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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das wird wahr Als Kind hat Julian merkwürdige Visionen. Das sind nur Fehlschaltungen im Hirn, sagt seine Therapeutin, bedeutungslose Trugbilder. Und mit den richtigen Medikamenten sind die auch verschwunden. Jahre später wird Julian mit einer schockierenden Erkenntnis konfrontiert. Einige seiner Visionen scheinen wahr geworden zu sein. Sieht er Schatten, die die Zukunft vorauswirft? Könnte er also schlimme Ereignisse verhindern? Oder tritt er damit noch größere Katastrophen los? Was wäre, wenn ... ... die Zukunft in der Gegenwart Spuren hinterlässt? Die Spiegel-Bestsellerautorin präsentiert nach ihren zuletzt erschienenen Bestsellern Erebos 2, Cryptos und Shelter ihren neuen Thriller: Oracle. Ein mitreißenderAll-Age-Thriller über Wahrheit und Visionen zwischen Medizin und Mystery. Ursula Poznanski erzählt hochspannend und voller Wendungen vom Dilemma eines modernen Orakels.
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Seitenzahl: 483
Inhalt
Kapitel 1 – Das Haus roch …
Kapitel 2 – »Du hast es …
Kapitel 3 – Die vier Tage …
Kapitel 4 – Nicht lange danach …
Kapitel 5 – Mit seinen Einkäufen …
Kapitel 6 – Noch besser als …
Kapitel 7 – In die Zukunft …
Kapitel 8 – Am nächsten Morgen …
Kapitel 9 – Zwei Vorlesungen an …
Kapitel 10 – Ein Teil von …
Kapitel 11 – In den nächsten …
Kapitel 12 – Am nächsten Morgen …
Kapitel 13 – Danach war Schlafen …
Kapitel 14 – »Du hast was …
Kapitel 15 – Natürlich meldete sich …
Kapitel 16 – Schon eine halbe …
Kapitel 17 – »Es tut mir …
Kapitel 18 – Wieder eine Vorlesung, …
Kapitel 19 – Als er wieder …
Kapitel 20 – Den ganzen Abend …
Kapitel 21 – Dafür rief Sonja …
Kapitel 22 – Auch am Tag …
Kapitel 23 – Die nächste Darbietung …
Kapitel 24 – »Dein Termin ist …
Kapitel 25 – In einem roten …
Kapitel 26 – Sonja hatte ihn …
Kapitel 27 – Im Bus, auf …
Kapitel 28 – Julian bekam nicht …
Kapitel 29 – Mitten in der …
Kapitel 30 – Zu seiner eigenen …
Kapitel 31 – Der Film, den …
Kapitel 32 – Julian konnte seiner …
Kapitel 33 – Am nächsten Vormittag …
Kapitel 34 – Erst als Robin …
Kapitel 35 – Pias Marker war …
Kapitel 36 – Es hatte sich …
Kapitel 37 – Er ertrug das …
Kapitel 38 – Als Julian sich …
Kapitel 39 – »Sag mir wenigstens, …
Kapitel 40 – Fünfzehn Minuten später …
Kapitel 41 – Er lief den …
Kapitel 42 – Lähmender Schmerz in …
Kapitel 43 – Er schlief schlecht …
Kapitel 44 – Nachdem Robin gegangen …
Kapitel 45 – Als seine Eltern …
1
Das Haus roch nach Putzmittel und angebranntem Toast. Julian hielt den Kopf gesenkt und den Blick starr zu Boden gerichtet; eine Eigenheit, die er sich eigentlich längst abgewöhnt hatte. Nun war der Drang danach plötzlich zurück, das fing ja gut an.
Er zählte die Stufen. Neun, zehn, elf, zwölf. Und noch einmal zwölf bis in die zweite Etage, wo sich sein Zimmer befinden musste.
Seine Tasche wog höchstens zehn Kilo, das meiste hatte er schon vorausgeschickt, nun waren darin nur noch die Dinge, von denen er sich nicht vorab hatte trennen wollen. Vertraute Dinge, die Sicherheit versprachen. Davon gab es nicht sehr viele, deshalb reiste er mit leichtem Gepäck.
»Hey, bist du neu?« Eine weibliche Stimme zu seiner Linken. Helle Sneaker mit roten Schuhbändern, rote Söckchen, die bis zu den Knöcheln reichten. Jeans, ein schlanker, herabhängender Arm, um dessen Handgelenk eine diamantbesetzte Uhr lag. Julians Blick blieb an dieser Uhr hängen. Die musste fake sein.
»Brauchst du Hilfe?«
»Nein danke«, murmelte Julian, den Blick weiterhin gesenkt.
Schau hoch, befahl er sich. Du kannst nicht wieder anfangen, bloß auf Schuhe zu starren. Es ist fast fünf Jahre her, dass zuletzt etwas passiert ist.
»Ich heiße Amelie«, sagte die Stimme. »Du bist sicher Robins neuer Mitbewohner, oder?«
Sie waren oben angekommen, und Julian stellte den Koffer ab. Auch mit gesenktem Kopf konnte er das Mädchen nun bis zur Gürtellinie sehen, die Beine in den Jeans, die seitlich herabhängenden Arme.
Schau hoch, verdammt.
Zögernd hob er den Blick. Sah blaue Augen, Sommersprossen, einen asymmetrisch geschnittenen blonden Schopf. Und eine irritiert in Falten gelegte Stirn, wie so oft.
Er atmete aus und lächelte. »Ich heiße Julian. Und ich soll Zimmer 48 suchen.«
»Sage ich doch.« Das Mädchen deutete in den Gang auf der linken Seite. »Du ziehst bei Robin ein.« Die Art, wie sie den Namen aussprach, ließ Julian denken, dass sie gerne mit ihm getauscht hätte. »Du hast es super erwischt, Robin ist cool, mit ihm wird dir sicher nie langweilig. Aber ich glaube, er ist gerade unterwegs.«
Julian versuchte, sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Sein neuer Mitbewohner war nicht zu Hause, das vereinfachte den Start. Ursprünglich hatte er auf ein Einzelzimmer gehofft, aber das gab es in diesem Studentenheim nicht, und er hatte keine Diskussionen vom Zaun brechen wollen. Seine Eltern waren ohnehin dagegen gewesen, dass er auszog. Okay, nein, Mama war dagegen gewesen. »Warte doch noch ein bisschen«, hatte sie gesagt. »Du bleibst doch sowieso in der Stadt, also warum nicht bei uns?«
Weil er irgendwann lernen musste, sich normal in der Welt zu bewegen, das hatte auch Sonja gesagt, in mehr als nur einer Therapiestunde. Der Beginn des Studiums war ein guter Zeitpunkt dafür, das hatte er seinen Eltern versucht, begreiflich zu machen, und wider Erwarten hatte Papa zugestimmt.
»Hier«, sagte Amelie und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Sie klopfte an die Tür, und als nach ein paar Sekunden keine Antwort kam, drückte sie die Klinke nach unten.
Julian trat über die Schwelle und stellte seine Tasche in die Ecke. Zwei Betten, mit einem Regal als Sichtschutz dazwischen. Zwei Schreibtische, zwei schmale Kleiderschränke, neben einem davon standen seine Umzugskisten.
Es war ganz offensichtlich der Teil des Zimmers frei geworden, der beim Fenster lag, stellte er erleichtert fest. Das war gut. Er würde überraschenden Besuch nicht sofort vor Augen haben.
»Hier vorne ist Robins Bereich«, hörte er Amelie sagen, wieder mit dieser sehnsuchtsvollen Stimme. »Wenn du möchtest, zeige ich dir auch noch, wo die Küche ist?« Amelie war beim vorderen Schreibtisch stehen geblieben, den Blick auf ein Poster gerichtet, das darüber hing. Es zeigte einen riesigen Fisch mit leuchtenden Augen, der durch einen nebeligen Wald flog.
Nebel.
»Die Küche finde ich sicher selbst«, sagte Julian schnell. »Ich werde einfach dem Geruch folgen. Sobald ich ausgepackt habe.«
»Okay.« Amelie deutete zum Fenster. »Mach das vorerst nicht auf, es klemmt, aber Robin kennt da einen speziellen Trick. Und wenn du möchtest – Boris hat heute Geburtstag, wir machen Party ab acht in der Gemeinschaftsküche im ersten Stock. Solltest du nicht verpassen, Boris backt wahnsinnig gute Torten!«
»Danke.« Das Wort kam gepresst heraus, war kaum mehr als ein Flüstern.
Eine Party mit lauter fremden Menschen war nach Julians Verständnis das, was der Hölle am nächsten kam.
Er hob die Tasche auf sein Bett und öffnete sie. Verstaute seine Kleidung im Schrank und das Waschzeug im Badezimmer, auf der linken Seite des Waschbeckens, die frei war.
Die Sachen auf der rechten mussten Robin gehören. Der Rasierer, die Bürste. Der Nagellack. Der Lidschatten.
»Das wird ja bunt«, murmelte Julian vor sich hin, lächelnd. Bunt war gut. Solange das Rot nicht überwog.
Nach etwas mehr als einer Stunde hatte er sich eingerichtet. Den Schrank fertig eingeräumt, das Bett überzogen, das Foto in seinem Messingrahmen ins Regal gestellt. Als Glücksbringer.
Nun wog er die drei Pillenschachteln in der Hand, die ihn über die kommenden Monate bringen sollten. Eigentlich hätte er sie am liebsten versteckt, um erst gar keine Fragen aufkommen zu lassen.
Wozu brauchst du die? Bist du krank?
Aber egal, wie der Typ gestrickt sein würde, mit dem er nun das Zimmer teilte – früher oder später würde er mitbekommen, dass Julian morgens und abends eine Tablette einwarf.
Er verstaute die Schachteln in seiner Schreibtischschublade und stellte sich ans Fenster. Schaute nach draußen, in einen Innenhof mit mehreren Parkbänken. Zwei davon waren besetzt, von insgesamt fünf Leuten, hinter die Julian nun auch einen vorsichtigen grünen Haken machen konnte.
Ob er nach unten gehen und Hallo sagen sollte? Er würde das ohne jede Befürchtung tun und endlich einmal einen unbeschwerten ersten Eindruck hinterlassen können.
In dem Moment, als er sich umwandte, klingelte sein Handy. Sonja, verkündete das Display. Er seufzte, dann nahm er den Anruf entgegen. »Hi. Wenn du wissen möchtest, ob ich es wirklich durchgezogen habe: ja. Koffer ist schon ausgepackt, und bisher hat es noch keine unangenehmen Überraschungen gegeben.«
»Das freut mich wirklich sehr, Julian.« Es war nicht zu überhören, wie erleichtert sie war. »Du machst so große Fortschritte. Du schaffst auch das Treffen nächste Woche.«
Seine Laune sank unmittelbar. Die letzten Stunden über war es ihm gelungen, nicht an die Einladung zu denken, und schon gar nicht daran, dass er sie angenommen hatte, in einem übermütigen Moment.
»Mal sehen«, murmelte er. »Ich habe nichts versprochen.«
»Natürlich nicht«, bestätigte Sonja. »Lass uns in der Stunde noch mal darüber reden. Wir sehen uns Mittwoch?«
»Sicher.« Julian heftete seinen Blick auf das gerahmte Foto im Regal. »Pünktlich um drei.«
Nach dem Gespräch hatte er keine Lust mehr, in den Hof zu gehen. Er machte sich noch ein wenig mit dem Zimmer vertraut, betrachtete lange das eigenartig faszinierende Bild des fliegenden Fischs und den daneben hängenden Banksy-Druck. Eine Ratte, die an einem Fallschirm hing.
Vielleicht sollte er sich auch ein paar Poster zulegen, sein Vorgänger schien welche gehabt zu haben, den kleinen Löchern in der Wand nach zu schließen.
Aber fürs Erste würde Musik genügen, um sich ein Stück Vertrautheit in die neue Umgebung zu holen. Er legte sich aufs Bett, steckte sich die Earbuds in die Ohren und startete seine liebste Playlist. Drei Stunden, die für ihn wie ein akustisches Zuhause waren. Anoana von Heilung fühlte sich jedes Mal an, als hätte jemand ihn, Julian, herangenommen und seine Essenz in Musik übersetzt. Als hätte jemand seinen Ursprung ausfindig gemacht, diesen merkwürdigen Ort, den er niemandem zeigen konnte.
Er musste eingedöst sein, denn als er das nächste Mal genauer hinhörte, war die Playlist schon gut eine halbe Stunde weitergelaufen. Er gähnte, schlug die Augen auf – und riss vor Schreck beide Hände vors Gesicht, denn es stand jemand direkt vor seinem Bett, leicht über ihn gebeugt.
»Ach du Scheiße«, hörte er undeutlich durch die immer noch laufende Musik. Julian nahm die Hände von den Augen, die er aber immer noch geschlossen hielt, während er sich die Kopfhörer aus den Ohren zog.
»Sag bloß, du bist einer von dieser Sorte«, hörte er die Stimme von vorhin. Sie klang halb neugierig, halb verächtlich. »Dann wird das nichts mit uns.«
Einer von dieser Sorte? Konnte der Typ schon wissen, was mit Julian los war? »Wie meinst du das?«, fragte er und hob langsam die Lider, hielt den Blick aber an die Wand gerichtet.
»Frag doch nicht so. Ich kriege ja viele alberne Reaktionen, aber du kannst mich nicht einmal ansehen. Habe ich in der Form noch nicht erlebt, ehrlich gesagt.«
»Ich bin nur erschrocken.« Woraufhin sofort die alten Reflexe wieder eingesetzt hatten. Ausgerechnet bei seinem künftigen Mitbewohner.
»Verstehe«, sagte der andere angriffslustig. »Wovor denn genau? Vor meinem Make-up oder meinem Outfit?«
Julian atmete langsam aus und drehte sich um. »Ist mir beides wirklich egal.« Er musste es wieder schaffen, auf die Wirkung seiner Medikamente zu vertrauen, das hatte doch bis vor Kurzem gut geklappt. Und auch jetzt, bei dieser neuen Begegnung, war wieder alles in Ordnung. Der Blick in den Augen seines Gegenübers war zwar wütend, aber klar. Klar war auch, warum Julians Reaktion ihn so aufbrachte; er hatte sicher nicht übertrieben, was die Ablehnung betraf, auf die er regelmäßig stoßen musste. Was für eine Erscheinung.
»Du bist Robin, oder?«, versuchte Julian die Situation zu retten. Er stand auf, lächelte, so breit er konnte. »Ich heiße Julian, und bin wirklich einfach nur erschrocken, als ich aufgewacht bin.«
Robin stand da, mit vor der Brust verschränkten Armen. Optisch eine Mischung aus Diva und schottischem Highlander, mit schulterlangem, dunklen Haar, schwarz umrandeten Augen, Faltenrock, breiten Lederarmbändern und einem tief ausgeschnittenen Glitzershirt, das den Blick auf die Hälfte eines Brusttattoos freigab. »Du hast dir die Augen zugehalten«, sagte er.
»Ich schwöre, das hat nichts mit dir zu tun. Ich bin nur …« Wie sollte er das ausdrücken? »Ich bin ziemlich leicht zu erschrecken. Kann sein, dass du so etwas noch ein paarmal sehen wirst, und dann wird es andere Leute betreffen.«
Robin schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen. Er setzte sich rittlings auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und stützte die Arme auf die Rückenlehne. »Interessant. Woran liegt das?«
So direkt kam die Frage selten, aber Julian dachte nicht daran, einem Fremden Dinge anzuvertrauen, die außer seiner Familie und seiner Therapeutin niemand wusste. Er druckste ein wenig herum. »Generalisierte Angststörung«, sagte er dann, so, als fiele es ihm schwer, das zuzugeben. »Wird leider ziemlich leicht getriggert. Neue Umgebungen und neue Menschen sind schwierig für mich.«
Der harte Ausdruck in Robins Gesicht wich einer bestürzten Miene. »Oh Mist, das tut mir leid! Hätte ich das gewusst, hätten wir bestimmt einen besseren Start hingelegt.« Er schob eines seiner Armbänder höher. »Und ich hätte dich nicht in die falsche Schublade gesteckt. Tut mir leid.«
Ein guter Zeitpunkt, um gleich noch eine Information loszuwerden. »Ich nehme Medikamente, die helfen meistens.« Er stand auf und warf wieder einen Blick aus dem Fenster, doch nun saß niemand mehr im Hof. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt.
»Das heißt aber, du kommst heute eher nicht zu Boris’ Geburtstag?«, hörte er Robin sagen. »Wäre nämlich eine gute Gelegenheit, die anderen kennenzulernen.«
»Nein«, antwortete Julian ohne jedes Bedauern. »Wenn ich die Wahl zwischen Zahnarzt und einer Party habe, nehme ich den Zahnarzt.«
Robin verzog schmerzhaft das Gesicht. »Na gut. Aber wenn du willst, bringe ich dir ein Stück vom Kuchen. Boris backt selbst, und seine Torten sind legendär. Wäre ich mit ihm im Zimmer, bräuchte ich längst neue Sachen.« Er zupfte am Bund seines Rocks.
Julian lächelte, die Party besuchte er trotzdem nicht. Aber in den nächsten Tagen spielte sich das Zusammenleben mit Robin besser ein, als er vermutet hatte. Sie hatten einen ähnlichen Musikgeschmack und streamten die gleichen Serien.
Gleichzeitig rückte das Klassentreffen näher. Jeden Tag nahm Julian sich vor, abzusagen. Und tat es dann doch nicht.
2
»Du hast es ihm nicht erklärt?« Sonja saß Julian gegenüber, ihre vertraute, rundliche Gestalt mit der graublonden Hochsteckfrisur und dem unvermeidlichen Rollkragenpullover leicht vorgebeugt.
»Ich habe gesagt, es wäre eine generalisierte Angststörung«, gab Julian zurück. »Sind zwar andere Symptome, aber er hat es geglaubt. Klingt auch besser als Psychose.«
Sonjas freundlicher Blick ließ ihn keinen Moment lang los. »Hast du den Umzug gut überstanden? Irgendwelche Vorfälle?«
Er war froh, dass sie Vorfälle und nicht Anfälle sagte. Seit er dreizehn gewesen war, hatte Sonja für ihn so etwas wie einen Rettungsanker dargestellt, in einer Welt, die ihn ständig erschreckte. Die ihm Dinge vorgaukelte, die andere nicht sahen, weil sie schlicht und einfach nicht da waren.
»Nein«, antwortete er. »Keine Vorfälle. Aber manchmal rechne ich immer noch damit, jetzt beim Einzug zum Beispiel war’s wieder ein Thema.« Er lächelte halbherzig. »Hat aber auch Vorteile, wenn man immer nur nach unten starrt. Du glaubst gar nicht, wie viele Münzen ich früher gefunden habe. Und ich bin absolut nie in Hundescheiße getreten.«
Er hoffte, Sonja damit zum Lachen zu bringen und den Moment hinauszuzögern, in dem sie das Treffen wieder ansprechen würde. Aber sie kannte ihn einfach zu gut. »Versuche doch, auf den Fortschritt zu vertrauen, den du gemacht hast. Die Trugbilder sind seit Jahren fort, es gibt keinen Grund mehr, den Menschen nicht ins Gesicht zu schauen.«
»Tue ich ja«, verteidigte er sich. »Meistens. Nur manchmal brauche ich eben noch Anlauf. Aber es wird immer besser, ganz ehrlich.« Halb ehrlich, gestand er sich ein. Seit er bei den Eltern ausgezogen war, kostete es ihn wieder mehr Kraft, Menschen anzusehen, sein Herzschlag beschleunigte sich und, meistens ballte er die Hände zu Fäusten, bevor er den Kopf hob.
»Ich weiß, Julian. Du bewältigst das alles sehr gut. Und dein Umzug ins Studentenheim ist ein Quantensprung.« Sie hielt inne. »Du schaffst auch dieses Klassentreffen.«
So, da war es, das Thema. Das verdammte Klassentreffen, der totale Albtraum. »Ich will dich nicht enttäuschen, aber ich fühle mich noch nicht bereit dafür. Die halten mich doch alle für einen Freak, und man kann es ihnen echt nicht übel nehmen.«
Sonja schüttelte leicht den Kopf. »Du hast seit fünf Jahren niemanden von ihnen gesehen, und ihr seid alle älter geworden. Ich denke, die meisten schämen sich dafür, dass sie dich damals ausgegrenzt haben. Du würdest ihnen und dir selbst einen Gefallen tun, wenn du dieses Kapitel zu einem guten Abschluss bringst.«
Sie sagte das nicht zum ersten Mal, und Julian wusste, dass sie recht hatte. Nur änderte das nichts daran, dass seine schlimmsten Erinnerungen eng mit einigen seiner damaligen Mitschüler verknüpft waren. Und Mitschülerinnen, wie zum Beispiel Verena, die er nie zur Gänze gesehen hatte. Immer nur von der Gürtellinie aufwärts, der Rest war hinter einer wabernden roten Wolke verborgen gewesen, einem verschmierten Etwas, auf dem sie gewissermaßen dahingeschwebt war. Oder Lars, aus dessen Augen ebenso viel weißer Nebel gequollen war wie Gemeinheiten aus seinem Mund. Hanno, mit dem schwarzen Keil, der die Mitte seines Gesichts verbarg und seinen Brustkorb zu spalten schien.
Julian fragte sich immer noch, ob es ihm je gelungen war, seinen Eltern oder Sonja wirklich klarzumachen, wie furchtbar diese Visionen für ihn gewesen waren. Wie angsteinflößend, obwohl dabei nichts Schockierendes im herkömmlichen Sinn passiert war. Nichts, was in einen Horrorfilm gepasst hätte, trotzdem war er immer wieder in Tränen ausgebrochen, hatte sich in Toiletten und Schränken versteckt. Hatte einige Male laut geschrien, wenn plötzlich jemand vor ihm gestanden hatte, der eines dieser Zeichen trug.
Livias Mutter zum Beispiel, die bloß ihre Tochter von der Schule abgeholt hatte, und mit freundlichem Lächeln auf ihn zugekommen war, während wurmartige Schatten sich um ihre Brust gewunden hatten.
Von allen diesen Trugbildern ging etwas Bedrohliches aus, manchmal war es ein Vibrieren und, wenn Julian länger hinsah, ein Ton, so tief, dass er ihn mehr spürte als hörte. Ein Grollen, als würde etwas aus dem Kern der Erde ihn rufen.
Der sechsjährige Julian hatte sich bei diesen Gelegenheiten weinend und schreiend zu Boden geworfen. Der zwölfjährige sich die Innenseite seiner Wangen blutig gebissen, die Augen zusammengekniffen und die Tränen zurückgedrängt.
Nun war er achtzehn, und seit viereinhalb Jahren herrschte Ruhe, aber die Erinnerungen waren immer noch Furcht einflößend nah, und in seinen Träumen kehrten die Schatten und Nebel regelmäßig wieder. Die Marker, wie er sie nannte. Seltener allerdings. Bei der letzten Sitzung hatte Sonja die Idee in den Raum gestellt, dass eine Wiederbegegnung mit den Leuten aus seiner Schulklasse ein weiterer wichtiger Schritt sein konnte, den Schrecken von früher ihre Macht zu nehmen.
Was vermutlich stimmte. Aber Julian graute bei der Vorstellung, wieder in diese Gesichter blicken zu müssen, die sich von ihm abgewandt oder zu spöttischen Grimassen verzogen hatten, während er heulend in einer Ecke gekauert hatte.
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte er jetzt. »Und eigentlich möchte ich nicht hingehen. Mir wäre es lieber, das Kapitel allein abzuschließen. Nur für mich.«
Sonja nickte. »Ist dir das denn bisher gelungen?«
Nein. Nein, war es nicht. Aber mit der Zeit würden die Erinnerungen verblassen, nicht wahr? Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass ihn die gleichen Albträume auch mit dreißig noch heimsuchen würden. Das war einfach undenkbar.
»Ich überlege es mir noch einmal«, sagte er voller Widerwillen. Was gelogen war, er hatte seine Entscheidung getroffen. Zu neunzig Prozent jedenfalls.
Zurück im Studentenheim fand er einen Fremden im Zimmer vor, allerdings einen, der ihm keinerlei Schrecken einjagte. Auf seinem Bett lag ein Hund, ein semmelfarbener Terrier mit Klappohren, der bloß bedächtig den Kopf hob, als Julian eintrat. Anstalten, den in Besitz genommenen Platz zu verlassen, machte er keine.
Julian setzte sich neben ihn und ließ ihn an seiner Hand schnuppern, was der Hund ausgiebig tat. Dabei lief einmal etwas wie ein Zucken durch seinen Körper, und er drückte die kalte Nase fester gegen Julians Haut, nur um unmittelbar danach den Kopf auf dessen Oberschenkel zu legen und sich kraulen zu lassen.
Er würde es Robin nicht sagen, doch hätte Julian die Wahl gehabt, hätte er den Hund als Mitbewohner eventuell vorgezogen. Schon nach ein paar Minuten fühlte er sich so entspannt wie seit Tagen nicht mehr. Waren Tiere im Studentenheim überhaupt erlaubt?
Es dauerte nicht lange, bis es an der Tür klopfte. »Hallo!«, rief eine weibliche Stimme von draußen. »Pia hier! Ist Kinski bei euch?«
Der Hund hatte den Kopf gehoben und seufzte. Er seufzte tatsächlich, rührte sich aber keinen Zentimeter vom Fleck.
»Kinski, hm?« Julian strich über eines der samtweichen Knickohren. »Ich fürchte, ich muss dich verraten.« Doch das erledigte Kinski ganz allein. Er bellte zweimal, und die Tür öffnete sich.
Geradeaus schauen, befahl Julian sich selbst. Nicht nach unten, einfach normal dahin, wo jetzt gleich jemand auftauchen wird. Das Kapitel abschließen.
Er schaffte, was er sich vorgenommen hatte, doch offenbar konnte man ihm die Anstrengung am Gesicht ablesen, denn das Mädchen, das ins Zimmer trat, setzte sofort zu einer Entschuldigung an.
»Tut mir leid, wenn er dich gestört hat! Kinski! Du sollst doch nicht aufs Bett. Komm her, Köter, unfolgsamer!« Sie klopfte mit den Händen auf ihre Oberschenkel und ging in die Hocke. Kinski rappelte sich hoch, erneut seufzend. Dann sprang er vom Bett und ließ sich von seiner Besitzerin in die Arme schließen. Wobei Besitzerin der falsche Ausdruck war, fand Julian. Es machte nicht den Eindruck, als ließe Kinski sich besitzen, auch nicht von diesem Mädchen, das seine Aufmerksamkeit nun Julian zugewandt hatte.
»Wir kennen uns noch nicht, oder? Aber du bist Robins neuer Mitbewohner?«
»Ja.« Er war vom Bett aufgestanden. »Julian.« Es klang merkwürdig stolz, als fände er seinen Namen besonders toll, dabei freute er sich nur darüber, diese neue Bekanntschaft gewissermaßen unfallfrei hinbekommen zu haben.
»Pia«, sagte sie im gleichen Ton und zog eine Augenbraue hoch. Erst jetzt, aus der Nähe, sah Julian, dass eben diese Augenbrauen eigentlich Tattoos waren. Elegante Vögel, die ihre Schwingen ausbreiteten. Jeder davon hatte ein Piercing als goldenen Ring um den Hals. Pias dunkles, kinnlanges Haar lag eng an Kopf und Nacken an, nass und nach Kokosshampoo duftend.
Sie anzusehen tat auf eigenartige Weise gut; Julian konnte kaum noch damit aufhören. Wenn ich nicht ich wäre, dachte er, würde ich jetzt etwas Witziges sagen. Sie zum Lachen bringen. Nicht wie ein Stock hier stehen und sie anstarren. Dann würde ich sogar noch mehr tun als das. Sie fragen, wo hier das netteste Café zu finden ist. Und sie dorthin einladen.
Pia interpretierte sein Schweigen offenbar als Verärgerung. »Noch mal, tut mir leid, dass Kinski sich einfach hier breitgemacht hat. Leider hat der den Kniff raus, wie man Türen öffnet, und wer nicht abschließt, bekommt dann Besuch von ihm.«
Lächle, du Idiot, sagte Julian sich und zog die Mundwinkel nach oben, während er den Hund mit neuem Respekt musterte. »Wieso heißt er Kinski?«
»Weil er als Welpe eine ähnliche Frisur hatte wie der Schauspieler und dauernd beleidigt gekläfft hat.« Sie richtete sich auf. »Wenn Robin zurückkommt, sag ihm bitte, ich wüsste vielleicht einen Job für ihn.« Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um. »Guten Semesterstart wünsche ich dir. Fängst du jetzt erst an? Im Sommersemester?«
»Ja.«
»Uff, quer einsteigen soll mühsam sein. Was studierst du?«
»Alte Geschichte.«
»Wirklich? Warum?« Sie zog eine Grimasse. »Tut mir leid, so entsetzt sollte das nicht rüberkommen. Es interessiert sich eben jeder für etwas anderes.«
»Ja«, sagte er, dabei war das nur die halbe Wahrheit. Wichtiger war ihm gewesen, ein Studium zu finden, bei dem nicht mit überfüllten Hörsälen zu rechnen war, sondern die Veranstaltungen in kleinen Seminarräumen und überschaubaren Gruppen stattfinden würden. »Und was studierst du?«
»Wirtschaftsinformatik.« Sie warf Kinski, der unauffällig versuchte, zurück in Richtung Bett zu schleichen, einen strafenden Blick zu. »Ich muss jetzt auch wieder. Hat mich gefreut, Julian. Und falls mein Hund wieder bei dir auftaucht, ich wohne einen Stock tiefer, Zimmer 22.«
Die Begegnung ließ Julian mit dem Gefühl zurück, eine Hürde übersprungen zu haben. Pia hatte ihn nicht seltsam gefunden – abgesehen von seiner gewählten Studienrichtung. Sie hatte ihn nicht gefragt, was mit ihm nicht stimmte, und hatte ihn auch nicht mit diesem mitleidigen Blick bedacht, den er so gut kannte und so sehr hasste.
Ein kleiner Erfolg, aber – ein Erfolg.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, sagte er sich, aus dem Zimmer bei seinen Eltern auszuziehen, in dem er sich jede freie Minute gewissermaßen verbarrikadiert hatte und das für ihn der einzig sichere Ort der Welt gewesen war. Eine gute Entscheidung. Er musste sich jetzt einfach nur noch an die anderen Menschen gewöhnen.
Er fegte ein paar Hundehaare vom Bett und setzte sich im Schneidersitz ans Fußende. Betrachtete das Foto im Regal und lächelte der alten Frau darauf zu. »Ich kriege das hin«, sagte er.
Der nächste Schritt würde der in die Gemeinschaftsküche sein, die er zu den belebten Zeiten bisher gemieden hatte. Er würde sich in den abendlichen Trubel wagen und die Leute geradeheraus ansehen, anstatt die Bodenfliesen zu betrachten.
Und danach … tja. Vielleicht würde er es tatsächlich wagen, sich auf dem Klassentreffen zu zeigen. Schließlich würde er nicht lange bleiben müssen. Er konnte einfach hingehen, erzählen, dass es ihm viel besser ging als früher, mit zwei oder drei Leuten plaudern und dann wieder verschwinden. Eine halbe Stunde, die seinen Blick auf die Welt endgültig ändern könnte. Die den Schrecken von früher vielleicht ihre Macht nahm, so, wie Sonja gesagt hatte.
3
Die vier Tage bis zum Wochenende waren so ermutigend verlaufen, dass Julian am Samstagmorgen kaum Nervosität verspürte. Er hatte die letzten zwei Tage mit unterschiedlichen Leuten in der Küche gemeinsam gekocht, gegessen und gelacht, er hatte seine ersten drei Univeranstaltungen hinter sich gebracht und sogar mit Robin das Café zwei Straßen weiter besucht. Und einmal hatte er, gemeinsam mit Pia, Kinski spazieren geführt. Was er insgeheim als Höhepunkt der Woche betrachtete.
Leicht war es nicht gewesen, seine Reflexe dauerhaft zu unterdrücken. Nicht automatisch wegzusehen, wenn jemand Neues ins Blickfeld kam. Jedes Mal hatte es Julian Kraft gekostet. Aber keinem der Menschen, denen er begegnet war, war weißer Nebel aus den Augen gequollen, niemandem hatte ein Keil Kopf oder Brust gespalten. Keine Schattenwürmer, keine Schlangen, keine roten Wolken – kein einziger Marker. Auch kein Grollen aus der Tiefe. Julian war erleichtert, gleichzeitig aber auch wütend auf sich selbst – weil er es nicht schon früher gewagt hatte, seinen Ängsten mit erhobenem Kopf entgegenzutreten. Im wahrsten Sinn des Wortes.
Und nun würde er den letzten Schritt tun, vielleicht würde danach ja wirklich alles normal werden, zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte. Er würde dieses Klassentreffen besuchen und sich dort verhalten wie alle anderen. Vielleicht würde er sogar etwas Ähnliches wie Spaß haben.
Am frühen Nachmittag allerdings kehrten die Zweifel zurück. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine ehemalige Klasse ihn nur deshalb eingeladen hatte, um sich nach fünf Jahren noch einmal über ihn lustig machen zu können, erschien ihm von Minute zu Minute größer. Was sollte sich denn schon geändert haben? Es war Zeit vergangen, mehr nicht. Die Leute waren älter geworden und würden ihn daher wohl nicht mehr geradeheraus auslachen, dafür aber sicher hinter seinem Rücken tuscheln.
Niemand war damals mit ihm befreundet gewesen, sie konnten ihn also nur aus Neugierde wiedersehen wollen. Um zu sehen, wie Julian, der Psycho, heute so tickte.
Er stand am Fenster und blickte in den Hof hinunter, nervös wippend, bis Robin die Arbeit, die er für seine Germanistik-Übung schrieb, unterbrach und sich einmischte. »Deine kribbeligen Vibes schwappen bis hierher. Kann ich etwas für dich tun?«
Julian wandte sich um. Robin hatte sich vom Computer weggedreht; er trug heute Zebraleggins und einen schwarzen Rollkragenpulli mit einer langen Kette aus silbrig schimmernden Perlen um den Hals.
»Ich glaube nicht. Es ist dieses Klassentreffen. Ich habe mir fest vorgenommen, hinzugehen, aber vielleicht drücke ich mich doch.«
»Das kannst du natürlich machen. Wenn deine Angststörung dich zu fest im Griff hat.« Robin schlug die Beine übereinander. »Bei mir war’s vor einem halben Jahr genauso. Das erste Klassentreffen nach dem Abschluss. Ich habe keine Diagnose, so wie du, und hab mir trotzdem fast ins Hemd gemacht. War vor dem Termin tagelang fertig, weil die Leute aus meiner Schule mich nur in Jeans und Durchschnittshirts kannten – was bei uns nicht anders ging, katholische Privatschule und so.« Er grinste. »Ich dachte die ganze Zeit: Wenn ich dort auftauche, dann ohne irgendeinen blöden Kompromiss. Sondern mit Make-up und allem Drum und Dran. Meine damalige Freundin meinte, ich hätte sie nicht mehr alle, aber am Ende habe ich es durchgezogen.« Er musste Julian das Erstaunen vom Gesicht abgelesen haben, denn er lachte auf. »Ja, ich hatte eine Freundin. Davor hatte ich einen Freund. Ich bin ein Glückskind, ich kann mich in Menschen aller Geschlechter verknallen.«
»Ich … habe doch gar nichts gesagt.«
»Aber gedacht. Ist schon okay, damit haben wir das Thema auch abgehakt. Jedenfalls war dieses Treffen dann ein echter Knaller; zuerst hat mich niemand erkannt. Danach kamen ein paar saudumme Witzchen, und dann war das Thema durch. Am Ende des Abends war es wie früher, wir haben über unsere alten Lehrer gesprochen und den Mist, den wir während der Schulzeit gebaut haben.«
Julian nickte, als würde die Geschichte ihm helfen. Leider war ihm mehr als bewusst, dass seine Situation sich mit der von Robin nicht vergleichen ließ. Es würde keine witzigen gemeinsamen Erinnerungen geben. Er würde als totaler Outsider bei dem Treffen auftauchen und bloß versuchen zu beweisen, dass er nicht mehr so drauf war wie vor fünf Jahren.
Im Unterschied zu ihm strahlte Robin eine Art von Selbstbewusstsein aus, das kugelsicher wirkte. Egal wie die anderen reagiert hätten, er wäre damit klargekommen, hätte ihnen notfalls den Finger gezeigt und wäre dann seines Weges gegangen. Hätte das Feld als Sieger verlassen, auf die eine oder andere Art.
Julian hatte in seinem ganzen Leben noch keine Schlacht gewonnen. Je näher der Abend rückte, desto heftiger überfielen ihn die Erinnerungen an die drei Jahre, die er in dieser Klasse verbracht hatte.
Eigentlich musste er überhaupt nicht absagen. Er würde einfach nicht auftauchen.
Dass er kurz vor sieben doch vor dem Gartenlokal am Stadtrand stand, überraschte ihn beinahe selbst. Über die Schwelle zu treten hatte er bisher allerdings nicht gewagt. Sobald jemand ihn entdeckte, hatte er seine Chance auf einen Rückzug verspielt. Jetzt konnte er noch kehrtmachen, den Bus zurück nehmen und sich im Wohnheim verkriechen. Vielleicht mit Kinski eine Runde durch den Park drehen, so wie am Vortag. Niemand hier würde ihn vermissen oder …
»Julian? Bist du das?«
Er fuhr herum, hätte beinahe schon wieder das Kinn zur Brust gedrückt, so wie früher. Stattdessen wurde aus der Bewegung ein unbeholfenes Nicken, als er sich zwang, wieder nach oben zu schauen.
War das Matilda, die ihn angesprochen hatte? Ja, auf den zweiten Blick erkannte er sie. Sie trug das Haar zwar nur noch schulterlang und war – seitdem er sie zuletzt gesehen hatte – gut zehn Zentimeter gewachsen, aber die blauen Augen und die Sommersprossen waren unverkennbar.
»Cool, dass du wirklich gekommen bist!«, sagte sie und drückte seine Hand. Seine eiskalte, schweißnasse Hand. »Ich weiß nicht, ob ich an deiner Stelle Lust dazu gehabt hätte. Wir waren damals ein bescheuerter, unreifer Haufen.«
»Ach, na ja«, brachte er mühsam hervor und fühlte, wie Erleichterung sich in ihm breitmachte. Mit dreizehn war Matilda ein ruhiges, schüchternes Mädchen gewesen, jetzt strahlte sie freundliche Entschlossenheit aus. Das war ermutigend. Vielleicht hatten die anderen sich ebenso stark verändert? Hatten ihre Gehässigkeit abgelegt und der Abend würde nett werden?
Er ließ Matilda nicht aus den Augen. An ihr hatte er nie einen der beunruhigenden Marker entdeckt, also ließ sich auch nicht sagen, ob er verschwunden war.
»Du siehst wirklich gut aus«, sagte sie. »Und hey, kann ich mich gleich dafür entschuldigen, wie fies wir uns damals benommen haben? Das wollte ich dir schon längst sagen.«
»Na ja«, entgegnete Julian, »ich kann mir schon vorstellen, dass ich euch damals erschreckt habe.«
»Trotzdem«, beharrte Matilda. »Wir hätten nie so mit dir umspringen dürfen.« Sie nahm ihn am Arm. »Wollen wir reingehen? Ein paar Leute sind sicher schon da.«
Mit ihr gemeinsam aufzutauchen würde es einfacher machen, die Aufmerksamkeit würde sich nicht auf ihn allein richten. Trotzdem waren seine Schritte unsicher, als sie den Biergarten betraten. Am hinteren Ende, in der Nähe des Zauns, erahnte er bereits ihr Ziel, einen langen Tisch, an dem die Plätze erst knapp zur Hälfte besetzt waren. Und dort, den Blick voller Erwartung auf ihn gerichtet, erkannte er Lars. Lars mit den Nebelaugen, der nun die Hand hob und winkte.
Hätte Matilda ihn nicht mit sich gezogen, Julian wäre stehen geblieben, möglicherweise wäre er sogar umgekehrt. Lars war der gewesen, der ihm das Leben am schwersten gemacht hatte. Auf dessen Konto die fiesesten Spitznamen und die gemeinsten Scherze gegangen waren.
Während er Schritt für Schritt näher ging und nach den schmutzigen Nebelfetzen Ausschau hielt, die immer aus Lars’ Augen gequollen waren, fragte er sich, wie er sich gleich verhalten sollte. Locker Hallo sagen, zu jemandem, vor dem man sich weinend am Boden gewunden hatte? Lars ignorieren?
Das wäre Julian am liebsten gewesen, aber er hatte seine Zweifel, dass es klappen würde. Denn Lars war bereits aufgestanden. Er musste fast zwei Meter groß sein, war noch dünner als zu Schulzeiten und hatte das vertraute breite Grinsen aufgesetzt, das neben seinen Zähnen auch viel zu viel Zahnfleisch zeigte.
»Das ist doch Julian, oder? Ich wusste, du würdest dich nicht drücken!« Er blickte über die Schulter zurück. »Hab ich’s nicht gesagt, Pfanni? Ich habe dir gesagt, Julian kommt!«
Was Pfanni, der eigentlich Jannik hieß, darauf antwortete, bekam Julian nicht mit. Zum allerersten Mal konnte er Lars in die Augen sehen und stellte fest, dass sie grün waren. Keine Spur der Nebelschwaden, die sie sonst immer abgesondert hatten und die sich über den Klassenraum gelegt hatten wie über ein Novembermoor.
»Hey«, brachte er krächzend hervor.
Lars klopfte ihm auf den Rücken, eine Spur zu fest vielleicht. »Setz dich her, Alter! Gut siehst du aus, ganz anders als früher. Was willst du trinken?«
Julian sank auf den angebotenen Stuhl, orderte Cola und ließ seinen Blick über die Runde wandern. Da war Hanno, der gerade aus vollem Hals lachte, über etwas, das Kathrin ihm erzählte. Es war auch hauptsächlich dieses Lachen, an dem Julian ihn erkannte. Er betrachtete forschend sein Gesicht, in dem jetzt kein schwarzer Keil mehr steckte, der es halb verbarg. Hannos Nase hatte Julian sich immer größer vorgestellt. Weniger aufgebogen.
»Wie ist es dir gegangen, die letzten Jahre?« Matilda hatte sich auf den freien Stuhl neben ihn gesetzt. »Hast du einen Schulabschluss gemacht?«
Er nickte. »An einer Privatschule mit winzigen Klassen. Seit ich die richtigen Medikamente bekomme, habe ich diese Episoden eigentlich nicht mehr, trotzdem war es so einfacher für mich. Waren lauter nette Leute.«
Hatte das jetzt wie ein Vorwurf geklungen? Als hätte er anders als ihr sagen wollen?
Matilda schien es jedenfalls so aufzufassen. »Ich weiß, wir haben dich scheußlich behandelt, das tut mir extrem leid. Den anderen auch.« Sie warf Lars einen scharfen, auffordernden Blick zu.
»Total«, sagte der gedehnt. »Aber wir haben auch nie kapiert, was eigentlich mit dir los war.« Er riss den Mund auf und wedelte wild mit den Händen, als wollte er einen Schwarm Wespen vertreiben. »Geht weg, nein, bitte, verschwindet!«, rief er mit künstlich in die Höhe geschraubter Stimme. »Nebel, oh nein! Nebel!«
Julian senkte den Blick. Genau so etwas hatte er befürchtet, und es wunderte ihn kein Stück, dass es natürlich Lars war, der die erste Gelegenheit wahrnahm, um ihn lächerlich zu machen.
»Halt dich zurück, du Idiot!«, fauchte Matilda ihn an, gleichzeitig versetzte Pfanni ihm einen groben Rempler in die Rippen.
»Wenn du bloß wieder ein Arschloch sein willst, geh am besten gleich«, fuhr er ihn an. Und, an Matilda gewandt: »Ich habe von Anfang an gesagt, es wäre besser, Lars nichts von dem Treffen zu erzählen.«
»Jetzt seid doch nicht so, ist ja nicht böse gemeint«, trat Lars unmittelbar den Rückzug an. »Ist nur Spaß. Ich tu ihm doch nichts, dem Julian.« Er lächelte ihn an. Es sollte kumpelhaft wirken. Herzlich. »Wenn ich dich beleidigt habe, tut es mir leid, okay? Das gilt auch für meine Witzchen in der Schule. Aber ich wäre gar nicht so gewesen, wenn du dich nicht von Anfang an vor mir versteckt hättest. Obwohl ich dir doch gar nichts getan hatte. Irgendwie war das auch ziemlich gemein.«
Kein Marker mehr an Lars, trotzdem fiel es Julian schwer, den Blickkontakt zu halten, denn die falsche Freundlichkeit, die aus seinen Augen strahlte, war nur wenig besser als die Nebel. Er würde ihm keine Details anvertrauen, wieso auch, sondern seine Erklärung allgemein halten, so, wie er sie sich am Vormittag zurechtgelegt hatte. Denn dass die Frage früher oder später aufkommen würde, war ihm klar gewesen.
»Ich habe immer wieder Trugbilder gesehen«, murmelte er. »Die haben mich ziemlich erschreckt, vor allem, weil niemand sonst sie sehen konnte. Und weil sie irgendwie … unheimlich waren. Aber das ist vorbei.«
»Uuuuh«, machte Lars. »Deshalb hast du mir das eine Mal so wild übers Gesicht gewischt? Um ein Trugbild wegzuputzen? Was war denn da?«
Der Typ konnte ihn kreuzweise. Julian zwang sich zu einem Lächeln, hielt diesmal den Blickkontakt. »Weiß ich nicht mehr genau. Nichts Schönes jedenfalls.«
Lars lachte, wie er früher gelacht hatte. »Insekten vielleicht? Kakerlaken? Das wäre cool gewesen, oder? Horrorfilmmäßig, aaaaahhhh!« Er verdrehte die Augen und tat, als würden Stromschläge ihn schütteln.
»Du bist so bescheuert!« Matildas Stimme triefte vor Verachtung.
»Ach, seid nicht so humorlos!«, lachte Lars und griff nach seinem Glas. »Wenigstens war ihm nie langweilig während des Unterrichts. Notfalls konnte er sich immer seine Spuk-Show reinziehen.«
Julian nickte, weniger aus Höflichkeit als in der Hoffnung, dass Lars dann die Klappe halten würde. Bisher verlief der Abend relativ erträglich, immerhin waren seine schlimmsten Befürchtungen nicht eingetreten: Niemand trug noch die Schatten von damals mit sich herum und fast alle verhielten sich ihm gegenüber fair. Sonja hatte recht gehabt: Mit ein bisschen Glück würde er den Mist aus der Schulzeit abhaken können.
Großes Hallo unterbrach ihn in seinen Gedanken, als Hanna eintraf, in die damals die halbe Klasse verknallt gewesen war. Sie drückte ihn und erklärte ausführlich, wie froh sie war, dass es ihm besser ging, dann setzte sie sich zu Yassin und Astrid.
Um den Tisch herum formten sich Grüppchen, und es waren fast dieselben wie früher. Julian sah auf die Uhr, wenn er in einer halben Stunde aufbrach, würde es nicht mehr wie Flucht wirken, und …
Wieder laute Begrüßungen, diesmal sprang auch Matilda von ihrem Stuhl auf. »Verena, wie schön, dass du es geschafft hast!«
Einen Moment lang war Julian irritiert, er konnte Verena nicht entdecken – dann erst begriff er, dass er den Blick senken musste. Dass ihr Kopf nicht auf gleicher Höhe mit den Köpfen derer war, die aufgestanden waren, um sie zu begrüßen.
»Hey, Julian!« Sie kam auf ihn zu und so wie früher, wie mit zwölf oder dreizehn, schnürte es ihm die Kehle zu. Damals hatte er von ihr nie mehr als den Kopf und den Oberkörper gesehen. Ihre Beine waren von beweglichen roten Schlieren verdeckt gewesen, die gelegentlich etwas ausflockten und kleine Teile durch den Raum schweben ließen. Wenn einer davon auf ihn zutrieb, hatte Julian sich geduckt oder versucht, ihn mit den Händen wegzuscheuchen.
Nun konnte er Verenas Beine sehen, doch wie es schien, konnte sie sie nicht mehr gebrauchen. Sie saß im Rollstuhl, den sie ebenso elegant auf ihn zusteuerte, wie sie früher ihr Skateboard über den Schulhof manövriert hatte.
Die Hand, die sie ihm hinstreckte, ergriff er mit Verzögerung, was sie sagte, bekam er nur zur Hälfte mit. Das ist Zufall, sagte er sich, Zufall, nichts weiter. Der rote Nebel kann sie nicht gelähmt, ihre Beine nicht zerstört haben. Das ist unmöglich.
Seine Reaktion entging Verena natürlich nicht, obwohl er versuchte, eine neutrale Miene aufzusetzen. Aber eben nicht schnell genug.
»Dir hat keiner davon erzählt, oder?« Der Blick unter ihren zusammengezogenen Brauen war hart.
»Nein.« Warum musste seine Stimme zittern, ausgerechnet jetzt? Er atmete durch. Beschloss, nicht um den heißen Brei herumzureden. »Wie ist das passiert?«
»Kletterunfall.« Sie lächelte, doch es war nicht zu übersehen, wie viel Überwindung sie das kostete. »Ich war zwar mit einem Seil gesichert, aber der Haken hat sich gelöst.« Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Und wie geht es dir?«
»Mir? Ganz … ähm, okay. Wann war das denn?«
»Vor zwei Jahren. Sommercamp mit dem Kletterclub, Dolomiten.«
Es war Julian bewusst, dass er Verena auf eine Art anstarrte, die wahrscheinlich aufdringlich wirkte. Er riss seinen Blick los und richtete ihn zu Boden, wie er es gewohnt war. »Tut mir sehr leid«, brachte er mühsam heraus.
»Danke.« Er konnte sehen, wie ihre Hände nach den Rädern des Rollstuhls griffen und ihn ein Stück zurückfahren ließen. »Ich suche mir jetzt einen Platz, okay?«, sagte sie. »Wir sprechen uns später sicher noch.«
Sie wollte weg von ihm, wofür er volles Verständnis hatte; er war selbst froh, nicht durch das Chaos seiner wirren Gedanken hindurch ein Gespräch simulieren zu müssen.
Ein Kletterunfall.
Das war doch vor fünf Jahren nicht vorauszusehen gewesen, oder? Die roten Schlieren hatten nichts damit zu tun gehabt, die waren ein Produkt seines eigenen verqueren Hirns gewesen.
Es musste schlimm für Verena sein, sie hatte immer zu den Sportlichsten an der Schule gehört, hatte Tennisturniere in ihrer Altersklasse ebenso gewonnen wie Radrennen und Schwimmwettbewerbe.
Jetzt saß sie bei Yassin, und wenn Julian aus den Gesprächsfetzen, die zu ihm herüberwehten, die richtigen Schlüsse zog, trainierte sie für die Paralympics.
Er schloss die Augen. Rief sie sich als Dreizehnjährige in Erinnerung, das Mädchen, das nur aus einem Oberkörper bestand und auf einer verschmierten, schmutzig roten Wolke durch die Schulräume glitt.
Natürlich ein Zufall. Wenn auch einer der seltsamen Art. Aber hätte diese Wahnvorstellung etwas zu bedeuten gehabt, dann würde das Gleiche doch ebenso für das schwarze Gebilde gelten, hinter dem Hannos Kopf immer halb verschwunden war. Und Hanno war völlig in Ordnung, er unterhielt sich mit Chris und schilderte ihm irgendein Fußballmatch, bei dem er ein Tor geschossen hatte.
»Alles okay?«
Julian fuhr herum, er hatte Matildas Anwesenheit fast vergessen. Sie wirkte besorgt. »Wenn noch mal jemand dir dumm kommt …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Das ist es nicht. Ich wusste bloß nichts von Verenas Unfall.«
»Ach so. Ja, das hat uns damals alle schockiert. Sie hätte fast nicht überlebt, aber jetzt kommt sie wirklich gut mit ihrer Situation zurecht.«
Die Kellnerin war an den Tisch getreten. Julian beschränkte sich darauf, Cola zu bestellen, nach Essen war ihm nicht zumute. »Und … Hanno geht es gut?«, erkundigte er sich, nachdem die Bedienung weitergegangen war.
»Hanno?« Matilda warf einen Blick zum anderen Ende des Tisches. »Ja, warum denn nicht? Sieht jedenfalls ganz danach aus, oder? Er studiert Architektur und postet in unserer WhatsApp-Gruppe ständig Fotos von Motorradausflügen. Aber gesehen habe ich ihn seit unserem Abschluss höchstens zwei- oder dreimal.« Sie legte den Kopf schief. »Warum fragst du?«
»Nur so.« Julian versuchte sich zu erinnern, wer sonst noch von seinen Visionen betroffen gewesen war. Ein Mädchen aus der Parallelklasse, dessen Namen er nicht mehr wusste oder nie gewusst hatte. Ein paar andere Schülerinnen und Schüler, die meisten älter als er und nur flüchtige Begegnungen. Und … Livias Mutter. Er blickte sich um. Livia hatte er in der Klasse mit am längsten gekannt, seit der Grundschule schon, aber bei dem Treffen war sie bisher noch nicht aufgetaucht. Als er Matilda nach ihr fragte, seufzte sie, bevor sie antwortete.
»Sie ist weggezogen«, erklärte sie, »ungefähr ein Jahr nachdem du die Schule verlassen hattest. Ihre Mutter ist gestorben und ihr Vater hat einen Job in einer anderen Stadt angenommen. Ich folge ihr auf Instagram, aber sie postet nicht viel.«
Alles was auf »ihre Mutter ist gestorben« gefolgt war, hatte Julian kaum mitbekommen. Hatte er nur noch wie durch Watte gehört.
Er konnte sich gut erinnern, wie sehr ihr Anblick ihn jedes Mal erschreckt hatte. Dabei war Livias Mutter freundlich gewesen, hatte ihn immer angelächelt und ihn zu beruhigen versucht.
Und nun war sie gestorben. Er würde nicht fragen, woran. Es spielte keine Rolle, viel wichtiger war, dass er es jetzt schaffte, sich selbst davon zu überzeugen, dass auch das nur Zufall war. Dass die wurmartigen Schatten nicht den Tod der Frau angekündigt hatten. Sondern Wahnvorstellungen gewesen waren, so wie alle anderen seiner Visionen. Fehlschaltungen in seinem Hirnstoffwechsel.
»Hast du sie gut gekannt?« Sein Gesichtsausdruck musste Bände sprechen, denn Matilda klang bestürzt und gleichzeitig so, als würde sie sich gern dafür ohrfeigen, ihm diese schlechte Nachricht ohne Vorwarnung hingeknallt zu haben.
Dabei hatte es sie gegeben, die Vorwarnung, und sie war es, die Julian nun so sehr aus dem Gleichgewicht brachte.
Nein, ermahnte er sich selbst. Das ist Quatsch. Es hat keine Warnungen gegeben, keine Vorzeichen, nichts Derartiges. Nur bedeutungslose Trugbilder. Symptome einer Psychose. Wenn es anders wäre, wären sie ja nicht durch die Medikamente verschwunden, oder?
Aber was wusste er schon. Er griff nach seinem Glas, stellte es aber sofort wieder ab, als er sah, wie sehr es in seiner Hand zitterte. Wenn Matilda etwas sagte, nickte er nur, ohne wirklich zuzuhören. Dafür konnte er nicht aufhören, Hanno anzustarren, der es irgendwann bemerkte und ihm den Rücken zuwandte.
Dafür wandte Lars sich ihm erneut zu. »Erzähl doch einmal«, sagte er, »wie es dir die letzten Jahre gegangen ist. Stimmt es, dass du in der geschlossenen Abteilung warst?«
Das Lauern in seinem Blick war Julian früher immer verborgen geblieben, trotzdem wirkte es nun vertraut. »Nein«, gab er zurück. »Ich war in stationärer Behandlung und später regelmäßig in der Tagesklinik. Aber das ist schon wieder eine ganze Zeit her.«
»Hast du Elektroschocks gekriegt?«
In Lars’ Augen flackerte es, und das war fast so verstörend, wie es früher die grauweißen Schwaden gewesen waren. Der Unterschied bestand darin, dass Julian nicht mehr der Einzige war, der es sah.
»Elektroschocks kriegt heute keiner mehr!«, ging Matilda dazwischen und schüttelte den Kopf, als Lars’ Mundwinkel nach unten wanderten. »Das tut dir leid, seh ich das richtig? Boah, ich hätte fast vergessen, warum ich dich noch nie ausstehen konnte.«
»Ach was.« Er schob seine Lippe vor wie ein schmollendes Kind und tätschelte Matildas Arm. »Tu nicht so, du liebst mich doch.«
Mit einer energischen Bewegung wich sie seiner Hand aus. »Du erinnerst dich, was wir vereinbart haben? Wir alle?«
Sie musste es nicht aussprechen, Julian verstand es auch so. Es hatte also etwas wie einen Seid-nett-zu-Julian-Pakt gegeben, sicher über die erwähnte WhatsApp-Gruppe der Klasse, von der er noch nie ein Teil gewesen war. Und alle hielten sich daran, nur Lars konnte nicht aus seiner Haut.
»Ich tue ihm doch nichts«, verteidigte er sich. »Ich interessiere mich für ihn! Ich will doch nur wissen, was ihm damals eigentlich so viel Angst gemacht hat.« Er hielt kurz inne. »Ganz ehrlich? Ich fand es eben nicht witzig, dass er jedes Mal fast geheult hat, wenn ich bloß in seine Richtung geschaut habe, und ich wüsste gern den Grund dafür.«
Das konnte Julian sogar verstehen, aber da hatte Lars leider Pech gehabt. »Ein paar der Trugbilder waren ganz eng mit dir verknüpft«, sagte er. »Das ist weder deine Schuld noch meine, das war eben so. Damals.«
Natürlich wollte Lars wissen, wie diese Trugbilder ausgesehen hatten. Er fing wieder mit den Insekten an, danach schlug er Vampirzähne vor. Gab Zombielaute von sich.
Julian lächelte höflich, gab aber keine weiteren Erklärungen ab, und nach ein paar Minuten verlor Lars das Interesse. Er nahm sein Glas und setzte sich ans andere Ende des Tisches, zu Maja, die ihn schon immer angehimmelt hatte.
Matilda schob gedankenverloren ein paar Krümel auf der Tischplatte zusammen. »Darf ich dich etwas fragen? Du musst mir nicht antworten, wenn es zu persönlich ist.«
Er hätte gern Nein gesagt, aber er wollte Matilda einen Gefallen tun, nachdem sie sich so für ihn ins Zeug gelegt hatte. »Okay. Was willst du wissen?«
»Die Trugbilder«, sagte sie, »waren die immer mit bestimmten Menschen verbunden? So wie mit Lars?«
»Ja.«
Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Schien einige Sekunden zu überlegen, ob sie weiterfragen sollte. »Mit mir auch?«
Er war froh, sie beruhigen zu können. »Nein, bei dir war nie etwas.«
Langsames Nicken. »Aber … bei Verena?«
Das war der Gedanke, den er so gerne von sich schieben wollte. Und nun zog auch Matilda einen Zusammenhang in Betracht. Den es nicht geben konnte. Nicht geben durfte.
»Ich frage nur deshalb«, fügte sie hastig hinzu, »weil du so schockiert ausgesehen hast, als sie im Rollstuhl hereingekommen ist. Also … als wäre da mehr als die Betroffenheit über ihren Unfall.« Matilda wirkte, als würde sie es bereits heftig bereuen, das Thema angeschnitten zu haben. »Mehr so, als hättest du einen Geist gesehen«, fügte sie hastig hinzu. »Sorry, es geht mich nichts an. Ich wollte nicht einen auf Lars machen.«
»Schon okay«, murmelte Julian. »Stimmt auch, bei Verena habe ich eines dieser Trugbilder gesehen. Aber ich glaube nicht, dass es da einen Zusammenhang gibt.«
»Nein, natürlich nicht«, stimmte Matilda ihm zu. Ein bisschen zu schnell vielleicht. »Das wäre ja völlig verrückt.«
4
Nicht lange danach brach Julian auf, und obwohl einige ihm zuriefen, dass es doch noch früh war und sie noch gar keine Gelegenheit für eine Unterhaltung gehabt hatten, spürte er, wie froh sie alle im Grunde waren, dass er ging.
Aber ihre Erleichterung konnte nicht mehr als ein schwaches Echo seiner eigenen sein. Kaum war er auf der Straße, beschleunigte er seine Schritte, hastete durch den späten Abend, ohne nach rechts oder links zu schauen.
Herzukommen war ein Fehler gewesen. Jedenfalls dann, wenn es sein Ziel gewesen war, mit seiner alten Schulzeit abzuschließen. Das war gründlich in die Hose gegangen, seine früheren Mitschüler beschäftigten ihn nun mehr denn je.
Die Mitschülerinnen, genauer gesagt. Oder noch exakter: Verena.
Alles an ihr, was für ihn früher rot verwischt und wie stümperhaft übermalt gewirkt hatte, war nun gelähmt. Angenommen, er hätte ihr damals gesagt, was er sah. Und wie sehr es ihn mit Angst erfüllte. Würde sie dann heute noch auf beiden Beinen stehen? Laufen können, tanzen, klettern?
Er versuchte, sich diesen Gedanken zu verbieten, denn natürlich wusste er, dass es nur seine Krankheit gewesen war, die ihn all diese Dinge sehen hatte lassen. Aber die Bilder ließen sich nicht vertreiben, legten sich übereinander.
Verena mit dreizehn, ständig in Bewegung, dahingleitend auf ihrer wabernden Wolke. Und heute Verena im Rollstuhl, immer noch in Bewegung, aber so, so anders.
Julian blieb stehen, als ihm klar wurde, dass er in die falsche Richtung unterwegs war. Doch gleich da vorne sah er eine Straßenbahnhaltestelle, an der eine Linie hielt, die ihn fast bis zum Wohnheim bringen würde.
Außer ihm wartete dort niemand. Er setzte sich auf die Bank, holte sein Handy hervor und rief Sonja an.
Am Montag stand er schon vor acht Uhr an ihrer Praxis, innerlich wie ausgehöhlt, nachdem er in den vergangenen beiden Nächten kaum geschlafen hatte. Seine Stimme am Telefon musste alarmierend geklungen haben, denn Sonja hatte ihm sofort eine Notfallsitzung angeboten. Gleich am Morgen, als ersten Termin des Tages.
»Erzähl«, sagte sie, als sie sich gegenübersaßen, in diesem vertrauten Raum, der Julian heute trotzdem wie fremd war, so, wie seine ganze Welt eine neue Schattierung angenommen hatte. Kaum sichtbar, mehr fühlbar.
Er heftete seinen Blick an das Bild an der Wand. Sonnenblumen. Blauer Himmel. »Ich war vorgestern auf dem Klassentreffen.«
»Warst du das? Gut. Wie ist es gelaufen?«
Julian hatte das halbe Wochenende lang überlegt, wie er am besten in Worte fassen sollte, was passiert war. Er hatte Sätze formuliert und wieder verworfen, denn keiner ließ das, was er erlebt hatte, vernünftig klingen. Oder harmlos.
»Es war … schwierig«, sagte er. »Obwohl die Leute fast alle nett waren. Und ich keine Marker gesehen habe. Aber …«
Sonja nickte ihm ermutigend zu. »Aber?«
Alles in ihm sträubte sich dagegen, es laut auszusprechen. Was man aussprach, holte man in die Realität, denn dann wusste noch jemand anderer davon, und man konnte nicht mehr so tun, als wäre alles normal.
Er merkte, dass er seine Hände zu Fäusten geballt hatte, und lockerte sie. »Du weißt noch, was ich dir von Verena erzählt habe?«
»Ja, natürlich. Verena war das Mädchen, das du immer auf dieser roten Wolke hast schweben sehen. Das Mädchen ohne Beine.«
»Genau.« Er holte tief Luft. »Sie war vorgestern da. Und … sie sitzt seit zwei Jahren im Rollstuhl.« Er wartete auf Sonjas Reaktion, auf ein Luftschnappen, zumindest auf ein Zusammenziehen der Augenbrauen, doch sie blickte ihn weiterhin nur ruhig an. »Das tut mir leid«, sagte sie.
»Verstehst du nicht?«, rief Julian. »Ihre Beine sind gelähmt. Die Beine, die für mich immer hinter rotem Rauch verschwunden sind, oder hinter etwas wie rotem Matsch. Nur bei ihr. Und nur sie hatte diesen Unfall, und …«
Er wusste nicht, wie er den Satz fortführen sollte, ohne dass er bescheuert klang.
»Und du hältst einen Zusammenhang für möglich?« Immer noch wirkte Sonja völlig ungerührt.
»Das weiß ich eben nicht.« Dieses flaue Gefühl im Magen, das Julian seit gestern nicht loswurde, verstärkte sich. »Ich würde es ja gerne als Zufall abtun, aber da war noch etwas. Livias Mutter. Von ihr habe ich auch viel gesprochen, damals.«
»Ja. Die Frau, bei der du diese Wurmschatten gesehen hast, die in sie hinein- und aus ihr herausgekrochen sind.«
»Genau. Sie ist tot. Sie ist – nicht lange nachdem ich die Schule verlassen habe – gestorben, und Livia ist mit ihrem Vater weggezogen. Woran sie gestorben ist, weiß ich nicht.« Er hielt kurz inne. »Ich habe mich nicht zu fragen getraut.«
Immer noch wirkte Sonja nicht beunruhigt. Eher bekümmert. »Was sind deine Gedanken dazu, Julian?«
Diese Frage hatte sie ihm schon so oft gestellt, in so vielen Zusammenhängen. Er blickte wieder an ihr vorbei.
Sonnenblumen.
»Ich könnte mir vorstellen, dass eines mit dem anderen zu tun hat«, sagte er.
»Du denkst, die Schatten haben Livias Mutter getötet?«
»Nein. Ich … ich denke eher, die Schatten haben etwas angezeigt. Etwas, das passieren würde, etwas Schlimmes. Deshalb haben sie mir immer solche Angst gemacht.«
Diesmal dauerte es ein wenig länger, bis Sonja etwas entgegnete. »Bei Verena war es ein Unfall, der ihr zugestoßen ist, nicht wahr?«
»Ja. Vor zwei Jahren.«
»Und du denkst, es ist möglich, dass du von diesem Unfall schon drei Jahre vorher gewusst hast?«
Er hob die Schultern. »Nein, eigentlich nicht. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Zufall ist.«
Sie blätterte kurz in ihren Unterlagen. »War denn Hanno auch bei dem Treffen?«
Julian wusste, was jetzt kommen würde. Seufzte. »Ja.«
»Bei ihm hast du immer ein schwarzes Gebilde quer über seinem Gesicht und Oberkörper wahrgenommen. Hat sich davon auch etwas in der Realität niedergeschlagen?«
»Nein.«
Sie nickte. Schob ihre Notizen beiseite. »Wenn man wollte, könnte man das als beruhigendes Zeichen werten, findest du nicht? Und doch Zufall als Erklärung akzeptieren. Denn wenn es einen Zusammenhang gäbe, müsste der doch in allen Fällen wirksam werden, oder?«
Stimmt, dachte Julian. Außer, man kann die Marker wieder loswerden. Aber das weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts mehr.
»Wenn deine Theorie stimmen würde«, fuhr Sonja fort, »hieße das, du könntest zukünftige Ereignisse vorhersehen. Es gibt aber keine einzige wissenschaftlich fundierte Beobachtung, nach der das möglich wäre.« Sie lächelte ihm zu. »Es geht einfach nicht. Du sagtest, Verena hätte einen Kletterunfall gehabt. Wie hätte das schon drei Jahre vorher feststehen sollen? Was, wenn sie an diesem Tag gar nicht klettern gegangen wäre, weil das Wetter schlecht war? Denkst du, der Unfall wäre trotzdem passiert? An einem anderen Tag, auf eine andere Art?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Julian. Er fühlte sich kraftlos.
»Und wie ist es mit den Menschen, bei denen du früher keine Zeichen bemerkt hast? Sind die alle noch gesund und wohlbehalten?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte er, stellte aber Sekunden später fest, dass das nicht stimmte. An Tante Wilma hatte er nie auch nur den Hauch eines Schattens wahrgenommen, trotzdem war sie im vergangenen März gestorben. Mit siebenundachtzig Jahren.
Und Oma …
An sie zu denken tat immer noch weh. Seine Verbündete, seine beste Freundin mit dem verschmitzten Zwinkern in den Augen. Auch sie war gegangen, ohne dass er je etwas Verstörendes an ihr bemerkt hatte. Sie hatte ihn verstanden und er sie, während alle anderen ihnen beiden diese bequemen Stempel aufgedrückt hatten. Verrückt in seinem Fall. Dement in ihrem.
»Ich glaube nicht, dass Anlass besteht, sich Sorgen zu machen«, sagte Sonja mit ihrer warmen Stimme, mit der sie so oft die Dinge an den richtigen Platz rückte. »Du siehst seit Jahren keine Marker mehr. Lass dir jetzt nicht von etwas Neuem Angst machen. Schon gar nicht von etwas, das wirklich ins Reich der Fantasie gehört.«
Das Reich der Fantasie war eigentlich ein Ort, an dem Julian sich sehr zu Hause fühlte. In den Büchern und Filmen, die immer seine Fluchtorte gewesen waren, gab es Geister, Dämonen und Magie. Unerklärliches musste nicht medizinisch behandelt werden, im Gegenteil, es tauchte immer ein Jemand auf, der dem Außenseiter eine Hand auf die Schulter legte und ihm mitteilte, dass er etwas Besonderes war. Der ihm zeigte, wie er mit seinen Fähigkeiten umgehen sollte. Eine Lehrmeisterin oder ein Lehrmeister, die den Ausgestoßenen unter ihre Fittiche nahmen.
Als er elf oder zwölf gewesen war, hatte Julian sich fast jeden Abend in solche Geschichten hineinfantasiert und sich immer wieder gesagt, dass auch die Figuren in den Büchern vor Angst nicht schlafen konnten. Insgeheim hatte er gehofft, dass bald jemand vor der Tür stehen würde, um ihn in einen geheimen Zirkel aufzunehmen. In die Gemeinschaft derer, die mehr sahen als die anderen.
Aber er hatte nur Oma gehabt, die als Einzige immer nickte, wenn er von Schattenwürmern und Nebelaugen gesprochen hatte.
»Vor denen musst du dich in Acht nehmen«, hatte sie verschwörerisch geflüstert. »Vor Nebelaugen und weißen Krähen!«
Dazu hatte sie ihn mit Marzipan gefüttert und gemeinsam mit ihm Kinderprogramm geschaut. Julian war nicht irritiert gewesen, wenn sie sich jedes Mal beim Auftreten von Cartoon-Löwen die Augen zugehalten hatte. Jeder fürchtete sich eben vor etwas anderem.
Aber seine Eltern hatten immer mehr Bedenken angemeldet, wenn er allein bei ihr zu Besuch war. Und dann war sie ohnehin ins Pflegeheim gekommen. Doch der Duft nach Marzipan war ihr geblieben, bis zum Schluss.
Julian glaubte, es auch jetzt zu riechen, während er auf seinem Bett saß, ihr Foto in der Hand. Er hatte überlegt, ob er es wirklich ins Studentenheim mitnehmen sollte, dann aber beschlossen, dass es ihm egal war, ob die anderen sich darüber lustig machen würden. Der Anblick des faltigen Gesichts mit den hellwachen Augen beruhigte ihn.