Osso - Michele Serra - E-Book

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Michele Serra

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Beschreibung

Eine eindringliche Fabel aus Italien, die Alt und Jung, Mensch und Natur miteinander verbindet. Ein alter Mann lebt in einem Haus am Waldrand, mit Blick auf die Stadt. Ihm ist ein Hund zugelaufen, der sich zwar füttern, aber nicht streicheln lässt. Der Mann schließt den Streuner ins Herz, denn er gemahnt ihn an längst vergangene Zeiten, als die Natur noch wild war. Als seine Enkelin Lucilla ihn besucht, erzählt er ihr von Wölfen und Jägern – und davon, wie der Mensch mit der Natur verbunden ist.

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Seitenzahl: 76

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Michele Serra

Osso

Geschichte einer Freundschaft

Aus dem Italienischen von Peter KlössMit Illustrationen von Alessandro Sanna

Diogenes

Für Nina

Diese Geschichte beginnt vor dreißigtausend Jahren, als eine junge Frau und ein junger Mann einander im Schnee gegenüberstanden und eine Entscheidung trafen, die die Beziehung zwischen den Menschen und den Tieren für immer verändern sollte. Besser gesagt, die Beziehung zwischen den Menschen und der Natur, von der alles Leben kommt. Die junge Frau hieß Luchsfell, der junge Mann Büffelfell. Wie sie wirklich genannt wurden, ist nicht überliefert, ihre Spuren im Schnee sind längst getaut. Aber ich bin sicher, dass sie wirklich gelebt haben. Ihre Namen habe ich geträumt. Oder geschrieben. Träumen oder Schreiben, das macht keinen großen Unterschied.

 

Jede Geschichte beginnt lange, bevor wir sie erzählen. Vor der ersten Seite eines Buches standen da schon Millionen andere. Und die letzte Seite eines Buches geht Millionen anderen voraus, die noch geschrieben werden müssen. Unsere Taten, unsere Gedanken, unsere Worte sind nur ein kurzer Abschnitt auf einem unendlichen Weg, der der Zeit, die war, entspringt und sich in der Zeit, die sein wird, verliert.

Wir sehen seinen Anfang nicht, können uns sein Ende nicht vorstellen.

Es erschreckt uns, wie unermesslich die Zeit ist und wie kurz dagegen dieser winzige Abschnitt. Doch so kurz er sein mag, so enthält unser Weg doch alle Zeit, Vergangenheit und Zukunft. Jede unserer Taten, jeder Gedanke, jedes Wort ist Frucht der Taten, Gedanken und Worte derer, die vor uns waren – und bereitet die Zukunft der Welt.

 

Du hast doch bestimmt schon mal einen Hund gestreichelt. Bevor du da warst, hat schon unzählige Male die Hand eines Menschen einen Hund berührt. Die normalste Sache der Welt, denken wir. Aber das stimmt nicht. Wenn du dieses Buch liest, wirst du verstehen, warum.

Der alte Mann und der Wald

Es war Mai, mitten im Frühling. An einem sonnigen, luftigen Nachmittag saß ein alter Mann in einem Liegestuhl auf dem Rasen hinter seinem Haus am Stadtrand und ruhte sich aus. Dem Haus und dem Meer von Dächern, Straßen und Autos hatte er den Rücken zugewandt. Vor ihm begann die Natur. Er lebte an der Grenze zwischen der Zivilisation mit ihren geordneten, hell erleuchteten Formen und dem Wald, der ungeordnet war und dunkel.

Der alte Mann saß genau auf der Grenze zwischen zwei großen, mächtigen Reichen: dem der Menschen – und für Menschen gemachten – und dem der Wildnis, wo alle anderen Lebewesen zu finden sind. Doch so zahlreich sie auch sind, nur wenige zeigen sich und lassen sich vom Menschen zähmen, die meisten bleiben lieber im Verborgenen. Deshalb ist der Wald so geheimnisvoll: weil er lebt, aber für sich.

Der alte Mann hatte die Augen geschlossen. Doch wenn er sie einen Spalt weit öffnete, konnte er sehen, wie die Bäume des Waldes unter den Windstößen hin und her wogten. Das Gebrüll des Verkehrs, das normalerweise bis zum Haus heraufdrang wie eine nie abreißende Brandungswelle, wurde an jenem Tag vom Rauschen des Windes übertönt. Der Lärm der menschlichen Zivilisation war wie weggefegt. Nur aus Bäumen und Wind schien die Welt an diesem Nachmittag zu bestehen. Und genau so fühlte sich der alte Mann: allein auf der Welt, zusammen mit Bäumen und Wind. Es gefiel ihm, sich vom Alleinsein wiegen zu lassen.

 

Er erholte sich gerade von einer langen Krankheit. Derselben Krankheit, die auch viele andere ans Bett gefesselt, wie Strohhalme geknickt und in so großer Zahl getötet hatte, dass im Fernsehen und im Netz über nichts anderes berichtet wurde. Bevor die Krankheit kam, machte man sich über das Sterben eher wenig Gedanken. Jeder war so beschäftigt, dass keine Zeit blieb, auch nur einen Moment lang über den Tod nachzudenken. Umso verblüffter war der alte Mann, als er selbst erkrankte. Er konnte es gar nicht fassen, so sehr war er daran gewöhnt, gesund zu sein. Auch ein bisschen Angst bekam er, aber hauptsächlich war er erstaunt und verwirrt: als hätte er sich wegen der Krankheit verlaufen und könnte nun den Weg nicht mehr finden.

Eigentlich war er noch gar nicht so alt, der alte Mann, aber er hatte schon viele Jahre gelebt, viel mehr, als ihm noch blieben. Viele schöne und traurige Erlebnisse trug er mit sich herum. Nun stand er an einem Punkt im Leben, den nur die Alten kennen: wenn man sich bewusst wird, alles erledigt zu haben, was zu erledigen war, alles gesehen zu haben, was zu sehen war, alles gefühlt zu haben, was zu fühlen war. Von der Zukunft erwartete er sich nichts mehr.

Obwohl, eins schon noch, und er wünschte sich nichts sehnlicher: dass seine Enkelin Lucilla ihn recht oft besuchen kam.

Er liebte sie mehr, als er je einen anderen Menschen auf der Welt geliebt hatte. Mehr noch vielleicht als seine Frau, die schon seit Jahren nicht mehr da war. Und mehr als seine beiden Kinder, die weit weg wohnten und die er nicht oft sah.

Und an Lucilla dachte der alte Mann jetzt, mit geschlossenen Augen und der Andeutung eines Lächelns.

Er dachte an ihr schwarzes, lockiges Haar, an ihre durchdringende Stimme, an ihre Energie, an ihre Fähigkeit, mitten im Spiel, im Toben, im Laufen plötzlich tiefernst zu werden. Wenn Lucilla mit ihren Augen, die dunkel waren wie die Nacht und doch funkelten wie Sterne, reglos etwas oder jemanden betrachtete oder auch nur gedankenverloren auf einen Punkt im Nichts starrte, wunderte er sich jedes Mal darüber, dass ein siebenjähriges Mädchen diese Gabe (innehalten, schauen und nachdenken) besaß, die selbst bei Erwachsenen so selten ist. Innehalten, schauen und nachdenken: Wenn alle das könnten, wäre die Welt ein besserer Ort. Lucilla wollte ihn in ein paar Tagen besuchen kommen, und dann würde der Großvater ihr zusehen, wie sie über den Rasen rennen, plötzlich stehenbleiben und sich ins Gras setzen würde, den Blick fest auf eine Margerite gerichtet, auf ein Stück Holz, auf eine Grille oder auf irgendein anderes jener unbedeutenden Wunder, die Kinder viel häufiger bemerken als die Großen. Vielleicht weil die Kinder näher am Boden leben und sie deshalb eher entdecken. Im Kino seiner geschlossenen Lider sah der alte Mann Lucillas Locken im Wind tanzen.

Er war dabei, einzuschlafen, als er plötzlich spürte, dass er nicht allein war. Es war kein Geräusch, keine Bewegung, die dieses Gefühl in ihm auslöste. Eher so etwas wie ein stiller Alarm in ihm drin. Die menschliche Sprache kennt dafür kein Wort. Es ist der gleiche mysteriöse Alarm, der Tiere hochschrecken lässt, wenn sie im Schlaf spüren, dass da jemand ist.

Als wir Menschen noch Affen waren – aber das ist inzwischen fast eine Ewigkeit her –, kannten wir dieses plötzliche Hochschrecken genau. Es ermöglichte uns, aus dem Stand zu fliehen, wenn es ein Raubtier war, das den Alarm ausgelöst hatte. Oder sofort loszujagen, wenn es sich um eine Beute handelte. Heute können wir das nicht mehr, alle möglichen anderen Dinge haben wir gelernt, aber dazu sind wir nicht mehr fähig, und wenn jemand uns anschaut, während wir schlafen, schlafen wir seelenruhig weiter. Wir brauchen keine Sinne mehr, die so wach sind und so gespannt. Wir sind keine wilden Tiere mehr: Wir sind jetzt Menschen. Wir schlafen in sicheren Häusern, in warmen und sauberen Betten.

An diesem Tag aber spürte der alte Mann, dass er beobachtet wurde. Schlagartig riss er die Augen auf, genau so, wie es sein direkter Affenvorfahr vor einer Million Jahren getan hätte. (Wohlgemerkt: »Direkter Affenvorfahr« sagt man eigentlich nicht. Wenn es möglich wäre, in der Zeit zu reisen und all die Generationen zurückzugehen, von Mutter zu Mutter und von Vater zu Vater, über Hunderttausende Jahre zurück auf dem endlosen Weg der Evolution, dann stünden wir irgendwann genau diesem einen Affen gegenüber, aus dessen Samen oder Schoß wir stammen.)

Der alte Mann hatte jetzt alle Trägheit abgeschüttelt und versuchte, seinen von der Sonne geblendeten Blick scharfzustellen. Vor ihm, etwa zwanzig Meter entfernt, meinte er ein Gespenst im Gras sitzen zu sehen. Eine schmale, zerbrechliche Gestalt, die er auf den ersten Blick nicht zu identifizieren vermochte. So schmächtig und so zitternd, dass man nicht erkennen konnte, um was für ein Tier es sich handelte. Denn ein Tier war es gewiss: Die Augen – zwei nussbraune, lebhafte Punkte, die auf ihn gerichtet waren – verrieten, dass in jener winzigen Gestalt jemand lebte.

 

Um besser schauen zu können, stand der alte Mann auf. Erschrocken machte das Gespenst einen Satz zur Seite, und da erkannte er endlich, was es war. Es war ein Hund.

Besser gesagt, das, was davon übrig war. Das Skelett eines Hundes, der so mager war, dass ihm die Haut um die Rippen spannte und seine langen, dürren Beine ihn kaum trugen. Der degenartige, waagerecht gestreckte Schwanz war das einzige Körperteil dieses Hundes, das Energie ausstrahlte und gesund zu sein schien. Die riesigen, zu beiden Seiten des spitzen Gesichts herunterhängenden Ohren wirkten wie zwei gewaltige Fahnen. Sie verrieten, dass es sich um einen Segugio oder einen Bracco handelte, um einen Jagdhund jedenfalls. Unter dem ausgehöhlten Bauch baumelte ein kleiner Penis. Also ein Rüde.

Der Hund hat sich bestimmt während einer Treibjagd verirrt, dachte der alte Mann. Auf Wildschweine oder auf Hasen.