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Kriegen sich zwei - oder nicht - sind das die Liebesgeschichten, die gemeint sind? Natürlich nicht! Liebe ist mehr. Liebe ist überall. Marianne Koch schreibt von den flüchtigen Begegnungen und forschenden Beobachtungen, von der großen Liebe, die ein paar Stunden oder ein paar Jahre dauert, von der Sorge um die verletzte Kinderseele, von der Demut vor den Tieren, von den leisen Untertönen im lauten Alltag ... Und dann ist da noch der liebende Orpheus, der für einen Riss in der Realität des stupiden Büro-Alltags sorgt.
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Seitenzahl: 171
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Auf dieser Erde wird Energie zum Tod gebracht.
Wir werden alle als Todesmanifestation materialisiert. Und bekommen dafür einen spannenden Ausgleich: Ein Leben.
Ein herrliches, ein überraschendes, ein kräfte-zehrendes oder verzweifeltes Leben. Wir werden hin und her geworfen. Nicht immer haben wir die Wahl. Manchmal schon. Auch haben wir die große Chance, mit anderem Leben, mit jeder Lebensform in Verbindung zu treten. Dies ist das einzige Geschenk, das wir auf dem Weg zum Tod bekommen.
Wir sollten es annehmen.
Alles, was daraus entsteht ist: Liebe.
Marianne Koch
Marianne Koch studierte Literaturwissenschaft und Pädagogik. Sie arbeitet als Sonderpädagogin in der Integration mit behinderten Kindern. Sie schreibt, seit sie schreiben kann; wird mit 80 richtig gut sein. Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Buchstäblich“ der Schreibwerkstatt Essen und in der dort von Herbert Somplatzki herausgegebenen Anthologie „Zeitzeichen“. 2010 erschien „Hin und weg“ - Reisebilder, lyrische Prosa. 2012 erschien ihr Gedichtband „Muss alles sein“.
Die Geschichte „Der Mann am Weg“ entstand im Jahr 2013 in Zusammenarbeit mit dem Wittener Künstler und Autoren Wolfgang Busch, 1948 – 2014. Auch die Arabeske am Ende jeder Geschichte ist ein Linolschnitt von Wolfgang Busch.
Danke, Wolfgang!
Für alles!
Auf See
Das Klavier
Das magische Dreieck
Dein Todesjahr fängt an
Der Mann am Weg
Der Nachbar
Du
Geradeaus laufen
Giacomos Mantel
Herkunft
Immer wieder die Zeit
Karneval
Orpheus in der Arbeitswelt
Portrait eines Kindes
Sieben Tage
Short message story
Testament
Traum und Wirklichkeit
Und dann kommt wohl die Polizei
Wahrheit
Als ein blitzender Morgen aufging, erfüllt von Salzgeruch und dem Rauschen der See, ahnten das die Passagiere im Schlafsaal zweiter Klasse noch nicht. Betäubt vom eintönigen Brummen der Schiffsmotoren, müde und die Glieder steif vom flüchtigen Schlaf in harten Sesseln, öffneten sie vorsichtig die Augen und sahen sich im Dämmerlicht verstohlen um. Fremd waren sie im fremden Raum und mieden die Blicke von Fremden. Die Intimität des Schlafes brauchte ein wenig Gewahrsam, man rutschte tiefer in den Sessel. In solcher halb verborgenen Lage ließ man Tag und Wachen langsam aufsteigen. Erst später, wenn das Licht auch in den Schiffsbauch drang, würden sie wie Auferstandene umhergehen und einander ansehen.
Im Erwachen hatte die Frau einen flüchtigen Rundblick gewagt und im Halbdunkel den Blick eines Fremden wahrgenommen. Ihr Kopf sank zurück in die Sessellehne. Der Schlaf verabschiedete sich langsam. Sie öffnete wieder die Augen. Der Mann grüßte nickend, lächelnd, und ihr schien, in einem Einverständnis über die Absurdität dieser intimen, doch fremd sich anfühlenden Gemeinsamkeit. Es war eine Freude, eine kleine, beruhigende Freude.
Jetzt erhob sich eine leise Kinderstimme, jemand stolperte fluchend über ein sperriges Spielzeug. Ein grüner Vorhang wurde von einem Fenster gezogen, und über alle warf die Sonne ihr zwingendes Licht.
Nun wurden Decken zurückgeschlagen. Die Frau atmete tief ein, stand auf und das freundliche Gesicht war wieder da, nicht weit von ihr. Der Mann bot an, ein Frühstück herbeizuschaffen. Tee oder Kaffee? Brioche? Tee. Sie bekam Tee und der Mann verabschiedete sich, winkte ab beim Angebot des Frühstücksgeldes. Seine Frage war natürlich eine Einladung gewesen. Sie wusste, dass ein Beharren auf ihrer Seite eine Beleidigung gewesen wäre, bedankte sich, nahm ihr Frühstück entgegen und er ging.
Der allgemeine Aufbruch war fortgeschritten. Waschlappen fuhren durch Gesichter schreiender Kinder, einige Kleine, frisch gekämmte, rappelten mit Dreirädchen durch die Gänge. Man machte ihnen großzügig Platz, erinnert zwar an ihre nervenaufreibende Herrschaft über den Saal am vorangegangenen Abend, doch die Erinnerung wieder vergessen gemacht durch die wenigen Stunden ihres wundersam tiefen Schlafes, den sie hingebreitet über Mutter- und Großmutterschöße verbracht hatten. Menschenschlangen wuchsen und schwanhden wieder vor Toiletten- und Duschräumen. Zertretene Kaffee- und Teebecher sammelten sich auf dem Fußboden. Der rothaarige Steward war auch wieder da. Goldkettchen im Ausschnitt des weit offenen Hemdes, enge Hose - hatte er sich in der Nacht redlich bemüht, sie in seine Kabine zu schwatzen. Er grüßte von weitem mit beiden Händen winkend. Dass seine nächtlichen Verführungskünste auf dem Oberdeck vergeblich geblieben waren, beeinträchtigte seine Fröhlichkeit nicht.
Manchmal trauerte die Frau regelrecht darum, dass sie in dergleichen Situationen nur das Theaterhafte sehen konnte, das Mühsame der männlichen Eitelkeit, das zu gleichen Teilen komisch und traurig war. Aber die Ahnung davon, dass auch er selbst das gar nicht wahrzunehmen gewillt war, was an seinem Spiel ernsthaft und im Wortsinn persönlich war, dass letztlich seine heraufbeschworene Romantik unterm Sternenhimmel ein bewusstes Spiel, eine menschliche Komödie sein wollte, das versöhnte sie mit ihm und mit sich selbst. Er war weit davon entfernt, ihre Abweisung übelzunehmen, wusste er doch, mit welchen Risiken bei seinem Spiel zu rechnen war. „Bretter, die die Welt bedeuten“, dachte sie und musste lächeln. In diesem Fall waren es die Dielen auf Deck. Auch auf dieser Bühne herrschten Komödie und Tragödie, Freude an der Schönheit des Augenblicks, Tragik der flüchtigen Versuche, der versäumten Liebe vielleicht. Das Wahre stellt sich vor zum Spiel. Vorhang auf und Vorhang ab.
Über die klingenden Eisenstufen stieg sie aufs mittlere Deck hinauf. Dort war die Familie wieder mit den drei Söhnen versammelt. Einer der Jungen, wenngleich groß gewachsen, konnte nicht aus eigener Kraft gehen. Der Vater hielt ihn fest. Die Anstrengung, die ihn das kostete, war sichtbar. Die Frau sah hin und sah Zärtlichkeit im Blick des Vaters, der sein Kind halb trug, halb führte. Der Junge wies aufgeregt lallend hinab in die Gischt, die das Schiff in langen Bahnen hinter sich in die Luft warf. Der Abenteurer, der Braungebrannte, hatte mit seinem Hund offenbar die Nacht unter freiem Himmel verbracht. Die jungen Pärchen hielten sich an den Händen, abwechselnd einander und andere betrachtend.
Das Glitzern der Frühstunde, das Dunkel und Hell noch stark voneinander schied, war in das gleißende Licht einer Meereslandschaft übergegangen. Die Bucht von Cagliari dämmerte herüber. Mit dem leeren Teebecher in der Hand versank die Frau müde in den Anblick des brausenden Kielwassers, sog durch den Mund Salzgeschmack ein. Der Mann, der Morgen- und Frühstücksbote, stand nicht weit von ihr an der Reling.
Sie saß allein auf der Bank. Er stand dort und sah, die Unterarme auf’s Geländer gestützt, auf das Meer hinaus. Sie saß lange so und er stand lange so.
Die Küste schob sich gewaltig heran. Aus dem dämmernden Blau trat nun das Weiß von Häusern, Grün von Bäumen hervor. In nicht großer Ferne lag ein riesenhaftes Schiff, unbeweglich. Eine militärische Silhouette. Schon immer hatte ihr der Anblick solcher Schiffe Angst gemacht, sie aber auch gebannt. Sie beobachtete die irrlichternde Gestalt des Schiffes, die geisterhaft im blendenden Sonnenglitzern des Meeres mal aufzutauchen, mal zu verschwinden schien. Noch war auch der Mond zu sehen, sogar, unfassbar, ein Stern, der am Nachthimmel einer der großen, strahlenden gewesen sein musste.
Jetzt schien ihr die Sonne stark und wärmend in’s Gesicht, blendete sie einen Augenblick, denn das Schiff legte in einer großen Kurve gegen den Hafen hin an.
Der Mann war da, hielt ihr mit fragendem Blick ein Sandwich entgegen. Sie nahm an. Die Herzlichkeit seiner Fürsorge beschämte sie ein wenig, was sie sich selbst gegenüber nicht gutheißen konnte und umso verwirrter und umständlicher entschuldigte sie sich dafür, dass sie nichts anzubieten hatte. Er antwortete etwas, das sie damals und auch später niemals in ihre Sprache übersetzte. Einmal nachgesprochen hätte es sich in ein unechtes Kompliment verwandeln können. Aber seine Worte entzückten sie. „Fa niente, ci sono i tuoi occhi e i tuoi capelli.“
Als er sich zu ihr setzte, nannte er ihr seinen Namen und erzählte, wie er vom Land allein nach Rom gezogen war und welche Schwierigkeiten er dadurch mit seiner Familie bekommen hatte. Er beschrieb die erste Arbeit, die er als Jugendlicher in der Stadt gefunden hatte und wie sich dort jetzt sein Leben veränderte. Und er erwähnte ein Mädchen in seinem Heimatdorf, das nicht mehr auf ihn wartete. Dann fragte er nach ihrem Leben und nach ihrer Reise.
In Cagliari aßen sie gemeinsam.
In einer langen, von weißen Mauern gesäumten Straße flohen sie vor der überwältigenden Hitze in eine Bar. Als der Überlandbus nach S.Pietro kam, umarmten und küssten sie sich, als sei es für ewig.
Sie setzten ihre Reise fort, jeder die seine, und sahen einander nie wieder.
Es ist ein hundert Jahre altes Ibach-Klavier. Eine berühmte Manufaktur. Als Kind habe ich das nicht gewusst. Später wusste ich es schon. Irgendwann bin ich in dem kleinen Ort Schwelm an einem großen alten Haus vorbei gefahren, das den Schriftzug Königliche Hof-Piano-Forte-Fabrik IBACH trug. Da habe ich es wirklich begriffen.
Zweimal haben Klavierstimmer, diese konzentrierten und schweigsamen Männer, mir zwar bestätigt, was an diesem Instrument alles erneuert und repariert werden muss, und was das kosten würde (für mich leider viel zu viel), aber jedesmal haben sie betont, dass sie dieses Klavier nicht abgeben würden. Sie legten immer eine Hand auf das Klavier, wenn sie das sagten. Sie bewegten die Hand ein wenig hin und her, und sahen auf die Tasten, wenn sie das sagten. Mein Klavier ist offenbar ein Objekt der Liebe, oder der Bewunderung, mindestens des Respekts.
Meine Eltern haben es für sehr wenig Geld von einem Mitglied der Kirchengemeinde gekauft. Ich vermute, dass sie fast nichts bezahlt haben und dass sich im Bekanntenkreis sowohl bereitwillige Männer mit starkem Rücken als auch ein Auto-Anhänger befanden, die für einen Einzug des Klaviers in unsere kleine Wohnung Voraussetzung waren. Mehr als das hätten meine Eltern sicher nicht aufgewendet. Aber sie hatten eine Idee von Bildung, mit der dieses Klavier harmonierte. Und ich war das Kind, durch das diese Idee Wirklichkeit werden könnte, sollte.
Ich erinnere mich, dass im Haushalt meiner Tante, der älteren Schwester meines Vaters, ein Harmonium stand. Es sah dem Instrument, das in der Kirche gespielt wurde, recht ähnlich. Lange Zeit glaubte ich, dass es das sei, was die Leute mit ‚Orgel‘ bezeichneten.
Es sah seltsam und nicht sehr weiblich aus, wenn meine Tante beim Spiel mit den Händen gleichzeitig kräftig die Pedale mit Füßen trat. Es sah aus, als würde sie in ihrem langen schmalen Rock einen schweren Tretroller fahren. Die übereinander klingenden Musikschichten aber lagen wie ein Glanz in der Luft und machten mein Herz leicht.
Ich weiß nicht, wann und von wem ich Noten in die Hand bekam. Sicher ist, ich konnte sie früh lesen. Die Mutter hatte mir und der großen Schwester Stofffutterale für unsere Blockflöten genäht, eine Schubtasche für jeden Flötenteil und eine für die Flötenputzbürste. Damit marschierten wir an einem Nachmittag pro Woche zu Fräulein Fassbinder, die ungeachtet des ‚Fräuleins‘ eine ziemlich alte Frau war, und in ihrem Wohnzimmer lernten wir, Flöte zu spielen. Jedenfalls hatte Fräulein Fassbinder wahrscheinlich das Alter, das einem siebenjährigen Kind unter den Begriff ‚alt‘ zu fassen ist. Fräulein Fassbinder war nicht freundlich. Auf die weiße Häkeldecke ihres großen runden Tisches haute sie laut den Rhythmus, wenn sie mit unserem Spiel unzufrieden war. Wir hockten gekrümmt auf dem Sofa vor dem Tisch und bemühten uns. Ich erinnere mich an ‚Es kommt ein Schiff geladen‘ und ‚Fröhlich soll mein Herze klingen‘. Und trotz der brachialen Schläge auf das Holz des Tisches, nur wenig von der Häkeldecke gedämpft, habe ich diese Stunden in guter Erinnerung. Da war eine Freude, wenn wir alle zusammen klangen.
Dann kam das Klavier.
Genau fünfzig Jahre, bevor die Königliche Hof-Piano-Forte-Fabrik ihre Produktion einstellen würde.
Es stand in unserem Wohnzimmer wie ein schwarzer schweigender Riese. Es fügte sich nicht wirklich ein in diese Wohnwelt eines breiten Hauses voller Wohnungen direkt am Marktplatz. Als Erwachsene wusste ich dann, dass sich unsere Wohnung in einem dieser Häuser befand, die nach dem Krieg möglichst schnell vielen Familien Platz bieten sollten. Damals wusste ich nichts von diesen Dingen. Auf jeden Fall nahm das Klavier in dem nicht sehr großen Wohnzimmer viel Platz weg. Ich habe eine vage Erinnerung daran, dass an seinem Platz einmal ein niedriger Tisch gestanden hatte und darauf die Puppenstube, die Opa uns zu Weihnachten selbst gebaut hatte. Sie hatte zwei Räume, das offene Dach nur am Rand von einer Art Dachterrasse bedeckt, die Püppchen trugen von Oma gehäkelte Kleider. Es war eine schöne Puppenstube und ich weiß leider nicht, wann und wohin sie verschwunden ist, genauso verschwunden wie Oma und Opa, von denen sie kam.
Das Klavier stand nun da und blieb nun da, als könnte es allein dank seines Gewichtes aller zeitlichen Bewegung trotzen. Eigentlich tat es das ja auch.
Wie gesagt, bei Fräulein Fassbinder hatte ich gelernt, Noten zu lesen. Irgendwer, ich kann mich trotz größten Bemühens nicht erinnern, wer es war, zeigte mir die Taste für das C. Und damit ging alles los. Cdefgahc kannte ich ja aus Fräulein Fassbinders Flötenstunden. Dazwischen lagen die Halbtöne. Den Flohwalzer brachte mir mein Cousin bei. Und dann entdeckte ich die Lieder im Gesangbuch der Kirche.
Im folgenden Jahr zogen wir in eine andere Stadt. Das Klavier stand nun in einem hohen Zimmer, zu dem es besser passte. Und gegenüber wohnte Frau Engels, eine alte Frau, aber sie sah schlank und vornehm aus. Und sie hatte eine Mutter, die noch älter war und irgendwann starb. Durch das Fenster sah ich Frau Engels stapelweise Dinge in ihre Mülltonne werfen und eines Tages waren auch Bücher dabei. Ich ging hin und zog Noten aus dem Müll. Es waren große Blätter, größer als ein DINA4-Heft und dünn und schlabbrig und sie hielten sich nur schwer auf der aufgeklappten Notenablage. Auf einem Heft stand „Schneeglöckchens Erwachen-Tanzreigen mit Gesang für 4 Damen“, auf einem „Friede auf Erden-Lieder zur Weihnacht“ und auf dem dritten „Die Zauberflöte-Oper von W.A. Mozart“. Sie enthielten zweistimmige Notensätze zu Liedertexten. Ein „Lied“ hieß „In diesen heil‘gen Hallen“, ein anderes „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“. Dieses hatte einen ergreifenden Sprung in die Höhe von „Dies“ zu „Bild“, und dann wurde „Bild“ auch noch so lange angehalten, bis endlich das zugehörige „nis“ kam. „Lieder“ nannte ich sie. Es war lange vor der Zeit, in der ich wusste, was „Arien“ sind. Das mit dem Bildnis übte ich häufig und sang dabei und zu meiner großen Überraschung stand meine Mutter einmal kurz in der Tür und schaute zu mir hin. Das traf mich tief. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie stehenblieb, um zu mir hinzuschauen. Diese Musik musste Bedeutung haben.
Beim Mitsingen musste ich manchmal so lange auf einem Ton aushalten, bis ich meine Finger auf den Tasten zu der nächsten Silbe, zum nächsten Ton sortiert hatte, dass ich keine Luft mehr hatte und die eine Silbe dauernd wiederholte. Es klang furchtbar, aber das schreckte mich nicht wirklich ab. Damals hatte ich noch Ausdauer beim Üben.
Mir persönlich gefiel auch „In diesen heil‘gen Hallen“ besser. Es war so schön dunkel und ehern, ein Wort, das es nur in Märchen gab und auch eigentlich unverständlich war. Aber hier wusste ich auf einmal, was „ehern“ bedeutete. Und: man „wandelt ins bessre Land“, das brachte Saiten in mir zum Klingen, die noch neu waren. Die allenfalls im Kindergottesdienst angesprochen worden waren, mir aber leer und nicht hilfreich schienen. Aber am allerschönsten fand ich „Oh Isis und Osiris“. Wenn ich es sang, dachte ich an die blauen Blumen, die Iris, die es auf dem Markt gab, und die man als Mitbringsel mit rosa Nelken und zartem Grün der Oma mitbrachte.
Ich übte viel und kam dann auf die Idee, die Bücher, die wir für den Musikunterricht in der Schule haben mussten, zu durchsuchen. Auf einigen Seiten standen auch durchaus spielbare und erfreulich kurze Klavierstücke. Es gab eine verspielte Melodie aus dem „Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach“ und noch einmal von demselben Komponisten ein Stück, das wie eine dauernde Wiederholung klang, erst die rechte Hand, dann die linke Hand mit derselben Sache und immer so hin und her und dann beide zusammen und das klang wirklich - genial. Ungefähr zwei Jahre später, als ich schon Klavierunterricht hatte, hörte ich meine Lehrerin, als ich an der Wohnungstür klingelte, etwas spielen. Ich sagte ihr bei der Begrüßung, dass ich es durch die Tür gehört habe und dass es mir gefallen hat. Da spielte sie noch ein bisschen weiter und fragte, ob ich mir vorstellen könnte, von wem das wohl ist. Ich sagte „Bach“, denn das war klar zu erkennen. Sie war sprachlos, weil sie nicht mit meiner Antwort gerechnet hatte. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich damit geübt hatte, bevor es mit dem cdefg usw. der rechten Hand losgegangen war.
Aber am Anfang, zur Zeit der „Heil‘gen Hallen“ hatte ich so etwas noch nicht geübt. Fingersatz, was war das? Ich klimperte die größten Klassiker vor mich hin ohne es zu wissen.
In der Schulaula stand ein Flügel. Deshalb fand dort der Musikunterricht statt. Wir warteten wieder einmal auf die Lehrerin, rannten wieder einmal herum und spielten wieder einmal auf den Tasten, ich ein Stückchen von dem, was ich zu Hause geübt hatte. Unsere Musiklehrerin hieß Frau Rupe und war eine große strenge Frau. Wir huschten zu den Plätzen, als sie kam. Sie fragte, wer da gerade gespielt hat, ich sagte „ich“ und sie fragte „Bei wem hast Du Klavierunterricht?“ Klavierunterricht? Ich war verunsichert und sagte: Keinen. Ich – hab keinen Klavierunterricht. Da sah sie mich lange an und sagte: „Du musst Klavierunterricht haben. Sag das deinen Eltern.“
Wahrscheinlich habe ich es meinen Eltern wirklich gesagt, jedenfalls machten sie eine junge Oberstufenschülerin ausfindig, die, deren Spiel ich später einmal durch die Tür hören sollte Sie gab mir für geringes Geld einmal in der Woche Unterricht. Sie hieß Ingeborg und hatte eine Mutter, die immer dabei saß.
Ich erinnere mich an schweißnasse Hände im Sommer, wenn ich die Treppen bis zu der Wohnung hinaufgehetzt war. An den Taktell, das Folterinstrument mit klackendem Zeiger. An Muzio Clementi. Und an die grässliche scheußliche Mutter, die mich während der Unterrichtsstunden an ihrer Tochter vorbei korrigierte und manchmal beschimpfte.
Nach 3 Jahren ging das Ganze zu Ende, denn Ingeborg und ihre Mutter zogen fort. Einen anderen Lehrer für kleines Geld fanden meine Eltern wohl nicht. Und die Ingeborg-Mutter-Stunden hatten bewirkt, dass ich keinen Grund mehr sah, auf weiterem Unterricht zu bestehen.
So gab es in meinem Umfeld keinen einzigen vernünftigen Menschen, mich selbst eingeschlossen, der verhindert hätte, dass ein schwer gewonnener Schatz auf den Müll geworfen wurde.
Ich blieb diejenige, die irgendwann mit den Namen Bach und Mozart Gefühle und Klänge verband. Und die Gefühle litten keineswegs darunter, dass ich zunehmend mehr über die Komponisten wusste. Ich blieb die, die sich für Schumanns „Carnaval“ ganze Choreografien ausdachte, die bei den Einspielungen der Goldbergvariationen von Glenn Gould, vor allem der späten, jedem Ton nachzitterte. Ich blieb die, die irgendwann Mahler-Sinfonien auf Reisen wieder und wieder mit Kopfhörern im Ohr „verschlang“, ihre musikalischen Kreise immer weiter zog, schließlich auf den Spuren von Puccinis und Verdis Opern durch Deutschland und Italien fuhr. Und Mozart – Mozart! – stieß eines Tages meine italienische Belcanto-Leidenschaft aus höchsten Wolken in die Tiefe, denn dort oben war „Non so piu cosa son“ und „L‘ho perduta, me meschina“, diese kleine genialische Melodie an so überaus unbedeutender Opernstelle im Figaro.
Was aber das Klavierspielen betrifft, bin ich die Klimperin mit drei Jahre Unterricht geblieben. Ein bisschen Mozart-Sonate, aber nur den ersten und dritten Teil, ein bisschen Bach, Weihnachten ein paar Lieder.
Und manchmal ein Jahr lang gar nichts.
Das Klavier ist durch exakt zwölf Wohnungen mit mir mitgezogen. Während eines Jahres in Italien erklärte ein Freund sich bereit, es bei sich aufzubewahren. Später, als ich länger einsam war, lernte ich noch einmal ein paar neue Stücke, Kleinigkeiten, schnell zu spielen und schnell zu lernen. Offenbar beeindruckten sie zumindest durch die Tür hindurch. Es war in der kleinen Wohnung, bevor ich nach Italien zog. Zwei Tage lang waren Klempner mit dem Anbringen neuer Heißwasserversorgung beschäftigt. Sie bekamen einen Wohnungsschlüssel und ich stellte ihnen, bevor ich zur Arbeit ging, eine Thermoskanne Kaffee, Milch und Zucker hin und ein paar Kekse und Tassen. Sie packten am ersten Tag gerade zusammen, als ich kam. Als sie die Tür hinter sich schlossen, setzte ich mich sofort ans Klavier, denn damals konnte ich mit dem Spielen noch Stress abbauen. Am nächsten Tag hatten sie ihre Arbeit beendet, bevor ich kam. Neben den leer getrunkenen Tassen lag ein Zettel: „Vielen Dank schöne Pianistin.“ Mein junges eingebildetes Herz ließ sich damals, so denke ich heute, nicht genug davon rühren.
Mit den Jahren gingen die Freunde mit gesundem Rücken und Zeit zum Helfen aus. Bei den letzen fünf Umzügen beauftragte ich Klavierspediteure. Das scheint ein Beruf zu sein, der Menschen aus