Ostwind - Aufbruch nach Ora - Lea Schmidbauer - E-Book

Ostwind - Aufbruch nach Ora E-Book

Lea Schmidbauer

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mika scheint endlich angekommen zu sein: seit einem Jahr wohnt sie nun auf Kaltenbach, kann Ostwind sehen, wann immer sie möchte und auch Milan, der jetzt auf dem Hof arbeitet, ist an ihrer Seite. Außerdem ist Mika eine kleine Berühmtheit. Pferdebesitzer aus ganz Deutschland legen weite Strecken zurück, um das Therapiezentrum Kaltenbach zu besuchen. Alles könnte perfekt sein. Doch dann gibt es ein schreckliches Gewitter ausgerechnet in der Nacht, in der 33 ihr Fohlen zur Welt bringt – und am Morgen danach ist nichts mehr, wie es war...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 259

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2015 Alias Entertainment GmbH © Ostwind-Filme: SamFilm GmbH Alle Rechte vorbehalten Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Lektorat: Heike Hauf Satz: Frese München Covergestaltung: Astrid Reimann / artattack-design.de Fotos Cover: Tom Trambow eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-18221-2V002
/ostwindfilm

Inhalt

Titel

Impressum

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Die Autorinnen

1. Kapitel

Endlose Weite. Blauer Himmel bis zum Horizont. Warmer Wind bewegte das lange Gras einer dürren Landschaft, in der sonst nur ein paar Silberdisteln und Aloepflanzen überlebt hatten. Am Horizont eine felsige Anhöhe, auf die sie in rasender Geschwindigkeit zujagte. Sie spürte die Sonne auf ihrer Haut und die pure Energie, die sie durchflutete wie Wasser eine Stromschnelle. Sie hob den Kopf und da, im gleißenden Gegenlicht, erkannte sie auf dem Kamm der Anhöhe ein silbergraues Pferd mit schwarzer Mähne. Es stand ganz ruhig da, als würde es auf sie warten. Und sie wollte zu ihm! Schneller, schneller! Ein rufendes Wiehern hallte wie ein Echo durch die Luft. Dann wurde es still. Hinter dem silbergrauen Pferd tauchte ein weiteres Pferd auf und dann noch eines neben ihm. Füchse, Schimmel, Schecken – am Ende stand eine ganze Herde auf der Kuppe des Hügels. Sie hatte den Fuß der Anhöhe fast erreicht, als das silbergraue Pferd sich freudig auf die Hinterbeine stemmte. Das war das Signal. In einer mächtigen Staubwolke galoppierten die Wildpferde den Abhang hinab auf sie zu. Staunend blieb sie stehen, als sich die Herde wie eine Welle um sie herum teilte. Trotz der Pferde, die sie umtanzten, überkam sie plötzlich eine tiefe Ruhe. Die silberne Stute stand jetzt direkt vor ihr. Sie senkte den Kopf und legte ihr weiches Maul mit einem leisen Schnauben …

»… und dann dieses Schnauben! Das macht Madame Butterfly dann immer und ich weiß nicht, was sie mir sagen will!« Eine schrille Stimme holte Mika aus ihrem Tagtraum und beförderte sie unsanft zurück in die Realität. Und in der stand sie mit einer dürren Frau mit Nickelbrille und Besserwisserblick vor einer Box, aus der sie ein großes braunes Pferd mit leeren Augen ansah. Madame Butterfly hatte offenbar genauso wie Mika auf Durchzug geschaltet – nur schon lange vor ihr.

»Vielleicht sollten sie mehr Dinge mit ihr tun, die ihr Spaß machen?«, begann Mika. Die Frau sah sie verständnislos an.

»Aber ich lese ihr täglich aus der Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen vor und räuchere ihren Stall mit ayurvedischem Weihrauch aus«, plapperte sie ungebremst weiter und Mika wusste plötzlich, warum sie sich in einen Tagtraum gerettet hatte.

Seit sie das Therapiezentrum auf Kaltenbach eröffnet hatten, kamen täglich Dutzende von Pferdebesitzern, die ihren Rat suchten. Mikas außergewöhnliche Gabe hatte sich mittlerweile herumgesprochen und das Gestüt ihrer Großmutter, das im letzten Jahr noch kurz vor der Zwangsversteigerung gestanden hatte, war wieder voller Leben und Hoffnung. Nur für Mika galt das nicht. Immer häufiger ertappte sie sich dabei, wie sie sich nach der Zeit zurücksehnte, in der sie noch frei war und machen konnte, was sie wollte. Anstatt neurotischen Pferdebesitzern zuzuhören, hätte sie lieber lange Ausritte durch den Wald gemacht und wäre mit Ostwind auf der Koppel herumgetollt. Denn das, dachte Mika, war ihre eigentliche Bestimmung. Außerdem fehlten ihr einfach die Geduld und die nötige Diplomatie für manche nervigen Kunden. Und das Schlimmste: die Pferde taten ihr leid. Denn in neunzig Prozent der Fälle waren es nicht die »Problempferde«, die das Problem hatten – sondern ihre Besitzer. Aber sie konnte der anstrengenden Plappertante ja schlecht sagen, dass ihr armes Pferd sich einfach nur schrecklich mit ihr langweilte.

»Madame Butterfly ist einfach sterbenslangweilig mit Ihnen«, hörte Mika sich im selben Moment sagen. Oops! Ihre Gedanken rutschten in letzter Zeit immer öfter unkontrolliert auf ihre Zunge.

Immerhin hatte sie damit den Redefluss der Frau gestoppt, die sie nun empört ansah und sich nervös ihre kleine Brille zurechtschob. Doch noch, bevor die Schnappatmung einsetzte, eilte Herr Kaan Mika zu Hilfe.

»Was Mika sagen will ist, dass Sie vielleicht etwas gemeinsam unternehmen sollten. Dass Sie etwas machen, was Ihnen UND Ihrem Pferd Spaß machen könnte«, sagte er mit besonders milder Stimme, um Mikas schroffe Diagnose wieder wettzumachen.

Die Frau runzelte fragend die Stirn. »Sie meinen ein anderes Buch? Oder soll ich ihr lieber eine Oper vorspielen?«

Mika wollte gerade den Mund aufmachen, um der begriffsstutzigen Frau noch ein paar weitere Wahrheiten mitzuteilen, als Herr Kaan sie sanft am Arm fasste.

»Mika braucht eine kurze Pause. Ich bin aber gleich wieder für Sie da«, entschied er bestimmt und führte Mika mit raschen Schritten aus der Boxengasse.

»Ich habe aber das volle Paket bezahlt!«, nölte es hinter ihnen her, als sie um die Ecke bogen. Erst vor der Tür ließ Herr Kaan Mikas Arm los und sah sie ernst an.

»Tut mir leid. Wirklich. Ich wollte mir ja Mühe geben, aber diese Leute sind einfach so …«, sie suchte nach einem passenden Wort, »… schwerhörig!«

»Ich weiß, was du denkst. Und du hast ja auch recht. Aber das ist nun mal ein Teil unserer Arbeit. Du musst Geduld haben mit den Menschen. Dann lernen sie vielleicht auch das Zuhören.«

»Aber das arme Pferd langweilt sich ganz schrecklich, das muss sie doch merken, dass das an ihr liegt und nicht an ihrem Pferd!«, brach es frustriert aus Mika heraus. Trotzig trat sie gegen einen unschuldigen Futtereimer, der im hohen Bogen durch die Stallgasse flog.

»Du musst deine Gefühle in den Griff bekommen«, sagte Herr Kaan und es klang ungewohnt streng. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er Mikas Ausbrüche vor den Kunden abmildern musste. Mika sah zu Boden und nickte stumm.

»Wir unterhalten uns ein andermal. Jetzt geh erst mal ein bisschen an die frische Luft. Ich kümmere mich um die Dame«, sagte Herr Kaan und fügte mit einem leisen Seufzer hinzu, »vielleicht kann sie dem armen Tier ja wenigstens Bücher von Karl May vorlesen.« Und damit verschwand er wieder im Stall.

Mika atmete tief durch und trat auf den verschneiten Hof hinaus. In der Zwischenzeit war es Winter geworden auf Kaltenbach und der Hof lag unter einer dicken weißen Schneedecke. Sie schloss ihre Daunenjacke bis unter das Kinn und ließ ihren Blick über das ehrwürdige Gestüt wandern, das im Schnee glitzerte wie ein verwunschenes Märchenschloss. Eigentlich war doch alles gut. Kaltenbach hatte keine finanziellen Sorgen mehr und auch Ostwind war glücklicher, seit er mit 34, seiner angebeteten Schimmelstute, gemeinsam auf der Koppel lebte. Mika wusste auch nicht so recht, was mit ihr nicht stimmte. Vielleicht musste sie einfach mal wieder mit jemandem reden.

Schnee rieselte gerade vom Wellblechdach des Unterstands, als Mika Ostwinds Koppel erreichte. Nachdem es im Herbst kühler geworden war, hatte sie zusammen mit Milan, Sam und Herrn Kaan einen offenen Stall für die beiden Pferde gebaut und jetzt im Winter sah die etwas schief zusammengenagelte Konstruktion aus wie eine weihnachtliche Krippe. Nur dass Josef und Maria Ostwind und 34 hießen und zwei Pferde waren. Doch auch sie bekamen Nachwuchs und der mächtige Bauch der Schimmelstute verriet, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Es würde ein Winterfohlen werden, was deutlich mehr Aufwand bedeutete als ein Frühlingsfohlen, das einfach ins Gras fallen konnte. Aber auf Kaltenbach waren alle gut vorbereitet und besonders Milan war Tag und Nacht mit der bevorstehenden Geburt beschäftigt. Mika stand am Gatter und betrachtete die beiden Pferde, die in stiller Eintracht dicht nebeneinander standen. Ostwind schien sie nicht gleich zu bemerken, da seine ganze Aufmerksamkeit der trächtigen Stute galt. Erst als Mika leise durch die Zähne pfiff, hob der schwarze Hengst den Kopf und kam in gemächlichem Schritt auf sie zu. In der kalten Luft stieg sein Atem in kleinen Wolken aus seinen Nüstern, als er seinen Kopf über das Gatter schob. Mika rieb ihm die Stirn.

»Du kannst es kaum erwarten, endlich Vater zu werden, was?«, fragte sie sanft und strich ihm eine schwarze Strähne aus dem Auge. Sein leises Wiehern bedeutete wohl Zustimmung. Mika verkroch sich tiefer in ihre Jacke, doch die Kälte schien eher aus ihrem Inneren zu kommen. »Kennst du das, wenn dir etwas fehlt, aber du nicht genau weißt, was?« Ostwind stand still vor ihr, doch sein Ohr zuckte dabei immer wieder in die Richtung von 34, die im Unterstand geblieben war. Mika seufzte.

»Na ja, egal. Wie wär’s denn mit einem kleinen Ausflug in den Schnee, nur du und ich?«, fragte Mika und spürte, wie es ihr bei dem Gedanken gleich wieder besser ging.

»Mika? Kann ich dich um einen Gefallen bitten«, ertönte in diesem Moment eine Stimme hinter ihr. »Oder wolltest du gerade einen Ausritt machen?« Mika drehte sich um und hinter ihr stand Milan. Seine blauen Augen lugten unter einer blau-rot gestreiften Wollmütze hervor, die er sich gegen die Kälte über seine Locken gezogen hatte.

»Sam wollte noch eine Box vorbereiten, die große mit der Wärmelampe, aber ich glaube, er hat es wieder vergessen und ich wäre viel ruhiger, wenn das schon gemacht wäre.« Mika musste unwillkürlich lächeln. Genau wie Ostwind litt Milan an einem ernsten Fall von Vaterfreude. Tagsüber war er als Pferdehebamme unterwegs und nachts büffelte er für seine Prüfung. Seit er vor einem halben Jahr auf Kaltenbach angefangen hatte, war es mit seinem Vagabundenleben vorbei. Er holte seinen Realschulabschluss nach und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er etwas wie ein Zuhause gefunden. Und eine Freundin. Er sah Mika mit so strahlenden Augen an, dass sie trotz ihrer gedrückten Stimmung nicht anders konnte als zurückzugrinsen.

»Nee, ich wollte nur mal nach den beiden Verliebten schauen.«

»Und wen meinst du damit genau?«, sagte Milan, legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich.

Für eine Weile standen sie einfach so da, nah beieinander, und schauten den beiden Pferden zu, die das Gleiche taten.

»Wie steht’s denn an der Namensfront?«, fragte Mika schließlich. »Was Besseres als 35 muss uns diesmal schon einfallen. Fanny hat Pferdinand vorgeschlagen, falls es ein Hengst wird.«

Milan lachte. »Wenn du ein paar Stunden Zeit hast, lese ich dir gerne meine Liste vor. Es gibt da echt viel, woran man denken muss: Der Name muss ja zur Fellfarbe passen, zum Körperbau, zum Temperament, zu den beiden Eltern …« Mika nickte ernst.

»Zur Jahreszeit, zum Wochentag, unbedingt auch zum Sternzeichen …« Milan knuffte sie in die Seite.

»Hey! Ich finde Namen wichtig. Ein Name sagt was darüber aus, wer man ist und woher man kommt. Ostwind zum Beispiel. Wer hat ihn eigentlich so genannt?«

Mika wurde nachdenklich. Das hatte sie sich tatsächlich noch nie gefragt. Er war einfach immer Ostwind gewesen.

»Keine Ahnung«, sagte sie ehrlich. Überrascht sah Milan sie an. »Du weißt nicht, wo er herkommt?«, fragte er staunend.

»Doch. Oma hat ihn von Friedrich Fink gekauft.«

»Nein, ich meine: Wo er herkommt. Wo er geboren wurde?«

Mika zuckte mit den Schultern. »Nein.«

»Na dann, komm mal mit.« Milan kletterte über das Gatter und ging auf die beiden Pferde zu. Mika folgte ihm, unsicher, was er jetzt vorhatte. Milan strich erst 34 liebevoll über den Rücken, dann drückte er sie behutsam zur Seite und trat neben Ostwind. Suchend tastete er über die Flanke des Hengstes bis seine Finger fanden, was sie gesucht hatten. »Hier! Rate mal was das ist?«

Mika beugte sich vor und strich ebenfalls über die Stelle an Ostwinds Fell. Sie kannte jeden Zentimeter ihres Pferdes und wusste sofort, was Milan meinte. Eine kreisförmige Erhebung mit sternförmig gefächerten Ausläufern.

»Das hat er schon immer, ’ne Art Narbe. Er muss da mal an irgendwas hängen geblieben sein oder so.«

Milan sah sie belustigt an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie kann man so viel über Pferde wissen wie du und gleichzeitig so wenig? Das ist ein Brandzeichen. Damit werden die Pferde als Fohlen gekennzeichnet, je nachdem zu welcher Rasse oder welchem Gestüt sie gehören. 34 zum Beispiel …«, er drehte sich zu seiner Stute um und strich über einen länglichen Fellwirbel, der sich etwa an derselben Stelle befand wie Ostwinds seltsame Narbe. »Das ist ein Pfeil mit einem Stern an der Spitze. 34 ist also ein Warmblut aus Österreich. Von einem Gestüt namens Donnersmark.« Mika kniff die Augen zusammen. Beim besten Willen konnte sie da weder einen Pfeil noch einen Stern erkennen.

»Das kannst du alles daraus lesen?«, fragte sie, ehrlich beeindruckt. Milan lachte.

»Nein, aber es gibt Bücher, in denen man die verschiedenen Brandzeichen nachschlagen kann.« Und damit drückte er Mika einen Kuss auf die Wange, ging zum Unterstand und begann Heuballen auf eine Schubkarre zu wuchten. Mikas Finger strichen nachdenklich über die vertrauten Knubbel in Ostwinds dunklem Fell. Es war ein seltsames Gefühl, sich plötzlich eine Frage zu stellen, die so nahelag und auf die sie trotzdem keine Antwort wusste. »Wo kommst du her, hm?«, murmelte sie leise. Und als hätte Ostwind sie verstanden, drehte er sich zu ihr und sah sie fragend an.

Gedankenverloren fegte Mika den Boden der großen Box. Von links nach rechts, von rechts nach links. Und wieder zurück.

»Wenn du so weitermachst, können wir ja nachher hier drinnen essen. Picknick im Stall«, bemerkte Sam, der mit einer Schubkarre voll frischem Stroh vor der Box stand und sie aus seinen warmen braunen Augen belustigt ansah. »Oder was soll das werden?« Erst jetzt sah Mika auf den blitzeblanken Steinboden zu ihren Füßen. Was machte sie hier nochmal?

»Ich … äh … bereite eine Box vor für 34. Milan meint, dass es jetzt jeden Moment soweit ist«, nun fiel es ihr wieder ein.

Sam verdrehte die Augen. »Das hat er vor drei Wochen schon gesagt. Und vor zwei. Und letzte Woche. Und seither jeden Tag. Das arme Pferd kann ja nicht mal Piep machen, ohne dass er sofort Dr. Anders aus dem Bett klingelt«, sagte er, doch es klang nicht spöttisch, sondern wohlwollend. Aus den anfänglichen Rivalen waren nämlich inzwischen gute Freunde geworden. Mika lächelte.

»Stimmt. Ich glaube, 34 fühlt sich ein bisschen zu sehr beobachtet.« Sie lehnte den Besen an die Wand und wurde wieder ernst. »Kommst du mit auf einen Spaziergang? Ich muss mal hier raus.«

Sam zögerte einen Moment. Und nicht nur, weil er Mikas »Spaziergänge« fürchtete, die regelmäßig tief in den Wald führten und mehrere Stunden dauern konnten. Meist so lange, bis sie zugab, sich verirrt zu haben.

»An sich, theoretisch, gerne – ich muss nur noch mit Frau Kaltenbach die Futterbestellung durchgehen. Und wir holen morgen drei neue Pferde, dafür muss ich noch alles klarmachen und mein Großvater wollte …«

Mika nickte resigniert. »Schon gut. Ich wollte eh noch mit Fanny skypen und …« erschrocken biss sie sich auf die Unterlippe. Mist! Zu spät. Denn wie immer wenn in letzter Zeit Fannys Name fiel, zogen dunkle Wolken über Sams sonniges Gesicht.

»Ach ja, wie geht’s ihr denn?«, fragte er betont beiläufig und bevor Mika antworten konnte: »Nein, sag nichts. Ist mir auch völlig egal!« Mika machte den Mund wieder zu – sie wusste, das war gefährliches Gelände. »Aber geht’s ihr gut? Jetzt, wo sie endlich am Ziel ihrer Träume ist? Pa-ris. Pah!«, aus Sams Mund klang der Name von Fannys Lieblingsstadt wie der einer fauligen Tomate. »Hat sie was über mich gesagt?« Er sah Mika mit einer Mischung aus Hoffnung und Enttäuschung an.

»Ich hab ja noch nicht mit …«, versuchte Mika es vorsichtig, aber Sam kniff schon wieder die Augen zusammen und hob abwehrend die Hand.

»Ist auch egal. Ich will’s nicht wissen. Sag ihr … ach, sag ihr nichts. Also, vielleicht … nein.« Er hob die Schubkarre auf und machte sich daran, die Box einzustreuen.

»Ja gut, also ich geh dann mal …«, versuchte Mika sich aus der Affäre zu ziehen, während sie langsam zurückwich.

»Alles klar! Ist mir auch wirklich egal. Ich bin total drüber weg«, sagte Sam und gabelte dabei das Stroh so schwungvoll aus der Schubkarre, dass es staubte. Mit einem letzten beschwichtigenden Lächeln eilte Mika aus dem Stall, nur weg, bevor es wieder losging. Ein verzweifeltes »Grüß sie von mir!« war das Letzte, das sie hörte, als sie durch den Schnee auf das Gutshaus zustapfte. Mit den Eiszapfen an der Dachrinne und einer dicken Schneehaube auf dem Dach wirkte Kaltenbach wie ein riesiges Lebkuchenhaus.

Mika schob die schwere Holztür auf und sofort umfing sie das warme Gefühl, dass immer in ihr aufstieg, wenn sie das alte Haus betrat. So roch ihr Zuhause: ein bisschen nach Holzfeuer, ein bisschen nach Pferden, ein bisschen nach nassen Klamotten, die über der Heizung zum Trocknen hingen und ein bisschen angebrannt, je nachdem ob Marianne gerade in der Küche war. Für einen Moment stand Mika im Windfang und atmete tief ein. Warum konnte sie dieses Gefühl nicht immer haben? Warum war sie nicht einfach nur glücklich und zufrieden, dass sie endlich hier angekommen war? Sie zog ihre klammen Schuhe aus und tappte zu dem großen Bücherregal in der Eingangshalle, das sie zuvor noch nie eines Blickes gewürdigt hatte. Die staubigen Bücher mit der altdeutschen Schrift auf den Lederrücken versprachen alles andere als unterhaltsame Lektüre. Mika legte den Kopf schief und versuchte die Titel zu entziffern: »Kandaren im Wandel der Zeit« – »Körperbau und Behaarung des Belgischen Kaltbluts« – »Preußische Gestütsgeschichte 1830–1912«. Puh. Mika hörte förmlich die Stimme ihrer Großmutter, die zu jedem dieser Themen problemlos einen zwei- bis dreistündigen Monolog halten konnte. Sie wollte gerade aufgeben, als ihr Blick auf ein dickes aber handliches Buch mit einem fleckigen roten Leineneinband fiel: »Die Kennzeichen der Pferde – Rasse- und Gestütsbrände Europas«. Mika zog das Buch schnell aus dem Regal und verbarg es unter ihrem Pulli. Auf keinen Fall durfte ihre Großmutter sie damit sehen, denn das hätte unweigerlich einen ihrer gefürchteten Vorträge zur Folge.

Just in diesem Moment drang Maria Kaltenbachs klare Stimme an ihr Ohr. Sie stand im Flur und telefonierte. Mika musste unwillkürlich grinsen, denn wie immer schrie ihre Großmutter in den Hörer, als wäre die Person am anderen Ende entweder sehr schwerhörig oder sehr begriffsstutzig oder beides.

»Das freut mich natürlich, aber leider kann ich Ihnen erst im Juni wieder einen Termin anbieten. Nein, leider, da ist wirklich nichts zu machen. Ich nehme Sie gerne auf die Warteliste …«, brüllte Maria gerade und blätterte dabei in einem großen ledergebundenen Terminplaner. Als Mika auf leisen Socken an ihr vorbeihuschte lächelte sie ihr zu, zeigte begeistert auf den vollen Kalender und gab ihr ein Daumen-hoch-Zeichen. Mika lächelte matt zurück. Im Gegensatz zu allen anderen auf Kaltenbach bekam sie beim Anblick des ausgebuchten Kalenders unerklärliche Atemnot. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, doch sie kämpfte das unangenehme Gefühl nieder und sprang schnell die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. Sie musste jetzt wirklich mit jemandem reden. mit jemandem, dem sie ehrlich sagen konnte, was sie fühlte und der sie nicht falsch verstehen und für undankbar und verantwortungslos halten würde. Sie holte ihren Laptop von dem Sekretär unterm Fenster, lehnte sich in die dicken Kissen ihres knarzenden Himmelbetts und klickte auf Fannys lachendes Gesicht. Es surrte und ächzte minutenlang, als hätte das Signal Schwierigkeiten, den weiten Weg von Kaltenbach nach Paris zu finden. Als Mika gerade aufgeben wollte, erschien Fannys verwackeltes Gesicht auf dem Bildschirm. Unwillkürlich musste Mika grinsen und merkte einmal mehr, wie sehr sie ihre Freundin vermisste.

»Bonschur, altes Maison!«, sagte sie und winkte in die Kamera.

»Seit wann kannst du Französisch?«, grinste Fanny zurück. »Na, wie läuft’s? Immer noch der Popstar unter den Pferdeflüsterern?«

Mikas Miene verdüsterte sich und Fanny, die wusste, wie ungern Mika diese Bezeichnung hörte, setzte schnell nach. »Hey, du weißt, was ich meine.«

»Schon gut. Aber wenn du wüsstest, wie die Leute mich manchmal anschauen. Als hätte ich so was wie ein drittes Auge auf der Stirn.«

Fanny nickte todernst. »Dabei ist das nur deine schlimme Akne – aber das ist zum Glück ganz normal in unserem Alter.« Mika legte den Kopf schief. Sie mochte Fannys Humor, aber manchmal war der auch etwas anstrengend – vor allem, wenn Mika etwas auf dem Herzen hatte.

»Sam lässt dich übrigens grüßen«, sagte sie deshalb schnell und tatsächlich wurde Fannys Gesicht ein bisschen ernster.

»Echt? Meinst du, er ist darüber hinweg?«, fragte Fanny hoffnungsvoll.

»So gut wie. Na ja, fast.« Mika zögerte. »Okay, nein. Überhaupt nicht«, gab sie schließlich seufzend zu. Denn egal was Sam sagte, es war ziemlich klar, dass er Fanny noch nicht verziehen hatte. Wie konnte sie einfach einen Schüleraustausch machen – ein ganzes Jahr lang und dann noch 712 Kilometer von ihm entfernt!? Sam verlor sein Herz nicht so schnell, aber mit Mikas Freundin Fanny war ihm das im letzten Sommer passiert. Sie war zwar alles, was er nicht war, aber genau das mochte er an ihr. Und auch Fanny mochte den Stallburschen mit den treuen Augen, aber sie mochte eben auch noch viele andere Dinge: Reisen, Paris, Kultur, Essen! Seit Jahren war ihr klar, dass sie ein Austauschjahr in Paris machen würde, und daran konnte auch Sam nichts ändern.

»Na dann. Grüß ihn auch von mir«, kam es vorsichtig aus Paris zurück. Mika nickte vage, beschloss aber insgeheim, kein Wort zu Sam zu sagen. Unter einer Stunde voll von Sams abwechselnden Beteuerungen von Gleichgültigkeit, Vorwürfen und Liebeskummer würde sie dann nämlich nicht davonkommen. Mika seufzte. Und gegenüber auf dem Bildschirm seufzte Fanny im selben Moment ebenfalls. Die Freundinnen mussten lachen.

»Du zuerst«, sagte Fanny schließlich.

»Ach, ich weiß auch nicht. Ich habe das Gefühl, dass niemand mir zuhört«, begann Mika. »Alle sind so beschäftigt mit dem Hof und –« Sie hielt inne, denn aus den Lautsprechern ihres Laptops kamen plötzlich seltsame Geräusche. Es klang als würde Fanny … knurren?

»Weg! Hau ab! Gehst-du-weg!« Mika stutzte und sah jetzt, wie Fanny auf dem krisseligen Videobild nach etwas trat.

»Alles okay bei dir?«

»Nein!«, kam es keuchend zurück. »Meine Gastschwester hier hat diesen schrecklichen kleinen Hund, eine fiese, kleine Ratte … AUA! Gehst du weg von dem Kabel! AUS!«

Und das war das Letzte, was Mika von ihrer Freundin hörte. Dann wurde das Bild schwarz. Sie starrte noch einige Sekunden verwirrt auf den dunklen Bildschirm, bis ihr klar wurde, dass ihr Gespräch zu Ende war. Wenige Augenblicke später piepte auch schon ihr Handy mit einer SMS von Fanny. »Töle hat sich in Kabel verbissen und im Gegensatz zum Kabel leider überlebt. Sorry. Melde mich bald. Umarmung, Fanny.«

Seufzend klappte Mika ihren Laptop zu, sah aus dem Fenster, vor dem dicke Flocken vom grauen Himmel fielen und fühlte sich mit einem Mal sehr einsam. Heute war einfach nicht ihr Tag.

2. Kapitel

Im Salon des Gutshauses prasselte unterdessen ein gemütliches Kaminfeuer. Maria Kaltenbach, Sam, Herr Kaan und Milan saßen schon um den festlich gedeckten Tisch und waren in ein angeregtes Gespräch über solargespeiste Elektrozäune vertieft, als Mika den Raum betrat. Überrascht hielt sie im Türrahmen inne, als sie sah, dass Marianne das gute Silber und die Kristallgläser gedeckt hatte. Sogar Milan hatte den Versuch unternommen, seine unzähmbaren Locken zu einer ordentlichen Frisur zu bewegen. Tinka und Dr. Anders waren da und der Tierarzt hatte sogar einen Schlips umgebunden. Hatte jemand Geburtstag? Alarmiert sah sie an sich herab und bemerkte im selben Moment den missbilligenden Blick ihrer Großmutter auf ihre gestreifte Schlafanzughose, die sie in dicke rote Wollsocken gestopft hatte.

»Mika, schön dass du es einrichten konntest, so vornehm gekleidet zum Essen zu erscheinen«, sagte Maria trocken, als Mika schnell zu ihrem Platz schlich. Sie sah Sam fragend an, doch der war mit seiner Aufmerksamkeit schon ganz bei seiner Chefin, die jetzt feierlich ihr Glas erhob. »Ich wollte auf diesen besonderen Tag mit euch gemeinsam anstoßen. Nach knapp einem halben Jahrhundert …«, sie machte eine Kunstpause und sah jeden Einzelnen am Tisch der Reihe nach an. Als sie bei Mika angelangte, glänzten die Augen der sonst strengen Großmutter feucht. »… ist das Gestüt Kaltenbach seit heute wieder schuldenfrei und damit im alleinigen Besitz der Familie.«

»Yeah!«, jubelte Sam und gab Milan neben sich high-five.

»Gestüt und Therapiezentrum Kaltenbach«, korrigierte Herr Kaan sie sanft und Maria lächelte ihn warm an.

»Natürlich!« Sie hob ihr Glas und alle anderen taten es ihr nach. Doch gerade als sie es an die Lippen setzen wollten, fuhr Maria fort. »Und ich wollte mich für eure hervorragende Arbeit und euren nimmermüden Einsatz bedanken. Wir sind ausgebucht bis zum Sommer – und das habe ich euch zu verdanken!« Wieder hoben alle ihre Gläser an die Lippen, doch es ging noch weiter: »Mein ganz besonderer Dank gilt allerdings einem Menschen.« Sie wandte sich an Mika, während die anderen immer noch unsicher ihre Gläser hochhielten, die langsam schwer wurden. »Meiner wunderbaren Enkelin, ohne deren außerordentliche Gabe, wir alle nicht hier wären. Danke dir, Mika!« Alle Augen waren nun auf Mika gerichtet, und auch Maria sah sie erwartungsvoll mit erhobenem Glas an. Mika hatte im Gegensatz zu ihrer Großmutter keine Ahnung, was die Etikette in einem solchen Fall vorsah. Wie immer fühlte sie sich eher unwohl, wenn alles so festlich und förmlich wurde. Deshalb stieß sie ihr Glas an Marias.

»Na dann, prost Oma!«, sagte sie einfach und der ganze Tisch brach erlöst in schallendes Gelächter aus.

»Auf Kaltenbach!« – »Auf die Zukunft!« kam es fröhlich von allen Seiten als die Tischgesellschaft sich zuprostete. »Auf unsere Pferdeflüsterin!«

Keiner am Tisch schien zu bemerken, wie still Mika geworden war und schon bald war um sie herum ein eifriges Gespräch über die Planung des nächsten Tages im Gange. Herr Kaan, Sam und Maria hatten einen Termin in der Stadt, um zwei neue Pferde zu begutachten, und Milan hatte morgen seinen ersten Prüfungstag.

»Wir müssen ja nicht allzu früh aufbrechen«, sagte Maria gerade zu ihm. »Halb sechs reicht völlig. Also Frühstück um fünf, ja, Mika?« Mika, die nachdenklich aus dem Fenster gestarrt hatte, sah Maria erschrocken an. »Wer frühstückt zu fünft?«

Herr Kaan schmunzelte. »Wir. Zu viert.« Er legte Maria beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Ich finde, Mika hat sich morgen einen freien Tag verdient. Es ist Samstag, wir haben keine Aufnahme und die Pferde anzuschauen, schaffen wir auch ohne sie. Es sei denn, Milan braucht seelischen Beistand?« Er sah Milan fragend an, der lächelnd den Kopf schüttelte.

»Ich komm schon klar. Und wie ich Mika kenne, ist sie eh nicht scharf drauf, den Tag ausgerechnet in einem Schulgebäude zu verbringen.« Mika sah ihn dankbar an. Ein freier Tag! Sie fühlte förmlich, wie ihr die Vorfreude das Herz öffnete.

»Na gut«, grummelte Maria Kaltenbach. »Wenn du wenigstens ans Telefon gehst und die Elektropost-Anfragen beantwortest. Dazu bin ich heute nicht mehr gekommen. Marianne hat sich böse in den Finger geschnitten und musste verarztet werden.« Marianne, die gerade den Tisch abräumte, sah überrascht auf ihre völlig intakten Finger.

»Natürlich!«, beeilte Mika sich, die nur zu genau wusste, dass ihre Großmutter ihren neuen Computer nicht mit einer zwei Meter langen Mistgabel anfassen würde. Doch die Ausreden, die die alte Dame dafür jeden Tag aufs Neue fand, waren immerhin kreativ.

Als Mika später in ihrem Zimmer im Bett lag, konnte sie kaum noch verstehen, warum sie heute so missmutig gewesen war. Der Wetterbericht auf dem Display ihres Handys zeigte für Morgen eine strahlende Sonne. Sie konnte ausschlafen und es warteten auch keine neurotischen Pferdebesitzer, die ihr das Ohr abkauten, warum ihre Pferde nicht zuhörten, während es in Wirklichkeit immer andersherum war. Gerade als sie das Licht ausmachen wollte, fiel ihr Blick auf das rote Buch, das immer noch auf dem Stuhl unter ihren Klamotten lag. Durch das Gespräch mit Fanny hatte sie das Buch völlig vergessen.

Sie stand auf, setzte sich an den Tisch und knipste die Schreibtischlampe an. Sie nahm einen Bleistift und fischte einen alten Briefumschlag aus dem Papierkorb. Auf dem Absender erkannte sie die geschwungene Handschrift ihrer Mutter und musste kurz lächeln. In diesem Punkt war Elisabeth ihrer Mutter Maria ähnlich: Auch sie hatte nur wenig übrig für moderne Kommunikationsformen. Auch wenn der Rest der Welt sich per Facebook und E-Mail austauschte, schrieb sie Mika zuverlässig jede Woche einen richtigen Brief. Auf Papier und mit Füllfederhalter. Nachdenklich sah Mika aus dem Fenster auf den dunklen, schneebedeckten Hof und versuchte, sich Ostwinds Brandzeichen vor ihr inneres Auge zu holen. Aus Ostwinds Narbe wurde plötzlich eine Form. Sorgfältig übertrug sie das Zeichen aus ihrer Erinnerung auf die Rückseite des Umschlags. Ein Kreis, von dem strahlenförmig dünne, geschwungene Linien ausgingen. Und darunter zwei gewellte Linien, die parallel zueinander verliefen. Mika betrachtete stirnrunzelnd die fertige Zeichnung. War das … eine Sonne? Mit Wellen darunter? Mika zog das Buch zu sich heran, schlug es auf und musste erst einmal herzhaft niesen, als ihr der staubige Geruch in die Nase stieg.

Zwei Stunden später war sie auf Seite 296 angekommen. In ihrem Kopf schwirrten so viele Zeichen und Symbole, als hätte sie ein Ägyptologie-Studium im Schnelldurchlauf absolviert. Doch sie hatte nichts gefunden, was der Sonne auf Ostwinds Flanke auch nur ähnelte. Wahrscheinlich war der modrige Wälzer einfach zu alt. Mika gähnte. Sie knipste die Schreibtischlampe aus und wollte das Buch gerade zuklappen, als ihr etwas einfiel. Milan hatte gesagt, dass 34 aus Österreich stammte. Sie hatte die letzten Stunden alle Brandzeichen deutscher Gestüte studiert, aber was, wenn Ostwind gar nicht aus Deutschland kam? Sie knipste die Lampe wieder an und blätterte weiter. Österreich. Schweiz. Italien. Nichts. Spanien. Schon fast im Halbschlaf blätterte Mika eine vergilbte Seite nach der anderen um und hätte es beinahe übersehen. Doch plötzlich war sie mit einem Schlag hellwach. Und spürte, wie ihr eine Gänsehaut über die Arme kroch. Da war es. Am unteren Ende der Seite in einem unscheinbaren grauen Kästchen. Mika beugte sich vor und schob den zerknitterten Briefumschlag mit ihrer Bleistiftzeichnung neben die Abbildung. Das war Ostwinds Brandzeichen. Und es war keine Sonne, wie sie jetzt feststellte, sondern eine Blume. Mika musste mehrmals blinzeln, um ihre müden Augen auf die winzige Bildunterschrift scharfzustellen. »Die Silberdistel von Ora«, las sie leise. »Brandzeichen des gleichnamigen Gestüts. Cádiz, Andalusien.« Mika blätterte um. Außer dem verblichenen Schwarz-Weiß-Foto eines alten herrschaftlichen Hauses war das alles, was an Information zu finden war. Sie lehnte sich zurück. Andalusien. Wie konnte das sein? Gleich in der Früh musste sie ihre Großmutter fragen. Und Herrn Kaan! Mika sah auf die Uhr. Viertel nach vier – es war praktisch schon Morgen. Sie knipste die Schreibtischlampe aus und kroch ins Bett. »Ora. Andalusien«, murmelte sie schlaftrunken, bevor sie zum ersten Mal seit Langem mit einem Lächeln auf dem Gesicht einschlief.