Die Schimpfworte, die er mir daraufhin an den Kopf warf, waren eine reichliche Belohnung. Und ich würde mich hüten, ihm ein Wort davon zu erzählen, dass ich Dokumente besaß, die bewiesen, dass ich in direkter Linie vom Kreuzritter und Kirchenwüterer Hans Tausen abstammte.

4

Am Dienstagmorgen um acht Uhr stand ich vor dem Gerichtsgebäude in der Nólsoyar Pálsgøta und wartete darauf, dass sich die Türen zum richterlichen Verhör öffnen würden. Ich war gespannt, den jungen Mann zu sehen, der es fertiggebracht hatte, zwei Millionen aus einer Bank zu stehlen. Wenn er das allein geschafft hatte, dann hatte er es gut hingekriegt.

Die Sonne versuchte, sich durchzusetzen, aber es war noch zu früh am Morgen und deshalb ging ich ein wenig auf und ab, um nicht zu frieren. Der senfgelbe Betonkasten war weder schön noch anziehend, hatte aber diese gewollte Würde, die die Leute dazu bringen soll, sich klein wie die Ameisen zu fühlen.

Ich war am Abend zuvor nicht mehr mit Haraldur in den Eyskarið gegangen. Ich war in meine Kellerwohnung in der Jóannes Paturssonargøta gegangen und hatte kurz vor Mitternacht wie ein Ausbund der Tugend allein in meinem Bett gelegen.

Um halb neun war immer noch nichts geschehen und ich kam mir etwas albern vor, wie ich da vor dem geschlossenen Gerichtsgebäude herumlief. Normalerweise waren die richterlichen Verhöre immer früh am Morgen, aber das konnte in diesem Fall ja geändert worden sein.

Um zehn Minuten vor neun wärmte die Sonne so sehr, dass es zu spüren war. Zwei Journalisten kamen durch die Gasse beim Havnar Klubbi heran. Sie waren deutlich jünger als ich, ungefähr Mitte zwanzig, und eigentlich repräsentierten sie zwei entgegengesetzte Richtungen. Der eine war von der Kirchenzeitung, der andere vom Republikanerblatt, und in ihren Artikeln ließen sie kein gutes Haar am anderen, aber in Bierclubs und anderenorts waren die beiden die besten Freunde. Beide trugen die färöische Nationaltracht: schwarze Lederjacke und blaue Jeans, aber der Blonde war einen Kopf größer als der Dunkle.

»Na, willst du gerichtlich etwas eintragen lassen?«, fragte der Blonde und grinste ironisch durch sein Kassenbrillengestell.

»Wieso?«

»Weiß ich doch nicht. Aber wenn Leute vorm Grundbuchamt warten, bevor es aufmacht, dann haben sie doch wohl etwas auf dem Herzen, oder?«

»Vielleicht hat er ja in eine Aktiengesellschaft eingeheiratet, wer weiß?« Der Dunkle mischte sich ein.

»Nein, das kann nicht sein. Weißt du denn nicht, dass er mit Duruta Danielsen zusammen ist? Dann heiratet er eher irgendwann ins Polizeipräsidium ein.« Sie lachten und gingen um die Ecke in die C. Pløyensgøta.

Woher sollte ich wissen, wo man ins Gerichtsgebäude hineinkam? Als ich in Tórshavn aufwuchs, musste man die Treppen in der Nólsoyar Pálsgøta hinauf, aber das ist natürlich schon ziemlich lange her; vielleicht sollte ich sogar gerührt sein, dass das Haus immer noch als Gerichtsgebäude diente. Ich ging den beiden Scherzbolden hinterher.

Der dunkle, schmächtige Typ – ich wusste, dass er Christian hieß – stand in der Türöffnung und sprach mit irgendjemandem drinnen.

»Es sieht nicht so aus, als ob es ein Verhör gäbe«, rief der Blonde mir zu. Ich ging zu ihm.

»Warum nicht?«

»Das weiß ich nicht. Christian versucht, etwas herauszukriegen, aber selbst er scheitert damit manchmal.«

Im selben Moment zog sich Christian von der Tür zurück und sie wurde geschlossen.

Er schaute nachdenklich in die Luft. »Hier stimmt was nicht«, sagte er wie zu sich selbst. Er blieb einen Augenblick brummend stehen und wippte auf den Fußspitzen. »Kommt, wir gehen zum Polizeipräsidium rüber«, sagte er plötzlich, drehte sich um und ging Richtung Krókabrekka.

Der Blonde und ich folgten ihm.

»Die wollten einfach nichts sagen, überhaupt nichts, und das sieht ihnen gar nicht ähnlich.« Christian redete, während er weitereilte. »Sonst sind sie nicht so geizig mit ihren Informationen, aber in diesem Fall muss ihnen jemand einen Maulkorb verpasst haben, und zwar einen ziemlich engmaschigen.«

Wer weiß, was geschehen ist!

5

Bei der Polizei rückten sie nur ungern mit Informationen heraus, aber das war nichts Besonderes. Christian und Jákup, der Blonde, stritten sich eine Weile mit einem jungen Polizeibeamten und brachten ihn schließlich dazu, den Kriminalkommissar zu holen, Piddi í Ústistova.

Auf diese Begegnung freute ich mich nicht. Man konnte nicht behaupten, dass wir Freunde wären, Piddi und ich, und er hatte mich mehr als einmal als eine Gefahr für anständige Menschen bezeichnet. Aber Pressekonferenzen im Polizeipräsidium in der Jónas Broncksgøta waren nun mal ein Teil meiner Arbeit, deshalb überhörte ich der Einfachheit halber seine Kommentare über meinen schlechten Einfluss auf die Allgemeinheit.

Piddi war in den Fünfzigern, er war grau, mager und hatte ein lebhaftes Temperament, wie viele von Suðuroy. Die Pfeife, mit der er gern herumwedelte, wenn er sich ereiferte oder wütend war, steckte in seinem Mund, als er zu uns herauskam.

»Hört auf, hier draußen herumzugrölen, kommt lieber in mein Büro.« Er ging vor uns über den Flur und blieb an einer offenen Tür stehen: »Bitte schön, gentlemen of the press.« Seine übertrieben höfliche Handbewegung zeigte besser als viele Worte, was er von uns als ›gentlemen‹ hielt.

Als Christian an Piddi vorbeiging, kam es leise, aber deutlich vom Kriminalkommissar: »Dieser verfluchte Alb, der den Färinger tötete – es war das Stinktier ... Die letzten Worte kannst du selbst ergänzen.«

Gab es etwa noch andere außer mir, die er nicht ausstehen konnte? Ich hatte kaum den Gedanken zu Ende gedacht, als Christian erwiderte: »Mein Land hat ein Rabengeschlecht großgezogen – das am liebsten des Nachts ausfliegt.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Piddi wütend.

»Das Gleiche wie du mit deinem Pól F. Joensen«, erwiderte Christian ironisch.

Piddi war an seinen Schreibtisch getreten und blätterte dort in einigen Papieren. Wir setzten uns auf Klappstühle, die an der Wand lehnten. Einen Augenblick lang war es still. Die einzigen Geräusche, die wir hörten, kamen vom Flur.

Piddi räusperte sich. »Ich habe euch nicht hier hereingebeten, damit ihr Gedichte rezitiert ...«

»Du hast damit angefangen«, unterbrach Christian ihn.

Der Wutausbruch ließ nicht lange auf sich warten. »Wenn du nicht die Klappe hältst, und zwar sofort, fliegst du raus und wirst nie wieder deine Füße hier reinsetzen!«

Christian schwieg und starrte zu Boden. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm über den Mund fuhr, deshalb brauchte er sicher alle Selbstbeherrschung, nichts zu erwidern. Jákup dagegen grinste, bis Piddi ihm einen Blick zuwarf. Ich selbst versuchte nach Kräften, so zu tun, als wäre ich gar nicht da.

»Warum sitzt du so da?« Piddi starrte mir direkt in die Augen.

»Ich habe kein Wort gesagt«, erklärte ich, hatte aber gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. So wirkt die Obrigkeit auf die Meisten.

»Genau das kann ich nicht ausstehen, das bedeutet nämlich, dass du irgendwas ausheckst.«

Jetzt begann Piddi, die Papiere auf seinem Schreibtisch neu zu sortieren. Das Oberste kam zuunterst, und was links lag, wurde auf die andere Seite gelegt und umgekehrt. Es war offensichtlich, dass er Zeit schinden wollte.

Die Repräsentanten der Presse schwiegen.

»Petur Kári Magnussen ist tot«, sagte er schließlich. »Wir haben ihn heute Morgen gefunden, in der Zelle erhängt.« Piddi machte mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung, um uns zu stoppen. »Es hat gar keinen Sinn, Fragen zu stellen, denn mehr werdet ihr nicht erfahren.« Er ließ seinen Blick von links nach rechts schweifen und sah uns einzeln an.

»Aber ihr könnt doch die Sache nicht einfach abschließen.« Das war natürlich Christian.

»Doch, das können wir und das werden wir auch tun, und wenn du uns in irgendeiner Weise daran hindern willst, dann werde ich dich persönlich festnehmen und einsperren wegen Behinderung der Polizeiarbeit.«

Christian öffnete seinen Mund und wollte etwas sagen, schluckte es dann aber doch lieber runter. Aber ich sah, dass er sich Notizen machten, also war er offenbar der Meinung, er müsste einer Sache nachgehen.

»Petur Kári Magnussen hat zweifellos den Banküberfall von Streym begangen und er hat sich heute Nacht in seiner Zelle aufgehängt. Warum man ihm nicht den Gürtel abgenommen hat, weiß ich nicht, aber das wird noch untersucht.« Piddi ging zur Tür und öffnete sie: »Wir sind mit Arbeit überlastet, da passieren Fehler. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Wir gingen und die Tür wurde sorgfältig hinter uns geschlossen.

Etwas Gutes konnte man dennoch über diesen Besuch sagen: Piddis Pfeife hatte die ganze Zeit auf dem Tisch gelegen, so waren wir der Gefahr entgangen, im Tabakrauch zu ersticken.

»Und was jetzt?« Jákup schaute Christian fragend an. »Du willst dieses Arschloch doch nicht so einfach davonkommen lassen. Übrigens, das Pól-F.-Zitat, auf deine Zeitung bezogen, das war nicht schlecht.«

»Halt die Klappe! Ist mir doch scheißegal, was Pól F. geschrieben hat! Hier passiert etwas, wovon wir nichts mitkriegen sollen.« Er ging langsam neben Jákup zum Ausgang. Die beiden Kumpel.

Ich wartete, bis sie gegangen waren, danach ging ich in Karl Olsens Büro.

Karl hatte die Beine auf den Tisch gelegt. Er hatte schütteres Haar, braune Augen, war umgänglich, freundlich und hatte schon so manchen harten Burschen mit seinem netten Aussehen reingelegt.

Jetzt lächelte er mich an: »Ich habe Piddi herumschimpfen gehört, darum habe ich mir schon gedacht, dass du herkommen würdest, um mich auszuhorchen. Aber hier gibt es nicht mehr zu erfahren als dort, du kannst dir deine Mühen also sparen.«

»Ich habe auch nicht erwartet, dass du die große Plaudertasche sein würdest, aber wieso um alles in der Welt durfte Petur Kári seinen Gürtel behalten?«

Karl sah nachdenklich drein, dann entschied er sich: »Du erzählst niemandem davon und schreibst auch nichts drüber, okay?« Er machte eine Pause und holte tief Luft. »Der Wachhabende hat erklärt, dass er Petur Kári den Gürtel abgenommen hat. Er schwört es. Wie der Gefangene ihn wiederbekommen hat, das weiß ich nicht. Vielleicht lügt der Wachhabende ja oder er erinnert sich falsch, aber er sagt es so bestimmt, da muss schon was dran sein. Die Sache ist nur die, wenn er recht hat, dann ist da verdammt noch mal etwas oberfaul ...«

6

Daheim in der Kellerwohnung, die ich von einem Freund übernommen hatte, der auf großer Fahrt war, schmierte ich mir zwei Scheiben Brot – es kommt nicht so oft vor, dass ich für mich allein Essen koche – und dachte dabei an Petur Kári Magnussen.

Ein neunzehnjähriger Tórshavner, der alles daransetzte, als ein Versager zu enden. Solche Typen sieht man jeden Tag in den Straßen der Stadt. Abgewetzte Jeans, ungewaschenes, langes Haar und immer eine Flasche in der Hand. Bier, Wein oder ebenso oft: Schnaps irgendeiner Sorte. Wenn sie die Mitte zwanzig überschritten haben, gibt es keinen Weg mehr zurück, auch wenn Knast und Entziehungsheime ihr Äußerstes geben. Meistens sterben sie so früh, dass wir anderen froh sein können, sie nicht länger versorgen oder auf der Straße über sie stolpern zu müssen. Natürlich sind viele der Meinung, man sollte sie auf Fischfang oder zum Arbeiten in den Hafen schicken oder Schlimmeres. Aber das Traurige ist, dass niemand diese traurigen Gestalten haben will, sie sind zu nichts zu gebrauchen, sie schaden nur. Sie taugen nicht als Arbeitskraft, sie haben schon lange sämtliche Energie verbraucht.

Obwohl Petur Kári nicht älter als neunzehn war, gehörte er zur Gruppe der Ausgestoßenen. Seit seinem zwölften Lebensjahr war er nur selten nüchtern gesehen worden und hatte bereits mehrere Male eingesessen. Sein Sündenregister war lang, aber ziemlich unspektakulär. Ein ganz gewöhnliches armes Schwein wie viele andere in Tórshavn. Was diese Menschen betraf, so hatte Pól F. vollkommen recht, als er schrieb: Tórshavn, du warst das Zentrum der Färöer, der Treffpunkt seit Jahrhunderten. Es gab keinen Ort im ganzen Land, der nicht Repräsentanten zu den Tingsitzungen auf den Pissoirs, in den Kaffeestuben, in den Gassen und Ecken geschickt hatte, aber diese Repräsentanten hatten den Fehler, dass sie nie wieder nach Hause kamen.

Das Bild von Petur Kári als Schwerverbrecher hatte also einen entscheidenden Haken. Wie um alles in der Welt sollte so ein Penner in der Lage gewesen sein, sich zwei Millionen anzueignen? Normalerweise war er so benebelt, dass er nicht einmal in der Stadt zurechtkam.

Andere mussten ihre Finger im Spiel gehabt haben. Aber wer?

Warum nicht der Polizei die Sache überlassen, schließlich war es ihr Job. Aber es war auch meiner, deshalb musste ich herausfinden, wer Petur Káris Freunde waren.

Ich verbrachte den Nachmittag beim Blaðið damit herumzutelefonieren, Leute auszufragen und Notizen für die morgige Ausgabe zu schreiben. Auch Sklavenarbeit musste gemacht werden.

Keiner von denen, die ich fragte, wusste viel über die Freunde des Verstorbenen, aber sie nannten mir verschiedene Spitznamen, die ich vielleicht brauchen konnte. Blöder Poul, Weißauge, Zahnspange, Gotteswort vom Lande –das war eine Frau – und der Schiffer auf dem Diwan.