Perpetual Poetry - Alexa Franca - E-Book

Perpetual Poetry E-Book

Alexa Franca

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Beschreibung

Majas Leben scheint perfekt, beruflich wie privat - doch sie fühlt sich in einem mausgrauen Laufrad gefangen. Es ist mehr als eine Midlife Krise. Erinnerungen an einen tragischen Unfall zeigen Maja, dass hier jemand seine Finger im Spiel haben muss. Oder gibt es eine höhere Macht, wie die der Poesie? Und was hat Max damit zu tun? Der Uni-Dozent, der eine Abschlussarbeit über ein Online-Lyrikprojekt mit dem Titel "Perpetual Poetry" betreut, versucht seine Vergangenheit zu bewältigen - schriftstellerisch. Maja wird aktiv, ergründet mit alten Freunden ihre Geschichte, und ihr Leben nimmt buchstäblich Farbe an. Dabei lässt sich auch manch kriminelle Handlung nicht vermeiden. Um die Fesseln von Raum und Zeit aber endgültig zu sprengen, muss sie über ihre Grenze gehen - bis hin zu einem (literarischen) Mord. Ein ebenso spannendes wie amüsantes sprachliches Spiel, bei dem für die Figuren wie für die Leser auf fantastische Weise Realität und Fiktion zunehmend verschmelzen.

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Alexa Franca ist passionierte Philologin. An der innerdeutschen Grenze aufgewachsen, lebt Alexa Franca nach ausgedehnten Reisen und Studien im In- und Ausland heute im Herzen Europas, wo sie an einem Gymnasium unterrichtet und ihren Leidenschaften, dem Lesen und Schreiben, nachgeht. Ihre Faszination, Länder- sowie logische Grenzen zu überschreiten, spiegelt sich auch in ihrem Roman „Perpetual Poetry“.

„Für mich“

(Maja)

Inhalt

Transparenter Auftakt-Tango

Wundersam weiße Wände

Grauzone

Intermaxo 1

Schwarz-Weiß-Malerei

Silberglanz

Intermaxo 2

Blaue Pause

Braunes Beinahe

Unsichtbare Melodie

Intermaxo 3

Grüne Welle

Intermaxo 4

Schillernder Schein

Intermaxo 5

Lila Lust und Laune

Durchsichtiges Duett

Rosarot-kariertes Chaos

Intermaxo 6

Mehrfarbige Melange

Rotkehlchen

Goldige Lügen

Polychrome Momentaufnahme

Intermaxo 7

Irisierende Interromanze

Buntes Treiben

Zu buntes Treiben

Am Ende des Regenbogens

Transparenter Auftakt-Tango

… Worte fliegen verdunkelt durch die Zeit-en-Wende …

Der alte, knarzende Lehnstuhl schaukelte auf den Holzdielen hin und her. Langsam, leise quietschend. Hin und her. Denn die soeben verfassten Verse waren noch nicht vollkommen, entsprachen noch nicht den hohen Ansprüchen ihres Schöpfergeistes. So drehte und wendete dieser im Rhythmus des steten hölzernen Vor- und Zurückschaukelns die Silben und Worte ebenso hin und her, als ob er leichtfüßig mit durchscheinenden Objekten tanzen würde. Er musste das Geschriebene noch treffender formulieren! Es war noch nicht ganz das, was er beabsichtigte.

Der Rauch lullte den Geist ein und beflügelte ihn gleichzeitig. Mit den nach oben steigenden Schwaden schwang er sich empor. Draußen war es dunkel und nur das schwache, bläuliche Licht auf dem Schreibtisch erhellte die Silben, die geduldig darauf warteten, vollendet zu werden. Der restliche Raum war düster und vernebelt, eine weitere Lichtquelle als den Monitor gab es nicht. Alles konzentrierte sich auf die erleuchteten Verse, die sich bereitwillig formen ließen.

Da dämmerte dem Geist die Bedeutung des Lichts in dem von der Nacht erfüllten Zimmer. Es durchzuckte ihn ein heller Blitz, der in den schwerelosen Rauchwolken wie tausend Sterne zu funkeln schien. Der Schöpfergeist folgte der Eingebung, umschlang mit seinen Synapsen die herumtänzelnden Worte und Silben liebevoll, hielt sie fest und dichtete schließlich:

… freie Worte fliegen durch die dunkle Zeit-en-Wende ins Licht …

Ein weiteres prüfendes Lesen der letzten Verse hielt der kritischen Betrachtung endlich stand. So wurden diese Worte in das bisherige Gesamtwerk eingefügt und mit dem Drücken der Freigabetaste in den nächtlichen Weltenraum wie ein gleißender Pfeil hinausgesandt, damit sie dort ihre ganze Strahlkraft entfalten konnten.

Der Schöpfergeist war sich sicher, dass seine Worte da draußen verstanden werden würden – eines Tages – von dem, der das Leuchten der Silben für sich zu deuten wissen würde. Denn einmal in der Welt, konnte die Verse niemand mehr aufhalten. Sie würden früher oder später wie kleine Fünkchen auf fruchtbaren Nährboden fallen und dort keimen und gedeihen. Hoffentlich früher als später! Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Das wusste er, deshalb musste er handeln.

Er hatte vorerst sein Werk vollbracht. Der Geist war ermattet vom lyrischen Tango, den er in den vergangenen Stunden vollführt hatte. Auch der Kopf, der ihn umgab, war schwer geworden und konnte sich jetzt endlich auf ein weiches, einsames Kissen betten und ausruhen. In beruhigter Gewissheit, dass die übernatürliche Kraft der Poesie die Dinge lenken würde …

Wundersam weiße Wände

Maja stand mitten im Zimmer und schaute die Wand an, die völlig weiß getüncht war und lediglich kleine Unebenheiten aufwies. Sie stierte auf die helle, von unregelmäßigen Putzkörnchen durchzogene Fläche, bis die einzelnen Kügelchen vor ihrem Auge zu verschwimmen begannen. Sie fingen an, sich zu drehen, sich zu überkreuzen und wieder auseinanderzudriften – je nach Wimpernschlag. Maja beobachtete fasziniert den durch ihre starren Augen provozierten Tanz der Partikelchen und legte langsam den Kopf schief, um gleichsam in den Reigen einzusteigen und sich von der Drehung mitziehen zu lassen.

Während sie so mit schrägem Kopf vor der sich nur für sie drehenden Wand stand und stierte, fühlte sie unterbewusst hinter ihrem Rücken, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Noch jemand starrte. Nicht auf die Wand, sondern auf Maja.

„Alles in Ordnung?“

Die Worte drangen gleißend wie durch einen Nebel zu ihr durch, und Maja durchzuckte es innerlich, als hätte sie auf einmal ein Blitz getroffen. Und da flimmerten plötzlich Bilder auf der Wand vor ihrem geistigen Auge. Bilder, die tief in ihr schlummerten – bis jetzt: Lachende Gesichter. Laute Musik. Wind in den Haaren. Vorbeirauschende Landschaft. Der Baum. Immer wieder: der Baum.

Alles in Ordnung? Nichts ist mehr in Ordnung! Woher kommen auf einmal diese … diese … Filmfetzen?

Ihr kam es vor, als wäre etwas in sie hineingefahren. Als wären die Worte vorhin nur das Transportmedium für etwas anderes gewesen. Etwas, das sie nicht greifen konnte, das sich aber in Maja einnisten wollte: eine Art Samen, der nur darauf wartete zu keimen.

Äußerlich verharrte sie wie angewurzelt in ihrer Pose, holte tief Luft, als wolle sie antworten, blieb aber stumm. Sie blinzelte gegen die illusorischen Bilder an.

Ohne sich umzudrehen, wusste sie, wer hinter ihr stand, wer ihre sich unter dem Kleid abzeichnende Silhouette musterte und vor allem, wer sie verstehen würde.

„Ich komme dann später wieder.“

Gerade weil er sie verstand, weil er mehr war als ein Kollege, konnte sie es sich erlauben, sich nicht umzudrehen, sondern zu verweilen. Aber er konnte ja nicht ahnen, welche Bilder sich da eben in ihre Art Meditation geschlichen hatten. Von denen wusste Maja selbst kaum mehr etwas. Sie waren auch bereits wieder zu einem dünnen Strich vor ihrem Auge zusammengeschrumpft. Maja vernahm tief in sich eine Art hohen Pfeifton, der ihr anzeigte, von der Zwischenwelt zurückzukehren.

Sie beeilte sich nicht sonderlich, aus ihrer Trance wieder in die Realität zurückzukehren, sondern atmete noch einmal tief und ließ die Luft sanft ein- und ausströmen.

Was war das? War ich gerade im falschen Film oder bin ich es etwa jetzt? Ist das das wahre Leben? Das, was da gerade um mich herum stattfindet? Und bin ich noch Teil davon? Verdammter Stress!

Maja stieß die Luft laut aus und zwinkerte ein paar Mal kräftig, um auch die letzten tanzenden Punkte vor ihren Augen zu vertreiben. Sie konnte das eben Gesehene nicht recht zuordnen und versuchte daher, es besser zu verdrängen. War doch der Agenturalltag trotz seiner Abwechslung oft nervenaufreibend, sodass sie sich ab und zu eine kleine meditative Auszeit gönnte. Sie war in der Tat nicht mehr die Jüngste in diesem Geschäft.

Maja griff nach ihrer auf dem Sideboard abgelegten Brille. Das auffällige Gestell betrachtete sie im Büro als Accessoire für ihre großen blauen Augen. Sie sah zwar auch ohne Brille ausreichend, aber mit hatte sie den besseren Durchblick und fühlte sich auch hinter der Glasfassade sicherer. Ein Schutzschild gegen fremde Angriffe. Ihre Kontaktlinsen trug sie nur privat, soweit es überhaupt ein großartiges Privatleben gab. Die Gläser ließen jetzt ihre Umgebung wieder ein wenig schärfer und ihre Augen wieder ein wenig kleiner erscheinen. Der Gesamtoptik ihres Aussehens tat das aber keinen Abbruch.

Natürlich hatte sie Massimos Frage wahrgenommen, doch sie konnte in diesem Moment nicht antworten, um nicht aus ihren Gedanken gerissen zu werden.

Das Werbegeschäft ist eine schnelllebige und oft raue Angelegenheit, sodass Maja in ihren zahlreichen Berufsjahren schon so manche Klippe umschifft und einige Passagiere an Bord der Firma überlebt hatte, was sie ihrem besonderen Talent und ihrer sozialen Art zu verdanken hatte. Dennoch fühlte sie sich zunehmend wie auf einem wankenden Boot, obwohl sie nach außen für die meisten Kollegen den Eindruck eines stählernen Eisbrechers vermittelte.

Als sie sich wieder im Griff hatte, ging sie zum Aktenstapel, den ihr Massimo auf dem Tisch hinterlassen hatte. Es war die anstehende Wochenplanung. Sie durchkämmte mit geübtem Blick den Sachverhalt der unterschiedlichen Dokumente und ordnete bereits in Gedanken die Blätter nach dringend, weniger wichtig und überflüssig – nach all den Jahren in der Agentur hatte sie sich die nötige Routine für derartige Angelegenheiten angeeignet.

Sie griff zum Telefonhörer und wählte Massimos Nummer. Schon kurz darauf stand ihr Kollege mit seinem unverschämt unwiderstehlichen Grinsen im Gesicht an der Glastür, an die er symbolisch noch einmal klopfte, obwohl er sie schon geöffnet hatte.

„Alles in Ordnung?“, wiederholte er seine Frage von vorhin und strich sich eine dunkle, allzu widerspenstige Locke aus der Stirn.

Maja blickte von ihrem Schreibtisch auf und an Massimo hoch, der in seiner schmal geschnittenen Jeans eine gute Figur abgab.

„Alles unter Kontrolle.“

Das war auch kaum gelogen. Jedenfalls nicht, wenn sie ihre Aussage freier interpretierte: Sie fühlte sich manchmal mehr kontrolliert, als ihr lieb war – was sie immer häufiger zum Grübeln brachte. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken.

Sie nahmen in Majas großzügigem Einzelbüro, das sie sich hart erarbeitet hatte, an einem Ende des länglichen Besprechungstischs Platz und begannen, sich auf die Wochenplanung zu konzentrieren. Eine Stunde und eine Kanne Kaffee später waren sie fertig, lehnten sich in ihren wippenden Stühlen zufrieden mit ihrer Arbeit zurück und schlürften die letzten, kalten Schlucke aus ihren Tassen. Privatgespräche ließen sie in der Agentur weitgehend außen vor und verabredeten sich stattdessen zur After-Work-Party in der nahegelegenen Sushi-Bar HIKARI, deren Schild um diese Uhrzeit bereits appetitlich durch die Fensterfront leuchtete. Hier trafen sich meist einige Kollegen am Freitagabend, um die oft als endlos empfundene Arbeitswoche fröhlich ausklingen zu lassen und um auf das Wochenende anzustoßen.

Dennoch konnte Massimo beim Verlassen des Büros mal wieder nicht widerstehen, Maja noch ein wenig aus der Reserve zu locken.

„Wann genau ist die Deadline für die Präsentation?“

Er wusste, dass das Wort sie provozieren würde, und er wusste auch, dass diese kleine Unverschämtheit ein Nachspiel für ihn bedeuten würde. Dennoch konnte er sich derartige Späße oft nicht verkneifen.

Maja griff zum obersten Blatt des Stapels auf ihrem Tisch, zerknüllte es und schleuderte den Papierball in Richtung Massimo. Doch dieser war schon flink durch die geöffnete Tür nach draußen und den Gang entlang gehuscht, sodass das Knöllchen auf dem Flur landete, noch ein paar Zentimeter rollte und dann vor einem Paar Lackschuhen zum Liegen kam. Vor dandyhaften Lackschuhen. Ausgerechnet!

Malte Hahn blickte an sich hinunter. Hundertfünfundsechzig Zentimeter tief. Maja, die dem Wurf nachgeeilt und abrupt stehengeblieben war, folgte seinem Blick nach unten. Hundertfünfundsiebzig Zentimeter tief. Zwei elegante Schuhpaare standen sich schweigend in sicherem Abstand gegenüber. Aus dem einen ragten hauchzarte Nylons, aus dem anderen geringelte Designerstrümpfe. Die fehlenden Zentimeter, die seit jeher an seinem männlichen Ego kratzten, glich der Agenturchef durch eiserne Disziplin und kreativ-schicke Outfits, die zeitweise an das Federkleid eines werbenden Gockels erinnerten, aus. Der Erfolg der Jahre schien ihm recht zu geben und nährte sichtlich sein – jedenfalls nach außen zur Schau gestelltes – Selbstbewusstsein. In der Tat machte ihm so schnell keiner etwas vor. Und das wusste er wohl selbst ebenso wie seine Angestellten, besonders wenn sie schon so lange mit ihm arbeiteten wie Maja. Hahnenkämpfe mit Konkurrenten trug er in der Regel zu seinen Gunsten aus. Und wenn er dabei ab und zu auch ein paar Federn lassen musste, den Sieg verbuchte er meist für sich. Er war ein Macher auf seinem Gebiet. Was er mit seinen unermüdlichen Händen anpackte, wurde zu barer Münze. Er war eine Art Marketingmaschine, die Geld druckte. Aber er wusste auch, dass er auf sein Team zählen konnte und dass ohne dieses seine Firma nicht da stehen würde, wo sie stand: ganz oben auf der Liste der Top-Marketingunternehmen. Daher behandelte er seine Leute, denen er zwar viel abverlangte wie sich selbst, nie wirklich ungerecht. Er konnte es nur hin und wieder nicht lassen, seine durchaus vielschichtigen Qualitäten vor seinen ‚Untertanen‘, so wie sich die Angestellten zuweilen scherzhaft nannten, zu demonstrieren.

Gekonnt lupfte er trotz seiner mehr als fünfzig Jahre den Papierball leichtfüßig mit der Spitze seiner polierten Lederschnürer, warf ihn in die Luft und fing ihn mit einer Hand auf, wobei er einige Worte auf dem Papier entzifferte. Nachdem er eine Haarsträhne, die sich bei seiner Aktivität aufmüpfigerweise aus seiner gestylten Frisur gelöst hatte, mit seinen Fingern wieder nach hinten platziert hatte, bemerkte er süffisant zu Maja, ihr das Knäuel zuwerfend:

„Maja, Sie schmeißen wohl den Auftrag von GRUB-Pharma hin?“

Als sie die Papierkugel mit einem gewagten Seitwärtsschritt aus der Luft geangelt hatte, schob Maja ihre Brille hoch, die etwas ins Rutschen geraten war. Sie lächelte charmant die offensichtliche, wohlverpackte Provokation ihres Chefs weg, überlegte kurz und traute sich zu kontern:

„Ich teste nur gerade, ob bei diesem Kunden eventuell ein Schneeballsystem vorliegen könnte, das uns in Misskredit manövrieren würde.“

„Gut reagiert, Maja, aber immer schön am Ball bleiben, um Ihre Wortwahl aufzugreifen, denn lederne Agentursessel sind wie Schleudersitze, die auch schnell abschießen, wenn es sein muss.“ Dabei hielt die Marketingmaschine die Rechte zu einer Pistole geformt in die Luft.

Nach ihrem Schlagabtausch entfernten sich die schicken Dandytreter wieder von ihrem Büro und ließen die Pumps allein mit sich und ihrer Trägerin zurück. Maja biss sich auf die Zähne.

Deadline! Wenn ich so weitermache, habe ich sie bald überschritten. Wenigstens weiß Chick, was er an mir hat. Und er weiß, dass ich es weiß.

Maja war klar, dass Malte Hahn sie nicht so schnell durch eine unerfahrene Volontärin oder eine gierige Kollegin ersetzen würde. Dafür war sie viel zu gut in ihrem Job, betraut mit namhaften Kunden im In- und Ausland und dazu äußerst beliebt bei den Kollegen und Kunden. Schon länger spekulierte Maja darauf, noch weiter aufzusteigen, gerne bis in die Chefetage, die eigentlich im Moment nur aus dem erfahrenen und versierten Mittfünfziger selbst bestand, weil sich Hahns langjähriger Partner nach einer heftigen Meinungsverschiedenheit aus der Agentur verabschiedet hatte. Obwohl Maja die am längsten in der Firma Tätige, die Erfahrenste und die mit der schnellsten Auffassungsgabe war, war sie aber letztendlich auch nur eine Angestellte wie die anderen auch.

Chick kann mich nicht entlassen. Das würde er schlicht nicht tun. Das würde er nicht riskieren…

Die Verwendung seines ihm nicht bekannten Kosenamens weichte die stählerne Hülle der Marketingmaschine wenigstens verbal etwas auf. Eine oft hilfreiche Strategie unter den Angestellten.

Maja schloss die Tür, setzte sich hinter ihren Schreibtisch und legte die Hände mit gespreizten Fingern flach auf die weißglänzende Tischplatte, um sich zu erden. Aber irgendwie blieben Zweifel in ihrem Kopf hängen, sodass sie auf ihrer Unterlippe knabberte, was sie gewöhnlich bei schwierigen Denkprozessen zu tun pflegte.

… oder doch? Keiner ist so unentbehrlich, wie er vielleicht glauben mag. Deadline.

Das Wort spukte ihr nun im Kopf herum.

Massimo! Warum musst du mich immer an mein Alter erinnern! Auch wenn du es nur scherzhaft meinst. Du Jungspund. Tröstlich nur, dass die Deadline für jeden irgendwann kommt. Aber vielleicht hast du recht: Bin ich dem allen noch gewachsen oder habe ich die Todeslinie etwa doch schon überschritten? Arbeit, Schlafen, Arbeit. Ist das noch das wahre Leben?

Maja stutze und wälzte noch einmal das Wort, das ihr auf einmal seltsam neu vorkam, obwohl sie es neckenderweise schon oft gehört hatte.

Deadline … Oder kann das noch etwas anderes bedeuten?

Seit den Bildern, die sich vorhin blitzartig vor ihr geistiges Auge geschoben hatten, fühlte Maja, dass etwas im Begriff war, sich in ihr zu verändern – wenn sie es nur zuließe.

Irgendetwas ist da faul.

Maja versuchte, den sie quälenden Gedanken zu trotzen, indem sie mutig ihren Kopf hob und in Richtung der gegenüberliegenden weißen Wand blickte, die sie stets als unbefleckte Leinwand empfand, auf die sie all ihre Sorgen projizieren konnte, bis sie vom reinen Weiß geschluckt wurden. Daher hängte Maja auch kein Bild an ihre Wand, um deren wundersame Wirkung nicht zu gefährden. Nach und nach lösten sich die dunklen Wolken zwischen den weißen Putzkörnchen auf. Dann machte sie sich mit frischer Energie an die noch ausstehende Arbeit, die sie, ihrer perfektionistischen Art gemäß, gewissenhaft und routiniert erledigte.

„HIKARI?“, fragte eine fröhliche Stimme durch die Glastür.

„Ich komme gleich nach.“

Maja mochte die junge, ambitionierte Janna aus ihrem Team. Nachdem sie ihren Schreibtisch aufgeräumt und sich vergewissert hatte, alles für diese Woche erledigt zu haben, prüfte sie ihr Äußeres kritisch in ihrem Taschenspiegel der Puderdose und war im Großen und Ganzen – wie eigentlich meistens – zufrieden mit dem, was ihr entgegenblickte: leuchtend hellblaue Augen, die einen blickfangenden Kontrast zu ihrem sonst von Natur aus leicht gebräunten Teint darstellten.

Sie schob die Brille noch einmal hoch. Ihr dunkler Dutt saß. Ihre Kollegen kannten sie nur mit straff zurückgebundenen Haaren und auffälliger Brille, also in ihrem Büro-Look, der ihrem markanten, aber aparten Gesicht einen zusätzlich taffen Touch verlieh.

Maja griff nach ihrem Blazer und ihrer Tasche, um sich auf den Weg zu den anderen in die HIKARI-Sushi-Bar zu machen. Beim Betreten des Lokals, das durch sein zurückhaltendes japanisches Ambiente bestach und um diese Uhrzeit wie immer gut besucht war, wurde Maja von der Winkekatze auf der Theke und mit einer Verbeugung von der ewig lächelnden asiatischen Empfangsdame in einem Kimono begrüßt.

„Wunderschönen guten Abend. Herzlich Willkommen.“ Die freundliche Frau, die alterslos zu sein schien, wies Maja auch gleich mit einer einladenden Handbewegung den Weg zu ihren Kollegen, weil sie die Gruppe von ihren wöchentlichen Besuchen bereits kannte.

Maja bedankte sich höflich und durchquerte die Lobby. Sie fühlte sich wohl in dieser eleganten und auf das Nötigste reduzierten Umgebung mit raffinierten Details. Sie spürte jedes Mal, wenn sie HIKARI betrat, eine sinnliche Harmonie, als beschreite sie einen Tempel. Dabei genoss sie es, dass sie so manch bewundernder Blick eines männlichen Gastes begleitete – auch der von Massimo, der sie magisch anzog, bis sie die fröhliche Gesellschaft ihrer Kollegen erreicht hatte.

Sie hatten allesamt bereits entweder ein Weinglas oder eine Bierflasche vor sich und knabberten Wasabi-Nüsse.

In der stehenden Runde stach Malte Hahn nur durch seine tonangebende Stimme heraus. Neben weiteren Kollegen von anderen Abteilungen waren aus Majas näherem Arbeitsumfeld nur Massimo, die beiden jungen Frauen Janna und Therese sowie Raphael mit von der Partie.

Etwas erschöpft, aber mit guter Miene gesellte sich Maja zu dem fröhlich plaudernden Grüppchen, grüßte nickend in die Runde und bestellte sich ebenfalls Wein wie die meisten anderen Frauen, um mit den Versammelten anzustoßen. Die Gesprächsthemen kreisten um Kunden, Konkurrenz und Karriere.

Nach einer Weile gab die Marketingmaschine den Startschuss, und die Belegschaft begann begierig, sich von dem endlos vorbeischlängelnden Band kleine Teller und Schüsselchen mit liebevoll zubereiteten Sushi-Kreationen zu angeln. Besonders die unbedarfte Therese griff beherzt zu.

Je länger sie zusammenstanden und quatschten, desto höher wurde der Stapel an Schälchen um sie herum. Maja unterdrückte jedoch beim zweiten Glas Wein ein Gähnen mit leicht verzogenem Mundwinkel, wobei sie sich kurz wegdrehte.

Vor zwanzig Jahren hätte ich um diese Uhrzeit noch nicht schlapp gemacht. Wen soll ich umbringen: Die verdammte Zeit oder mich?

Aber Massimo schien wieder einmal ihre Geste nicht entgangen zu sein, beobachtete er sie doch stets so unauffällig wie möglich aus den Augenwinkeln. Prompt hatte er sich mit seiner Exportflasche in der Hand umplatziert, damit er neben Maja stand.

„Hat dich der Tag so mitgenommen?“

Es war eine ehrliche Frage inmitten des oberflächlichen Geplauders, für die Maja dankbar war.

„Die Deadline hatte noch Folgen“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Das wirst du mir büßen …“

Ernsthaft berührt von Majas Situation sprach er ihr Mut zu: „Du weißt, welchen Stellenwert du in der Agentur besitzt.“ Dem fügte er mit seinem unwiderstehlichen Lächeln und einem intensiven Blick unter den Locken noch hinzu: „Und auch bei mir.“

Massimo … eigentlich ist er perfekt. Zu perfekt für mich. Wie das Spiegelbild meiner Seele. Aber so jung. Und mein Kollege …

Maja zeigte sich versöhnlich – etwas anderes blieb ihr auch gar nicht übrig –, hob ihr Glas und stieß mit Massimo an. Sie beließen es bei tiefen Blicken in die Augen und verzichteten auf weitere Nähe, da ihre Liaison nicht öffentlich war. Sie wussten selbst nicht, wie sie ihre Art Arrangement, das neben gelegentlicher körperlicher Nähe auch in einer gewissen seelischen Verbundenheit bestand, bezeichnen sollten.

Mitten in diesen stillen Moment des Zaubers tropfte Sojasoße, begleitet von schrillem Quieken.

„Oh, nein!“ Therese, die nicht so geschickt mit den Stäbchen war, hatte auf halbem Weg zum Mund ihren Lachs verloren, der mit einem Platsch im Soßenschälchen gelandet war. Braun getränkte Reisklümpchen und der Fisch verteilten sich auf der Holzplatte und auf Thereses Kleid.

„Wenn du einmal unsere asiatischen Kunden betreuen möchtest, solltest du noch ein wenig üben“, zog die habilere Janna ihre Kollegin auf, was in dieser Branche mit den heiß umkämpften Schleudersitzen, wie die Marketingmaschine zu sagen pflegte, leider üblich war. Die meisten wollten auf Kosten eines anderen Karriere machen. Doch der Fotograf Raphael, der immer einen guten Blick fürs Wesentliche hatte, glättete die Wogen wieder, indem er sich mit Papiertüchern Therese helfend zuwandte, ihr gut zusprach und dann seine Bierflasche hob, um fröhlich in die Runde zu prosten.

Deadline. Für jeden kommt sie. Früher oder später. Und meine …?

Doch um sich die Laune nicht von trüben Gedanken verderben zu lassen, schob sie ihre Brille auf der Nase zurecht, balancierte ein sorgsam gewickeltes Muschelpäckchen auf ihren Stäbchen zum Mund und klinkte sich wieder in die belanglosen Gespräche zum Wochenendstart ein.

Dabei sah sie einmal verstohlen auf ihre Armbanduhr. Prompt führte ihr der sich langsam, aber stetig bewegende Sekundenzeiger die fortschreitende Zeit erneut schonungslos vor Augen. Tick-tack … tick-tack.

Mit Zwanzig … da war ich doch eine andere. Jetzt bin ich nur noch eine Marionette – fragt sich nur: wovon? Oder besser: von wem?

Und mit einem Schlag war auch dieser neue Gedanke, dieser Zweifel, wieder da, der sich in ihr eingenistet zu haben und der sie nicht mehr loszulassen schien: dass die ominöse Deadline noch eine andere Dimension hatte. Nicht nur ihre Art Midlife-Crisis bedeutete, auf die Massimo immer wieder anspielte.

Was ist in all den Jahren mit mir geschehen? Warum kann ich mich so schwer erinnern, warum ist manchmal alles wie im Nebel? Irgendetwas stimmt hier nicht.

Eigentlich war es noch gar nicht so spät, aber Maja sah sich einfach nicht mehr in der Lage, der Gesellschaft weiter beizuwohnen. Sie fühlte sich wie erschlagen und sehnte sich nach ihren vier Wänden, in die sie sich zurückziehen konnte. Daher tupfte sie sich ihre Lippen ab und warf lächelnd in die Runde, dass sie sich jetzt leider verabschieden müsse. Einige Umstehende äußersten Laute des Bedauerns und wünschten ihr eine gute Nacht. Massimo nickte Maja mit einem vielversprechenden Zwinkern zu.

Nachdem sie ihre stattliche Rechnung für ihre zwei Weingläser und einige Sushi-Tellerchen beglichen hatte, wurde sie beim Hinausgehen überaus freundlich von der zierlichen Dame im Kimono „bis zum nächsten Mal“ verabschiedet und die Katze winkte ihr nach. Die zurückhaltende, zuvorkommende japanische Kultur sagte Maja zu, auch wenn sie sich nie ganz sicher war, was sich sonst so alles hinter den ewig lächelnden Gesichtern verbarg.

Vor der Tür tauschte Maja ihre Pumps gegen ein Paar bequemere, aber deshalb nicht minder zu ihrem Outfit passende, leichte Turnschuhe ein, die sie meistens in ihrer geräumigen Tasche mitführte. Auf dem Nachhauseweg, den Maja wie jeden Freitag nach ihrem Umtrunk zu Fuß zurücklegte, genoss sie die kühle Nachtluft, die sie tief einatmete. Sie ließ den Abend noch einmal Revue passieren, und dabei tauchte neben all den vielfältigen Gesprächsfetzen auch die fröhlich winkende Goldkatze auf der Theke vor ihrem geistigen Auge auf und mit ihr der Gedanke:

Dieser einarmige, als Mieze getarnte Bandit hat gut grinsen: Das Geld regiert natürlich hinter der lächelnden Fassade – wie überall. Was tun manche nicht alles für Geld?

Maja sog erneut durch ihre Nase die klare Luft ein. Fast schon auf ironische Weise dachte sie bei ihrem Spaziergang über sich selbst noch einmal nach, jetzt wo sie ungestört mit sich allein war:

Was würde ich eigentlich alles für Geld tun, wenn ich einmal die Gelegenheit hätte? Stattdessen lasse ich mich von einem stummen Metronom dirigieren, das unaufhörlich hin und her tickt und in dessen Rhythmus ich mich stillschweigend füge. Jeder Schritt von mir scheint vorprogrammiert zu sein. Und ich versuche noch nicht einmal auszubrechen! Wer hat eigentlich den Taktmesser eingestellt? Wer verabreicht mir die Taktschläge? Ist das hier wirklich noch MEIN Leben? Irgendwie renne ich im Laufrad einer Geschichte, die nicht ich selbst schreibe. Wann hat das begonnen?

Grauzone

Auch wenn sie viele Zweifel plagten und sie auf dem halbstündigen Fußweg nach Hause nicht sicher war, was da in ihr vorging, so wusste Maja umso besser, was sich hinter ihrer Wohnungstür verbarg, die sie eben aufschloss: eine aufgeräumte, wohlgestaltete Ruhezone in abgestuften Grautönen. So freute sich Maja schon beim Herumdrehen des Schlüssels, wenn sich gleich ihre Oase, wie sie ihr Loft über den Dächern der Stadt auch nannte, vor ihr auftun würde.

Das Heimkommen ähnelte bei Maja einem Ritual der Befreiung in einer von allem unnötigen Ballast und Farben befreiten Umgebung.

Maja ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, atmete die wohltuende Stille ein, ohne das Licht anzuknipsen. Es drang genug Helligkeit durch die großen, bodentiefen Fenster, um sich in dem weitläufigen, offenen Appartement zurechtzufinden. Maja legte den Schlüssel auf dem antiken, langen Holzschreibtisch, einem Erbstück aus Süditalien, ab, um dann selbst auf die den Raum dominierenden anthrazitfarbenen Couch niederzusinken. Ausatmend lehnte sie sich, noch in voller Montur, weit zurück und ließ ihren Blick durch den offenen Raum hinaus über die Dachterrasse und in den Himmel schweifen zu den schwach schimmernden Sternen. Sie war froh über die Weite, die hier nichts einengte: keine störenden Wände, keine sperrigen Schränke, keine Sammlerobjekte, kein Schickschnack. Ein Raum, eine Harmonie von Schlafen, Wohnen, Essen und Arbeiten – nur dezente graue Farbverläufe, eine geschickte Anordnung der wenigen exquisiten Möbel und der ausladende Philodendron Monstera, der seine großen Blätter um einen hohen Stab rankte, separierten die einzelnen Bereiche grob voneinander.

Auf manche machte das Loft mit seinen klaren Linien und der – bis auf den Schreibtisch – modernen Einrichtung einen eher maskulinen Eindruck. Doch Maja fühlte sich wohl in dem Ambiente, das einen gewissen Industrieflair versprühte. Außerdem lud sie sowieso kaum jemanden ein. Sie wollte hier schließlich ihre Ruhe haben. Nur eine gewisse Ausnahme machte sie ab und zu …

Erst nach einer ganzen Weile des Ankommens raffte sich wieder hoch und schlurfte ins Bad, in den einzigen vom Rest der Wohnung wirklich mit Wänden abgetrennten Raum. Dort entledigte sie sich langsam Lage für Lage dem Businessalltag, vom dem sie sich mit jedem Kleidungsstück, das sie ablegte, mit jeder Haarnadel, die sie aus ihrem Dutt zog, immer weiter entfernte. Ihre dunklen Wellen umspülten sanft ihre leicht kantigen Gesichtszüge und ein schwarz-seidener Hausmantel umfloss ihren Körper. Doch das Beste hob sich Maja bis zum Schluss auf: Sie nahm ihre Brille ab, um der Welt um sie herum ihre Schärfe zu nehmen.

Jetzt fühlte sich Maja völlig befreit. Sie zog den Gürtel etwas enger um ihre Taille und ging barfuß zurück in den großen Raum, wo sie sich ein Glas Wasser eingoss und die Tür zur Dachterrasse öffnete. Sie blickte auf die Lichter der Stadt, die ihr friedlich zu Füßen lag. Die Hektik, das Treiben waren weit unter ihr, das stetige Rauschen des Verkehrs hörte sich hier oben an, als ob ein leichter Wind durch einen Blätterwald streifen würde.

Die Ruhe der Nacht hatte für Maja immer etwas Magisches. Trotz ihrer bleiernen Schwere hing Maja, an den Türrahmen gelehnt, ihren Gedanken nach. Allein zu Hause zu sein gab ihr stets ein Gefühl von Geborgenheit, von Sicherheit und sie wusste, dass das Schicksal es bisher ganz gut mit ihr gemeint hatte. Sie nippte an ihrem kühlen Wasser, genoss den Luftzug in ihren Haaren und an ihrem Körper und wollte sich so gerne frei wie ein Vogel fühlen, um über die Dächer hinwegzugleiten und die Welt von oben zu betrachten – ohne einengende Fessel, die sie oft spürte. Obwohl sie die letzten zwanzig Jahre damit verbracht hatte, sich genau dieses Leben so zu schaffen, wie sie es jetzt auskosten konnte, war sie sich jetzt nicht mehr sicher, ob es wirklich das war, was sie wollte, und sie beschlich immer mehr der Gedanke, dass es etwas gab, was sie fremdbestimmte.

Nur was? Sind meine Gedanken und Gefühle Randnotizen in einer anderen Story? Lebe ich überhaupt – noch? Oder habe ich meine Deadline etwa schon …

Bevor Maja den Gedanken zu Ende denken konnte, flimmerte wieder eine Linie vor ihrem geistigen Auge. Eine laufende lange Linie. Maja atmete hektisch dagegen an, bewegte die Augen schnell hin und her und zwinkerte, die Linie verschwand. Zunehmend wurde Maja wieder ruhiger, saugte ihre Unterlippe seitlich ein und nagte mit der oberen Zahnleiste darauf herum. Obwohl sie vieles noch nicht verstand, fühlte sie, dass sich gerade etwas in ihrem Inneren in Gang setze.

Meint es das Schicksal tatsächlich immer so gut mit mir, wie ich mir immer einbilde? Vielleicht ist ‚gut gemeint‘ genau das Gegenteil von gut.

Maja trank einen Schluck.

Kann man seinem eigenen Schicksal auch entfliehen? Kann man die Zeit durchbrechen und in eine andere Dimension eintauchen? In die des wahren Lebens? Die Deadline also aufheben? Und wenn ja, zu welchem Preis?

Diese Fragen tröpfelten nach und nach wie warmer Regen auf den tief in ihr schlummernden Samen und gaben ihm erste Nahrung.

Noch hatte Maja nur einen vagen Eindruck davon, was das für sie – und nicht nur für sie – bedeuten könnte.

Unter Kollegen wurde kaum über Privates geredet, weil jeder Insiderwissen zum Nachteil des anderen und zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen könnte. Selbst Massimo stellte trotz ihrer gelegentlichen Intimitäten und ihrer gegenseitigen Zuneigung keine wirkliche Ausnahme dar; ihre Gespräche drehten sich meist um Körperliches oder um allgemeine, oft übersinnliche Themen, wie sie beim Betrachten der Sterne nach vollzogenem Akt zustande kamen. Hier empfanden sie zwar beide eine Art Seelenverwandtschaft, wollten diese aber gar nicht erst durch Profanes wie Alltagsprobleme und Zweifel entzaubern.

So begann mit diesen Fragen, die sich Maja gestellt hatte, ganz von selbst, ohne fremdes Zutun, ohne Ratschläge von außen, ein Plan in Maja zu formen, um Antworten – und noch mehr – zu finden.

Sie ließ ihren Gedanken noch ein wenig freien Lauf und überlegte, ob der Alltag außerhalb ihrer eigenen grauen vier Wände bei „all den anderen“ wohl bunter aussehe. Dabei fragte sie sich auch, ob es überhaupt die verrinnende Zeit an sich sei, die sie so fest im Griff hatte und die sie glauben machte, ihr Leben nicht selbst in der Hand zu haben. Ihr wurde zunehmend bewusst, dass sie etwas von außen steuerte, aber was, das konnte sie im Moment noch nicht fassen, nicht physisch und nicht einmal mental. Sie blickte gedankenversunken in den Nachthimmel.

Dieses fesselnde Gefühl, dieses verdammt starke Gefühl. Ich muss dem auf die Spur kommen!

Maja kam es so vor, als könne allein der formulierte Gedanke an einen Ausbruch aus ihren vermeintlichen Fesseln vom Schicksal gegen sie verwendet werden. Als würde sich dadurch das sie drangsalierende Seil noch fester um sie legen. Bisher hatte sie noch keinen Ausweg aus diesem Szenario gefunden. Bis jetzt.

Aber ich könnte eventuell meinem vorbestimmten Schicksal ein Schnippchen schlagen, indem ich handle, bevor das Schicksal sich überhaupt für mich überlegt hat, was ich tun soll. Wer auch immer hier Schicksal für mich spielt und die fesselnden Fäden fest in der Hand hält …

Maja verzog ihre eben noch von Zähnen gekneteten Lippen zu einem breiten Grinsen.

Der unwissende und unschuldige Keim war aufgeplatzt, um dem daraus entspringenden Sprössling Raum zur Entfaltung zu geben.

Voller Vorfreude auf das, was sich gerade in ihrem Kopf zu formen begann, schloss Maja die Fenstertür und ließ die Nacht draußen. Sie stellte das leere Glas in die Spüle, schlüpfte unter ihre mollig warme Bettdecke und malte sich ihre zukünftigen Wochenenden aus: bunt und verrückt.

So wie das Leben. Das wahre, das echte Leben!

Beziehungsweise wie ihr vergangenes. Dabei schlief sie selig ein und träumte von alten Studienzeiten in ihrer Kommune mit Bianca und Oliver, kurz Oliv:

Neben den vielen Stunden im Hörsaal, in der Bibliothek und am Schreibtisch blieb immer noch genügend Zeit für ausgedehnte Kochabende und ausgelassene Feiern in ihrer gemeinsamen Wohnung, die gerne und oft von zahlreichen Freunden und Kommilitonen frequentiert wurde. Die attraktive, blonde Bianca bewohnte das größte Zimmer des Altbaus in der Innenstadt, dem man sein Alter durchaus ansah. Sie studierte internationales Management und Kunstgeschichte, wobei ihr ihre hervorragenden Sprachkenntnisse in Englisch und Französisch dienlich waren. Ihr Reich glich einer Boho-Höhle mit bunten Sitzkissen, bestickten Wandbehängen, Räucherstäbchen und Buddha-Figuren. Fernöstlicher Dekor zierte auch ihren schlanken Hals in Form von langen Holzperlen, die munter in ihren Ausschnitt baumelten. Der angehende Jurist Oliver war – zumindest vordergründig – der Gegensatz von Bianca: Er begnügte sich mit dem kleinsten Raum, den er – auch schon auf Grund seiner geringen Größe – nur mit den nötigsten Möbeln, wie Bett, Schrank, Regal und Schreibtisch, ausgestattet hatte. Ein Poster einer lebensgroßen Justitia, die ihm mahnend Waage und Schwert hinhielt, schmückte seine sonst kahlen Wände. Oliver war zwar im Alltag der pragmatische Typ, aber deshalb nicht minder feierfreudig. So ergänzten sich die etwas flippige Bianca mit ihrer langen Mähne und der adrett gekleidete und frisierte Oliver perfekt bei der Vorbereitung und Durchführung der legendären WG-Feiern: Oliver machte präzise Einkaufslisten und schleppte geduldig Tüten und Kisten ins Haus, wobei er, um seinem Namen Ehre zu machen, stets auf genügend grüne Oliven bedacht war, was ihm auch seinen Spitznamen einbrachte; Bianca sorgte sich um stimmungsvolles Ambiente. Maja als Bindeglied zwischen den beiden Polen hatte sich teils aus zusammengeklaubten Möbeln vom elterlichen Dachboden, teils aus neu gekauften, ein Wohlfühlrefugium geschaffen, wobei sie natürlich noch nicht die Mittel besaß, mit denen sie sich jetzt verwirklichen konnte. Sie trug dazu bei, dass während der Feiern alles reibungslos funktionierte, dass der Nachschub an kühlen Getränken gesichert war und dass das Chaos nicht allzu überhandnahm, was manchmal gar nicht so einfach zu bewerkstelligen war.

Alle drei waren trotz ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten ein eingespieltes Team und genossen die Feiern bereits bei den Vorbereitungen. Sie standen stundenlang gemeinsam in der Küche, schnippelten und schnatterten. Begleitet vom fröhlichen Trällern von Melodie, dem WG-Wellensittich, der selbstverständlich frei herumfliegen durfte. Der Sittich pfiff auf hygienische Sitten, genau wie damals seine drei Mitbewohner. Nur bevor die Gäste eintrafen, wurde Melodie unter Protest samt Käfig ins Bad verfrachtet, damit der Vogel einigermaßen Ruhe vor dem Sturm hatte. Am späteren Abend glich ihre große Wohnküche eher einem Rummelplatz, auf dem sich die verschiedensten Typen tummelten. Bei lauter Musik wurde gesungen, getanzt, geflirtet, getrunken. Bianca bevorzugte passend zu ihrem Halsschmuck Perlwein, der Rest trank alles bunt durcheinander. Das Klirren von stetig anstoßenden Gläsern vervollkommnete die Geräuschkulisse, wobei niemand so genau wusste, worauf er permanent trank, weshalb es hieß: auf das Leben! Die in der Runde kreisenden Joints sorgten für eine entspannte Stimmung, auch wenn sich die angehenden Akademiker, unter ihnen zukünftige Juristen und Beamte, der Grauzone, in der sie sich bewegten, durchaus bewusst waren.

Maja gefiel sich bei den WG-Partys als Gastgeberin und kleidete sich auch bewusst extravagant, sodass sie und Bianca immer einen Blickfang darstellten. Ein Freund von Bianca, der mit ihr Kunstgeschichte studierte, stellte einmal fest, dass sie beide wie „Germania und Italia“ auf dem gleichnamigen Gemälde von Friedrich Overbeck wirkten – zwei attraktive junge Damen, die eine hell-, die andere dunkelhaarig, die einander freundschaftlich zugeneigt waren.

„Eigentlich müsstest du Melanie heißen“, meinte er zu Maja, „dann wäre die Allegorie perfekt.“

„Darauf müssen wir trinken!“, antwortete Bianca und sie stießen an.

Maja lachte und gab sich der wogenden Stimmung um sie herum hin. Sie tauschte im Laufe des Abends viele intensive Blicke mit dem Freund, der sie Melanie genannt hatte, aus – aber nicht nur mit ihm. Denn als Gastgeberin sah sie es als ihre leidenschaftliche Aufgabe an, sich auch um die vielen anderen, vornehmlich männlichen, Gäste zu kümmern. Je mehr das bunte Treiben zunahm, desto mehr war Maja in ihrem Element. So bewegte sie sich katzenhaft durch die Menge, die durch das stetige Eintreffen neuer, geladener oder zufällig auftauchender Partygäste – es klingelte unentwegt an der Tür – ständig wuchs, sodass die Körper immer enger zusammenrückten. Es klingelte und klingelte …

Die eben noch klaren Bilder vor ihren geschlossenen Augen wurden langsam brüchig und zerfielen in einzelne grobe Rasterpunkte. Verwirrt wälzte sich Maja auf ihrem Kissen herum und musste sich erst orientieren. Es klingelte – aber nicht an der Tür der Party-WG. Die Rasterpunkte wurden immer feiner. Maja zwinkerte ein paar Mal, um der Realität ins Auge sehen zu können, und begriff: Es klingelte an der Tür ihrer Ruhe-Oase.

Soll ich? Muss ich? Will ich wirklich? Es ist gerade so schön.

Aber obwohl sie nicht musste, wollte sie, und sie fragte sich kurz noch benommen:

Warum soll ich wollen, wenn ich nicht muss?

Und da begriff sie zum zweiten Mal: Ihr Traum war so schön, weil sie darin das Leben umarmt hatte. So schlurfte Maja mit einem geheimnisvollen Lächeln zur Tür, bat Massimo mit einer zärtlichen Geste herein und fühlte sich in dieser Nacht zwanzig Jahre jünger, wie damals bei ihrer WG-Feier, die in der Regel auch mit einem attraktiven Studenten ihren Ausklang fand. Die Leidenschaft, mit der sie sich liebten, knisterte und sprühte Funken.

Auch Massimo bemerkte die explosive Veränderung.

„Du bist generell heiß, aber heute bist du extrem feurig.“

Während sie auf dem Bauch lag, küsste er ihren Nacken, ihre Schultern, ihre Schulterblätter, ihre einzelnen Wirbel und arbeitete sich langsam abwärts. Maja räkelte sich genüsslich und hob ihre Hüfte anbietend an. Massimo ließ sich nicht zwei Mal bitten und kam Majas Verlangen stante pene nach.

Eine halbe Stunde des intensiven Workouts später sanken Maja und Massimo erschöpft und zufrieden in die weichen Kissen und lagen, schweigend das Geschehene noch nachgenießend, nebeneinander, bis Massimo in die Stille fragte: „Was ist in den letzten zwei Stunden mit dir passiert?“

„Passiert?“, entgegnete Maja ausweichend. „Ich hatte mich nur ein wenig ausgeruht.“

Sie hatte wieder ihre Traumbilder vor Augen und stellte sich bewusst unwissend, weil sie sich ertappt fühlte und keinen Drang verspürte, über ihre inneren Befindlichkeiten zu sprechen, zumal sie selbst noch im Unklaren war, was genau in ihr vorging, und sie ihren noch zaghaft reifenden Plan nicht durch Ausplaudern gefährden wollte. Um aber nicht schnippisch zu wirken oder gar den einfühlsamen Massimo, der etwas ungläubig blickend neben ihr lag, unhöflich vor den Kopf zu stoßen, nahm sie zärtlich seine Hand und führte sie zu einer unwiderstehlichen Stelle, indem sie noch augenzwinkernd hinzufügte:

„Du bist mir noch ein Nachspiel schuldig: Ich sage nur Deadline“.

Mit dieser süffisanten Anspielung hatte Maja die leicht gespannte Stimmung wieder entkrampft und sie widmeten sich anstelle von schweren Fragen erneut mit Leichtigkeit körperlichen Genüssen.

Erst nach weiteren dreißig Minuten des intensiven Austauschs in allen möglichen Varianten ließen sie voneinander ab und zur Abkühlung die Nachtluft durch Öffnen der Fenstertür herein. Maja zog sich wieder ihren seidenen Mantel über und beobachtete Massimo, während er Wasser in zwei Gläser einschenkte und in seiner athletischen Blöße dastehend ihr Appartement wie eine römische Statue bereicherte. Sie seufzte und versank in seinem Anblick.

„Mit dir ist es immer wieder ein Vergnügen“, sagte die Statue, sich plötzlich zu ihr umdrehend.

Maja zuckte kurz zusammen und sammelte sich wieder. Natürlich hörte sie diesen Satz nicht zum ersten Mal, aber sie freute sich jedes Mal aufs Neue darüber, obwohl sie sich bei derartigen Worten oft fragte, warum er sich nicht eine jüngere Gespielin suchte.

„Mit dir auch“, erwiderte sie stattdessen schnell, ohne ihre Gedanken preiszugeben.

Sie standen noch eine Weile beisammen, tranken und schwiegen die meiste Zeit. Sie verstanden sich auch ohne zahlreiche Worte und genossen lediglich den Augenblick. Es war während ihrer vagen Verbindung noch nicht vorgekommen, dass Massimo bei Maja oder Maja bei Massimo übernachtet hätte. Bisher hatten sie sich nach vollzogenem Akt stets einvernehmlich voneinander getrennt, ohne dass der eine oder die andere weitere Ambitionen gehegt hätte. Beide waren nicht frei für eine engere, gewöhnliche Art von Beziehung mit all ihrer banalen Organisation des Alltags. Darin waren sie sich tief im Inneren einig. Es war, als ob ihre Seelen gleichsam auf derselben Welle dahingleiten würden. Manchmal glaubte Maja, Massimo sei ein Teil von ihr, eine Art Bruder, um sich dann gleichzeitig ihrer inzestuösen Gedanken zu schämen.

Dementsprechend hielten sie es auch an diesem Abend, sodass sich Massimo, als er sich erfrischt hatte, wieder ankleidete und sich höflich von Maja verabschiedete, indem er sanft ihre Schulter berührte und einen zarten Kuss auf ihre von der Erhitzung noch leicht gerötete Wange hauchte. Sie schenkten sich ein Lächeln zum Abschied und verblieben „bis Montag im Büro“.

Nachdem Maja die Tür hinter Massimo zugezogen hatte, lehnte sie sich rückwärts dagegen und ahnte, dass er sich ebenfalls noch dicht hinter der Tür befand, weil sie ihre Verbindung noch stark spürte. Erst als er sich in Bewegung setzte und die Treppen hinunterlief, fühlte sie, wie das unsichtbare Band zwischen ihnen langsam länger wurde, bis es schließlich nur noch schwebend wahrzunehmen war. Aber es war da. Dieses Band, dieses starke Band, das sie nicht losließ. Das sie aneinander zu fesseln schien.

Ihren Blick auf die beruhigend grauen Wände gerichtet, atmete Maja tief ein und aus und witterte etwas in ihrem Inneren, das begonnen hatte zu keimen. Noch lag das Etwas eingelullt in dunklen, wabernden Schwaden, So konnte sie es weder bewusst einordnen noch beschreiben. Ja, sie wollte es auch gar nicht konkret formulieren, um dem Schicksal keine Chance zum Gegensteuern zu lassen. Aber was sie genau wusste: Sie wollte dieses Etwas nicht verdrängen, nicht aufhalten, sondern zulassen.

Wohin du mich auch führen magst. In welche Grauzonen. In welche Abgründe. Ich muss dir folgen – zu welchem Preis auch immer. Ich muss wissen, was wirklich war und was wirklich ist. Ich muss die wahre Deadline ergründen.

Ein Strich flimmerte vor ihren Augen, ein Baum, ein nervtötendes Pfeifen quietschte in ihren Ohren, sodass sie schnell blinzelte und sich die Ohren zuhielt.

Intermaxo 1

Max schaute auf seine Uhr am Handgelenk. Eigentlich wollte er schon in der Mensa sein, aber jetzt brauchte er auch nicht mehr zu gehen, denn um halb eins war der Ansturm zu groß, und in einer halben Stunde würde eine Studentin in seine Sprechstunde kommen, um mit ihm über ihre Arbeit zu sprechen. Zu lange hatte er sich mit Recherchen zu seinem neuen Aufsatz über Liebe und Tod in der Lyrik aufgehalten, war dabei auch immer wieder gedanklich abgedriftet und hatte schließlich sein Skript hervorgeholt, das er stets sorgsam in der unteren Schreibtischschublade verbarg und hütete wie einen Schatz. Handelte es sich dabei doch nicht um ein offizielles Forschungsprojekt, sondern um eine private Herzensangelegenheit. Um seinen Lebensinhalt. Um seine – und ihre – Geschichte. Nachdem er einige Zeit darin gelesen hatte, hob er seinen aufgestützten Kopf und blickte grüblerisch von seinen handschriftlich verfassten Zeilen auf. Er strich sich die brünetten Haare mit der Hand nach hinten und lehnte sich weit zurück, um seine Gedanken wieder auf die Gegenwart zu lenken, was ihm aber nur bedingt gelang. Von Unruhe getrieben stand er auf und ging zum Fenster.

Max betrachtete unten auf dem Campus die sich in der Sonne aalenden Studierenden, wie sie eifrig diskutierten, ihre Köpfe in Bücher steckten, aber auch einfach nur ihre von endlosen Schwimmbadbesuchen braun gebrannten Gliedmaßen ausgestreckt weiter rösteten, ohne an Verpflichtungen zu denken.

Max seufzte, weil er sich gerade an seine eigene Studienzeit erinnerte, wo er noch keine Anzüge getragen hatte, die ihm jetzt so selbstverständlich waren. Er lehnte sich mit der linken Schulter an den Fensterrahmen, bevor er sich bereits wieder in Gedanken verlor: Er sah sich selbst, wie er damals mit einem Lyrik-Band auf der Campuswiese lag, las und dabei auch immer wieder ein Auge auf seine Kommilitoninnen warf. Seine frühe Leidenschaft für Literatur und sein stetes Forschen hatten ihm nicht nur einen lukrativen Posten an der Uni verschafft, sondern auch das Interesse vieler Studentinnen geweckt, die sich gerne um den belesenen und ehrgeizigen – und obendrein gut aussehenden – jungen Mann scharten. Im Gegensatz zu seinen ehemaligen Schulfreunden, die die Naturwissenschaften bevorzugten, wo weibliche Studierende eher in der Unterzahl waren, konnte sich Max nie über mangelnde Angebote beklagen. Dabei nutzte er seine privilegierte Stellung als Hahn im Korb nicht aus, wofür er von einigen seiner Freunde schräg angesehen wurde, die ihn um seine Lage beneideten. Dafür hatten diese jetzt in der Wirtschaft umso mehr Geld monatlich auf dem Konto und glichen ihr damaliges Defizit der Studienzeit gründlich aus, indem sie der Damenwelt mit Statussymbolen, teuren Restaurantbesuchen und Urlaubsreisen imponierten.

Max war schon immer versunken in Studien, aber erst durch ein einschneidendes Ereignis hatte er sich fast völlig in seine eigene Welt zurückgezogen. Vorher hatte er sich durchaus den zahlreichen Genüssen des Lebens hingegeben.

Sich beim Anblick der sommerlich bekleideten Studentinnen zu gern an seine Vergangenheit erinnernd, beschwor er in Gedanken ihr überirdisch lächelndes Gesicht herauf, das immer deutlicher vor sein geistiges Auge trat, bis er es fast spüren konnte. Er liebte sie und ging ganz auf in ihrer harmonischen Beziehung, die er keinesfalls gefährden wollte. Ihr Gesicht kam immer näher an seines heran, ihre samtenen Lippen hauchten zarte Küsse auf die seinen. Dabei sah sie ihn mit ihren großen traurigen Augen so flehentlich an, dass ihn ihr Blick nicht mehr losließ, den er in letzter Zeit schon ein paar Mal bei ihr wahrgenommen hatte.

Was will sie mir mitteilen? Fühlt sie sich nicht mehr wohl in meiner Obhut? Sie wird mich doch nicht gar verla…

„Nein!“, stieß Max hervor, presste die Lippen zusammen und schlug mit der Faust gegen die Wand, bevor er den Gedanken überhaupt zu Ende gedacht hatte. Damit vertrieb er zwar seine Illusion, aber nicht seine Sekretärin vor der Tür, die jetzt erneut und etwas energischer klopfte und dann beherzt eintrat. Sichtlich irritiert, wie schnell die Zeit verflogen war, und leicht beschämt über seine kurzzeitige, geistige Abwesenheit und seine heftige Äußerung, fragte Max in versöhnlicherem Tonfall, was es denn gebe. Er sortierte sich, indem er sich erneut mit den Händen von den Schläfen nach hinten durch seine Haare fuhr.

„Sophie Springer ist hier“, sagte Elisa Tamm mit sanfter Stimme, die sie seiner Stimmung bewusst angepasst zu haben schien, weil sie wohl ahnte, dass sich Max gerade in einer völlig anderen Welt bewegt hatte. Sie kannte ihn mittlerweile durch ihre langjährige Zusammenarbeit schon recht gut. „Sie hat einen Termin zur Besprechung ihrer Abschlussarbeit.“ Elisas Ohrringe glitzerten bei jeder noch so kleinen Kopfbewegung und brachten Max wieder in die Gegenwart. Ihr Anblick glich dem einer zierlichen Nymphe. Einer emanzipierten Nymphe mit kurzem, frechem Blondschopf.

„Natürlich“, antwortete Max freundlich, der sich wieder gefangen hatte. „Sie soll bitte hereinkommen.“

Elisas schlanke Beine traten eleganten Schrittes zur Seite, um den strammen Waden von Sophie Springer Platz zu machen.

Elisa hatte sich zurückgezogen, und Max gebot der Studentin einzutreten, die sich höflich bedankte und mit wippendem, blondem Pferdeschwanz voller Tatendrang den Raum betrat. Den füllte sie mit ihrer Anwesenheit auch gleich ziemlich aus.

„Ich grüße Sie, bitte setzen Sie sich schon einmal“, eröffnete Max das Gespräch und machte eine einladende, aber unbestimmte Geste. „Ich bin gleich bei Ihnen.“

Max ging ins Vorzimmer, um sich von Elisa die Terminliste für seine weiteren, heutigen Nachmittagssprechstunden geben zu lassen, die ihm seine Sekretärin bereits mit einem Lächeln entgegenhielt. Prüfenden Blicks auf den Ausdruck stellte er fest, dass er nach diesem Gespräch bis zum nächsten nur eine halbe Stunde Zeit hatte, zu wenig, um sich zu Tisch zu begeben. Elisa Tamm, die Max‘ Gedanken zu erraten schien, fragte, ob sie seinen Kollegen telefonisch bitten solle, ihm etwas aus der Cafeteria mitzubringen.

„Bestimmt ist Herr Sonntag schon in der Mensa, ich könnte versuchen, ihn auf seinem Handy anzurufen“, sagte sie beflissen und fügte noch schelmenhaft auf seine vorherige geistige Abwesenheit anspielend hinzu: „Und falls ich ihn nicht erreichen sollte, gehe ich auch gerne selbst, um Ihnen etwas zu besorgen – vorausgesetzt, Sie kommen diese kurze Zeit ohne mich hier aus.“

Sie konnte sich derartige Scherze erlauben, weil sie und Max sich auch auf menschlicher Ebene gut verstanden. Elisa Tamm hatte zwar ihrerseits ein abgeschlossenes Studium in Geisteswissenschaften, aber keine Gelegenheit gehabt, in ihrem Fachbereich Fuß zu fassen, weil sie noch während ihres Studiums zwei Kinder bekommen hatte und bald alleinerziehend war. So hatte sie damals dankbar die Stelle als Sekretärin angenommen, bei der sie erst für Max‘ Vorgänger und jetzt schon seit mehreren Jahren für Max arbeitete – stets organisiert und flott, wie es ihr Äußeres bereits vermuten ließ.

Max und Elisa waren ungefähr im selben Alter und hatten beide schon so manche Hürde im Leben nehmen müssen, sodass sie füreinander ein tiefes Verständnis entwickelt hatten. Sie nannten sich zwar beim Vornamen, waren aber dennoch bisher beim förmlichen Sie geblieben, das eigentlich nur Max aufheben konnte. Er hatte bisher jedoch noch keine Veranlassung dazu verspürt, vielleicht um sich nicht allzu nahe zu kommen und eine gewisse geschäftliche Distanz zu wahren.

„Ich danke Ihnen! Was würde ich ohne Sie machen?“, sagte Max erleichtert, weil er durch Elisa Tamms Vorschlag seinen Nachmittag gerettet sah. Manchmal wünschte sich Max, Elisa könnte auch sein verkorkstes Privatleben regeln!

Während Elisa bereits geschäftig die Telefonnummer tippte, blieb Max noch einen Moment stehen und tat so, als studiere er die Liste in seinen Händen. Dabei lugte er über den Papierrand und beobachtete, wie Elisas flinke Finger leicht über die Tasten schwebten, wie sie überhaupt so behände agierte. Als wäre sie ein bunter Schmetterling in ihrem farbenfrohen Sommerkleid. Nur ungern riss er sich vom Anblick des vor seinen Augen gaukelnden Schmetterlings los.

Pflichtbewusst ging Max wieder zurück in sein Büro, um sich der Sprechstunde zu widmen. Beim Betreten des Raumes musste er jedoch feststellen, dass sich Sophie Springer nicht wie von ihm eigentlich beabsichtigt, am Besprechungstisch, sondern an der Kopfseite seines Schreibtisches niedergelassen und bereits häuslich eingerichtet hatte. Er hätte sich klarer ausdrücken müssen, schließlich verlangte er genau das auch von seinen Studenten. So bat er sie, sich doch mit ihren Materialien umzusetzen.

„Am Besprechungstisch können wir Ihre Aufzeichnungen besser gemeinsam einsehen.“

Während Sophie Springer ihr Tablet und ihre Unterlagen, die sie vor sich ausgebreitet hatte, zusammenklaubte und sich umplatzierte, legte Max die Terminliste auf dem Schreibtisch ab, trank einen Schluck Wasser aus dem dort stehenden Glas und ergriff ein leeres Blatt Papier und einen Stift, um sich Notizen machen zu können. Dabei fiel sein Blick auf seine auf dem Schreibtisch verstreuten, handschriftlichen Papiere, die ein wenig zur Seite geschoben waren, und es durchzuckte ihn für einen Moment.

Sie wird doch hoffentlich nichts davon gelesen haben? Und wenn, sie könnte damit ja sowieso nichts anfangen. Außerdem hätte sie sich schon sehr neugierig über den Tisch beugen müssen.

Obwohl er sich innerlich zur Ruhe mahnte, begleitete ihn trotzdem ein leicht mulmiges Gefühl, als er die Blätter mit seinen allzu privaten und so gar nicht wissenschaftlichen Gedanken zu einem Stapel zusammenschob und diesen der Ordnung halber zur Seite legte. Er musste besser aufpassen, was er so offen herumliegen ließ!

Dann atmete Max kurz einmal tief durch und setzte sich mit frischer Energie an den Besprechungstisch zu seiner Studentin, die bei ihm das diesjährige Poetik-Seminar belegt hatte und jetzt ihre Abschlussarbeit über ein Lyrik-Thema verfassen wollte. Max ermunterte Sophie Springer mit einer freundlich auffordernden Geste, ihre bisherigen Überlegungen vorzutragen, und die blonde Studentin begann zu berichten, wobei sie viel positive Energie versprühte. Sie entsprach mit ihrer etwas zu molligen Figur für ihre geringe Größe und ihrem nicht ganz ebenmäßigen Gesicht nicht gerade dem vorherrschenden Schönheitsideal, aber ihre leuchtend blonden Haare sowie ihre Lebendigkeit und ihr Eifer, mit dem sie bei der Sache war, überstrahlten ihre kleinen körperlichen Makel.

„Eigentlich wollte ich über Konkrete Poesie schreiben, aber bei meiner Internetrecherche bin ich auf eine äußerst interessante Seite mit einem noch recht unbekannten Lyrik-Projekt gestoßen.“

Obwohl Max Neuem stets aufgeschlossen gegenüberstand, läuteten bei ihm schon bei dem Wort Internetrecherche die Alarmglocken.

Habe ich nicht einen umfassenden Semesterapparat mit Fachliteratur in der Bibliothek zusammengestellt, wo sich die Studenten erst einmal einlesen sollten? Im Netz kursiert so viel Unnützes, wenig Brauchbares von Hobby-Poeten …

Dennoch wollte Max die Dynamik seiner Studentin nicht gleich von vornherein bremsen und folgte wohlwollend ihren Ausführungen, ohne sich seine anfängliche Skepsis anmerken zu lassen. Zudem wollte er sich nicht als altbackener Medienkritiker geben und so ließ er die vor Energie sprudelnde Sophie Springer erst einmal reden.

„Ich finde das Projekt spannend“, fuhr diese begeistert fort, „weil es anscheinend noch ganz neu ist und noch viel Möglichkeit zum Interpretieren bietet. Bei der Analyse anderer Gedichte schreibt man oft aus den bereits vorhandenen Interpretationen eine weitere zusammen, wobei wenig Platz für eigene Gedanken bleibt. Hier hätte ich mehr Freiraum.“

„Mutig“, kommentierte Max die Worte seiner Studentin. „Die wenigsten trauen sich an aktuelle Texte, gerade weil es dazu kaum Sekundärliteratur gibt. Dann lassen Sie einmal sehen, was Sie schon so recherchiert haben.“

Und mit jedem Satz von Sophie Springer über das Online-Gedicht-Projekt wich sein anfangs etwas gespieltes Interesse einem echten. Obgleich ihm auf dem Gebiet der Lyrik keiner so schnell etwas vormachen konnte und er mit den unterschiedlichsten Formen dieser Gattung von der Antike bis heute bestens vertraut war, taten sich ihm jetzt durch die Darlegungen seiner Studentin neue Horizonte auf, die er nur zu gern bereit war, näher zu erforschen, denn er stellte fest, dass es sich bei dieser neuen Lyrik-Form nicht um eine bloße Ausgeburt eines Dilettanten handelte, sondern dass diese auf einem wohl überlegten Fundament fußte. Die theoretischen Gedanken des Verfassers waren ebenfalls auf der Website von Perpetual Poetry zu finden, die Sophie Springer auf ihrem Tablet aufrief, um Passagen daraus zu zitieren:

Perpetual Poetry ist ein Gedicht ohne Anfang und Ende.

Es kommt nicht auf logische Sätze an …

Der Leser kombiniert die Worte und Silben und erzeugt durch seinen individuellen Lesefluss seinen ganz persönlichen Sinn …

… der Rhythmus des jeweiligen Lesers … macht aus Un-Ordnung.

Nachdem Max diese Sätze zur Absicht des virtuellen Lyrik-Projekts aufmerksam angehört hatte, meinte er: „Das von Ihnen aufgetane Gedicht, also Perpetual Poetry, scheint in der Tat etwas für eine genauere wissenschaftliche Untersuchung herzugeben.“ Dann wollte Max noch ein paar Verse des Gedichts an sich lesen, sodass Sophie Springer dieses auf ihrem Tablet anklickte und ihrem Dozenten die fortlaufenden Verse zeigte:

… Vorbei-Rauschen der Blätter aus dem Fenster flattern durch Raum und Zeit steht still …

Max geriet beim Lesen ein wenig ins Stocken, weil er die Worte, die ohne erkennbare Satzstruktur einfach hintereinander folgten, erst richtig kombinieren musste. Er ließ demnach die Verse in seinem Kopf nachhallen und wirken:

… Vorbei-Rauschen – Rauschen der Blätter – Blätter aus dem Fenster flattern – flattern durch Raum und Zeit – Zeit steht still …

Dann sagte er: „Da haben Sie sich aber ein herausforderndes Projekt ausgesucht.“

„Ja, ich weiß“, gab Sophie Springer ehrlich zu. „Aber ich würde mich gerne mit Perpetual Poetry beschäftigen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Hmm.“

„Dazu würde ich auch gerne dieses sogenannte ‚fortlaufende Gedicht‘ auf seine tatsächliche Bezeichnung als ‚Perpetual‘ untersuchen und beobachten, ob es wirklich in regelmäßigen Abständen weitergedichtet wird, und wenn ja, wie.“ Sophie Springer, deren mittlerweile rote Wangen ihren Eifer und ihre Begeisterung verrieten, fügte nach einer kurzen Pause noch zaghaft fragend hinzu: „Oder meinen Sie, es sei gänzlich zu schwierig für mich?“