Kleine Feste - Michele Serra - E-Book

Kleine Feste E-Book

Michele Serra

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Beschreibung

Michele Serra beobachtet seine Nachbarn in den Hügeln um Bologna: zum Beispiel einen Mann, der einen atheistischen Ritus an einem Fluss zelebriert. Oder ein zittriges altes Ehepaar bei seiner täglichen ›happy hour‹. Kleine Feste, die authentischer sind als große Zeremonien – und Magie in den Alltag bringen. Wie schon im Bestseller ›Die Liegenden‹ erweist sich Michele Serra als feinsinniger Betrachter der Gegenwart.

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Seitenzahl: 178

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Michele Serra

Kleine Feste

Geschichten und Beobachtungen

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

{5}Für Franco, ohne viele Worte

{9}Manchmal sind wir ganz ergriffen und wissen nicht, wem davon erzählen

Saletti wollte beten, doch er glaubte nicht an Gott.

Versucht ruhig, den Satz euren Fähigkeiten oder Überzeugungen entsprechend zu verkomplizieren. Vielleicht gelingt es euch, daraus intellektuelle Genugtuung zu ziehen. Doch das ändert nichts daran, dass das Problem, obwohl unlösbar, für Saletti ein absolut simples war. Die Summe zweier Gewissheiten: das Bedürfnis zu beten, die Nichtexistenz Gottes.

Die Nichtexistenz Gottes, weil Saletti wusste, dass es keinen Gott gibt.

Das Bedürfnis zu beten, weil Saletti dennoch seine Dankbarkeit bezeigen wollte.

Obwohl er ein einsamer, der Leere mancher Tage wegen trübsinniger Rentner mit einigen Wehwehchen war, überfiel ihn häufig eine eigentümliche Überreiztheit, die seine Sinne flirren ließ wie früher, als er noch ein Kind war.

{10}Es war eine Art Daseinserschütterung, eine derart starke Erfahrung des In-der-Welt-Seins, dass er nicht anders konnte, als ihr Ausdruck zu verleihen und sie zu zelebrieren. Wenngleich vermutlich die meisten (alle?) Religionen aus dem dringenden Bedürfnis entstanden sind, Angst, Schmerz, Verwundbarkeit und den Tod zu ergründen, wurde Saletti doch vom gegenteiligen Impuls getrieben: Er wollte das Glück ergründen, am Leben zu sein. Dieses Mysterium schien ihm nicht weniger verpflichtend als die Trauer, wieder verschwinden zu müssen.

Er wünschte sich sehnlichst eine Bezugsperson, bei der er sich hätte bedanken oder mit der er seine Freude hätte teilen können. Doch mit wem, wenn es keinen Gott gab? In Fällen wie diesen sagen die modernen Priester, dass schon die Suche an sich ein Ausdruck des Glaubens sei. Eine Menge Briefwechsel werden von diesem Hauch des Trostes durchweht. Der Atheist, der mit letzter Kraft flüstert wie ein schwindsüchtiger Sopran: »Ich habe gesucht, aber nicht gefunden«, der Ordensbruder am Kopfende, der ihm den letzten Wickel auf die Brust legt: »Du hast gesucht! So bist du gerettet!« Himmlische Harfentöne. Vorhang.

Doch was Saletti umtrieb, war nicht die Suche, ach was. Sein Problem war, dass es ihm nicht gelang, auszudrücken, was er bereits gefunden hatte: die {11}große Freude zu existieren. Es gab kein Sommergewitter, kein Warten an der Ampel, keine sternklare Nacht, keine Schlange beim Postamt, die nicht erneut in ihm dieses kleine Feuer entfachte. Doch da er es niemandem widmen konnte wie ein Lied im Radio, brannte es nur kurz in seinem Inneren und verlosch.

Hätte Saletti sich damit begnügen können, dass sich sein inneres Feuer in aller Einsamkeit verzehrte? Nein, das hätte er nicht. Es war Teil seines Charakters wie seiner Überzeugungen, dem Einzelnen zu misstrauen und der Gemeinschaft und ihren Institutionen größere Autorität und Vollständigkeit zuzugestehen (der UNO, Europa, der Republik, der Region, der Provinz, der Gemeinde, dem Bezirksbeirat, der Berggemeinschaft, dem Stadtteilrat, dem gemeindeeigenen Betrieb, den Dienstleistungsgenossenschaften, den Leitlinien des Gewerkschaftsbunds der Pensionäre und so weiter …). Da er überzeugt war, in Verbindung mit anderen trete die Bedeutung des Einzelnen stärker hervor, war er gerne bereit, sein Selbst dem Gemeinschaftssinn unterzuordnen. Und so hielt er es in seinem letzten Lebensabschnitt für naheliegend, dies auch in einer ganz besonderen Art der Vergesellschaftung des Geistes zu tun, nämlich der Liturgie. So wie er unzählige Partei- und Bezirksversammlungen {12}geleitet hatte, beschloss er nun, eine Gebetsgruppe zu gründen. Auf dieselbe Weise. Und mit demselben Glauben an das Wort des Volkes.

Ich lernte Saletti am Ufer des Flusses Sillaro kennen, an einem Septembermorgen vor vielen Jahren. Er war einer dieser drahtigen emilianischen Alten mit sonnenverbranntem Nacken, die man auf ihren Fahrrädern an den Ackerrändern entlangfahren oder auf einem schmuddeligen Supermarktparkplatz eine halbe Wassermelone in den Kofferraum ihres Fiat Ritmo laden sieht. Sie tragen kurze Hosen, Socken und Sandalen, dazu gewisse Hemden in Kornblumenblau oder Fuchsia, wie man sie nur auf dem Markt bekommt. Auf den ersten Blick würde man so einem Typen keinen Cent leihen. Ebenso wenig, wenn man ihn kennenlernt, denn gewöhnlich schwadroniert so jemand über das Wetter, das nicht besser werden will, oder zählt alle möglichen Leute auf, die dort wohnen oder wohnten, wo du seines Wissens wohnst.

Mit Saletti war es anders, vom ersten Augenblick an. Nachdem er sein Fahrrad an einen staubigen Deich gelehnt hatte, grüßte er, legte seine Sachen nach und nach auf einem großen Stein in wenigen Metern Entfernung ab, bis er ganz nackt war. Als sein alter Hodensack so unerwartet vor mir hüpfte, täuschte ich das höf‌liche Desinteresse vor, das man {13}der Nacktheit anderer entgegenzubringen pflegt, und versuchte, meinen Blick fest auf die Zeitung vor mir gerichtet zu halten. Doch in Wirklichkeit war ich mehr als erstaunt über dieses anthropologische Mischwesen, das ich da vor mir hatte: Ein typisches Genossenschaftsmitglied, das sich benahm wie ein bekiffter New Ager.

Er sprach mich an.

»Schön, nicht?«

»Der Fluss? Ja, sehr schön.«

»Wohnen Sie dort drüben?«

»Ja, dort drüben.«

»Schön dort drüben, nicht?«

»Sehr schön. Man wohnt gut dort.«

»Man wohnt hier überall gut. Beinahe könnte man meinen, wir wären glücklich. Denken Sie manchmal darüber nach?«

Ich hatte nicht erwartet, dass dieser Tag eine Unterhaltung über das Glück mit einem Nackten für mich bereithalten würde. Das Wort »Glück«, das Saletti mit einer solch unerhörten Selbstverständlichkeit in den Mund nahm, schien mir beinahe ebenso unanständig wie seine runzeligen Genitalien.

Damit sie nicht länger drohend über mir schwebten (das Glück und die Genitalien), stand auch ich auf.

»Es ist heiß«, sagte ich. »Ich gehe ins Wasser.«

{14}Er stieg neben mir hinein und benetzte freudig und unter hörbarem Erschaudern mit den Händen seine Pergamentbrust.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich nackt schwimme?«

»Nein. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich die Badehose anlasse?«

»Mir macht nur eine einzige Sache etwas aus.«

»Und die wäre?«

»Dass sie unsereinen dauernd übers Ohr hauen. Wissen Sie warum? Weil wir keinen Ritus haben. Uns fehlt der Ritus. Verstehen Sie?«

Der ist verrückt, dachte ich.

»Uns fehlt etwas, um unsere Empfindsamkeit zum Ausdruck zu bringen. Sonst glauben sie, die Empfindsamkeit für sich gepachtet zu haben. Die Priester. Und behandeln uns als gefühllose Kerle. Das ist unsere eigene Schuld. Hätten wir unseren eigenen Ritus, wäre er schöner als ihrer!«

Gar nicht so dumm, dachte ich.

Wir trafen uns noch öfter am Fluss. Wobei er stets die ungerechte Verteilung von Ritualen beklagte zwischen denen, die eine Kirche haben, und denen, die keine haben. Ich gewöhnte mich daran und hörte ihm beinahe gerne zu, anstatt meine Zeitung zu lesen. Ich bemühte mich, in seiner eigensinnigen Fixierung die unterhaltsamen Aspekte {15}zu sehen und über die paranoiden hinwegzusehen (zum Beispiel: Alle Priester sind Agenten der CIA). Was seine erschütternde Nacktheit betraf, gelangte ich mit der Zeit zu der Ansicht, dass sie zumindest an diesem Ort weniger unpassend war als seine übliche Kleidung, eine grauenhafte Mischung aus Kunstfasern in schreiendsten Farben. Wenn er seine Sachen auszog und in einem Turnbeutel verschwinden ließ, freute sich der Fluss. Wir wurden Ufergenossen. Freunde.

 

Die logische Folge war, dass wir uns auch in der Bar von San Clemente trafen. Da ich wenig arbeitete, und das Wenige zu ungewöhnlichen Zeiten, verbrachte ich meine Zeit beinahe ausschließlich mit Rentnern und Nichtstuern aus dem Dorf. Das Bier irgendwo abgestellt, ein Queue in der Hand, sah man uns häufig zu viert: Saletti, Venturi, Malighelfi und mich.

Venturi war ein schweigsamer, meist grimmig dreinblickender Koloss wie aus dem Western, und ein langer, lockiger Pferdeschwanz, der ihm in den Nacken fiel, verlieh ihm das wilde Aussehen eines Goldgräbers. Malighelfi war besessener Trüffelsucher, vor lauter Herumschnüffeln hatte er sogar ein Hundegesicht bekommen; sein pechschwarzes Haar umrahmte spitze, misstrauische Gesichtszüge. {16}Auch die beiden hatten die sechzig bereits weit überschritten, genau wie Saletti. Mich nannten sie »Dottore«, und nicht um mich auf den Arm zu nehmen (schön wär’s!). Eher um mir klarzumachen, dass ich bei ihnen nur Gast war und es auch bleiben würde. Ein gern gesehener. Aber ein Gast.

Der Chef war natürlich Saletti. Seine Autorität speiste sich vor allem aus der befremdlichen Selbstverständlichkeit, mit der er vom Billardgeplänkel zu politisch-intellektuellen Spekulationen überging. Zum Beispiel: »Um so einen Schuss zu vermasseln, muss man schon ein Esel sein. Was meint ihr, sind alle Esel als Esel geboren, oder erst zu Eseln geworden durch die große Ungerechtigkeit in der Welt?« (Eine Überlegung die, beispielsweise auf den Mittelstürmer Cruz von Bologna angewendet, Saletti eine unzweifelhaft menschenfreundliche Erleuchtung bescherte, denn Cruz, der arme Teufel, wurde sicher bereits als Esel geboren.) Kurz gesagt, wir bildeten eine kleine Abendmahlrunde, die keine hohen Ansprüche stellte. Saletti redete über alles, doch vor allem lag ihm daran, über den Ritus zu sprechen. »Der wahre Ritus, der atheistische, will früher oder später gelernt sein. Den antiken Völkern hat schließlich auch niemand ihren Ritus beigebracht. Und die waren immerhin um einiges unwissender als wir. Ich sage euch: Wenn wir {17}unseren eigenen Ritus finden, wird die Welt nicht mehr dieselbe sein wie vorher.«

Am Ende gelang es ihm, uns alle drei für sein Vorhaben zu gewinnen: Venturi, Malighelfi und mich. Zeit hatten wir schließlich genug. Und außerdem, warum sollten wir hier in unserer Bar in San Clemente nicht auf Saletti hören, so wie andernorts Fernsehprediger, Satanisten, die Bücher von Coelho und andere Anlaufstellen für Depressive konsultiert werden? Saletti schlug uns ja nicht vor, die Stimmen Verstorbener aufzuzeichnen oder im Überirdischen herumzustochern. Sondern im Grunde nur, das Irdische besser in den Blick zu bekommen.

Und was mich betrifft, ich bin ein Freund alles Irdischen.

 

Der erste Versuch fand natürlich am Fluss statt.

Saletti verschwendete keine Worte, um es uns zu erklären. Das Plätschern des Wassers – es war April – war schon für sich genommen wie ein Gottesdienst. Die Weiden und Robinien hatten ausgeschlagen und raschelten im Wind. Die Döbel und die Ukeleien waren durch das Tauwetter aus der Winterstarre erwacht. Es hätte in der ganzen Gegend keinen passenderen Schauplatz geben können.

Da die Luft noch recht frisch war, blieb Saletti leider bekleidet. Er trug schwarz glänzende {18}Gabardinehosen mit Umschlag und Bügelfalte, die nicht einmal ein italienischer Kellner in Hamburg aufzutreiben verstünde. Dazu ein beinahe normales weißes Hemd. Einen kurzen und engen Pullover in Apfelgrün mit fuchsiafarbenen Mäandern am Ausschnitt. Alles andere als normal.

»Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte Venturi ungeduldig, noch bevor wir uns auf die Steine gesetzt hatten.

»Du«, antwortete Malighelfi genervt, »brauchst schon mal überhaupt nichts zu machen.«

Venturi wusste nicht, ob er sich wegen der unangebrachten Frage oder a priori ausgeschlossen fühlen sollte. Jedenfalls war er beleidigt.

»Es geht mir auf den Sack, wenn das hier zu lange dauert.«

»Wir sind doch gerade erst angekommen«, wies Malighelfi ihn zurecht.

»Wie jetzt, angekommen?«, fragte verärgert Venturi, der kein besonders gewiefter Redner war.

»Hier angekommen. Kapiert?«

»Wie jetzt, kapiert?«

»Ich meine, wir sind gerade erst am Fluss angekommen …«

»Wie jetzt, am Fluss?«

Venturi hatte sich in sein bevorzugtes Rückzugsmanöver verrannt, er wurde nervös, und sein {19}Pferdeschwanz baumelte ihm schräg über den Rücken wie ein verunglücktes Metronom. Was immer man jetzt zu ihm sagte, er würde antworten: »Wie jetzt, xy?«

Malighelfi verstand intuitiv, dass man ihm, um ihm zu helfen, eine barmherzige Stille entgegensetzen musste. Er senkte sein Hundegesicht und schwieg.

Saletti betrachtete derweil schweigend und mit verschränkten Armen den Fluss Sillaro, dessen kleine Strudel in unserem Lieblingsbecken die Oberfläche kräuselten. Wir anderen taten es Saletti nach.

Das Unglaubliche war, dass niemand lachte. Vorher hatte auch niemand gelacht. Und auch später würde niemand lachen. Entweder hatte der Zeremonienmeister in schwarzen Gabardinehosen mehr Charisma, als wir dachten. Oder aber wir, die wir an dieser Flussbiegung für Tagediebe saßen, waren, was Sarkasmus betrifft, nicht besser aufgestellt als ein durchschnittlicher Amerikaner vor seiner Fernsehpredigt (es wird sicher in, sagen wir, New Mexico eine Cafeteria mit Billardtisch geben, die unserer Bar in San Clemente zum Verwechseln ähnelt).

Wir warteten darauf, dass Saletti auf seine Weise den Verlauf des Ritus bestimmte. Derweil dachte ich darüber nach, wie der Rentner Saletti – ohne je {20}Erfahrungen damit gemacht zu haben und ohne je Bücher darüber zu lesen – die buddhistische Ruhe erlernt hatte, mit der er dieses lebendige, aber vollkommen durchschnittliche romagnolische Flüsschen betrachtete. Und wie er es geschafft hatte, zwischen einer Runde Billard und der nächsten Runde Bier drei vom Zigarettenrauch geräucherte Relikte aus dem Abendland für ein revolutionäres Projekt zu gewinnen, das ein outing laizistischer Spiritualität zum Ziel hatte.

Wie jetzt, laizistisch?

Es vergingen etwa zehn Minuten. Venturi hatte sich abseits gesetzt, starrte stumpf vor sich hin und warf Kieselsteine ins Wasser. Malighelfi rauchte eine Merit, spähte hinüber zur anderen Seite und ließ den Blick über das Gestrüpp der Flaumeichen gleiten. In Gedanken war er schon bei der nächsten Trüffelsaison. Ich nahm mir vor, dass ich, sollten wir hier unten jemanden treffen, der uns fragte: »Was zum Teufel macht ihr hier?«, antworten würde wie ein Intellektueller, den man beim Kauf eines Pornofilms überrascht: »Ich betreibe soziologische Studien! Nichts als soziologische Studien!«

Schließlich brach Saletti sein Schweigen. (Gerade fragte ich mich: Wird er den leichteren Weg wählen und weiter schweigen und es damit jedem Einzelnen überlassen, sich eine Messfeier vorzustellen? Oder {21}aber den schwereren, den waghalsigen Versuch, unsere Anwesenheit zu erklären?) Er war mutig, erhob die Stimme, unvermittelt und klangvoll, gerade auf dem Höhepunkt unserer inzwischen spürbaren Befangenheit, wie ein Totempfahl aus Worten.

»O Fluss. O Fluss Sillaro. Der du unsren Gliedern solche Frische schenkst. Wir sind nicht die Vorväter. Doch wir würden gerne die Vorväter für diejenigen sein, die in den Jahrhunderten nach uns kommen. Denn irgendwer muss schließlich den nächsten Generationen vorangehen. Wir, Saletti Quinto, Malighelfi Loris, Venturi Gigio und der Dottore, wir haben uns gedacht, wenn keiner versucht, die Dinge in Ordnung zu bringen, die man in Ordnung bringen muss, dann bleibt die Welt in der schlimmsten Unwissenheit und Ungerechtigkeit stecken. Ich habe nur die Grundschule besucht. Und du, Fluss, der du nicht einmal diese besucht hast, weißt mehr darüber als wir alle, mitsamt dem Dottore. Willst du uns nicht deine Weisheit offenbaren?«

Er zögerte kurz. Er wandte sich zu mir um. Das schmeichelte mir. Ich nickte ihm zu. Für das erste Mal schlug er sich nicht schlecht. Venturi Gigio und Malighelfi Loris beobachteten ihn mit undurchdringlichen Mienen. Aber eher verwundert als verächtlich, wie mir schien. Saletti fuhr fort.

»Du musst uns den Ritus beibringen. Wir gehen {22}vor die Hunde, weil wir keinen Ritus haben. Manchmal sind wir ganz ergriffen und wissen nicht, wem davon erzählen. Uns überfällt eine Leidenschaft für das Leben, aber wir behalten sie für uns, und das ist absolut nicht richtig. Wir gehören nicht zu denen, die vor einem Altar niederknien. Aber auch wir sind Menschen, und mehr noch als die, denn wir freuen uns darüber, Menschen zu sein. Guckt man den anderen ins Gesicht, sieht man darin nichts von dieser großen Freude. So blass und gramerfüllt, als müssten sie, um dir zu gefallen, sich selbst Leid zufügen. Und darum hilf uns, o Fluss, hier an deinen Ufern, die wir so lieben, Ausdruck zu finden für unsere Freude. Was für eine Schönheit uns umgibt! All diese Bäume, der duftende Himmel! Die schwimmenden Fische! Die fliegenden Vögel! Die bunten Steine! Das wachsende Gras!«

Die Liste der Naturschönheiten drohte sich langsam zu erschöpfen. Der Sillaro ist nicht der Colorado. Die Pause lastete auf Saletti, und er wurde ärgerlich. Er ruderte einige Sekunden mit den Armen in der Luft, wie um das Gleichgewicht wiederzufinden und dann voller Elan fortzufahren. Doch er blieb stumm, setzte sich und vergrub das Gesicht in den Händen.

Wir traten zu ihm.

»War es das?«, fragte Venturi.

{23}»Ich finde nicht die richtigen Worte. Das war nicht gut«, antwortete Saletti.

Ich sagte, dass es mir nicht missfallen habe. Im Gegenteil: Den Part mit der Ergriffenheit fand ich sehr eindrucksvoll. Die Anrufung des Flusses aufrichtig. Die Gegenüberstellung mit den blassen Frommen zutreffend. Vor allem das.

»Aber die Natur, die muss ich besser beschreiben!«, rief Saletti aus. »Sie ist viel schöner und großartiger als die Worte, die ich für sie gefunden habe!«

Mich beeindruckte die Tatsache, dass es gerade literarische Skrupel waren, die ihn plagten, die er noch dazu beachtlich klar zu formulieren verstand. Er litt darunter, nur die Grundschule besucht zu haben, und ob. Ich litt mit ihm. Um ehrlich zu sein, ich war gerührt.

»Ein Haufen Schriftsteller, auch sehr begabte«, versuchte ich ihm zu sagen, »sind am selben Problem gescheitert. Egal, wie gut man mit Worten umgehen kann und wie gebildet man ist, die Welt ist immer viel mehr als unsere Definitionen. Und wenn sie noch so gut sind. Man fühlt sich entmutigt, wenn man merkt, dass man nicht genügend oder zu viele oder die falschen Worte hat …«

»Dann hätte man doch besser die Klappe gehalten«, mischte Venturi sich ein. Brutal, aber dem {24}war diesmal nichts entgegenzusetzen. Malighelfi witterte Aufbruchstimmung, deshalb schlug er vor, es dabei bewenden zu lassen. Saletti, der sich leer fühlte wie ein Medium, das aus der Trance erwacht, ging in Richtung Deich davon. Die Aufschläge der um eine halbe Handbreit zu kurzen Gabardinehose schlackerten um seine mageren Knöchel.

 

Tage später fragte Saletti mich beim Billard, wie es denn komme, dass man, wenn die Worte doch »etwas so Erbärmliches« waren, trotzdem mit Worten bete. Und was war mit dem Koran, der Bibel, dem Wort Gottes …

»Eben deshalb«, antwortete ich, aber nur, um Zeit zu gewinnen.

Und dann versuchte ich ihm, ohne allzu sehr zu schwindeln, auf die Schnelle meine Stammtischsicht auf die Frage des liturgischen Wortes darzulegen. »Man hat beschlossen, wenigstens einige Wörter, einige Sätze zu heiligen, eben um sie in Sicherheit zu bringen. Sonst hätte die Welt sie verschlungen, hätte sie verbraucht. Wenn man hingeht und sie so liest, als wären es Worte von Menschen, merkt man sofort, dass sie zu einem längst vergangenen Glauben oder Brauch gehören. Aber wenn man sich daran gewöhnt, sie als Wort Gottes zu lesen und zu verkünden, werden sie zu reinem Klang, zu Magie. {25}Liturgie. Siebzigmal sieben macht nicht denselben Eindruck auf uns wie sechzigmal sechs. Weil in der Lotterie unserer Vorväter nun einmal die Sieben herausgekommen ist. Wäre es die Sechs gewesen, würde es genau andersherum funktionieren.«

»Dann stimmt es also«, sagte Saletti mit plötzlichem neuem Elan, »dass wir einfach nur große Faulpelze sind.« Ich verstand nicht recht, was das damit zu tun hatte. Doch es hatte etwas damit zu tun, wenigstens in Salettis Welt.

»Wir sind große Faulpelze«, fuhr er fort, »weil wir uns auf den Anstrengungen derjenigen ausruhen, die vor uns da waren. Der Alten. Was kostet es uns, Schluss zu machen mit diesem ganzen alten Zeug und stattdessen moderne Worte zu finden?« Er sprach das Wort »modern« mit dem vollen Vertrauen eines Sozialisten des 20. Jahrhunderts aus. Ohne die leiseste Ahnung, dass das Wort paradoxerweise inzwischen zum alten Eisen gehört und in Diskussionen nur mit sichtlichem Unbehagen bemüht wird, wie »alldieweil« oder »potztausend«. Ich sah, wie er im Bann seines Neuordnungsdrangs wiederauf‌lebte. In der Überzeugung, dass die Aufgabe heute wie damals darin bestünde, dem Neuen zu helfen, das Alte zu entthronen. Klingt einfach, nicht wahr? Alles wegputzen und von vorn beginnen.

 

{26}Doch für den zweiten Besuch auf dem Monte Bibele wurde beschlossen, dass diesmal nicht geredet würde. Saletti hatte uns seine Entscheidung so erklärt: »Ich habe darüber nachgedacht. Die Worte sind alle veraltet. Schweigen ist moderner, es ist einfach moderner.«

Das enttäuschte mich. Auch aus beruf‌licher Neugier hätte ich gerne gewusst, wie ein Rentner mit Grundschulbildung die ultimative Reform des Wortes angehen würde – vermutlich nicht unbedingt auf die umständlichste Weise. Und wie würden wir ohne Formeln und Litaneien die Ergriffenheit zum Allgemeingut erheben? Ohne dass der Klang einer menschlichen Stimme versuchte, dem Ausdruck zu verleihen, was in unserer Brust schwelte? Ich nahm an, dass es Salettis Freikörperkultur war, die ihn dazu veranlasst hatte, auch die Worte abzulegen, voller Vertrauen in die Eloquenz des Körpers und seine materielle Lebendigkeit. Oder so etwas in der Art.

Wir erreichten das Ende der Straße in Venturis Kleintransporter. Unser Fahrer war schlechter Laune, wie üblich. Doch wie üblich war es kein einfacher Missmut. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, um seine Angst vor Ablehnung zu verbergen. Deshalb hatte er auch das Auto mit einer unbotmäßigen Menge von Wein und Essen beladen, und es war {27}überhaupt nicht gesagt, dass diese geplante Völlerei im Sinne unseres Priesters war. Da er sich besonders verletzlich fühlte, war er besonders aggressiv:

»Ich muss etwas essen, irgendwann. Wenn ihr euch lieber nur den Mund fusselig redet, bitte sehr. Ich esse nun mal gerne. Was dagegen?« In unserem spirituellen Vaudeville hatte Venturi für sich selbst die Rolle des genervten Ungläubigen reserviert. Und die spielte er ausgezeichnet. Er steuerte direkt auf die Wiese zu, ohne überhaupt in Betracht zu ziehen, dass sich der Wallfahrtsort ebenso gut auf dem nahe gelegenen Berggipfel befinden könnte, breitete seine Päckchen auf einer schmucken geblümten Decke aus und legte sich auf den Rücken, in Erwartung der Dinge, die nun folgen mochten.

Selbst Malighelfi, sein üblicher Bühnenpartner, spürte wohl die Feierlichkeit des Augenblicks, denn er ließ die günstige Gelegenheit, Witze über Venturis Stoffwechsel zu reißen, ungenutzt verstreichen und setzte sich neben ihn wie ein treuer Tischgenosse. Und im Grunde war das gar kein schlechter Altar, dieses Tuch voller Brot und Aufschnitt.

Saletti gab die Mitwirkung der beiden Ungläubigen verloren. Er würdigte sie keines Blickes und ging etwa fünfzig Meter in die Wiese hinein, beinahe bis zum Rand einer Abbruchkante, hinter der das Gelände steil abfiel. Ich folgte ihm. Es war {28}Anfang Juni, sechs Uhr abends, die Sonne stand noch hoch über dem Horizont, es war bereits Sommer und ging auf die Sonnenwende zu.