Patong - David Pfeifer - E-Book

Patong E-Book

David Pfeifer

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Beschreibung

Mit einem Vorwort von Bela F Felsenheimer

Mert geht immer rein in die Angst. Wenn er in Stress gerät, greift er an. Das funktioniert gut bei den meisten Gegnern, die er häufig unter Druck setzen kann, bis sie ihre Deckung sinken lassen. Doch im wahren Leben zerstört er damit mehr, als er gewinnen kann. Seine Karriere, seine große Liebe, sich selbst. Außerhalb des Rings ist die Angst sein größter Gegner. Doch er kämpft weiter, weil er nichts anderes gelernt hat, als anzugreifen und niemals aufzugeben.
Die Neuausgabe des Kultromans »Schlag weiter, Herz« unter dem Titel »Patong«.

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Das Buch

Mert geht immer rein in die Angst. Wenn er in Stress gerät, greift er an. Das funktioniert gut bei den meisten Gegnern, die er häufig unter Druck setzen kann, bis sie ihre Deckung sinken lassen. Doch im wahren Leben zerstört er damit mehr, als er gewinnen kann. Seine Karriere, seine große Liebe, sich selbst. Außerhalb des Rings ist die Angst sein größter Gegner. Doch er kämpft weiter, weil er nichts anderes gelernt hat, als anzugreifen und niemals aufzugeben. Mit viel erzählerischer Wucht erzählt David Pfeifer eine knallharte Liebesgeschichte, von echter Freundschaft und der Leidenschaft fürs Boxen. Die Neuausgabe des Kultromans Schlag weiter, Herz jetzt unter dem Titel Patong, ergänzt um ein Vorwort von Bela B Felsenheimer.

Der Autor

David Pfeifer, Jahrgang 1970, Österreicher, wuchs in München auf, bevor es ihn 1993 nach Hamburg zog, um für das legendäre Magazin Tempo zu arbeiten. Weitere Stationen waren der Stern und Vanity Fair. 2014 wurde er leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Er schreibt Romane und Sachbücher, zuletzt erschien Die Rote Wand. Schlag weiter, Herz war 2013 sein erster Roman bei Heyne Hardcore, der jetzt unter dem Titel Patong neu aufgelegt wird. Seit September 2020 ist er Süd-Ost-Asien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und lebt in Bangkok.

DAVID PFEIFER

PATONG

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Titel erschien 2013 erstmals unter dem Titel Schlag weiter, Herz

Für Tania

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@heyne.hardcore

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 05/2021

Copyright © 2013 David Pfeifer

Copyright © des Vorworts 2020 Bela B Felsenheimer

Copyright © 2013 unter dem Titel »Schlag weiter, Herz«by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Lektorat: Markus Naegele

Umschlaggestaltung: punchdesin, Johannes Wiebel, München,unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com / Viktor Gladkov

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-26804-6V001

Vorwort

Es ist so wunderbar, dass dieses Buch noch einmal erscheint. Warum? Weil es einfach so großartig ist. Weil es vom Leben erzählt, vom Scheitern, vom Wiederaufstehen, immer wieder scheitern und dann doch nicht anders können, als erneut gegen die Wand zu rennen. Ein Buch von auswegloser Leidenschaft. Ein aufrichtiger, ehrlicher und roher Roman mit einer großen Liebesgeschichte. Und natürlich ein Buch über das Boxen, das so viele Leute wie möglich lesen sollten.

Zu mir kam es über den Autor, den ich bei einem Essen meines Verlages kennengelernt habe. 2018 war das, auf der Leipziger Buchmesse. David Pfeifer saß mir schräg gegenüber, und ich fand allein seine Erscheinung schon sehr interessant. Er wirkte wie eine elegante Version des Genre-Schauspielers John Saxon, der in seiner langen Karriere immerhin schon mit Bruce Lee vor der Kamera gestanden und mit A Nightmare On Elm Street Horrorgeschichte geschrieben hat.

David hat natürlich mehr Haare, aber genauso breite Schultern. (Sorry, kleiner Nerdausrutscher, aber er sieht John Saxon wirklich verdammt ähnlich.)

Den Small Talk übergingen wir schnell, als wir feststellten, dass wir uns beide fürs Boxen interessieren, wobei es bei mir »nur« Interesse, bei David aber richtige Leidenschaft ist. Immerhin war er Trainer des weltweit größten Schachbox-Vereins gewesen, ein Thema, welches wir an dem Abend auch anrissen.

Danach trafen wir uns noch mit Rocko Schamoni und cornerten gemeinsam vor einer Bar auf der Straße herum, wobei David und ich den von den anwesenden Hipstern verpönten Eintritt bezahlten, um dann von drinnen Bier zu holen, statt unsere Getränke wie alle anderen »Berlin-style« bei einem nahe gelegenen Spätkauf zu erstehen. Die Hipster verstanden die Welt nicht mehr. Wir uns umso besser.

Diese clubsolidarische Geste leisteten David und ich ohne vorherige Absprache, was uns gleich noch ein bisschen mehr verband.

Mein Verleger hatte während des Essens von Davids Büchern geschwärmt und mir dringend empfohlen, doch mal eines zu lesen.

Weil ich mich fürs Boxen interessiere, versprach David, mir eins seiner Bücher zukommen zu lassen, das sich um eben jenen Topos drehte. Und schon eine Woche später lag Schlag weiter, Herz, wie Patong bei seinem Ersterscheinen hieß, in meinem Briefkasten. Im Buch fand ich die freundliche Widmung »Kommt viel Hamburg und Boxen drin vor«. Ich legte das Buch auf den »Noch zu lesen«-Stapel und, nun ja, vergaß es erst mal.

Aber zum Glück fand es mich wieder.

Kurz darauf nämlich ging ich mit meiner Band auf Europa-Tournee. Und auf der Suche nach etwas Lesbarem für die Konzertreise fiel mir das Buch wieder ein. Ich packte es in den Koffer, eigentlich mit der Gewissheit, dass ich es nach meiner Rückkehr ungelesen wieder auspacken würde.

Denn es war die erste Tour meiner Band seit fünf Jahren und zu erwarten, dass die Jungs und ich eine Menge zu besprechen und nachzufühlen hatten. Da würde fürs Lesen sicher nicht viel Zeit bleiben. Außerdem sollte uns die Tour an Orte führen, wo ich bisher selten oder noch gar nicht gewesen war. Orte, die ich erkunden wollte, und … naja, nach all der Zeit würde es wohl sicher auch mehr als genug Gründe zum Feiern geben.

Trotzdem schaffte ich es dann doch irgendwie, Davids Buch zur Hand zu nehmen und zu lesen, wobei lesen es nicht wirklich trifft. Ich verschlang es förmlich.

Sofort empfand ich eine tiefe Sympathie und Zuneigung zum Protagonisten Mert, denn obwohl ich mich nur hobbymäßig für das Boxen interessiere und meine Lebenssituation eine völlig andere ist, konnte ich mich von Seite zu Seite mehr mit Mert identifizieren.

Seine Entscheidungen, seine Niederlagen, seine Triumphe, seine Ängste. Alles war so nachvollziehbar. Ich erlebte alles mit. Siegte mit ihm, verlor mit ihm, zweifelte und verzweifelte mit ihm. Und als Mert Nadja traf, habe ich mich ebenfalls sofort in sie verliebt.

Ich hatte das Buch noch vor dem Ende der Tour durchgelesen und legte es dann trotzdem in jedem Hotel auf den Nachttisch, um in ein paar leeren Momenten, nach einer Stadterkundung oder nach dem Sport, bevor wir zum Club aufbrachen, immer wieder darin zu blättern und meine Lieblingsstellen noch einmal zu lesen.

Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich an keine einzige Tournee erinnern, während der ich ein Buch komplett bis zu Ende gelesen habe. Der Punkt geht klar an David Pfeifer.

Und gleich noch ein weiterer Punkt geht an ihn dafür, dass ich von einer Liebesgeschichte so dermaßen abgeholt wurde wie schon lange nicht mehr.

Die Liebe, um die es in dem Roman geht, ist eine große, die eine große, um genau zu sein. Und wie Nadja und Mert darum kämpfen und immer wieder gefährlich fahrlässig mit ihrer Liebe umgehen, das ist so gut beobachtet wie beschrieben und hat einen Nerv in mir getroffen.

David, du hast da ein wirklich gutes Buch geschrieben, was mehr kann ich jetzt noch hinzufügen?

Bela B Felsenheimer, Dez 2020

1

Der Tag trifft ihn wie ein Schlag. Mert wacht auf, als käme er wieder zu sich. Keine Erinnerung, keine Gedanken, ein schiefes Lächeln im Gesicht. Er öffnet die Augen und wartet, bis er ganz bei Bewusstsein ist. Der Ventilator neigt sich von links nach rechts. Jedes Mal, wenn er am äußersten Punkt ankommt, gibt er ein leidendes Quietschen von sich. Der Ventilator pendelt in einem begrenzten Winkel, wie ein Boxer in seiner Ecke, immer wieder von rechts nach links und zurück. Mert hört das Quietschen nicht mehr. Er schlägt das durchgeschwitzte Leintuch zurück, setzt sich auf und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Langsam findet er in den neuen Tag, der vermutlich genauso werden wird wie der letzte. Die Erinnerung springt an, die Vergangenheit setzt mit dem gestrigen Abend ein und reicht zurück bis zum frühesten Zeitpunkt, an den er sich erinnern kann. Ein Kettcar, das über Türschwellen rumpelt. Alles liegt noch vor ihm.

Mert setzt einen Fuß auf, beugt sich nach vorne, stützt sich mit der Hand auf seinem Knie ab und stemmt sich in die Höhe. Er geht in die Küche, erhitzt Wasser im Kocher, reißt eine Portionstüte Nescafé auf und brüht sich Kaffee. Dann geht er raus auf den Balkon, lehnt sich an das Geländer und blinzelt in die Sonne. Er pustet in seine Tasse und wundert sich über seine gute Laune. Ein Hochgefühl, das nach einem Grund verlangt. Doch der liegt verschüttet in dem Traum, aus dem die Hitze ihn verjagt hat.

So sehr Mert auch versucht, das Ende des Traums zu greifen, er ist ihm entglitten. Es bleibt nur die Laune. Mert nimmt noch einen Schluck Kaffee, blickt runter auf die Straße, die ihn vom Strand trennt. Er schaut auf das Meer, dann rechts hinunter zu den Läden am Straßenrand, in denen schon gearbeitet wird. Er hört Stimmengewirr, zwei Roller knattern vorbei, der Hund vor seiner Tür kläfft ihnen nach.

Der Junge, der Pfannkuchen für die Touristen macht, kommt mit seinem alten Roller angefahren. Eine mobile Küche ist an die Seite geschweißt. Der Junge parkt, baut die Küche auf, sieht Mert und winkt mit seiner Kelle. Mert grüßt zurück. Er streckt seinen Hals nach links, nach rechts und geht wieder rein. Er schaltet den Wasserkocher noch mal an, reißt eine weitere Tüte Nescafé auf, schüttet das heiße Wasser darüber und rührt um. Er streckt sich, bis er mit den Fingerspitzen fast das Holz der Zimmerdecke berühren kann. Er nimmt die Tasse, seinen schwarzen Gummiball und setzt sich wieder raus auf den Balkon. Verdammte gute Laune, denkt Mert und knetet den Ball mit der rechten Hand.

Mert fragt sich, ob es ein Zeichen von tiefem Schlaf oder von Dummheit ist, dass er sich selten an seine Träume erinnern kann. Er fragt sich, was Nadja dazu sagen würde. Sie würde kurz nachdenken, ihre Augen würden dabei schmaler werden, und dann würde sie vermutlich etwas sagen wie: »An dem einen kannst du nichts ändern, am anderen aber schon.« Sie haben so viel geredet, dass Mert sich auch in ihrer Abwesenheit mit ihr unterhalten kann. Doch je länger es her ist, seit er Nadja zum letzten Mal gesehen hat, umso unsicherer wird er, was seine Vorstellung von ihr angeht.

Morgens wollte Nadja immer wissen, was Mert geträumt hatte. Wenn er sich erinnern konnte, erzählte er ihr die Bruchstücke sofort im Bett, nach dem Aufstehen oder spätestens beim Frühstück. Sie räumte Brot, Butter, Aufstrich und Marmelade auf den Tisch, während Mert versuchte, die Bilder zu beschreiben, die noch nicht verblasst waren. Es fiel ihm schwer zu schildern, was den Traum ausmachte, die Atmosphäre, wie die Dinge sich angefühlt hatten. Dabei erschien ihm das wichtiger als das Geschehen selbst.

Er träumte, dass er in einer Wohnsiedlung lebte, aus der er nicht mehr herausfand. Er musste sich Prüfungen unterziehen, von denen er nicht wusste, dass es welche waren. Einen Eimer voll rohem Fleisch essen und einen Mann erwürgen. Es dauerte Ewigkeiten, bis der Mann endlich tot war. Einige Tage später träumte Mert, dass er die Leiche des Mannes verscharrt hatte und verhört wurde. Er wollte verraten, wo der Mann lag, nur um nicht weiter verdächtigt zu werden. Solche Träume erstreckten sich über mehrere Episoden und kehrten wieder, manchmal nach Monaten. In anderen Träumen schlug Mert auf jemanden ein, der keine Reaktion zeigte. Dabei war schlagen doch das, was Mert am besten konnte.

Manchmal träumte er auch schöne Dinge, doch daran konnte er sich seltener erinnern. Und egal was es war, es hörte sich banal an, wenn das Geträumte beim Erzählen zu einer Beschreibung zusammenschrumpfte. Nadja stellte ihm die richtigen Fragen. »Hast du dich hilflos gefühlt?« – »War es bedrohlich?« Er musste nur noch mit Ja oder Nein antworten.

Einmal hatte Mert davon geträumt, dass es beim türkischen Gemüsehändler an der Ecke keine Bananen mehr gab. Nadja lachte.

»Keine Bananen. Im Ernst?«

»Die kaufe ich da doch immer.«

»Und der Traum war bedrückend?«

»Ja.«

»Und du hast keine Erklärung dafür, warum du so was träumst?«

»Keinen Schimmer.«

»Kann es vielleicht daran liegen, dass ich mich beschwert habe, weil du nicht mit mir schlafen willst, wenn du einen Kampf hast?«

Wie immer, wenn Mert versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, verzog sich sein Gesicht, als habe er einen Schluck Apfelessig getrunken. »Man kann sich seine Träume ja nicht aussuchen, oder?«

Es wurde ein schöner Tag. Mert fühlte sich belohnt, wenn Nadja lachen musste, sogar wenn es auf seine Kosten ging.

Er nimmt noch einen Schluck Kaffee, knetet weiter seinen Gummiball. Als Erstes spürt er seine rechte Faust, von einem Bruch im Handrücken bei einer Hamburger Meisterschaft. Dann seine Gelenke, die Muskelansätze. Merts Körper erwacht ächzend, etwa eine halbe Stunde nach ihm. Die kurzen Rippen senden einen stechenden Schmerz in die Lunge, die Stelle, an der er beim Sparring vor ein paar Tagen einen Tritt abbekommen hat. Seine Erholungszeiten werden länger. Mit dem Handrücken wischt er sich die Schweißtropfen von der Oberlippe, damit sie ihm nicht den letzten Schluck Kaffee versalzen. Er trinkt aus, stellt die Tasse in der Küche ab und räumt auf. Er besitzt nicht viel, schafft es aber zuverlässig, das wenige in zwei Zimmern zu verstreuen. Er räumt Fotos in das kleine lackierte Kästchen mit den chinesischen Motiven darauf. Das oberste Bild lässt er auf dem Tisch liegen, er will einen Platz dafür finden. Es zeigt ihn und Nadja auf dem Hamburger Dom an einem Schießstand. Ein Fotoschuss, nur zwei Versuche hatte er damals dafür gebraucht. Nadja umarmt ihn dabei von hinten. Ihr Kinn liegt auf seiner Schulter. Sie lächelt und wirkt glücklich. Der Moment liegt so lange zurück und fühlt sich doch an, als seien erst Tage vergangen. Er riecht die Zuckerwatte, spürt die Kälte des Abends von damals.

Während er das Bild betrachtet, kehrt die Erinnerung an den Traum zurück, wie ein fast vergessenes Lied im Radio, das ein altes Gefühl zum Klingen bringt. Er hat von der Tankstelle geträumt, von der Nacht nach dem Mannschaftswettbewerb in Schwerin. Keine Prüfungen, keine Bananen. Einfach nur die Nacht nach seinem großen Erfolg, die erste Begegnung mit Nadja. Die gute Laune kommt von der Erinnerung an Glück.

2

Merts Leben begann in dem Moment, als er Nadja begegnete. Mert sagte und tat nichts mehr, ohne es an ihr auszurichten. Er verhielt sich trotz oder wegen ihr. Alles, was er alleine erlebte, war erst von Bedeutung, nachdem er es ihr erzählte. Was Nadja nicht von ihm wusste, würde mit ihm verschwinden.

Nadjas Schönheit wollte entschlüsselt werden. Ihre Augen standen nah beieinander, meistens blickte sie skeptisch. Sie trug ihre schwarzen Haare kurz geschnitten. Ihre Gesichtszüge sahen aus wie geschnitzt, was sie älter wirken ließ, obwohl sie noch jünger war als Mert. Bei dieser ersten Begegnung fühlte er sich, als habe er einen Schatz entdeckt, der anderen verborgen blieb. Doch das Auffälligste war nicht Nadjas Aussehen, sondern ihre Anwesenheit.

Sie saß im Bus der Hamburger Boxauswahl, auf dem Weg zu einem Vergleichskampf gegen die Ukraine in Schwerin. Ein Dutzend junger Männer verschiedener Gewichtsklassen verteilte sich im Bus, alle so voller Kraft, dass sie kaum gerade sitzen konnten. Beine hingen über Armlehnen, Köpfe ragten in den Gang.

Mert hatte verschlafen, nachdem er die halbe Nacht mit seinem Vater gestritten hatte, wegen Geld, das in der Haushaltskasse fehlte. Im Nieselregen war er dem Bus hinterhergesprintet, an der zweiten Ampel hatte er ihn eingeholt. Wasser und Schweiß tropften an ihm herunter, seine Sporttasche schnitt in seine rechte Schulter und verzog seinen Trainingsanzug zu einer betonfarbenen Stoffmasse. Mert war in einem denkbar schlechten Zustand, um seinem Schicksal gegenüberzutreten.

Ein paar Sekunden stand er im Gang, um wieder zu Atem zu kommen. Einige der Jungs schliefen im Sitzen, die Hauben ihrer Kapuzenpullis tief ins Gesicht gezogen. Andere grüßten mit einem Kopfnicken. Mert schob sich durch den Mittelgang, seine Tasche blieb an Armlehnen und schlafenden Kollegen hängen. Nadja saß entgegen der Fahrtrichtung an einem der kleinen Tische neben Felix Borau, dem Star der Hamburger Boxauswahl. Sie wirkte wie eine Porzellantasse in einem Maschinenraum.

Als Mert an ihrer Reihe vorbeiging und sich umdrehte, sah sie ihn mehrere Sekunden an, und ihre Ausdruckslosigkeit schien etwas zu verschleiern. Sie lächelte kurz, bevor sie sich in das Buch flüchtete, das aufgeschlagen auf dem Tisch vor ihr lag. Mert fing Felix’ Blick auf, der wortlos sein Revier sicherte. Zwei Bankreihen weiter fand Mert einen freien Platz und ließ sich hineinfallen. Keine Stelle an seinem Körper war trocken geblieben.

Während der Bus durch den Regen fuhr, packte Mert seine Kampfkleidung aus der Sporttasche. In der Reihe neben ihm döste ein Fliegengewichtler, auf dessen grauem Sweatshirt in großen Lettern »Boxen« gedruckt stand. Der Junge hatte sich in seinen Pulli gewickelt wie in eine Decke. Mert streifte sich die nassen Sachen ab und kramte in seiner Tasche. Zwischen Duschgel, Boxhandschuhen und Kopfschutz fand er einen ausgeblichenen Guns-N’-Roses-Pullover. Er wischte sich mit einem Handtuch trocken und suchte nach seinem Deo. Der Junge auf der anderen Seite des Gangs drehte sich im Halbschlaf zur Seite und motzte. »Whoa Alter, du stinkst.«

Mert sprühte Unmengen von Deo unter seine Achseln, was seinen Nachbarn endgültig aufweckte.

»Das ist ja abartig, willst du uns vergasen?« Der Junge schob seine Kapuze zurück und sah Mert nackt in der Bankreihe neben sich sitzen. »Alter, wenn du nicht doppelt so groß wärst wie ich, würde ich alle wach machen, damit sie das sehen können.«

Mert schlüpfte in seine Kampfhose. Danach streckte er seine Faust zum Gruß über den Gang.

»Mert.«

»Ali«, erwiderte der Junge, als er mit seiner Faust einmal oben und einmal unten auf Merts Faust klopfte.

Mert kannte Ali Örgen, den einzigen Hamburger Verbandsboxer, der einen ähnlich beeindruckenden Kampfrekord vorzuweisen hatte wie Felix Borau. Deutscher Meister im Fliegengewicht, Jugendeuropameister. Mert hatte ihm öfter beim Sparring zugesehen. Ali boxte technisch überragend, schnell und stark. Er war ein Titan im Ring. Aber in Zivilkleidung wirkte er wie ein Zwerg, 1,62 Meter groß, was Mert besonders deutlich auffiel, als Ali neben ihm im Bus hockte und in seinem großen Sweatshirt wie ein Kind aussah.

Mert zog sein Vereinsshirt an und den alten Pullover darüber. Auf seiner Brust war nun »Appetite for Destruction« zu lesen, und das passte sehr gut zu seinen Absichten.

Der Bus glitt knapp oberhalb der vorgeschriebenen Geschwindigkeit durch den Regen nach Schwerin. Mert fühlte sich ausgelaugt, doch er konnte nicht schlafen. Er suchte nach einer Stellung, in der er zur Ruhe kam, landete aber immer in einer Position, aus der er in Nadjas Richtung sehen konnte. Felix Borau schien Mert zu beobachten. Beide kannten sich vom Verbandstraining. Felix war die Geheimwaffe des Hamburger Boxverbandes, Kaderboxer der ehemaligen DDR mit erstklassiger Grundausbildung.

Um der Beobachtung durch Felix zu entgehen, stand Mert auf und stellte sich in den Gang. Erst als ihm bewusst wurde, dass seine Aktion eine Folgeaktion verlangte, schob er sich zum Verbandstrainer nach vorne. Thorsten Gersch blickte von seinem Kreuzworträtsel auf und sah Mert fragend an.

»Noch irgendwelche Tipps, Trainer?«

»Ran an den Mann und harte Haken schlagen, das ist doch deine Spezialität.«

Gersch hatte es aufgegeben, eine Kampftaktik mit Mert zu besprechen. Mert tat, was er konnte, und durfte mit, weil Gersch sonst keinen konkurrenzfähigen Schwergewichtler im Aufgebot hatte. Mit seinen 182 Zentimetern Körpergröße wäre Mert im Halbschwergewicht besser aufgehoben gewesen, aber er hatte Probleme, unter dem Limit von 81 Kilogramm zu bleiben. Und im Halbschwergewicht war an Felix sowieso kein Vorbeikommen.

Obwohl Merts Gegner laut Kampftabelle zehn Zentimeter größer war, würde er schlagbar sein.

»Der hat nur sechs Kämpfe gemacht«, erklärte Gersch.

»Warum tritt der Russe eigentlich gegen mich an, wenn er so wenig Kämpfe hat?«

»Kiew ist nicht in Russland, sondern in der Ukraine, und wir haben dich mit null Kämpfen angemeldet.«

Mert wollte etwas einwenden. »Im Schwergewicht hast du null Kämpfe«, sprach Gersch weiter, »und es macht deinem Gegner auch keinen Spaß, wenn er umsonst zum Wettbewerb fährt. Geht ja nicht um die Olympiateilnahme.«

Als die Hamburger Boxer die Mehrzweckhalle betraten, wurden gerade Stuhlreihen aufgestellt. Der Ring war auf ein Holzpodest gebaut, der Boden mit schwerem, blauem Leinen bezogen. Techniker verschraubten die Spannhaken der Ringseile im Hallenboden. Einer der Ringrichter lehnte sich mit dem Rücken zu allen vier Seiten in die Seile, um deren Elastizität zu prüfen. Die Halle war rechteckig, knapp unter der Decke verlief eine Borte kleiner Fenster, die Tageslicht einließen. Obwohl draußen noch Schilder hingen, die zur Einweihungsfeier einluden, wirkte die Halle abgenutzt.

Die Umkleidekabine der Hamburger war so klein, dass nur ein Mann darin Seil springen konnte. Sie würden sich beim Aufwärmen abwechseln müssen. Die Boxer warfen ihre Taschen ab und schlugen dann in der Halle die Zeit tot. Der Nachmittag verging mit Wiegen und einer ungelenken Begrüßung der Kollegen aus der Ukraine. Merts Gegner, Piotr Androwitsch, sah aus wie ein 94 Kilo schwerer Säugling. Mert gruselte vor ihm. Androwitsch lag sogar drei Kilo über dem Limit fürs Schwergewicht, Gersch akzeptierte ihn trotzdem als Gegner. Nach dem Händeschütteln verteilten sich die Boxer in der Halle, und Mert beschwerte sich mit gedämpfter Stimme bei Gersch. »Der wiegt zehn Kilo mehr als ich. Ich brauche eine Leiter, um den zu treffen.«

»Sie bescheißen beim Gewicht, wir bescheißen bei den Kämpfen. Auf die Art hast du dir einen Sieg wenigstens verdient«, erwiderte Gersch.

»Beschwer dich nicht. In meiner Gewichtsklasse haben sie keinen aufgeboten. Ich bin umsonst mitgefahren«, sagte Ali, der neben ihnen zur Umkleide trottete und sich missmutig in der Halle umsah. »Wahrscheinlich haben die wegen Tschernobyl gar keine so kleinen Russen.«

»U-kra-ine!«, wies Gersch ihn zurecht.

Es wurde aufsteigend nach Gewichtsklassen geboxt. Nur Mert und Androwitsch würden außer der Reihe den vorletzten Kampf bestreiten. Die Hauptattraktion des Abends sollte die Begegnung im Halbschwergewicht werden, zwischen Felix Borau, dem deutschen Meister, und Vasily Lukaschinsky, dem Militärmeister der Ukraine.

In der Halle war es zu kalt, um sich zum Schlafen in einer Ecke einzurollen, also trieb Mert sich herum und aß Schokolade, belegte Brötchen, Äpfel und Bananen, die den Boxern auf einem Tapeziertisch hergerichtet worden waren.

Als er den Witz mit den Bananen und den Gurken zum dritten Mal gehört hatte, fragte Mert endlich nach, was es damit auf sich hätte – und zwar ausgerechnet Felix und Gersch, die auf dem Weg in die Umkleidekabine waren.

»In der DDR hatten wir keine Bananen«, erklärte Felix. »Wegen der Planwirtschaft«, ergänzte Gersch.

»Und deswegen hält man uns für so blöd, eine Gurke mit einer Banane zu verwechseln«, schloss Felix. Gersch nickte. »Dummer Witz«, fügte er hinzu. Mert fand den Witz eigentlich ganz gut. Aber nachdem er ihn noch zweimal hörte, bekam er Mitleid mit den Schwerinern, die ihn bestimmt schon viel öfter gehört hatten.

Mert versuchte sich in Winkeln der Halle aufzuhalten, aus denen er Nadja beobachten konnte. Seit ihrer Ankunft saß sie regungslos in der ersten Reihe und las. Hinter ihr stellten die Ordner weiter Stühle auf, rüstige Senioren richteten auf einem Tresen Plastikbecher, Limonaden, Wurst- und Käsebrote an, die freiwillige Feuerwehr baute eine Zapfanlage auf, und erste Zuschauer sicherten sich die besten Plätze. Zwischendurch schlenderte Mert immer wieder in die Umkleidekabine. Als er dort allein war, suchte er drei Jacken nach Münzgeld ab, bis er fündig wurde und ein Fünfmarkstück an sich nahm. Danach sah er sich mit Ali die ersten Kämpfe an.

Die Begegnung der Junioren verlief ohne große Aufmerksamkeit, die Halle füllte sich. Ab der dritten Begegnung wurde kommentiert und gerufen. Lederblousons umspannten wuchtige Körper. Die jungen Männer versuchten breiter zu stehen, als sie waren. Die älteren Männer, die Veteranen, deren Stirn- und Wangenfurchen ihrem Alter vorauseilten, gestikulierten mit faltigen Händen. Die Knöchel ihrer Fäuste waren mit Hornhaut überzogen. In den Pausen liefen Ali und Mert außen um die Bestuhlung herum. Am Stand der freiwilligen Feuerwehr wurde Bier für zwei Mark pro Becher verkauft. Mert rechnete aus, dass er sich zweieinhalb Bier leisten konnte.

Einige Zuschauer musterten Ali und Mert wie exotische Tiere. Ali war irritiert. »Was tragen die denn für Klamotten? Sieht aus, als hätten die in der Altkleidersammlung gewühlt.« Doch nach einer Weile kam Mert der Gedanke, dass er und Ali mit ihrer olivfarbenen Haut, den schwarzen Haaren und den dunklen Augen auf die Schweriner fremder wirkten als umgekehrt. Ein stark geschminktes Mädchen zwinkerte Mert zu, doch er zwinkerte nicht zurück, aus Sorge, dass Nadja ihn in diesem Moment beobachten könnte. Er behielt das Mädchen trotzdem im Auge.

Nach dem sechsten Kampf ging Mert in die Umkleidekabine, um sich aufzuwärmen. Felix war bereits da und machte Gymnastik, obwohl er erst nach Mert dran war.

»Soll ich rausgehen?«, fragte er Mert.

»Nicht nötig.«

Mert zog sein Vereinsleibchen an, schnürte seine Schuhe und umwickelte seine Hände mit Bandagen. Gersch sah zwischendurch kurz zu ihm, widmete sich aber hauptsächlich Felix. Mert lockerte sich mit Schattenboxen, kreiste auf den Fußballen. Dann pausierte er einige Sekunden und begann wieder von vorne.

Endlich schob Gersch seine Hände in zwei Lederpolster, die den Verbandstrainer zierlich wirken ließen. »Hau mal ein bisschen in die Pratzen, dann muss ich Borau vorbereiten.« Mert nahm Abstand ein und schlug locker in die Pratzen, eine Links-rechts-links-Kombination. Gerschs Arm klappte vom Druck der Rechten nach hinten wie eine Gelenkfeder. Felix beobachtete die beiden, während er sich im Spagat dehnte.

Auf dem Weg in den Ring sah Mert zu der Stelle, an der Nadja die ganze Zeit gesessen hatte. Sie saß immer noch dort und beobachtete seinen Auftritt. Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelte.

Je näher Mert dem Ring kam, umso weniger bekam er von der Welt mit, die sich außenrum drängte. Mert liebte das Gefühl, durch die Seile zu steigen, wenn alles andere unwichtig wurde. Piotr Androwitsch wartete bereits auf ihn, mit der Gleichgültigkeit eines Ambosses. Der Gong war ein lautes Schnarren.

Die Jugend seines Gegners erwies sich für Mert als Vorteil. Androwitsch konnte seine Masse nicht bändigen. Er bewegte sich, als sei er zu groß für sich selbst, und verhedderte sich mit seinen Armen, wenn Mert ihm den Weg abschnitt. Androwitschs Geraden fühlten sich an, als würde man gegen eine Litfaßsäule laufen. Doch Mert lächelte kurz, als eine Führhand traf. Er mochte die harten Schläge – wenn er einen mit voller Wucht nahm, wusste er, woran er war. Bevor Mert getroffen wurde, war da diese Unsicherheit, nach dem ersten Schlag wurde er ruhiger. Er konnte Androwitschs Schläge aushalten, vielleicht nicht viele, aber genügend, um selbst zurückzuschlagen. Wo auch immer Merts Grenze im Erdulden von Schlägen lag, bei Androwitsch würde er sie nicht kennenlernen. Also freute er sich und lächelte.

Androwitsch war leicht auszurechnen, da seine Schulter zuckte, bevor er schlug. Nachdem Mert sich darauf eingestellt hatte, tauchte er unter Androwitschs Angriffen durch und entfesselte in der kurzen Distanz Schlagserien, die sein Gegenüber in Bedrängnis brachten. Bevor Mert sich wieder löste, schlug er noch ein oder zwei rechte Seitwärtshaken. Androwitsch überstand die erste Runde, wobei er fast seinen Kopfschutz verlor, hielt aber noch dagegen. Mert wirkte gelassen, als er in seine Ecke ging. Sein rechtes Auge war geschwollen, aber er war zufrieden. Er betrachtete seinen Gegner als Beute, die sich wehrt. Die Deckung war wie ein Panzer, den man aufbrechen musste, um an das weiche Fleisch zu kommen. Und bei Androwitsch hatte er schon ein leichtes Knacken gespürt.

Die Erfahrung seines Gegners stellte Felix später vor eine fast unlösbare Aufgabe. In der Halle schwang noch die Erregung von Merts Kampf nach. Nun folgte gespannte Stille. Im Gegensatz zu Mert betrachtete Felix die Aktionen seines Gegners als eine Fülle von Variablen, die er mit einer Mischung aus Berechnung und Intuition beherrschen konnte. Er boxte mit der Präzision eines Bombenentschärfers. Kein Schlag war verschwendet. Auf schnellen Füßen hielt er stets den richtigen Abstand zu Vasily Lukaschinsky. Dann glitt er wenige Zentimeter in die Reichweite, schlug eine kontrollierte Serie und schnellte wieder aus der Gefahrenzone. Sein Oberkörper blieb dabei aufrecht, seine Beine machten die Arbeit. Nie schlug Felix die gleiche Kombination zweimal hintereinander. Er beobachtete, was sein Gegner tat, ließ ein paar harmlose Schläge los, um zu prüfen, wie Lukaschinsky sich verhielt, und reagierte dann.

Doch Lukaschinsky, der eine ähnliche Boxschule durchlaufen hatte, ebenfalls Mitte zwanzig war und ebenso viel Kampferfahrung gesammelt hatte, tat dasselbe. So zuckten beide in Reichweite, tauschten ihre Schlagfolgen ab und umkreisten sich fast berührungslos.

Als Mert in seiner Ecke stand, hörte er kaum etwas von Gerschs Anweisungen. Gersch redete energisch auf ihn ein, doch Mert blickte rüber zu seinem Gegner. Er konnte an der Bewegung von Androwitschs Trainer ablesen, dass dem Ukrainer Aufwärtshaken als Mittel gegen Merts Attacken empfohlen wurden. Dann suchte Mert Nadja im Publikum. Sie hatte ein Bein über das andere geschlagen und sich so eingedreht, dass sie den Fuß unterhalb der Wade durchsteckte. Sie sah zu Mert.

Als Felix nach der ersten Runde seines Kampfes in die Ecke kam, sagte Gersch nur wenig. Er war noch heiser von der Schreierei bei Merts Kampf, und im Gegensatz zu Mert hatte Felix keinen Fehler gemacht. Sein Gegner boxte auf hohem Niveau, es würde nichts bringen, einen Trick auszupacken oder den anderen zu überrumpeln. Es ging darum, eine Millisekunde schneller zu schlagen, sich dem letzten Schlag einer Serie gerade noch zu entziehen. »Ruhig und schnell«, sagte Gersch, »das wird ein ganz knappes Höschen.«

Mert kümmerte sich nicht um Androwitschs Aufwärtshaken. Er kassierte ein paar Schläge, störte aber die Aktionen seines Gegners. Er unterbrach dessen Takt und zwang ihm seinen Kampfstil auf, unabhängig von dem, was Androwitsch versuchte. Mert vertraute auf seine Härte, seine Geschwindigkeit, fast immer fand er einen Weg, größere und bessere Boxer aus dem Tritt zu bringen. »Stinker« nannten sie Mert beim Verbandstraining deswegen. Das war nicht respektlos gemeint, sondern die übliche Bezeichnung für einen Boxer, der seine Gegner schlecht aussehen lässt.

Für das durchschnittlich interessierte Publikum wirkte es so, als würde Androwitsch, der physisch im Vorteil war, alles falsch machen. Ein geübter Beobachter konnte erkennen, dass Mert seine Schläge mit Druck aus dem Bein beschleunigte, um sein ganzes Körpergewicht dahinterzusetzen, während sein Gegner in seiner Not lediglich aus der Schulter schlug. Androwitsch kämpfte mit stumpfen Waffen. Ab der zweiten Runde war die Halle auf Merts Seite. Gegen Ende der Runde trieb er Androwitsch in die Ringseile, schlug zwei schnelle Linke und setzte einen rechten Haken nach, der Androwitsch seitlich an der Kinnspitze traf. Androwitschs Unterkiefer sprang aus dem Gelenk und knipste ihn aus. Wie ein Tänzer drehte Mert sich auf dem Fußballen um die eigene Achse zur Seite. Androwitsch nahm nicht mal mehr die Arme hoch und landete mit dem Gesicht voran auf dem Ringboden. Er fiel wie ein Baum an Mert vorbei.

Jubel hallte von den Wänden wider. Mert wollte in die neutrale Ecke gehen, aber Androwitschs Betreuer sprangen schon durch die Seile. Der Ringrichter machte sich nicht mehr die Mühe, den Niedergeschlagenen anzuzählen. Der Kampf war vorbei. Die Betreuer halfen Androwitsch auf die Beine und stießen unverständliche Flüche aus. Merts rechtes Auge war zugeschwollen und begann lilafarben zu schillern, so als habe er einseitig Lidschatten aufgetragen. Als sein Arm vom Ringrichter in die Höhe gereckt wurde, strahlte Mert wie eine polierte Medaille.

Im Gegensatz zu Mert musste Felix wenig später über die volle Distanz von drei mal drei Minuten gehen. Er und Lukaschinsky schenkten sich nichts. Es gab Zeitspannen von bis zu zehn Sekunden, in denen sie gar keinen Kontakt hatten, so sehr versuchten beide, die Aktionen des Gegners vorauszuahnen. Felix machte einen Seitschritt, um an Lukaschinskys Führhand vorbeizuschlagen und eine Serie von sechs Schlägen einzuleiten, die in einem rechten Cross enden sollte. Doch Lukaschinsky bewegte sich in dem Moment, in dem er Felix’ Absicht erkannte, ebenfalls zur Seite und unterband die Aktion. Lukaschinsky schlug zwei Führhände, wollte Felix in die Vorwärtsbewegung locken, um ihn mit einer steifen Rechten abzufangen. Doch die Schwäche der Führhand warnte Felix, und er blieb in Distanz. Manchmal starteten beide eine Serie im selben Augenblick, sodass keiner eine Gegenmaßnahme einleiten konnte. Dann prasselten Schläge aufeinander, blieben in der Deckung stecken, wurden pariert oder verfingen sich an der ordnungsgemäß hochgezogenen Schulter. Es glich einer schnellen Partie Schach.

Für die ehemaligen und aktiven Boxer war es faszinierend zu beobachten, auf welchem technischen und konditionellen Niveau Felix und Lukaschinsky kämpften, doch das restliche Publikum langweilte sich. Nach der Hauerei zwischen Mert und Androwitsch wirkten sie feige. Vereinzelte Buhrufe wurden laut.

Als Felix und Lukaschinsky nach dem Kampf in ihren Ecken der Kopfschutz abgenommen wurde, trug keiner der beiden mehr als ein paar Schrammen im Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis die Punktrichter das Verhältnis ausgerechnet hatten. Felix gewann die Faustfechterei mit 30 : 29. Sein Arm wurde in die Höhe gereckt, er drückte Lukaschinsky die Hand und ging in die Ecke der Ukrainer, um sich bei den Trainern zu bedanken. Lukaschinsky tat es ihm auf der anderen Seite gleich.

Nachdem Mert sich geduscht hatte und zurück in die Halle kam, ging Felix’ Kampf gerade in die zweite Runde. Das stark geschminkte Mädchen wartete neben der Umkleide, diesmal zwinkerte Mert zurück. Nachdem er von den fünf Mark ein Bier für sich und eins für das Mädchen gekauft hatte, sahen sie sich die letzte Runde von Felix’ Kampf an. Mert war fasziniert. Er erläuterte dem Mädchen, was sich im Ring zutrug, obwohl er sicher war, dass sie sich nicht dafür interessierte.

Nachdem Felix’ Sieg verkündet war, zog das Mädchen Mert hinter der letzten Stuhlreihe vorbei in die hintere Ecke der Halle, wo sich das Publikum ausdünnte und dann ganz verlor. Eine kaum erkennbare Tür in der Hallenwand führte in einen Raum mit Sportgeräten. Ohne weitere Worte kam das Mädchen zur Sache. Mert begann zu schwitzen, nachdem er sich gerade erst geduscht hatte. Es dauerte keine zwanzig Minuten. Trotzdem hätte Mert beinahe wieder den Bus verpasst.

Als er in den Bus stieg, gratulierten die meisten Kollegen, indem sie ihm die Faust entgegenstreckten, die Mert abklopfte. Während der Rückfahrt wurden alle Kämpfe ausführlich besprochen. Die Hamburger hatten triumphiert, fünf von neun Begegnungen gewonnen. Von Felix war ein Sieg erwartet worden, doch Mert machte den Unterschied.

Ali spielte nach, mit welcher Eleganz Mert sein Bein zur Seite geführt hatte, als Androwitsch fiel. Da Ali nicht gern übersehen wurde, kompensierte er seine Erscheinung mit Show. Er ließ sich nach vorne fallen, so wie Androwitsch hingeschlagen war, dann schnellte er wieder hoch, um Merts Ausweichbewegung ein weiteres Mal nachzuahmen.

»Unsere Dancing Queen«, rief Ali durch den Bus. »Aber der Riese war so ein Bewegungs-Spast, den hätte ich auch noch weggehauen.«

»Wenn Mert dich nach ihm geworfen hätte!«, johlte einer der Jungs von der hintersten Sitzbank.

»Ein K. o. macht eben mehr her«, sagte Felix zu Nadja. Er versuchte nicht beleidigt zu wirken, weshalb er sich wie ein Lehrer anhörte, der Schmierereien auf der Schultoilette entdeckt hat.

Nadja legte ihr Buch zur Seite und fragte sich, ob sie versuchen sollte, ihn zu trösten. Wenn Felix das bemerkte, würde er beleidigt sein.

»Du weißt, dass du heute Abend mit Abstand am besten geboxt hast, oder?«, sagte sie.

»Darum geht es wohl nicht.«

»Um was denn sonst?«

»Dass man Herz zeigt. Auch wenn der andere größer und stärker ist. Deswegen meckern auch alle über Henry Maske und finden diesen Michalczewski toll.«

»Niemand verbietet dir, aggressiver zu boxen.«

Felix’ schmaler Mund verzog sich. Nach den intensiven Runden gegen Lukaschinsky wirkte er ausgezehrt. Nadja ahnte, wie er in zehn, fünfzehn Jahren aussehen würde.

»Du solltest was essen«, sagte sie.

Als der Bus auf eine Tankstelle in Witzhave zufuhr, die im Dunkel dieses trostlosen Landstrichs leuchtete, wurde der Wunsch nach Bier laut. Die Boxer verschwanden auf der Toilette und in den Verkaufsräumen.

Mert hatte sein Geld bereits am Stand der freiwilligen Feuerwehr ausgegeben, also schlenderte er ziellos vom Bus zu den Zapfsäulen. Zwei alte VW Golf, einer grün, einer blau, mit abgedunkelten Heck- und Seitenscheiben, hielten gerade an. Mert versuchte, aus den Aufklebern am Heck der Fahrzeuge schlau zu werden. »Böhse Onkelz« stand da in Frakturschrift, und »Combat 18« in roten Lettern auf schwarzem Grund.

Der junge Mann, der den Zapfhahn in die Seite des grünen Golfs steckte, sah Mert an. Hackfresse, dachte Mert. Aus dem blauen Golf stieg ein zweiter Mann, der aussah, als wäre er der Zwilling des ersten. Spacken, dachte Mert. Auch der zweite Mann zog einen Zapfhahn aus der Säule und begann zu tanken.

»Hier werden nur Deutsche bedient«, rief Hackfresse. Mert begriff nicht, dass er gemeint war.

»Verstehst du nicht? Hier werden nur Deutsche bedient!«, sagte Spacken.

Die Türen beider Fahrzeuge wurden geöffnet. Es stiegen insgesamt fünf weitere Männer aus, die sich zu einer Reihe aufbauten. Mert hatte noch nie solch eine Ansammlung stumpfer Gesichter gesehen. Zwei der Männer mahlten mit dem Kiefer, um bedrohlich zu wirken.

»Haste verstanden?«, kläffte einer von ihnen, »hier werden keine Kanaken bedient, das ist Deutschland.« Diese Beschimpfung brachte er auf Sächsisch vor, was seiner Ausführung etwas unfreiwillig Komisches gab. Mert kannte den Dialekt nur von Parodien im Fernsehen.

»Was seid ihr denn für Deutsche? Ihr redet ganz schön komisches Deutsch«, sagte Mert.

»Willste frech werden, Türke?«, sagte Hackfresse.

»Ich bin Deutscher.«

»Ach nee, Deutscher? Du bist’n Türke, sieht man doch.«

»Riecht man auch. Bis hierher!«, rief Spacken. Seine Kumpel lachten wie Hyänen.

»So wie sich das anhört, hab ich meinen deutschen Pass schon länger als ihr.«

»Hast Mut, Türke, was? Weil du’n Veilchen hast, was? Hab ich gesehen, das Veilchen, bist du’n Boxer oder so was? Ein Türkenboxerchen!« Hackfresse unterbrach seine Schimpftirade erst, als es ihm merkwürdig vorkam, dass sein Gegenüber ein schiefes Lächeln zeigte. Mert grinste mit der Zufriedenheit desjenigen, der Zeuge einer seltenen Gerechtigkeit wird.

Die Reaktion erschien den Männern so bizarr, dass ihnen keine Beleidigung mehr einfiel. Unsicherheit flackerte in einigen Augenpaaren auf. Ganz langsam kroch sie im Inneren der Männer nach oben, ohne dass sie die Ursache dafür erfassen konnten. Mert blickte sie weiter an.

»Was grinste denn so blöde?«, war das Einzige, was Hackfresse hervorbrachte.

Merts Augenbrauen zuckten nach oben, seine Lider hoben sich kaum merklich. Die Männer verstanden es als Hinweis, sich umzudrehen. Einer nach dem anderen wendete den Kopf – und was sie sahen, waren elf Boxer der Hamburger Verbandsauswahl in Trainingskleidung, die keinen Zweifel an ihren Fähigkeiten ließ.

Felix stand wie ein Häuptling einen halben Schritt vor seinen Kollegen. Er ließ einige Sekunden verstreichen, bis alle Anwesenden begriffen hatten, in welcher Situation sie sich befanden. Auf der Brust seiner Trainingsjacke waren zwei Boxhandschuhe über dem Emblem »HBC 21« eingestickt. Er hielt seine Arme verschränkt, so sicher war er, dass er seine Fäuste nicht brauchen würde.

»Sollen sie sich entschuldigen?«, fragte Felix.

»Eine Entschuldigung wäre nicht schlecht«, antwortete Mert.

Hackfresse zögerte.

»Entschuldigung«, murmelte er schließlich.

»Alle entschuldigen!«, sagte Ali, der dem kleinsten der Männer bis zur Nase reichte.

Für einen Moment schienen die Männer sich zu fragen, ob ihre Ehre es ihnen wert war, verprügelt zu werden. Zwei von ihnen warfen hasserfüllte Blicke auf Ali, der sich auf der Stelle bewegte wie ein Bullterrier an einer Kette.

»Was hast du denn zu melden, Kleiner?«, fragte Hackfresse.

»Oh, ich hab Schiss«, gab Ali zurück. »Deine Mutter ist bestimmt der Stärkste im Knast!«

Felix hob salbungsvoll eine Hand in die Höhe, um seinen Kollegen zu bremsen. »Sollen sich alle entschuldigen?«, fragte er Mert.

Die Golf-Typen wussten nicht, ob sie zu Felix, Mert oder Ali sehen sollten.

»Ja, alle entschuldigen«, sagte Mert.

Also wurden Entschuldigungen ausgesprochen, bevor Ali noch mal an seiner Kette zerrte. »Und extra entschuldigen, dafür, dass sie so scheiße aussehen!«

Mert vermutete, dass Felix nun Ali zur Ordnung rufen würde, doch Felix zuckte mit den Schultern und sagte: »Ihr habt den Mann gehört.«

Die Männer murmelten eine weitere Entschuldigung.

»Und bezahlen nicht vergessen«, sagte Mert.

Hackfresse und Spacken gingen im Bogen um die Boxer herum in die Tankstelle, ihre Kumpel rührten sich nicht. Zwei Minuten blieben alle wie angewurzelt stehen, bis die beiden zurückkamen. Die Männer stiegen vorsichtig in ihre Autos, als könne jede falsche Bewegung die gerade abgewendete Eskalation wieder heraufbeschwören. Dann fuhren sie davon, der blaue Golf zuerst, der grüne hinterher, nicht allzu schnell. Im Bus feierten die Boxer der Hamburger Auswahl ihren zweiten Sieg. Doch für Mert war der Höhepunkt des Tages immer noch nicht erreicht.

Felix bot Mert den Platz gegenüber an, auf der anderen Seite des Tisches, an dem er und Nadja schon auf der Hinfahrt nebeneinander gesessen hatten. Nadja legte ihr Buch zur Seite und ließ sich von Ali, Mert und Felix erklären, was vorgefallen war. Sie hatte die Szene aus dem Busfenster beobachtet. Als Mert sich die Haare aus dem Gesicht strich, roch er das stark geschminkte Mädchen an seiner rechten Hand. Er hatte es schon fast vergessen.

Ali sagte, für alle laut hörbar: »Das Beste war ja wohl, als du die Ossis darüber in Kenntnis gesetzt hast, dass du schon länger Deutscher bist.« Nadja lachte. Da sie sonst ernst wirkte, zündete ihr Lachen wie ein Silvesterkracher. Es sprang ihr förmlich aus dem Gesicht, und Mert fühlte sich geehrt.

»Dabei hätte ich gewettet, dass du auch Türke bist, oder Perser oder so was«, sagte Ali.

»Meine Mutter ist Türkin, mein Vater Deutscher.«

»Deswegen Schulz«, sagte Felix.

»Mert Schulz«, sagte Ali, »wer heißt schon Mert Schulz? So ein beknackter Name. Wie Jesus Müller oder so.«

Mert blickte zu Felix. »Bist du nicht auch Ossi?«

»Wir sind nicht alle so«, antwortete Nadja.

»Die waren aus Meck-Pomm«, antwortete Felix, »wir kommen aus der Lausitz.«

»Ist das ein Unterschied?«, fragte Ali.

»Ein Riesenunterschied«, erklärte Nadja. »Aber für euch hört sich wahrscheinlich alles gleich an, was von drüben kommt.«

»Bei dir höre ich nix«, sagte Ali.

»Im Gegensatz zu meinem Bruder hier habe ich mir den Dialekt abgewöhnt.«

Mert schoss das Blut in die Wangen, er wurde nervös. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte er.

»Nadja«, sagte Felix. Seine Antwort kam schneller als seine Führhand.

»Habt ihr da drüben nicht Russisch auf der Schule gehabt?«, fragte Mert.

»Pflichtfach ab der 5. Klasse«, sagte Nadja.

»Hast du verstanden, was die Betreuer von dem Riesenbaby mir hinterhergebrüllt haben?«

»Sie haben dir nicht abgekauft, dass du deinen ersten Kampf gemacht hast.«

»Ist ja auch eine Lüge«, sagte Felix.

»Nicht meine Lüge.«

»Aber du hast mitgemacht.«

»Mitgemacht hab ich.«

»Nun gib mal Ruhe, Herr Professor«, sagte Ali, »der Typ war sogar überm Limit fürs Schwergewicht. Der hätte Mert auch zu Klump hauen können. Mert hat Weltklasse gekämpft heute!«

»Stimmt. Hast gut gekämpft heute«, sagte Felix, »nicht gut geboxt, aber gut gekämpft.«

»Dafür hast du gut geboxt.«

»Jetzt knutschen sie gleich!«, rief Ali durch den Bus.

Nadja umarmte ihren Bruder, Felix lachte. Er sah wieder so jung aus, wie er war. Für Mert schien in diesem Moment alles möglich zu sein. Sollte er diese Frau von sich überzeugen können, würde ihn nichts mehr aufhalten. Kein Gegner wäre mächtig genug, keine Chance zu klein.

Mert träumte von einem Kampf. Nadja würde am Ring sitzen. Ali und Gersch wären dabei, auch alle anderen Boxer der Hamburger Auswahl. Sie würden bezeugen, wie er und Felix einen Pakt besiegelten, den sie an diesem Abend in der Tankstelle geschlossen hatten. Mert beobachtete Felix, Felix schaute zurück. Ich kann dich schlagen, dachte Mert. Wenn du einen schlechten Tag hast und ich einen guten, dann kann ich dich schlagen. Auch wenn du schneller und genauer bist und mehr Varianten draufhast. Wenn ich dich erwische, wenn ich dich erst mal hart treffe, kann ich dich schlagen. Wenn du mich vorher nicht ausboxt oder nach Punkten davonkommst, wenn ich dich einmal voll erwische, dann schlage ich dich.

3

Mert erinnert sich nicht mehr, wann er zuletzt keine Schmerzen hatte. Es muss vor zwanzig Jahren gewesen sein, als er noch jung war und mehrere Wochen zwischen den Turnieren lagen. Seitdem überlagern sich Überdehnung, Übersäuerung, Zerrungen, Muskelfaserrisse und Kapselrisse. Mal ist der Ellbogen ausgeschlagen, mal die Hüfte versteift. Die Gelenke in den Knien und den Füßen sind verschlissen. Die rechte Hand fühlt sich taub an oder schmerzt pochend, je nach Wetterlage. Dazu ein Stechen in seinem Nacken wie Kopfschmerz, wenn er keine Gymnastik macht. Und sein unterer Rücken, wo er zwei Bandscheibenvorfälle hatte, zwingt ihn dazu, ein bisschen schief zu gehen. Er kann es nur erdulden. Irgendwas tut immer weh, auch wenn er nicht an Nadja denkt. Er dreht seinen Kopf im Halbkreis hin und zurück, um das Stechen loszuwerden. Er schüttelt seine Handgelenke aus, bevor er eine Banane schält und sie in zwei Bissen hinunterschlingt. Er muss schmunzeln. Mert nimmt einen Müsliriegel aus dem Kühlschrank, schiebt den Riegel aus der Hülle, beißt ab und dehnt seine linke Schulter, während er auf der süßlichen, gummiartigen Konsistenz kaut, die nach Erdbeere schmecken soll. Er nimmt noch einen Bissen und dehnt die andere Schulter. Dann lässt er seinen Oberkörper nach vorne sinken, geht leicht in die Knie, schiebt die Finger unter die Zehen und drückt die Beine durch, bis der Zugschmerz in den Kniekehlen nachlässt. Er macht ein paar Sonnengrüße. Mit dem letzten Bissen Müsliriegel im Mund geht er ins Schlafzimmer, wo er sich auf den Boden vor den Ventilator legt. Er zieht sein linkes Knie über sein rechtes Bein und legt es auf dem Boden ab, ohne dabei die linke Schulter abzuheben. Dann umgekehrt. Der Ventilator quietscht von links nach rechts. Mert wartet, bis sich die Anspannung im unteren Rücken löst. Dann macht er hundert Liegestütze und hundert Bauchaufzüge, wie jeden Morgen seit hundert Jahren.

Mert zieht sich eine kurze Hose und Socken an und klaubt ein T-Shirt vom Boden. Er riecht daran, um zu prüfen, ob er es noch einmal anziehen kann, bevor es in die Reinigung muss. Dann geht er in gebückter Haltung die schmale Treppe hinunter, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Unten zieht er die sandigen Turnschuhe an.

Sein Vermieter sitzt auf der kleinen Veranda direkt an der Straße. Sie führen ihre übliche Konversation. Der Vermieter sagt etwas auf Thai. Mert versucht zu erraten, was es sein könnte, und antwortet auf Deutsch. Der Vermieter wiederholt seine Worte lauter, so als würde Lautstärke das Verständnis steigern. Jeden Tag wechseln sie auf diese Weise vier bis fünf Sätze, simulieren ein Gespräch und gehen dann ihrer Wege.

Draußen wartet schon der Hund. Er hat schwarzes, raspelkurzes Fell und weiße Pfoten, so als trüge er Bandagen. Der Hund ist kleiner, aber auch agiler als die anderen Köter, die sich am Strand herumtreiben und unter den Liegen Schutz vor der Sonne suchen. Vor einer Woche war der Hund plötzlich aufgetaucht. Er ging mit Mert laufen, mit heraushängender Zunge, die ganze Strecke und wieder zurück. Auch beim Schwimmen versuchte der Hund ihm zu folgen, traute sich aber nicht in die Wellen und hielt Wache an der Stelle, an der Mert losgeschwommen war. Als Mert eine Stunde später hundert Meter weiter aus dem Wasser kam, erkannte ihn der Hund und folgte ihm. Natürlich lag es daran, dass Mert ihm am ersten Abend ihrer Bekanntschaft etwas von seinem Essen hingeworfen hatte. Die Anhänglichkeit ist erkauft.

»Na, läufst du mit?«, fragt Mert.

Der Hund bellt. Mert setzt sich in Bewegung, und der Hund rennt voraus, nicht ohne sich alle paar Meter nach ihm umzudrehen.

4

Mert hatte Nadja lange Zeit nicht wiedergesehen, sodass er nicht sicher war, ob sie sich an ihn erinnern würde. Seit der Busfahrt musste er ununterbrochen an sie denken. Er fragte sich, wie es wäre, neben Nadja aufzuwachen, mit ihr zu reden, ihre Haare anzufassen, an einem See neben ihr im Gras zu liegen. Alles, was er sah oder tat und bemerkenswert fand, wollte er ihr zeigen, wollte wissen, was sie davon hielt. Er empfand es als Besessenheit. Das Einzige, was er sich nicht fragte, war, wie es wäre, mit Nadja zu schlafen. Normalerweise war dies sein einziger Gedanke, wenn er ein Mädchen kennenlernte.

Er traf sie erst im folgenden Herbst bei den Vorausscheidungen zur Hamburger Meisterschaft wieder. Mert hatte sich zurück ins Halbschwergewicht gehungert, wochenlang nur Salat, Gemüse, Huhn und Spinat gegessen. Kein Zucker, nicht mal in Form von Obst. Vor dem Wiegen musste er in der Sauna Seil springen, um Flüssigkeit zu verlieren. Er blieb hundert Gramm unter dem Limit.

Mert und Felix siegten in ihren Ausscheidungskämpfen, zwei Wochen später würden sie gegeneinander antreten müssen. Nachdem sich Mert geduscht und angezogen hatte, suchte er Nadja in der Halle, konnte sie aber nirgends finden. Er trat vor die Halle und stand plötzlich vor ihr. Sie musterte ihn irritiert. In Trainingshosen sah Mert aus, als sei er darin zur Welt gekommen. In Jeans und Jacke wirkte er verkleidet.

»Nadja«, sagte Mert.

»Du weißt meinen Namen noch.«

»Klar.«

»Du bist Mert.«

»Haben sie ja gerade in der Halle gesagt.«

»Mert Schulz. Jesus Müller.«

»Ach, der blöde Ali.«

»Hat gut geboxt heute, der blöde Ali.«

»Hat er, allerdings.«

»Du auch.«

»Danke.«

»Mein Bruder auch. Musst du jetzt gegen ihn ran?«

»Muss ich wohl.«

»Oje.«

»Ich freu mich drauf.«

»Wirklich? Wie kann man sich auf so was freuen?«

»Das müsstest du doch von deinem Bruder kennen.«

»Der freut sich nicht auf seine Kämpfe. Der bereitet sich vor.«

»Das mache ich auch.«

»Aber du freust dich.«