Past, Present, Future - Rachel Lynn Solomon - E-Book

Past, Present, Future E-Book

Rachel Lynn Solomon

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Beschreibung

Die Fortsetzung des Rivals-to-Lovers-Bestsellers – mit Charakterkarte in der limitierten Erstauflage! Kurz vor den Sommerferien fanden Rowan und Neil nach vier Jahren der Rivalität endlich zueinander – doch was passiert, nachdem die Rivals zu Lovers werden? Diese langersehnte Fortsetzung folgt den beiden aufs College: Rowan fliegt nach Boston, Neil nach New York. In einem Jahr voller nächtlicher Anrufe, Wochenend-Trips und alltäglichen Struggles müssen die beiden herausfinden, ob ihr Happy End von Dauer ist - selbst wenn die Vergangenheit droht, sie einzuholen. Young Adult meets New Adult, Dual POV, mit eingelegter Charakterkarte in der limitierten Erstauflage. 💙

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Seitenzahl: 459

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Rachel Lynn Solomon

Past Present Future

Roman

Aus dem Englischen von Jana Körner und Anja Samstag

Triggerwarnung

Past, Present, Future enthält Elemente, die triggernd oder belastend sein könnten. Diese sind: Depression, häusliche Gewalt

 

 

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Past Present Future bei

Simon & Schuster Children’s Publishing.

 

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Past Present Future © 2024 by Rachel Lynn Solomon

Übersetzung: Jana Körner und Anja Samstag

Lektorat: Emily Brodtmann

Covergestaltung: Johanna Lohse (W1-Verlage GmbH) unter der Verwendung des Coverdesigns von Laura Eckes

Coverillustration © 2024 by Laura Breiling

Zitat (S.7): Nora Roberts, Frühlingsträume

© 2010 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Illustration Wolfskopf (S.187): Omar Mouhib/iStock

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-188-7

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

Für diejenigen, die wissen wollten, ob die Geschichte weitergeht

»Ich bin noch nie die Richtige gewesen. Für niemanden.«

Carter trat wieder näher an sie heran.

»Daran wirst du dich gewöhnen.«

Er hob ihr Gesicht an und küsste sie.

»Warum? Warum bin ich die Richtige?«

»Weil mein Leben reicher und so viel bunter geworden ist, seit du wieder darin bist.«

(Frühlingsträume von Nora Roberts)

1Rowan

In Liebesromanen erfahren wir oft nicht, wie es dem Paar ergeht, wenn beide auf unterschiedliche Colleges gehen.

Natürlich liegt das meistens daran, dass sie längst berufstätige Erwachsene sind. Manchmal buhlen die beiden um dieselbe Promotion. Manchmal ist sie Umweltaktivistin und will einen Park vor einem Immobilienunternehmen retten – und dem unanständig charmanten CEO. Oder sie passt als Kindermädchen auf seine drei Racker auf, und er ist ein schamloser Playboy, der seine Verletzlichkeit hinter einer mürrischen Fassade versteckt.

Besonders viele Playboys gibt es auf kleinen Kunsthochschulen an der Ostküste nicht.

»Ich glaube selbst kaum, dass ich das frage«, setzt Neil an und sieht sich mit zusammengekniffenen Augen und düsterer Miene in meinem Zimmer um, »aber meinst du nicht, dass das eventuell zu viele Bücher sind?«

Sofort schaue ich vom Kampf auf, den ich mir mit dem sturen Reißverschluss meines Koffers liefere. »Wie sollen sie mich inspirieren, wenn sie nicht in meiner Nähe sind?«

Wobei er natürlich recht haben könnte – ein Gedanke, den ich mir bis vor drei Monaten niemals erlaubt hätte. Der Koffer ist zu klein und zu voll, und hier gibt es noch tausend Dinge, die ich gerne mitnehmen würde. Zu meiner Verteidigung: Der Großteil meiner Sachen ist schon gepackt und wartet unten im Flur. Das hier ist der letzte Koffer. Der, vor dem ich mich bisher gedrückt habe, weil er für so viel steht.

Da der Reißverschluss sich partout nicht rührt, zerre ich zwei pastellfarbene Nora-Roberts-Taschenbücher aus dem Inneren und halte sie einen Moment lang unschlüssig in den Händen, bevor ich eins zurück ins Regal stelle.

Neil zieht eine Augenbraue hoch und verschränkt die Arme vor der Brust, was ihn aussehen lässt wie eine ernste, extrem süße Statue.

Mit einem widerwilligen Stöhnen stelle ich auch das andere Buch ins Regal.

»Du hast gesagt, ich soll helfen«, erinnert er mich. »Der genaue Wortlaut in deiner SOS-Nachricht heute Morgen war sogar: ›Hab kein Erbarmen mit mir‹.«

»Schon, aber das gilt doch nicht für Nora.« Ich widme mich wieder dem Koffer, und nach ein wenig Geruckel geht er endlich komplett zu. »Weißt du, bisher habe ich wirklich beeindruckende Zurückhaltung bewiesen.« Ich laufe zu meinem Kleiderschrank, schiebe ein paar Klamotten beiseite und enthülle einen gewaltigen Stapel Taschenbücher, die ich von Flohmärkten oder aus Secondhandläden habe und nicht mehr im Regal unterbekomme.

Neil sieht nicht mal ansatzweise überrascht aus. »Ach ja, die berüchtigte Zurückhaltung der Rowan Roth. Sie übertreibt niemals. Verbiegt niemals die Wahrheit. Romantisiert niemals etwas.«

Dafür fängt er sich einen demonstrativen Seitenblick ein, und endlich bröckelt die Fassade aufgesetzter Ernsthaftigkeit. Sein Blick wird sanft und ein Grinsen schleicht sich auf seine Lippen.

Die späte Augustsonne fällt durchs Fenster und lässt Neils Sommersprossen leuchten, genau wie die goldenen Strähnchen in seinen roten Haaren. Zu dieser Jahreszeit wird es frühestens um zehn Uhr dunkel, und in letzter Zeit haben wir wirklich jedes Fünkchen Tageslicht ausgenutzt.

Die meisten Leute dachten, unsere Beziehung würde den Sommer nicht überstehen, doch die vergangenen zweieinhalb Monate waren die besten meines Lebens. Und das ist keine Übertreibung. An manchen Tagen hat Neil sich im Two Birds One Scone eingenistet – dem Café, in dem ich arbeite. Dort hat er mit einem Iced Chai in der Ecke gesessen, vertieft in seinen eigenen Ferienjob als Remote-Transkriptor für eine ortsansässige Anwaltskanzlei. Nach Ladenschluss haben wir uns das übrig gebliebene Gebäck geschnappt, sind damit in den Park gegangen oder haben es ins Kino geschmuggelt. Wir waren mit Neils Schwester am Strand oder im Skatepark, hatten Doppeldates mit Kirby und Mara und haben mit seinen Freunden hitzige Star Wars-Debatten geführt. Vor ein paar Tagen haben wir meinen neunzehnten Geburtstag mit einer Fährfahrt nach Whidbey Island gefeiert. Haben uns die Bäuche mit Eis vollgeschlagen, viel zu oft in die Sonne geblinzelt, uns gegenseitig Bücher ausgesucht und die ganze Stadt zu Fuß erkundet. Inzwischen sind wir Profis darin, den Sonnenuntergängen nachzujagen, das Verabschieden auszureizen, »noch zehn Minuten mehr« herauszukitzeln und danach noch fünfzehn weitere.

Wirklich perfektioniert haben wir allerdings, das Gespräch über das Unvermeidliche hinauszuzögern: die Tatsache, dass ich morgen nach Boston fliege, während Neil in ein Flugzeug nach New York steigt.

Ich wende mich vom Kleiderschrank ab. »Dir gefällt es doch, mir sagen zu dürfen, was ich tun soll.« Ich lege ihm den Zeigefinger mitten auf die Brust und lasse ihn langsam nach oben wandern.

Ihn zu necken ist immer noch eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.

Neil läuft schon wieder rot an, und seine langen Wimpern flattern. Am Anfang unserer Beziehung habe ich befürchtet, er würde vielleicht irgendwann nicht mehr rot werden. Umso glücklicher macht es mich, wenn ich ihm seine Gefühle immer noch so deutlich vom Gesicht ablesen kann. »Aber nur, weil du es mir sonst niemals erlauben würdest.«

Als ich ihn am T-Shirtkragen zu mir ziehe, packt mich ein vertrautes Kribbeln. Eigentlich soll es nur ein flüchtiger Kuss werden, doch in der Sekunde, als unsere Lippen aufeinandertreffen, zerfließe ich.

Seine Hände landen in meinen Haaren. Er intensiviert den Kuss, während ich ihn rückwärts drücke und den Koffer beiseiteschiebe, damit wir Platz auf dem Bett haben. Dann sitze ich auf seinem Schoß, sein erdiger Geruch scheint mir die Neuronen im Hirn neu zu vernetzen, und mit jedem rauen Atemzug verzehre ich mich bereits nach dem nächsten. Nach seinen Fingerspitzen über dem Gürtel meines Hemdkleids. Meinem Mund an seiner Kehle.

Irgendwas hat dieser Kerl an sich, dass ich jedes Mal beinahe den Verstand verliere. Ich kann immer noch nicht glauben, dass das alles wirklich passiert.

Wie aufs Stichwort erklingt genau jetzt ein Klopfen an meiner halb offenen Tür. Neil und ich springen zurück auf die Füße, streichen uns die Kleider glatt und tun ausgesprochen beschäftigt: Ich schiebe den Reißverschluss vom Koffer konzentriert hin und her, Neil steht blitzschnell am Schreibtisch und inspiziert den Becher mit dem Aquarellbild von der Seattler Skyline, in dem ich meine Stifte aufbewahre.

Auch das haben wir mittlerweile perfektioniert, fast so sehr wie meine Eltern ein Gespür dafür entwickelt haben, wann wir die jugendfreie Zone verlassen.

Inzwischen ist es ein echter Running Gag, wenn auch ein frustrierender: Es scheint uns einfach nicht vergönnt, ein bisschen Zweisamkeit zu genießen. Als wir am letzten Schultag – oder genau genommen am Tag danach, immerhin war es schon nach Mitternacht – miteinander geschlafen haben, hätten wir wohl beide nicht gedacht, dass wir mal eine Beziehung führen würden. Ich bin am besagten Morgen jedenfalls nicht mit der Absicht aufgewacht, meinen Langzeitrivalen Neil McNair zu küssen, geschweige denn ihn mit in mein Zimmer zu nehmen. Aber es hat sich richtig angefühlt, mich auf ihn einzulassen. Da war dieses neue hartnäckige Ziehen in mir, und ich konnte einfach nicht genug von ihm bekommen. Ich wollte lange, potenziell hitzige Unterhaltungen über Gott und die Welt führen und gleichzeitig herausfinden, auf wie viele Arten unsere Körper zusammenpassen. Denn obwohl wir in einer Nacht von null auf hundert beschleunigt haben, gibt es immer noch viel Neuland für uns. Übersprungene Etappen, die wir hoffentlich irgendwann bald erkunden.

Das Problem an der Sache: Seine Schwester hat gerade ein Alter erreicht, in dem ihre Mutter sie ruhigen Gewissens auch mal einen Tag lang allein zu Hause lässt. Und meine Eltern arbeiten hier unten in ihrem Arbeitszimmer. Ein paar Mal haben wir uns auf der Rückbank meines Honda Accord verknotet, zumindest, bis ein Polizist gegen das Fenster gehämmert und uns damit so verschreckt hat, dass wir es seitdem nicht noch mal probieren wollten.

Jetzt kommt Dad ins Zimmer und winkt Neil freundlich zu, bevor er sich zu mir umdreht. »Ro-Ro?« Er lehnt sich an den Türrahmen. »Bist du bald fertig? Wir sollten allmählich los, wenn wir um fünf da sein wollen.«

Bevor ich antworte, schaue ich mich im Raum um. Zur Pinnwand über meinem Schreibtisch, an die ich Fotos meiner Freundinnen, Auszeichnungsrosetten und die Liste gepinnt habe, die Neil und ich am letzten Schultag geschrieben haben: Rowan Roths Erfolgsrezept für die Highschool … und danach! Zu meinem Jahrbuch mit Neils Liebesgeständnis – viel zu wertvoll, um damit durchs Land zu reisen, denn ich würde es nicht verkraften, wenn es verloren ginge.

Und zu Neil, der dasteht mit seinem verlegenen süßen Grinsen und einer Haarsträhne, die ihm einfach stur vom Kopf absteht.

Ja und nein.

Theoretisch bin ich fertig, aber ich bin auch unsicher, ob ich all das tatsächlich hinter mir lassen kann.

»So fertig, wie’s geht.« Doch als ich die Zimmertür hinter Neil zuziehe, fühlt es sich plötzlich an, als würde dahinter so viel mehr zurückbleiben als nur ein paar Bücher.

Meine Eltern bestehen vor meiner Abreise auf einer kleinen Abschiedsfeier: ein Picknick am Green Lake mit Bohnenburgern und gegrilltem Mais. Meine besten Freundinnen Kirby Taing und Mara Pompetti sind schon da und freuen sich vermutlich diebisch über ihre paar Wochen Extrasommer, weil das Semester an der University of Washington erst Ende September losgeht.

Dad ist froh, etwas zu tun zu haben, und zündet den Grill an, während Mom kompostierbare Teller verteilt. Neils Mom Joelle gesellt sich mit einer Tupperdose voll gewürfelter Wassermelone und einem großen Sonnenhut zu uns. Bei einer Familie von Rotschöpfen wird Sonnenschutz halt großgeschrieben.

Als wir letzten Monat zu fünft essen waren, habe ich festgestellt, dass es gar nicht so furchtbar peinlich ist, wenn die eigenen Eltern die Mutter des Freundes kennenlernen. Mit meinen Ex-Freunden haben wir das nicht gemacht, dafür fühlten sich die Beziehungen nicht ernst genug an. Das wäre bestimmt eher seltsam geworden, so nach dem Motto: Und, was haltet ihr von den durchdrehenden Hormonen unserer Kids? Aber die drei haben sich sofort verstanden, sich über das Seattler Viertel Waterfront ausgetauscht (gemischte Meinungen) und darüber, ob die Seahawks dieses Jahr bei den Playoffs eine Chance haben (nein).

Wir brauchen ein paar Minuten, bis wir es uns gemütlich gemacht und alle Umarmungen und Begrüßungen abgearbeitet haben. Überall um uns herum spielen Leute Krocket, sie führen ihre Hunde Gassi oder fahren Inliner, manchmal sogar beides gleichzeitig. Alle wollen den vielleicht letzten schönen Tag des Jahres noch mal so richtig auskosten. Denn in Seattle kann man nie wissen.

»Wenn mir nicht bald jemand verspricht, dass das hier nicht das Ende ist, fange ich eventuell an zu heulen«, bemerkt Mara. Ihre welligen blonden Haare hat sie in einen Messy Bun gebunden, das kurze Sommerkleid betont ihre vom Tanzen definierten Waden. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Neil und mein Dad unbeholfen zusammen vor dem Grill stehen, als hätten sie beschlossen, dass Männer so eben eine Verbindung aufbauen. Trotzdem muss Joelle eingreifen und die beiden warnen, als die Burger langsam zu dunkel werden.

Kirby sitzt neben Mara auf einer Parkbank und legt ihr einen Arm um die Schulter. »Das wird schon. Überleg mal, nur noch einhundertzweiundzwanzig Tage, bis wir uns alle wiedersehen.«

»Dadurch soll ich mich besser fühlen? Das ist eine Ewigkeit.«

Ich schnappe mir eine Dose LaCroix-Wasser mit Passionsfruchtgeschmack und öffne sie. »Dann denk einfach dran, wie oft ich dir in den letzten Jahren so richtig auf die Nerven gegangen bin. Außerdem bist du eh zu beschäftigt, um mich zu vermissen. Wie viele Credits willst du noch mal machen?«

»Nur zweiundzwanzig«, erwidert sie unschuldig. »Ich will die ganzen Vorbereitungskurse am liebsten ganz schnell abhaken.« Im Gegensatz zu Mara macht Kirby erst mal nur die für Erstis empfohlenen fünfzehn Credits. Weil sie sich noch nicht auf ein Hauptfach festgelegt hat. Und weil sie dafür bekannt ist, so viel wie möglich mit so wenig Aufwand wie nötig zu erledigen.

»Ich finde ja immer noch, dass du mit mir zusammen Die Anthropologie der Eiscreme hättest belegen sollen«, meint sie. »Wenn sich allerdings rausstellt, dass wir da gar kein echtes Eis essen dürfen, raste ich aus.«

Während wir uns weiter über unsere Stundenpläne für den Herbst unterhalten, werden Burger und Mais herumgereicht. Mein Seminar für Kreatives Schreiben ist das Einzige, wegen dem ich schon ganz aufgeregt bin, weil es von einer Literatur-Ikone gehalten wird, deren Romane ich diesen Sommer regelrecht verschlungen habe. Ich habe mir vorgenommen, mich am College nicht mehr für meinen Traumberuf zu schämen, und Miranda Everetts Seminar – in dem es von angehenden Autoren und Autorinnen nur so wimmeln wird – ist mein erster Schritt in diese Richtung.

Mara beißt in ihren Burger. »Sollte deine Mitbewohnerin cooler sein als wir, behalt das bitte für dich.«

»Hey, sprich nur für dich selbst.« Kirby tut, als würde sie sich Boxhandschuhe überstülpen. »Ich persönlich finde es aufregender, wenn man seine Feinde kennt.«

»Ich würde euch niemals ersetzen!«

Neil rutscht mit einem vollen Teller neben mir auf die Bank. Unsere Eltern sind in eine Unterhaltung über die steigenden Kosten von Schulbüchern vertieft. Sein Knie stupst gegen meins. »Ich auch nicht. Wer sonst könnte uns so gnadenlos wegen unserer Beziehung aufziehen wie du, Kirby?«

Es stimmt: Meine Freundinnen wussten schon vor mir, wie ich für Neil empfinde, und lassen sich jetzt keine Gelegenheit entgehen, Witze über unseren vierjährigen Konkurrenzkampf und das Spiel zu reißen, bei dem wir endlich begriffen haben, was für Vollpfosten wir doch waren. Aber sie meinen es nur gut, natürlich.

Kirby strahlt. »Ich gebe mein Bestes.«

»Seattle wird sich ohne euch total leer anfühlen«, sagt Mara, während Kirby die Zähne in einen buttrigen, krossen Maiskolben schlägt. Genau in diesem Moment begreife ich etwas: Ich war so mit Packen und Organisieren beschäftigt, dass mir gar nicht wirklich klar war, dass ich in vierundzwanzig Stunden nicht mehr hier wohnen werde.

An diesem Ort habe ich mein ganzes Leben verbracht. Diese Stadt ist genauso ein Teil von mir wie mein lästiger Pony oder meine Vorliebe für Vintage-Kleidung. Beweisstück A ist das lavendelfarbene Hemdkleid mit Blumenmuster, das ich letzten Monat bei Red Light gefunden habe und heute trage.

Ob Shoppen in Bostoner Secondhandläden ohne meine besten Freundinnen wohl genauso viel Spaß macht?

Gerade als ich den Bohnenburger schwer im Magen liegen spüre, reckt Mom ihr Glas in die Höhe und zieht so die ganze Aufmerksamkeit auf sich. »Auf euch, Rowan und Neil, und auf all die Abenteuer, die euch im nächsten Jahr am anderen Ende des Landes erwarten. Wir vermissen euch jetzt schon, aber wir sind uns sicher, dass ihr Großes erreichen werdet.«

Joelle hebt ihren eigenen Becher. »Wie lieb von dir, Ilana. Auf spannende Erfahrungen und Begegnungen mit neuen Menschen, und aufs Nach-Hause-Kommen und das Erzählen all der tollen Erlebnisse.«

»Aufs Probieren echter New Yorker Pizza«, ruft Neil.

»Und aufs Erkunden der unabhängigen Buchläden in Boston«, füge ich hinzu, obwohl ich einen Knoten im Hals habe. »Und darauf, dass wir uns nie schämen, in der Romance-Abteilung gesehen zu werden.«

Alle stoßen an. Trinken einen Schluck. Die Kohlensäure kribbelt mir im Magen, und ich versuche, meine blankliegenden Nerven für den Rest des Tages im Zaum zu halten. Denn schon in ein paar Stunden wird das hier – mein Leben in Seattle – wirklich und wahrhaftig enden. Ich dachte, ich hätte Frieden damit geschlossen, mir neben all der Aufregung, die ich mit an die Ostküste nehme, auch genug Platz für Trauer eingeräumt. Doch gerade bin ich mir da nicht so sicher.

Vielleicht muss man sich im Angesicht einer drastischen Veränderung aber auch genau so fühlen.

Als die Sonne allmählich den Himmel hinab wandert, muss Joelle los, um Neils Schwester Natalie bei einer Freundin abzuholen. Auch meine Eltern, die ewigen Frühaufsteher, können die ersten Gähner nicht mehr unterdrücken. Genau aus diesem Grund sind wir vorsorglich mit zwei Autos hergefahren. Kirby und Mara merken, dass Neil und ich gerne noch ein bisschen Zeit für uns haben wollen, darum umarmen sie uns fest und nehmen mir das Versprechen ab, mich sofort nach der Landung zu melden.

Inzwischen ist es etwas frisch, aber noch reicht es, auf der Picknickdecke näher zu Neil zu rutschen. Zur Not habe ich auch seine graue Sweatshirtjacke dabei, die ich ihm auf keinen Fall zurückgeben werde, aber sie ist im Auto. Seine Körperwärme ist sowieso viel besser.

»Auf einer Skala von eins bis zehn, wie wahrscheinlich ist es, dass unsere Eltern beste Freunde werden, wenn wir weg sind?« Er legt mir den Arm um die Schultern und zieht mich an seine Brust.

»Mindestens eine Neun. Ist aber doch süß. Ich will nicht, dass sie einsam sind.« Ich seufze, viel gequälter als erwartet. Eigentlich dachte ich, wir könnten den Abend ohne Therapiesitzung ausklingen lassen, aber da habe ich mich wohl geirrt.

»Du machst dir Sorgen. Willst du drüber sprechen?«

»Ach, nur die übliche Angst vor dem Ungewissen. Jeder einzelne Aspekt wird vollkommen neu sein. Den Campus kann ich mir vorstellen, aber nicht das Wohnheim oder die Seminarräume. Ich habe keine Ahnung, wie Fahrkarten in Boston aussehen oder ob die Professorinnen und Professoren mich mögen oder wo ich sitzen werde, wenn ich dich anrufe.«

»Hilft es, dich dran zu erinnern, dass du nicht alles bis ins letzte Detail geplant haben musst?«

»Ja, aber es ändert auch nichts daran, dass ich es gerne möchte«, nörgele ich.

Ein paar gedankenverlorene Herzschläge lang fährt er mir mit den Fingern durch die Haare. Ein sanfter Rhythmus. »Erinnerst du dich noch ans zweite Jahr, als wir mit dem Englischkurs diese Exkursion gemacht haben, um uns eine moderne Neuaufführung von Macbeth anzugucken, und wir dann am Ende plötzlich nebeneinandersaßen?«

»Nicht den Namen aussprechen, das bringt doch Unglück! Du meinst das schottische Stück!«, rufe ich sofort. Aber als ob ich mich nicht an alles erinnern würde. An jeden Augenblick der letzten vier Jahre. »Das, in dem alle Charaktere bei McDonald’s gearbeitet haben und Lady Macbeth die ganze Zeit versucht hat, sich den Ketchup von den Händen zu wischen? Klar weiß ich das noch. Sollte mich wohl entschuldigen, was? Ich glaube, ich habe versucht, mit Sean die Plätze zu tauschen.«

Sein Lachen, das ich so liebe, vibriert mir beinahe greifbar durch die Wange. »Du hast mich mal gefragt, ob ich weiß, wann genau ich Gefühle für dich entwickelt habe. Ich glaube, das war der Moment. Während des ganzen Stücks konnte ich hören, wie die anderen sich drüber lustig gemacht haben. Aber du warst ganz still. Du hast aufgepasst, weil es eben für die Schule war, ob nun Exkursion oder nicht. Wenn du gelacht hast, dann aufrichtig. Echt. Das Stück war grauenhaft, aber du hast es ernst genommen. Und ein paar Mal hast du zu mir geguckt, um zu sehen, ob ich auch lache.«

»Hast du«, sage ich, als dieser vermeintlich belanglose Tag wieder vor meinem inneren Auge Form annimmt. Das dunkle Theater, mein Erzfeind direkt neben mir. Der Stolz, der mich erfüllt hat, weil wir den Humor verstanden haben, weil wir unausstehliche Schlauberger waren. Immer noch sind. »Und zwar eigentlich jedes Mal zur selben Zeit.«

»Stimmt. Und ich habe mich dir so verbunden gefühlt, weil du wissen wolltest, ob ich die gleichen Sachen lustig finde wie du. Außerdem … hast du wirklich gut gerochen. Auf dem Weg nach Hause habe ich gedacht: ›Puh, sieht aus, als hätt’s mich voll erwischt.‹ Ich war völlig fertig.« Mit dem Daumen fährt er mir über den Hals, und es wäre so einfach, jetzt die Augen zu schließen und einzuschlafen, während der Himmel sich verdunkelt. Dann vergräbt er die Nase in meinen Haaren und atmet tief ein. »Immer noch hinreißend.«

Ich stoße eine Mischung aus Lachen und Jaulen aus, als er das macht, und tue, als wollte ich ihn wegstoßen.

»Ich bin schon seit Jahren verliebt in dich«, fährt er fort, als wüsste er genau, dass ich diese Bestätigung gerade brauche. Und ich nehme jedes Wort und schließe es direkt in mein Herz. »Daran wird auch die Entfernung nichts ändern.«

Wir drehen uns auf der Decke. Neil zieht mich auf sich und küsst mich. Es dauert nicht lange, dann drücke ich mich drängender gegen seine Jeans und bin froh, dass im Park nicht mehr viel los ist. Auch das hier werde ich vermissen. Die Situationen, in denen unser sehnsüchtiges Keuchen sich miteinander vermischt. Sein Stöhnen, wenn ich ihm die Lippen auf die Stelle zwischen Hals und Schulter lege. Seine Hände auf meinen Hüften, meine auf seinen Wangen, als würde die Zeit, wenn wir uns nur fest genug halten, schneller verstreichen.

Ich habe nicht erwartet, mich so schnell so sehr in jemanden zu verlieben, so kurz bevor unsere Leben unterschiedliche Richtungen einschlagen. Auch wenn meine Gefühle die ganze Highschool-Zeit über in mir geschlummert haben, hat diese Nacht im Juni die vergangenen vier Jahre in einen völlig neuen Fokus gerückt. Als würde ich sie jetzt durch die rosarote Brille betrachten. Ich habe zwar nie damit gerechnet, dass ich meine College-Zeit mit einem festen Freund starten würde, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, wie es wäre, wenn wir uns ein Ablaufdatum gesetzt hätten. Manche Paare aus unserer Abschlussklasse haben das gemacht, um vollkommen unbelastet ins Studium zu gehen. Klar habe ich mich manchmal gefragt, ob wir uns wohl bis August noch trennen sollten, damit ich mir darüber keine Gedanken mehr machen muss.

Aber eigentlich ist Neil McNair zu daten, gar nicht so anders, als mit ihm zu konkurrieren. Bloß fallen wir jetzt am Ende übereinander her.

Schon nach den ersten paar Wochen habe ich festgestellt, wie einfach es ist, mit Neil zusammen zu sein. Genau darum bin ich jetzt wahrscheinlich auch so überzeugt davon, dass das Universum uns diesen Sommer an der Nase herumgeführt und zweieinhalb Monate Glückseligkeit beschert hat, nur um diese Fernbeziehung noch schmerzhafter zu machen.

All die Jahre habe ich mit Plänen und Tagträumen verbracht und mir geschworen, mich zu ändern, mehr im Augenblick zu leben. Trotzdem erwischt es mich jetzt völlig unvorbereitet. Meine Nerven liegen vollkommen blank, Unsicherheit und ein Anflug von Übelkeit haben sich in meinem Inneren zu einem unangenehmen Knäuel verknotet.

Mich plagt die Angst davor, dass wir, wenn ich heute Abend abreise, für immer verlieren, was wir diesen Sommer hatten.

Irgendwann müssen wir trotzdem zum Auto zurück, das jetzt fast verlassen auf dem Parkplatz steht, obwohl wir vor Stunden noch ewig nach einem freien Platz gesucht haben. Neils Haare sind wunderbar zerzaust, und in mir kribbelt immer noch alles von der sehnsüchtigen Spannung zwischen uns. Als könnten meine Knochen und Muskeln die Vorstellung nicht ertragen, ihn gehen zu lassen.

Die Fahrt ist viel zu kurz. Nach etlichen Umwegen und »nur noch fünf Minuten«, aus denen letztendlich irgendwie dreißig geworden sind, halten wir vor seinem Haus. Es kostet mich mehr Überwindung denn je, den Motor abzustellen und die Handbremse anzuziehen. Dann legt sich eine unheilvolle Stille über das Auto.

»Wir haben uns die letzten vier Jahre fast jeden Tag gesehen.« Stur starre ich geradeaus. Wenn ich ihn ansehe, kann ich mich womöglich nicht zurückhalten. »Wir sind ganz schön verwöhnt.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Neil den Kopf schüttelt. »Ne ne. Ich bin doch die meiste Zeit vor Sehnsucht vergangen und habe mich gequält, weil das Mädchen, das ich mag, mich nicht ausstehen konnte. Du hast einfach dein Leben gelebt und dich nur flüchtig von einem Kerl mit zu vielen Sommersprossen ärgern lassen.«

»Kann sein. Aber selbst bevor wir zusammengekommen sind, konnte ich mir nicht vorstellen, dich mal einen Tag lang nicht zu sehen. Habe ich dir das nie erzählt?« Jetzt drehe ich mich doch zu ihm um, und der Ausdruck auf seinem Gesicht verrät mir, dass ich das wohl nicht getan habe. »In den paar Wochen vor unserem Abschluss habe ich morgens immer deine Nachrichten gelesen und war jedes Mal ein bisschen traurig, weil das bald zu Ende gehen würde.«

Er schenkt mir ein typisches Neil-McNair-Grinsen. »Und du willst mir erzählen, dass du als Expertin in Sachen Liebesromanen nicht begriffen hast, dass du über beide Ohren in mich verliebt bist?«

»Tja, na ja, niemand ist perfekt.«

Als er meine Hand nimmt, ist sein Blick wieder ganz ernst. »Du fehlst mir jetzt schon.« Wir verschränken unsere Finger miteinander. »Ist das komisch?«

Ich schüttle den Kopf. »Wir schreiben und telefonieren ganz oft. Ich habe schon das Zugticket für Ende September.«

»Und zu Thanksgiving komme ich nach Boston.«

»Warum fühlt es sich an, als wäre es bis dahin noch eine ganze Ewigkeit?«

Plötzlich habe ich Angst, dass wir das alles nicht intensiv genug besprochen haben. Dass wir den Sommer über zu viel Zeit im Augenblick verbracht haben, wenn wir doch besser Pläne mit farblich gekennzeichneten Tabellen hätten ausarbeiten sollen.

Genau das hätte Highschool-Rowan getan, aber vielleicht bin ich so nicht mehr.

»Wir schaffen das.« Neils Stimme klingt fest, und unter seinem Blick werde ich mich niemals nicht gesehen fühlen. »Ich kann es kaum erwarten, dir New York zu zeigen. Vorausgesetzt natürlich, dass ich mich nach einem Monat schon genug auskenne.« Ein zartes Lächeln. »Ich liebe dich, Erzwo.«

»Ich liebe dich auch.« Ich halte ihn fest. Atme tief ein. Ein Kuss noch, dann noch einer. »Flieg vorsichtig und vergiss mich nicht.«

»Niemals.«

Ich versuche, die Statistiken über Fernbeziehungen zu stoppen, die mir durch den Kopf rasen, als er die Beifahrertür öffnet, einen Kuss auf zwei Finger drückt und sie sich ans Herz hält. Nur dank des Ehrgeizes, den ich im Konkurrenzkampf mit Neil in den letzten vier Jahren entwickelt habe, kann ich meine Angst jetzt beiseiteschieben und durch grimmige Entschlossenheit ersetzen.

Wir werden zu der Gruppe gehören, die es schafft.

Immerhin sind wir für unseren Kampfgeist bekannt.

Neil,

 

kaum zu glauben, dass wir jetzt fast am Ende angekommen sind.

Du wirst mir fehlen, wie einem eine lästige Mücke fehlt, die zwischen Fenster und Fliegengitter festsitzt. Man ist nicht wirklich glücklich, dass sie da ist, aber wenn das Surren irgendwann aufhört, ist es eben doch irgendwie komisch.

Ich mache nur Spaß. Du bist viel netter als eine Mücke, was für den letzten Schultag eine ziemlich seltsame Erkenntnis ist, aber so ist es jetzt nun mal.

Von den Wahlen bis zu Challenges im Sportunterricht – du hast mich wirklich auf Trab gehalten. Echt gemein, dass ich gerade heute herausfinde, dass sich unter all dem ein anständiger Mensch verbirgt. Lass dir das jetzt nicht zu Kopf steigen, aber … ich bin froh, dass wir uns verbündet haben, auch wenn wir am Ende nicht gewinnen sollten. (Aber wie sollten wir nicht?!)

Ganz tief im Inneren denke ich, dass ich all das vielleicht vermissen werde. Ein klein wenig.

Ganz viel Glück nächstes Jahr. Viel Erfolg für die Zukunft. (Natürlich meine ich das ironisch.)

 

Rowan »Erzwo« Roth

2Neil

»Bitte bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position und klappen Sie die Tische hoch«, ertönt die Stimme der Flugbegleitung, und obwohl ich erschöpft bin, reagiere ich sofort. An Regeln halte ich mich nun mal sehr penibel, selbst 2415 Meilen weit von zu Hause entfernt, wie ich am Flugstatus auf dem Bildschirm vor mir ablesen kann.

Vor dem Fenster ist kaum eine Wolke in Sicht, am Horizont nichts als breite Streifen blauen Himmels. Ich verrenke mir den Hals, um einen Blick auf die Stadt zu erhaschen, die unter mir Form annimmt. Die Insel, die in den East River hinausragt – oder ist das der Hudson? –, die Gebäude darauf, die wie Bauklotztürme hochragen. Eine zum Leben erwachte topografische Karte.

»Ich bin zum ersten Mal in New York«, erkläre ich der Dame mittleren Alters neben mir, als ich versehentlich gegen ihre Armlehne stoße, dabei hat mein Eifer mich mit Sicherheit längst verraten. Es ist auch mein erster Flug überhaupt, aber das einer Fremden gegenüber zuzugeben, ist mir eindeutig zu peinlich. Sie zieht bloß die Augenbrauen hoch und murmelt »Glückwunsch«.

Wie es wohl sein muss, diese Strecke so oft zu fliegen, dass die Aussicht irgendwann nicht mehr so beeindruckend ist? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch beim hundertsten Flug der überdrehte Passagier wäre, der das Gesicht gegen die Scheibe presst und es nicht erwarten kann, den ersten Blick auf das Reiseziel zu erhaschen.

Seitdem ich das erste Mal von der Stadt gehört habe, habe ich von New York geträumt. Meine Mom ist in der Nähe von Philadelphia aufgewachsen und hat als Teenagerin die langen Wochenenden dort verbracht. Ich habe mir immer gewünscht, wir hätten Verwandtschaft an der Ostküste, um einen Grund zu haben, hinzufahren. In ihren Erzählungen hat es jedes Mal geklungen, als sei es wie ein Freizeitpark, eine einzigartige Sinneserfahrung – das Essen, die Stimmung und all die verschiedenen Sprachen, die man auf den Straßen hört, wie man sich nie wirklich einsam fühlt, ganz gleich zu welcher Uhrzeit. Von den Geschichten konnte ich gar nicht genug bekommen. In meiner Vorstellung hat es ausgesehen wie in all den Filmen mit der berühmten und inzwischen klischeehaften Szene auf einem Gehweg in New York City: Alle eilen – versunken in ihrer eigenen Welt – die Straße entlang, immer wohin unterwegs. Ich liebe die Vorstellung, von diesem Strom der Zielstrebigkeit erfasst zu werden. Von diesem Ehrgeiz.

Immer wenn die Einsamkeit drohte mich einzuholen, habe ich mich einfach daran erinnert, dass diese Flutwelle mich eines Tages mitreißen würde.

Als ich älter wurde, setzte ich mir die New York University als Ziel. Wir konnten es uns nicht leisten, vorher hinzufahren, doch das war nicht wichtig – das erstklassige Linguistik-Programm der NYU schien genau richtig. Ich war sicher, dass ich dafür bestimmt sei.

Das Einzige, das gegen New York spricht, ist, dass Rowan Roth nicht hier ist.

Gestern habe ich ihr gesagt, dass sie mir jetzt schon fehlt, aber in Wahrheit habe ich sie bereits den ganzen Sommer über vermisst. Jedes Mal wenn sie lächelte, lachte, mich auf diese Art ansah, die mein Herz höher schlagen lässt – also etwa neunundneunzig Prozent der Zeit, die wir zusammen verbracht haben –, fühlte sich wie etwas an, das ich sicher in meinem Koffer verstauen muss, um es wieder hervorholen zu können, wenn wir im tiefsten Winter stecken.

Falls wir überhaupt so lange zusammenbleiben, hat mich diese leise Stimme nie vergessen lassen, auch wenn es nicht sonderlich schwer war, sie zu ignorieren.

Jetzt da die Flugzeugreifen aufsetzen und wir zum Stehen kommen, ist die Stimme wieder etwas lauter.

Ich schreibe Rowan und meiner Mom, dass ich gut gelandet bin, und stelle meine Uhr auf Ostküstenzeit um. Eine Digitaluhr wäre sicherlich praktischer, doch diese hier hat meinem Opa mütterlicherseits gehört, der sie mir zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hat. Das Silber ist zwar inzwischen stumpf und das Band abgetragen, aber sie tickt noch einwandfrei. Dann warte ich, bis ich dran bin, mein Handgepäck aus dem Gepäckfach zu hieven.

Natalie hat mir schon ein Foto von Lucy, unserer neun Jahre alten Golden-Retriever-Dame geschickt, die es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht hat. Sorg dafür, dass sie mich nicht vergisst, schreibe ich Natalie und sie antwortet mit mache ich und noch einem Foto, auf dem Lucy mit einem unserer alten Fotoalben posiert.

Der Flug war ruhiger als in meiner Vorstellung, die Reiseübelkeit konnte ich mit Tabletten und der Serien-Verfilmung von Krieg und Frieden (eines meiner Lieblingsbücher, womit Rowan mich liebend gern aufzieht) im Zaum halten.

»Du bist ein Adliger aus dem neunzehnten Jahrhundert, gefangen im Körper eines Achtzehnjährigen«, hat sie letzten Monat gemeint und mir wieder einen dieser Blicke zugeworfen. Dunkelbraune Augen, ein Mundwinkel hochgezogen, nichts als Unfug im Kopf. »Schätze, ich stehe wohl auf ältere Typen.«

Jetzt bahne ich mir mit hochgezogenen Schultern den Weg durch den Flughafen und tue so, als wäre ich Vielflieger, während ich der Beschilderung zur Gepäckausgabe folge. Meine Mom hatte mir ursprünglich beim Umzug helfen wollen, aber Natalie ist im Sommer vom Skateboard gefallen und hat sich den Arm gebrochen, was eine unvorhergesehene Krankenhausrechnung zur Folge hatte. Ich versicherte ihr immer wieder, dass es in Ordnung sei, dass ich allein klarkommen werde, doch die Schuldgefühle waren ihr deutlich anzusehen, als ich meine Koffer packte und auch als sie beim Picknick gestern die meiste Zeit mit Rowans Mom redete, die vermutlich gerade in Boston mit ihrer Tochter aus dem Flieger gestiegen ist.

Meine Koffer erkenne ich gleich, was in mir die trügerische Hoffnung weckt, dass sich der Rest dieser Reise genauso einfach gestaltet. Doch als ich sie vom Band hieve, stelle ich fest, dass es wohl doch eine ganz schöne Herausforderung wird, das New Yorker U-Bahn-System mit zwei riesigen Koffern und einem vollgestopften Rucksack auf Anhieb zu bewältigen.

Mein Blick bleibt an den Schildern für Mitfahrdienste und Taxis hängen, und sofort geht das Kopfrechnen los. Ich habe die Highschool-Zeit über gejobbt, und mit Krediten, dem College-Nebenjob und der großzügigen finanziellen Unterstützung durch das College sollte ich es relativ entspannt durch das erste Studienjahr schaffen und es mir sogar gelegentlich erlauben können, essen zu gehen oder andere Dinge zu unternehmen. Außerdem gibt es ja noch das Preisgeld von der Pirsch – dem Spiel, das die Abschlussklasse an unserer Schule jedes Jahr spielt, das Rowan und ich gewonnen haben und durch das wir schließlich zusammengekommen sind. Sie besteht darauf, dass ich der eigentliche Gewinner bin, weil ich die Ziellinie zuerst überquert habe. Das Geld habe ich trotzdem kaum angerührt. Und für günstige Flüge im Dezember habe ich mir auch schon einen Google-Alert eingerichtet.

Trotzdem beschleicht mich ein beklemmendes Gefühl dabei, ähnlich wie der Druck, der mich durch die Highschool begleitet hat. Mach mehr. Streng dich doller an. Bald wird sich alles auszahlen. Ich habe es den Sommer über ziemlich gut ausblenden können, aber jetzt wo ich von Unbekanntem umgeben bin, kriecht es mir den Hals hinauf und schnürt mir die Kehle zu.

Ich bin erst seit einer Dreiviertelstunde in New York. Wenn ich mir jetzt schon Sorgen um Geld mache, halte ich hier keine Woche durch.

Entschlossen beiße ich die Zähne zusammen, packe die Griffe meiner Koffer und bahne mir den Weg zum AirTrain, der zur U-Bahn-Station Jamaica Station fährt. Als ich aussteige, rechne ich damit, direkt bei der U-Bahn rauszukommen – aber nein. Ich blicke zwischen den Schildern hin und her, die einen zeigen zurück zum Flughafen, auf den anderen sind Symbole für die Linien E, J und Z, die die Straße runter zeigen. Google Maps traue ich nicht recht, und ich will sicher sein, dass ich mich nicht verlaufe.

»Entschuldigung, geht es dort –«

Der Typ rauscht an mir vorbei, bevor ich auch nur den Satz beenden kann. Mit knallrotem Gesicht spreche ich wen anders an. »Sorry, hallo, fährt die Bahn zum Washington Square Park?«

Die Frau zieht sich einen Kopfhörer aus dem Ohr. »Was?« Ich wiederhole die Frage. »Du nimmst die E bis West Fourth und Washington Square. Kann man nicht verfehlen.«

»Vielen, vielen Dank.«

Als ich den Bahnsteig schließlich finde, schnaufe ich vor Anstrengung, und das schweißnasse T-Shirt klebt mir am Rücken. Ein paar Minuten Zeit zum Durchatmen.

NEIL

Ist es albern, wenn ich noch nicht mal in der Stadt bin und schon Fotos von der U-Bahn-Station mache?

 

Rowans Antwort lässt nicht auf sich warten.

ROWAN

ja, aber das ist einer der gründe, wieso ich dich so sehr liebe.

 

Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir so etwas tun, uns einfach so schreiben – ohne Gehässigkeiten oder Sticheleien. Als ich ihr meine Gefühle in ihrem Jahrbuch gestanden habe, hatte ich eigentlich damit gerechnet, dass sie mir ins Gesicht lachen würde. Oder mich bemitleidet – das wäre allerdings noch schlimmer gewesen. Ich habe mir ganz rational eingeredet, dass die Schulzeit vorbei war und ich nur kurz mit der Blamage würde leben müssen. Dass ich wahrscheinlich über sie hinweg sein würde, bis der Sommer vorbei war, weil ich sie nicht mehr jeden Tag sehen würde.

Aber dann haben wir zusammen in der dunklen Bücherei getanzt. Mit der Glasur im Two Birds One Scone gekämpft. Sie hat meine Sweatshirtjacke getragen und ihren Text beim Open Mic vorgelesen und mich im Museum of Mysteries zum letzten Hinweis der Pirsch getroffen. Wir haben gestritten – was auch sonst –, bevor sie mich zum ersten Mal geküsst hat. Ein Kuss, der meine Neuronen permanent umgelenkt und mir ROWANFUCKINGROTH quer über den präfrontalen Cortex tätowiert hat. Und dann sind noch eine Reihe anderer Sachen zum ersten Mal passiert.

Vierundzwanzig Stunden und unsere Beziehung hatte sich komplett verändert.

Ihre Nachricht genügt, um etwas von der übrigen Anspannung in meiner Brust zu lindern. Die Linie E fährt geräuschvoll ein, was die Leute auf dem Bahnsteig anscheinend kaltlässt. Ich zerre meine Koffer in die Bahn und sichere mir einen leeren Sitzplatz, wobei mein ganzer Körper noch vor Adrenalin kribbelt.

Plötzlich grinse ich übers ganze Gesicht, so breit und albern, dass ich gar nicht erst versuche, es zu unterdrücken. Ich sitze in der U-Bahn nach Manhattan, wo ich auf mein Traum-College gehen werde. New York hat für mich immer Freiheit bedeutet, und nun bin ich endlich hier.

Dann wankt ein Typ ins Abteil, streckt den Arm nach einer der Haltestangen aus und kotzt auf den Sitz neben mir.

 

Auch wenn New York meine Begeisterung offenbar etwas mildern wollte, schaffe ich es ohne weitere Katastrophen bis in die Stadt.

Das Studentenwohnheim ist ein prachtvolles Backsteingebäude an der Westseite des Washington Square Parks, irgendwie sowohl eindrucksvoll als auch einladend, wobei letzteres an den violetten NYU-Flaggen liegen mag, die im Wind flattern. Was mir bei meinen Recherchen zur NYU besonders gut gefallen hat, ist die Tatsache, dass es eigentlich keinen richtigen Campus gibt. Keinen von Bäumen gesäumten Hof wie ihn andere Colleges haben. Die ganze Stadt ist der Campus. Dutzende Gebäude, die sich über mehrere Blöcke erstrecken, die meisten davon hier in Greenwich Village.

»Sie schmeißen dich raus, wenn jemand hört, wie du ›Green-witch‹ statt ›Gren-itch‹ sagst«, hat Mom mich gewarnt, und ich musste ihr schwören, dass ich es nicht wagen würde. Dabei habe ich, wie jeder gute angehende Lexikograf, die Etymologie schon vor Jahren nachgeschlagen und gelernt, dass es vom altenglischen Wort Gren-evic stammt und höchstwahrscheinlich nie »Green-witch« ausgesprochen wurde.

Dieser Funfact verschafft mir zwar vermutlich nicht auf einen Schlag einen neuen Freundeskreis, aber andererseits: Wenn nicht hier, wo dann?

Nachdem ich mich angemeldet und meine Schlüssel bekommen habe, warte ich auf den Aufzug, der mich in den fünften Stock bringt. Im Wohnheim herrscht reger Einzugstrubel, die meisten Türen sind sperrangelweit offen und auf den Fluren stehen mehr Umzugskartons als ich je gesehen habe. Etwas, das ich nicht bedacht habe, aber hätte ahnen sollen: Alle sind mit ihren Eltern hier.

Für das stechende Heimweh ist es noch zu früh, und eins schwöre ich mir: Egal was es kostet, irgendwann wird Mom mich besuchen.

Das Wohnheim ist mit aus Tonpapier ausgeschnittenen New Yorker Wahrzeichen dekoriert: die Freiheitsstatue, das Empire State Building und die Brooklyn Bridge. Und da, auf der Tür von Zimmer 608, steht mein Name: NEILMCNAIR.

Im Sommer habe ich kurz mit dem Gedanken gespielt, meinen Namen legal ändern zu lassen, habe aber einen Rückzieher gemacht, bevor die Gebühr fällig wurde. Ich war noch nicht bereit, selbst nachdem ich so viel Zeit damit verbracht hatte, mich selbst davon zu überzeugen. Die Vorstellung, einen anderen Nachnamen als meine Schwester zu haben, die selbst noch zu jung ist, um sich an alles zu erinnern, was mit unserem Vater vorgefallen ist – das konnte ich nicht ertragen.

Ich habe mir gesagt, ich könne warten, bis ich wirklich sicher bin, und selbst jetzt, wo ich meinen ganzen Namen auf der Tür sehe, kommt es mir nicht merkwürdig vor. Ich hatte gedacht, ich würde ohne jede Verbindung zu dem Mann ins College starten wollen, der mir den Nachnamen gegeben hat, aber ich bin achtzehn Jahre lang Neil McNair gewesen. Es steht auf den Auszeichnungen für schulische Leistungen, auf Leistungsnachweisen und dem Abschlusszeugnis. Ja, es ist sein Name. Aber meiner ist es auch.

Ich höre die Stimmen, bevor ich jemanden im Zimmer sehe – zwei Männer mit starkem New Yorker Akzent, die eine laute, aber nicht aufgebrachte Unterhaltung führen, ob über Baseball oder Football, kann ich nicht genau sagen. Ich bin erschöpft und verschwitzt, muss dringend duschen, und das Adrenalin ist Nervosität gewichen. Ich werde den Großteil des Jahres neben einem Fremden schlafen, was natürlich ein ganz normaler Teil des College-Lebens ist, und trotzdem kommt es mir wie eine verdammt große Sache vor, die hier einfach dem Zufall überlassen wird.

Obwohl ich den Schlüssel in der Hand habe, klopfe ich zögerlich an die Tür. Ich will ja niemanden stören. Als sie aufgeht, sehe ich mich zwei breitschultrigen Männern gegenüber, die einander wie aus dem Gesicht geschnitten sind: braune Haare und blaue Augen, lässig in Jeans und T-Shirt gekleidet, wobei einer gut zehn Zentimeter größer und vermutlich dreißig Jahre jünger ist.

Skyler Benedetti, gebürtig aus Staten Island, ist der Student, dem ich über die Mitbewohner-App der NYU bereits im Sommer geschrieben habe. Von mir kam ein ganzer Paragraf, von ihm bloß:

SKYLER

geil Mann freu mich drauf!!

 

»Hey, ich bin Neil«, sage ich unbeholfen winkend. Ich zeige auf den Namen an der Tür, als bräuchte ich den als Beweis.

»Hey!« Er richtet sich ganz auf – langsam frage ich mich, ob diese Betten überhaupt lang genug für ihn sind –, und begrüßt mich mit einer Mischung aus Handschlag und High five. Er trägt ein T-Shirt der New York Yankees und hat das symmetrischste Gesicht, das ich je gesehen habe. »Skyler. Freut mich, dich kennenzulernen!«

»Sorry, ich hoffe, ich störe nicht …«

»Nee, mein Dad und ich haben grad drüber geredet, dass ich damit klarkommen würde, mit einem Giants-Fan zusammenzuwohnen, aber nicht mit einem Mets-Fan.« Er macht ein ernstes Gesicht. »Sag nicht, du bist Mets-Fan.«

»Sport, ähm, ist nicht so mein Fall.«

Ich nutze die Gelegenheit und gucke mich im Zimmer um. Die Seiten sind gespiegelt: Betten, Schreibtische mit hölzernem Bücherregal darüber und zwei kleine Schränke. Die Wände sind schlicht weiß bis auf den NYU-Wimpel, den Skyler gerade aufhängt. Auf einem der Betten liegt eine schlichte blaue Steppdecke, darauf quillen ein Koffer und eine Reisetasche über. Ich schleppe meinen größeren Koffer zum anderen Bett.

»Das ist wohl die sicherste Wahl. So ersparst du dir lebenslange Enttäuschung«, sagt Skylers Dad schmunzelnd. Er streckt die Hand aus. »Marc Benedetti. Sind deine Eltern hier irgendwo?«

Ich räuspere mich. Ausatmen. Das ist keine Prüfung. »Ich bin aus Seattle hergeflogen. Meine Mom wollte mitkommen, aber sie konnte sich nicht freinehmen.« Das klingt besser als wir konnten es uns nicht leisten.

»So ein Glück«, meint Skyler ganz dreist vor seinem Dad. Fertig mit dem Wimpel, zieht er nun ein Sweatshirt aus seiner Reisetasche vom Bett, auf dem Staten Island Technical Highschool prangt und darunter eine Möwe. Mir entgeht nicht, dass die Abkürzung seiner Schule SITHS lautet, was mich als heimlichen – wobei eigentlich gar nicht so furchtbar heimlichen – Star-Wars-Nerd wahnsinnig neidisch macht. »Mein Dad ist besessen davon, seine Glanzzeiten aufleben zu lassen. Er war früher auch hier.«

»Die gute, alte Zeit.« Marc lehnt sich mit funkelnden Augen gegen Skylers Schreibtischstuhl. »Habe ich dir die Geschichte erzählt, wie meine Freunde und ich einander herausgefordert haben, nackt um Mitternacht durch den Washington Square Park zu rennen?«

Ein Stöhnen von Skyler deutet darauf hin, dass er die Geschichte bereits viele Male gehört hat. »Ja, leider.«

Sein Dad legt die Hand aufs Herz. »An dem Abend habe ich deine Mutter kennengelernt. Das war die romantischste Nacht meines Lebens.«

»Belassen wir es dabei«, kommt es von Skyler. »Bitte verschreck meinen Mitbewohner nicht, Dad.«

Ich kann nicht anders, als darüber zu lachen, während ich den Reißverschluss meines Koffers öffne und Handtücher, Kopfkissen und meine Bettwäsche heraushole. Einen Moment lang frage ich mich, wann wohl die Glanzzeiten meines Vaters waren und wie die ausgesehen haben mögen. Ich erlaube mir nicht oft, an ihn zu denken, doch die Konfrontation mit den Benedettis hier im Zimmer, in dem ich die nächsten neun Monate wohnen werde, macht es unvermeidlich.

Ich weiß, dass meine Eltern eine Zeit lang glücklich waren. Sie haben sich mit Anfang zwanzig bei der Arbeit an einer Baumarktkasse kennengelernt, aber mein Dad träumte davon, eines Tages einen eigenen kleineren Eisenwarenhandel zu eröffnen. Als Mom schwanger wurde, waren sie erst ein Jahr zusammen. Eigentlich hatte sie studieren wollen, sobald sie genug Geld gespart hatte, doch das musste sie aufschieben und stattdessen im Baumarkt die Spätschichten übernehmen. So konnte Dad tagsüber arbeiten, und Moms Schwester half dabei, mich zu versorgen. Sie hatten beide nicht viel Verwandtschaft – die Eltern meiner Mom waren Einzelkinder gewesen und von Philly nach Seattle gezogen, als sie sechzehn war. Dad stammt zwar aus dem Nordwesten, hat aber keine Geschwister, und seine Eltern waren deutlich älter. Sie hatten nicht viel Geld, aber nach allem, was Mom mir über diese Zeit erzählt hat, spielte das keine Rolle. Sie hatten einander und wollten zusammen eine Familie gründen.

Dann kam der Eisenwarenhandel, den mein Dad eröffnet hatte, und der nicht wirklich Gewinn machte. Das Trinken. Die Wutausbrüche.

An dem Abend, an dem er kurz vor Ladenschluss ein paar Kids beim Klauen erwischte und dann den Schläger hinter dem Ladentisch hervorholte, hat sich unser Leben für immer verändert.

Das Gericht hatte den Sachverhalt geprüft und die Überzeugung erlangt, dass es sich beim Tatbestand um ein Verbrechen handelte. Viele komplizierte Wörter, die selbst ein Elfjähriger mit einem Hang zu Wörtern kaum verstehen konnte.

Schwere Körperverletzung.

Eine fünfzehnjährige Gefängnisstrafe.

Unser Leben, komplett verkorkst.

Das meiste davon halte ich gedanklich schön unter Verschluss. Ich habe es geschrumpft und verborgen, damit es kaum mehr als ein winziger Fleck war – unendlich klein und doch irgendwie immer da.

Marc holt etwas aus dem Auto, während Skyler weiter auspackt, gemächlich T-Shirts faltet und ein paar knittrige Hemden aufhängt. Was mich bei meiner jahrelangen Erfahrung im Umgang mit Secondhand-Anzügen nicht wundert: Hemden sind immer knittrig, egal wie man sie gefaltet im Koffer hatte. Doch Skyler scheint das nicht zu stören, er summt vor sich hin und fährt sich gelegentlich mit der Hand durchs gekonnt zerzauste Haar.

»Du kommst also von hier?«, frage ich, als sei die Antwort nicht offensichtlich, und ziehe das Laken über meine Matratze.

»In Staten Island geboren und aufgewachsen. Und stolz drauf.« Den letzten Teil sagt er, als ob er sich sorgt, dass ich etwas dagegen haben könnte, und ich bekomme den Eindruck, dass der Bundesstaat New York ein essenzieller Teil seiner Persönlichkeit ist.

»Dann weiß ich also, wen ich fragen muss, wenn ich mich verlaufe.«

Lässig winkt er ab. Alles an Skyler wirkt lässig: Die lockere Körperhaltung, wie er mit seinem Vater redet und seinen Mini-Kühlschrank einstöpselt, statt den Laptop zu laden, bevor ich ihm einen Überspannungsschutz anbiete, von denen ich zwei eingepackt habe. »New York ist entspannt – der Großteil von Manhattan ist ein Gitter. Von Nord nach Süd verlaufen die Avenues, von Ost nach West die Streets. Das wird dir mehr helfen, als du denkst.«

Er rollt einen Kunstdruck aus, der wie eines dieser alten motivierenden Poster designt ist, ein Kätzchen auf der Tischkante, das versucht, einen Fisch aus einem Fischglas zu angeln. Statt einem inspirierenden Spruch steht oben drüber fett Here for a good time, not for a long time.

»Ich bin an der Gallatin School«, sagt Skyler. »Da kann man sich seinen Schwerpunkt selbst ganz frei aussuchen. War ich richtig begeistert von, besonders nachdem ich gesehen habe, dass letztes Jahr jemand mit dem Schwerpunkt Orange den Abschluss gemacht hat. Einfach nur die Farbe Orange. Und was ist mit dir?«

»Das ist ziemlich cool.« An der NYU wird man zu einem bestimmten Programm zugelassen, und nur wenige fangen noch unentschlossen an. »Ich mache Linguistik, was sehr viel weniger aufregend klingt als Orange.«

»Mist. Dann gebe ich mir in deiner Gegenwart besser Mühe mit der Grammatik, was? Wenn ich nämlich ganz ehrlich bin, sag ich da öfter mal was Verkehrtes.« Er zieht suggestiv eine Augenbraue hoch und grinst verschmitzt. »Mit der anderen Art Verkehr hab ich allerdings keine Probleme.«

Die Sache ist die: Grundsätzlich habe ich keine Schwierigkeiten mit meinem Selbstwertgefühl, aber bei manchen Typen weiß ich einfach, dass es mir schwerfällt, eine Beziehung aufzubauen, so als gäbe es eine Art unausgesprochene Hierarchie – und ich stehe nicht gerade an der Spitze. Das hat nichts mit dem korrekten Sprachgebrauch zu tun. Meine besten Highschool-Freunde Adrian Quinlan, Sean Yee und Cyrus Grant-Hayes sind jetzt an der UC Davis, der Western University und der University of Washington. Letzte Woche hat Sean ein Foto von einem Computerlabor in unseren Gruppenchat geschickt, und wir Nerds haben es alle total gefeiert. Früher waren wir die Vorsitzenden der Schülervertretung, der Schach- und Roboter-AG und des Anime-Fanclubs. Wir haben uns sogar Quad genannt, als Abkürzung für Quadriga, weil wir – na ja, kaum eine Überraschung – zu viert waren. Sie sind tolle Typen, aber keiner von uns bildet sich ein, unglaublich beliebt zu sein. Wir haben nicht über Beziehungen geredet und nur selten anzügliche Bemerkungen zum Thema Sex gemacht – hauptsächlich, weil keiner von uns welchen hatte.

Skyler Benedetti wirkt auf mich zwar nicht wie jemand, der sich nahtlos in meinen alten Freundeskreis einfügen würde, aber vielleicht spielt das hier in New York gar keine Rolle.

»Es wird spät«, sagt Marc, als er mit dem letzten Koffer zurückkommt, auf seine Uhr guckt und dann gegen die Tür klopft. »Willst du mit uns einen Happen essen, Neil?«

»Ich will mich nicht aufdrängen.« Ich sehe zu Skyler, falls er Zeit mit seinem Dad allein verbringen will.

»Tust du nicht. Am Ende des Jahres sind wir bestimmt wie Brüder.«

Ich versuche mir vorzustellen, wie ich mich in diese Familie sehr großer, sehr selbstbewusster Männer einfüge. Ich habe keinen Grund Nein zu sagen, selbst wenn sie bloß höflich sind.

»Gern«, sage ich daher nach einem Moment. »Abendessen klingt gut.« Besorgt, was für einen Eindruck ich wohl mache, frage ich: »Könnte ich erst schnell duschen gehen?«

Nachdem ich den Flug abgewaschen habe, verschlägt es uns zu meiner Freude in eine Pizzeria, in der Marc ein wenig zu laut verkündet, dass die Pizza nicht so gut ist wie in Staten Island. Allerdings können er und Skyler sich auch nicht einigen, welche Pizzeria denn nun die beste ist. Sie diskutieren und zanken miteinander auf eine geübte, liebevolle Art. Als Marc nach meiner Familie fragt, erwähne ich nur Mom, Natalie und Christopher, Moms Freund, und niemand fragt nach meinem Dad. Marc lädt mich für Thanksgiving zu ihnen nach Hause ein. Ich kann nicht glauben, dass ich hier Pizza esse und diese Unterhaltung mit zwei Leuten führe, die vor wenigen Stunden noch Fremde waren.

Vier Jahre an der Highschool – vielleicht sogar noch länger – habe ich davon geträumt, irgendwo hinzugehen, wo keiner meine Vergangenheit kennt. In eine wunderschöne Stadt voller Möglichkeiten. An einen Ort, den ich mir in Gedanken so lange ausgemalt habe, dass ich Sorge hatte, er würde niemals mit meiner Vorstellung mithalten können.

Den Großteil meines Lebens bin ich von Wörtern fasziniert gewesen, aber ganz gleich wie tief ich mein Vokabular durchforste, ich kann keine präzise Wortwahl finden, die dieses Gefühl beschreibt. Also entschließe ich mich für etwas einfaches:

Endlich.

3Rowan

Als ich die Tür aufschließe, bin ich sicher, im falschen Zimmer gelandet zu sein. Es sieht nämlich aus, als würden hier schon zwei – oder sogar ein halbes Dutzend – Menschen leben: Auf beiden Betten liegen Kleiderhaufen, an drei von vier Wänden hängen Fotos und Lichterketten, auf den Schreibtischen türmen sich Notizbücher und Ordner.

Das Einzige, was fehlt, ist meine Mitbewohnerin.

»Dios mío«, keucht meine Mutter und bedenkt die Wände mit einem besonders boshaften Blick. »Das war aber nicht sehr rücksichtsvoll.«

»Vielleicht wusste sie nicht, dass ich ausgerechnet heute einziehe.« Ich schiebe ein Bügelbrett beiseite und spieße beinahe einen Stoffpinguin auf, der auf einem Stapel Lehrbücher hockt. »Oder irgendwann sonst.«

So behutsam wie möglich verfrachte ich einen Haufen Pullis von dem Bett, das vermutlich mir zusteht, zum anderen. Ziemlich beeindruckend, was sie in der kurzen Zeit mit diesem Zimmer angestellt hat. Obwohl ich Kirby und Mara etwas anderes versprochen habe, hatte ich irgendwie die Hoffnung, dass aus mir und meiner Mitbewohnerin lebenslange Freundinnen werden würden. Ich war am College Rowans Mitbewohnerin, würde sie bei der Rede auf meiner Hochzeit erzählen, in guten wie in schlechten Zeiten. Dann würden wir uns zuzwinkern und an all die Schwierigkeiten denken, in die wir damals geraten sind. Doch Paulina Radowski aus Sacramento hat nie auf meine Freundschaftsanfrage bei Instagram reagiert und ist mir heute immer noch genauso fremd wie an dem Tag, an dem ihr Name in einer E-Mail mit der Betreffzeile Mitbewohnerin gefunden! in meinem Postfach aufploppte.

Mom klammert sich an ihre Handtasche, als müsste sie sie vor dem Chaos schützen. »Es ist … nett hier.«

Ich verdrehe die Augen und lasse meinen dunkelblauen Rucksack auf einen Schreibtischstuhl fallen. »Es soll ja auch keine Luxuswohnung sein. Das gehört doch dazu.«

Mom und ich stehen uns zwar nah, aber so viel Zeit wie auf diesem Trip haben wir … na ja, noch nie allein verbracht. Meine Eltern funktionieren nur als Einheit, was vielleicht daran liegt, dass sie zusammen arbeiten. Sie haben mir immer vertraut, womöglich weil ich gute Noten hatte und mich aus Ärger rausgehalten habe. Manchmal scherzen sie, dass sie kaum Arbeit mit meiner Erziehung hatten. Ich bin nicht sicher, wie es sich für Mom anfühlen muss, ihr einziges Kind an einem College am anderen Ende des Landes abzusetzen.

Sie hilft mir dabei, so viel wie möglich auszupacken, dann erstellen wir eine Liste von allem, was wir noch brauchen. Ich bin der Meinung, wir sollten die öffentlichen Verkehrsmittel auf die Probe stellen, doch sie besteht darauf, ein Auto zu mieten, also beschwere ich mich nicht.

An ganzen zehn Colleges habe ich mich beworben und dann für die Emerson entschieden, weil es scheint, als würde Kreativität hier am meisten wertgeschätzt werden. Der Schwerpunkt liegt auf Geisteswissenschaften, und allein auf dem Weg durchs Wohnheim hierher habe ich bereits Flyer für Theateraufführungen, Comedyshows und allerlei andere Aktionskunst entdeckt. Ein kleines Restrisiko bestand natürlich, da ich ja vorher noch nie hier war. Das gleiche Risiko ist Neil ebenfalls eingegangen, denn auch er war vorher noch nie in New York. Beim Gedanken an Boston hatte ich immer einen romantischen, schneebedeckten Ort vor Augen. Diese brütende spätsommerliche Hitze habe ich nicht erwartet. Aber die grünen Wiesen überall und die Sonne, die die historischen Pfade in bernsteinfarbenes Licht taucht, gefallen mir trotzdem. Schon beim ersten Schritt auf den Campus ist mir der Kontrast zwischen himmelhohen Klinkerbauten und den neueren, energieeffizienteren Gebäuden aufgefallen. Da wusste ich sofort, dass die Entscheidung richtig war.

Mom und ich halten bei Target, und selbst an dieser Küstenseite ist die Vertrautheit, die dieser Laden mit sich bringt, irgendwie beruhigend. Die größeren Teile haben wir uns für diese Shopping-Tour aufgespart, so ist es einfacher. Auf dem Rückweg zum Campus machen wir einen Umweg durch Beacon Hill, und ich kann überhaupt nicht aufhören, aus dem Fenster zu starren, weil ich jedes noch so kleine Detail dieser neuen Stadt in mich aufsaugen will. Unebene Kopfsteinpflasterstraßen. Dunkelrote Reihenhäuser. Traumhaft schöne alte Straßenlaternen, die mich in der Zeit zurückreisen lassen. Ich liebe einfach alles.

Als wir zurückkommen, ist von Paulina Radowski immer noch keine Spur.