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Perry Rhodan unterbricht die Reise durch die Zeit - auf der Suche nach einer sagenumwobenen Gestalt Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen. Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang - den Weltenbrand - der gesamten Galaxis. Einer der angeblichen Hauptverursacher ist Perry Rhodan, der sich allerdings keiner Schuld bewusst ist und sich gegen das Tribunal zur Wehr setzt. In der fernen Galaxis Larhatoon erfuhr er mehr über das Tribunal und wurde in die Vergangenheit verschlagen, wo er der ersten Zivilisation der Erde begegnete. Nun befindet er sich auf dem Weg zurück in die Gegenwart. Auf diesem Weg erwartet ihn DER VERSCHWIEGENE BOTE ...
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Veröffentlichungsjahr: 2016
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Nr. 2844
Der Verschwiegene Bote
Perry Rhodan unterbricht die Reise durch die Zeit – auf der Suche nach einer sagenumwobenen Gestalt
Michael Marcus Thurner
Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.
Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.
Einer der angeblichen Hauptverursacher ist Perry Rhodan, der sich allerdings keiner Schuld bewusst ist und sich gegen das Tribunal zur Wehr setzt. In der fernen Galaxis Larhatoon erfuhr er mehr über das Tribunal und wurde in die Vergangenheit verschlagen, wo er der ersten Zivilisation der Erde begegnete. Nun befindet er sich auf dem Weg zurück in die Gegenwart. Auf diesem Weg erwartet ihn DER VERSCHWIEGENE BOTE ...
Perry Rhodan – Der Terraner strandet einmal mehr in der Vergangenheit.
Sichu Dorksteiger – Die Chefwissenschaftlerin ist außerhalb ihres Metiers besorgt.
Gucky – Der Mausbiber soll als Joker dienen.
Chandyshard da Thomonal – Der Arkonide will seine Nemesis stellen.
Kauch Viertgelege/4
Perry Rhodan,
vor sehr langer Zeit
Ich erwachte. Ich fühlte mich wie erschlagen und benötigte eine Weile, bis meine Wahrnehmungen wieder einen Sinn ergaben. Hören, sehen, fühlen, schmecken – dies waren Begriffe, die völlig durcheinandergeraten waren und die ich neu ordnen musste.
Der Suspensions-Alkoven öffnete sich, ich schob mich daraus hervor und kam wackelig auf die Beine.
Ich fühlte mich unrein, wie immer nach einer derartigen Reise. Also schleppte ich mich in die Nassräume. Ein Sprühnebel warmen Wassers erweckte allmählich meine Lebensgeister.
»Status?«, fragte ich ANANSI. Ich genoss die Hitze und das Gefühl, vom feuchten Sprühnebel umfangen zu werden.
Die Semitronik – das Schiffsgehirn der RAS TSCHUBAI – informierte mich kurz und prägnant. Über vieles, das während der letzten Tage funktioniert hatte, und weniges, das schiefgegangen war.
Den größten Teil unserer Reise von der Galaxis Larhatoon zurück in die heimatliche Milchstraße hatten wir den Hypertrans-Modus verwendet, der uns einen unvorstellbar hohen Überlichtfaktor gestattete. In der Zwischenzeit lag die Besatzung ruhend in Suspensions-Alkoven, die Lebewesen vor den tödlichen Strahlungseinflüssen während eines solchen Fluges bewahrten. Wir träumten, mit dem stationären Transmitterfeld verwoben, waren nicht in der Lage, Fiktion von Wirklichkeit zu unterscheiden oder ein Gefühl für jene Zeit zu entwickeln, die wir in den Alkoven verbrachten.
Unvermittelt traf mich ein Schwall kalten Wassers. Hatte ich die Duscheinstellungen falsch vorgegeben? Ich verließ fluchtartig den Nassbereich und ließ mich mithilfe heißer Luft abtrocknen.
»Es gab Fehlfunktionen«, sagte ANANSI mit sanfter Stimme.
Ich wusste, was diese Worte bedeuteten: Wieder einmal hatten Besatzungsmitglieder die Reise durch den Hypertrans nicht bei gesundem Bewusstsein überlebt. Drei waren es diesmal, die für den Rest ihrer Tage in Wachträumen gefangen bleiben würden.
Die Mediker der RAS TSCHUBAI, allen voran der Ara Matho Thoveno, hatten alles Vorstellbare versucht, wenigstens eines der Opfer in die Realität zurückzuholen. Doch kein einziges Mal war es bisher gelungen.
Drei von fünfundzwanzigtausend, versuchte ich mein Gewissen zu beruhigen. Das ist theoretisch und rein nach Zahlen gedacht eine vernachlässigbare Größenordnung angesichts der Leistungskraft dieser Technologie. Aber es gibt jedes Mal Opfer, wenn wir den Antrieb benutzen ... und jedes Opfer ist mehr als eine Zahl, sondern ein Mensch. Das ist eigentlich nicht vernachlässigbar.
Aber wir waren auf diesen Antrieb angewiesen. Solange würde es weitergehen. Irgendwann, wenn wir zur Erde zurückgekehrt sein würden, mussten wir darüber befinden, ob Gelder in die Weiterentwicklung des Hypertrans investiert werden sollten oder ob wir dieses Projekt besser zu den Akten legten.
Ich beendete einen letzten routinemäßigen Sicherheitstest. ANANSI bestätigte meine vollständige Einsatzbereitschaft, ich kehrte in die Zentrale zurück.
Jenes Drittel der Besatzung, das den Hypertrans am schlechtesten überstanden hatte, bekam eine achtstündige Ruhefrist verschrieben. Manche dieser Bordmitglieder mussten sich anschließend einem weiteren Check unterziehen, die beiden anderen Drittel wurden in Dienst und Bereitschaft gestellt.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich Cascard Holonder, unseren Dritten Piloten.
»Alles bestens. Bin nur ein wenig müde. Wenn ihr gestattet, begebe ich mich jetzt mal zur Ruhe.« Der Ertruser schob sich ächzend unter seiner modifizierten SERT-Haube hervor und richtete den massigen Körper auf.
»Willst du reden?«, fragte der Ara Thoveno, der per Holo zugeschaltet war.
»Später. Ich benötige jetzt richtigen, altmodischen Schlaf.«
Kakulkan, der bereits wieder in seinem Kommandantenstuhl saß, winkte dem Ertruser und entließ ihn damit aus seinem Dienst. Der Pilot schlurfte aus der Zentrale. Müde, mit weit vorgeschobenen Schultern.
Holonder hatte während der Reise aus der Suspension heraus in Kontakt mit ANANSI gestanden. Er hatte etwas geleistet, das mir unvorstellbar erschien: als Bindeglied der Besatzung zum Schiff Wache geschoben.
Neben Cascards Platz lagen unzählige Schreibfolien auf dem Boden. Mehrere Besatzungsmitglieder sammelten sie ein. Sie betrachteten sie, tauschten sie aus, legten sie dann behutsam zu einem Stapel zusammen.
Die Bilder des SERT-Spezialisten galten als etwas Besonderes. Sie entstanden sogar in diesem sonderbaren Zustand geistiger Höchstleistung, wenn er mit dem Schiff eins wurde, wenn er seinen Geist mit der RAS TSCHUBAI verband. Manche der hastig hingekritzelten Zeichnungen wirkten belanglos, andere erschreckend. Sie waren Blicke in die Psyche, nicht fassbar, nicht begreifbar.
Sichu Dorksteiger betrat die Zentrale. Sie wirkte frisch, duftete gut und lächelte freundlich, bevor sie sich an ihren Platz setzte. Konnte diese Frau denn gar nichts erschüttern?
»Status?«, fragte ich Sergio Kakulkan.
»Die Reise ist reibungslos verlaufen. Wir treiben etwa zwanzigtausend Lichtjahre vor der Southside der Milchstraße durch den Leerraum.«
Diese Antwort war zwar höchst unpräzise, allerdings genügte sie meinen Zwecken vollauf. ANANSI gewährte uns einen wunderbaren Draufblick auf Teile der heimatlichen Spiralgalaxis. Das energetisch hochaktive Milchstraßenzentrum war unter dem diffusen Nebel junger Sternenmaterie verborgen, die gegenüberliegende Northside blieb uns zum Teil verborgen.
ANANSI besserte mithilfe von Farbdarstellungen nach. Sie hob einige wichtige Sternensektoren hervor und markierte sie. Dort würden eines Tages jene galaktopolitischen Zentren entstehen, mit denen wir in unserer Heimzeit konfrontiert waren: Tefor, Arkon, Terra.
»Wann möchtest du den Dilatationsflug beginnen lassen, Perry?«, fragte Sichu. Sie schlug ihre aufregend langen Beine übereinander.
»Wir orientieren uns. Verschaffen uns einen Überblick, sammeln Daten und gehen es dann an.«
Allistair Woltera war ganz in seinem Element. Sämtliche Empfangsgeräte für Funk und Ortung waren in Richtung Milchstraße ausgerichtet. Er sammelte wahllos Daten, ließ sie von ANANSI kategorisieren und an nachgeordnete Abteilungen weiterreichen.
Was wir zu sehen bekamen, waren weitere Einblicke in die Entwicklung der heimatlichen Milchstraße. Selbst bei unseren eingeschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten und der Notwendigkeit, uns aus dem Gang der Geschichte herauszuhalten – eine derartige Möglichkeit, mehr über die Vergangenheit der Milchstraße zu erfahren, würde sich so rasch nicht wieder ergeben.
Allmählich kehrten Ruhe und Routine in der Arbeit ein. Sergio Kakulkan erledigte seinen Job ruhig und souverän. Nach dem Abschied von Jawna Togoya, die mit Atlan von Bord gegangen war, war er ins kalte Wasser gestoßen worden und hatte von einem Augenblick zum anderen das Kommando über die RAS TSCHUBAI übernehmen müssen. Doch er war mit der Aufgabe gewachsen, ihm unterliefen keine nennenswerten Fehler.
Vier Stunden vergingen mit Routinearbeiten. Ich verbrachte die Zeit mit Einzelgesprächen. Ich unterhielt mich mit Sichu und einem Stab an Wissenschaftlern über die kommende Reise und verabschiedete mich rasch, nachdem sich das Gespräch auf eine zu abgehobene Diskussion über Zeitdilatation verlagerte.
*
»Es gibt keine Hoffnung mehr für sie?«, fragte ich Matho Thoveno.
»Nein. Sie werden für alle Zeiten in diesem Traum-Zustand verharren.«
Der Ara beugte sich über ein tischgroßes Mikrorasterfeld. Er betrachtete millionenfach vergrößerte Bilder einer Gewebeprobe, die kleinste Bausteine des Lebens zeigten. Manchmal griff er in die Darstellung und hob einzelne Objekte daraus hervor. Solche, die wie sich windende Würmer aussahen ebenso wie solche, die eine kristalline Anmutung besaßen.
»Sieh mich bitte an, wenn wir miteinander reden!«
Der Mediker aus dem Volk der Aras drückte die Elemente zurück in die Darstellung und drehte sich zu mir um. »Also schön, Perry Rhodan. Was willst du von mir hören, das so wichtig ist, dass ich meine Arbeit dafür unterbreche?«
»Wir reden über Hypertrans-Versehrte, Matho. Über lebende Tote. Ich erwarte mir keine Sentimentalitäten oder gar Mitgefühl. Aber ich erhoffe so etwas wie: Ich bin der Ursache der komaähnlichen Starre auf der Spur. Ich tue, was ich kann, um herauszufinden, warum die Suspension nicht bei jedermann anspricht.«
»In diesem Fall erwartest du, dass ich dich anlüge. Ich habe nichts, das ich dir geben könnte. Gar nichts.«
Oh, er gab sich so nüchtern und kalt. Und doch konnte er mich nicht täuschen. Die Rechte war zur Faust geballt, die Fingerknöchel weiß.
»Danke«, sagte ich und war versucht, ihm die Hand auf die Schulter zu legen. Dann fiel mir wieder ein, wen ich vor mir hatte. Einen Galaktischen Mediziner, der Gefühlsregungen im beruflichen Kontext verachtete – und dennoch nicht ganz davor gefeit war.
In ihm brannte das Feuer also noch, so, wie ich es hatte sehen wollen. Er litt ebenso wie ich. Er würde um das Leben dieser drei Bordmitglieder und aller anderen kämpfen. Mit jeglichen Mitteln.
»Stör mich nicht länger, Perry Rhodan. Ich habe viel zu tun.«
Ich nickte zum Abschied und trat an die Glasscheibe zum Isolationsbereich. Ich blickte auf drei Menschen hinab, zwei Männer und eine Frau, die friedlich dalagen, als hätten sie sich eben zur Ruhe gebettet.
Ihr Schlaf und ihre Träume würden niemals wieder enden.
*
Ich stattete Gucky einen Besuch ab, der sichtlich wohlauf war. Wenigstens das. Seit er jahrelang im Koma gelegen hatte, fürchtete ich öfter um sein Leben als früher. Nicht zuletzt auch durch Tekeners Tod war mir wieder einmal schmerzlich bewusst geworden, dass unser Privileg der Unsterblichkeit rein theoretisch war.
Die Keroutin Poungari, eine der ursprünglichen Erdbewohner weit vor uns Menschen, wollte mit mir reden, ebenso die Abteilungsleiter mehrerer wissenschaftlicher Abteilungen. Eine Kolonie von Matten-Willys beschwerte sich über die Enge ihrer Suspensions-Alkoven. Jiqiren wiederum, der Sprecher der Posbis, beklagte sich über die nach dem Hypertrans stets hyperaktiven Matten-Willys ...
Ich blieb so ruhig und geduldig, wie es mir möglich war. An Bord dieses Raumschiffsriesen kam keiner je zur Ruhe, der Verantwortung trug. Es war eminent wichtig, dass ich jedermanns Sorgen gleich hoch einschätzte, also nahm ich mir Zeit.
Ich erhielt auch viel positiven Zuspruch. Die Besatzungsmitglieder waren froh, dass wir auf dem Weg in die Gegenwart waren und dass die erste Teiletappe glimpflich verlaufen war.
Irgendwann kehrte ich in die Zentrale der RAS TSCHUBAI zurück. Müde, aber zugleich erleichtert. Ich setzte mich, begutachtete die Nachrichten, die sich angehäuft hatten, und sagte dann: »Lass uns durch die Zeit reisen, Sergio. Nächstes Etappenziel: das Jahr 1518 Neue Galaktische Zeitrechnung.«
*
Einige Wochen Relativzeit vergingen. ANANSI sorgte für einen reibungslosen Dilatationsflug, der uns tief in die Southside hineinführte. In die Alten Sternenlande.
Die Zeit erfuhr indes eine Dehnung, je weiter wir uns der Geschwindigkeit des Lichts annäherten. Wir rasten mit annähernd dreihunderttausend Kilometern pro Sekunde dahin, während sich ringsum das Weltall veränderte. Es war nun gefüllt mit kondensartigen Streifen, die einander überlagerten. Manche von ihnen zerrissen oder verschwanden abrupt, andere tauchten neu auf in diesem abstrakten Gemälde rings um die RAS TSCHUBAI. Das Licht wurde angesichts unserer eigenen Fluggeschwindigkeit träge, zerfaserte, kroch nur noch dahin.
Die Semitronik lieferte uns sensationelle Bilder – ein Jahr schrumpfte für uns zur Sekunde, und manchmal sahen, manchmal erahnten wir nur, was dort draußen vor sich ging: stroboskopartige Bewegungen riesiger und unbekannter Raumschiffsflotten, die Entwicklung von planetaren Zivilisationen, das Werden und Sterben von Sternen ...
Die RAS TSCHUBAI trieb durch Masseballungen, die einstmals zu Sonnen werden würden; führte uns durch die ruppigen Jahrzehntausende mehrerer Hyperdepressionen und schaffte es dabei, uns vor allen Gefahren zu bewahren.
Es war faszinierend und erschreckend gleichermaßen, was uns ANANSI zur Verfügung stellte. Wir hörten Stimmen und gewannen Eindrücke von einer Galaxis, die sich nicht sonderlich um den lebenden Ballast kümmerte, der sich geschwürähnlich auf einzelnen Welten festsetzte, aufblühte und irgendwann wieder verschwand. Die sich einfach nur weiterdrehte.
Bis ...
*
Nicht mehr lange. In einigen Stunden würden wir zurück in der Gegenwart sein. Nach einer unglaublichen Reise, quer durch den Zeitenverlauf. Wir hatten es so gut wie geschafft!
Nur kurz dachte ich darüber nach, früher innezuhalten und zu einem Zeitpunkt zurückzukehren, da keine Onryonen in der Milchstraße anzutreffen gewesen waren.
So verlockend dieser Gedanke war – ich durfte mich nicht zu diesem Fehler verleiten lassen. Zumal ich nicht mal wusste, ob die Gegenwart weiterhin so war, wie wir sie verlassen hatten. Was wir im Reich des Kodex von Phariske-Erigon getan hatten, mochte den Zeitenlauf völlig durcheinandergebracht haben, all unseren gegenteiligen Bemühungen zum Trotz.
Weg mit diesen trüben Gedanken! Eben noch hatte ich mich mit Sichu unterhalten. Nicht über Bordangelegenheiten, sondern über Privates. Wir kamen uns näher, auf eine sehr reizvolle Art und Weise. Ich kannte die Ator seit Jahrzehnten – und sie faszinierte mich mehr denn je.
Diesmal hatte Sichu salzig-herb nach Terra-Algen gerochen und mit ihrer Gegenwart Eindrücke in mir hervorgerufen, die mich an die Weite des Meeres denken ließen. An unergründliche Tiefen, an stürmische Wellen, an einen unglaublichen Sonnenuntergang.
Meine Kabine war karg eingerichtet. Ich hatte nie viel Wert auf Komfort gelegt. Da und dort lagen Pläne und Arbeitsblätter, einige Souvenirs aus meiner Vergangenheit hatte ich hinter der Sitzgruppe abgestellt. Und ...
... die Holobilder. Ich musste sie zur Hand nehmen, wieder einmal. Es waren bloß zwei – und dennoch umfassten sie mein ganzes Leben. Alles, worauf es jemals angekommen war.
Da waren meine sechs Kinder, nebeneinander aufgereiht, wie sie in der Realität niemals zu sehen gewesen waren: Thomas, der sich zeit seines Lebens Cardif genannt und dessen Hass ich schmerzhaft zu spüren bekommen hatte. Die Zwillinge Suzan und Michael. Eirene. Delorian. Kantiran. Allesamt waren sie zum Zeitpunkt der Aufnahme zwischen fünfzehn und achtzehn Jahre alt.
Sechs Kinder, sechs unglaubliche Schicksale ...
Aus dem zweiten Holobild starrte mir meine Enkelin Farye Sepheroa entgegen. Sie wirkte lebendig und gleichermaßen gelassen, so, wie sie nun mal war. Für einen Augenblick dachte ich daran, dass eines ihrer Elternteile mein siebentes Kind war, das ich nie kennengelernt hatte ...
Ein dunkler Ton schwoll allmählich an, die Deckenbeleuchtung schwächte sich für zwei, drei Sekunden ab. Ich legte die beiden Holobilder rasch beiseite.
»ANANSI?«, fragte ich in den Raum. »Was hat der Alarm zu bedeuten?«
Der kindliche Avatar der Semitronik erschien. Das Mädchen saß unvermittelt auf einem der bequemen Stühle, die Beine eng an den Körper gezogen, von den dünnen Armen umschlungen.
»Ich habe Probleme«, sagte das Mädchen. »Ich leide. Und das Schiff leidet mit mir.«
*
Ich besprach mich allein mit Shalva Galaktion Shengelaia, dem ungewöhnlich groß gewachsenen Kamashiten, einem der Betreuer ANANSIS.
»Was hat es mit den Problemen der Semitronik auf sich?«, fragte ich.
»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte Shengelaia ausweichend und erweckte ein Holo zum Leben. Darauf waren mehrere Posbis zu sehen, die von Matten-Willys bemuttert und eingehüllt wurden.
Bis sich einer der Roboter abrupt aus der Ummantelung seines Willys befreite und einige hastige Schritte tat. »Genug!«, schrie er auf Interkosmo. »Es tut weh!«
Bevor er das nächste Schott erreichen konnte, hielt er inne und legte den Kopf schief, als müsste er nachdenken.
»Ab hier läuft alles normal weiter«, informierte mich Shengelaia und schaltete das Holo weg, um ein neues aufzurufen. »Man könnte an eine einmalige Fehlleistung denken, wie sie an Bord der RAS TSCHUBAI immer wieder vorkommt. Vorsichtshalber haben wir den Posbi isolieren lassen und untersucht, ohne allerdings einen Grund für sein kurzfristiges Verhalten zu finden.«
»Weiter!«
Der Kamashite beugte sich zum zweiten Holo und aktivierte es. Er mochte mindestens zwei Köpfe größer sein als alle anderen Bewohner seiner Heimatwelt, die ich kennengelernt hatte. Ein rezessives Gen seiner terranischen Vorfahren war vermutlich für diesen Riesenwuchs verantwortlich.
Ich blickte auf eine Reihe von Suspensions-Alkoven. Die Mulden waren mit Schutzfolien bedeckt. Sie waren während der Reise im Hypertrans nicht benutzt worden.
Die Folien ... welkten. Sie schrumpelten und zogen sich zusammen. Winzige Rauchfahnen stiegen in die Höhe, bis eine Notentlüftung ansprang. Mehrere kugelrunde Reinigungsroboter eilten herbei. Sie entsorgten die Schutzfolien in ihren Leibern und beseitigten weitere Spuren dieses sonderbaren Unfalls.
»Eine nachgeordnete Einheit ANANSIS hat vor einigen Stunden befohlen, ältere Schutzfolien gegen diese neuen Modelle auszutauschen«, sagte Shengelaia leise. »Wie wir mittlerweile wissen, waren sie mit Chemikalien und Weichmachern getränkt. Wären die Flüssigkeiten mit der Haut von Humanoiden in Berührung gekommen, wäre es zu schweren Verätzungen gekommen.«
»Was hast du dazu zu sagen, ANANSI?«
Die Mädchengestalt tauchte unmittelbar neben Shengelaia auf. »Ich weiß es nicht«, gestand der Avatar der Semitronik. »Ich habe die üblichen Sicherheitsroutinen eingehalten. Ich kann gar nicht anders, wie du weißt. Und ich bin mir sicher, dass ich keinen Fehler begangen habe. Außer ...«
»Außer?«, hakte ich nach.
»Es mag zu einer Beeinflussung von außen gekommen sein«, beantwortete Shengelaia die Frage.
Der Kamashite hob einen Arm, als wollte er ANANSI tröstend übers Haar streicheln. Doch er nahm sich zurück und ging auf mehr Abstand zum Avatar.
»Könnten es ... Posbiviren sein, die sich in deinem Inneren eingenistet haben?«, fragte ich.
»Posbiviren? Das ist so gut wie ausgeschlossen«, antwortete Shengelaia wiederum anstelle ANANSIS.
»Dann ist es etwas anderes.«
»Ja.«
Der Kamashite und ich blickten uns an. Wir ahnten, was das bedeuten mochte. Die Semitronik der RAS TSCHUBAI – und damit das Schiff selbst – war womöglich von Indoktrinatoren der Tiuphoren befallen worden. Sie trug virulente Keime in sich, die sich allmählich ausbreiteten und den Raumer irgendwann zerstören würden.
Indoktrinatoren waren eine heimtückische Waffe und konnten selbst schwere Schutzschirme durchdringen: Sie vermochten zwischen zwei Zuständen zu wechseln, einem festen und einem hyperenergetischen. Sie vermochten daher beispielsweise, sich als pure, höherdimensionale Energie einen Weg zu bahnen und am Ziel sodann in Form eines Maschinenwerks in Aktion zu treten. Welche Erscheinungsform die Indoktrinatoren auch annahmen – sie stellten eine immense Bedrohung dar.
»Wir haben alles getan, um dies zu verhindern«, sagte Shengelaia leise.
»Und dennoch ist es geschehen.« Ich betrachtete ANANSI. Der Avatar starrte blicklos vor sich hin. »Weiß Sichu Bescheid?«
»Ich habe sie soeben darüber informiert, dass ich krank bin«, sagte ANANSI. »Sie befindet sich auf dem Weg hierher.«
Ein weiteres Alarmsignal ertönte. Ich zupfte ein Holo aus der Lehne des Sessels, in dem ich saß, und bekam eine dreidimensionale Darstellung der RAS TSCHUBAI geliefert. Ein Dutzend rote Kleckse markierten derzeitige Problem- und Gefahrenstellen. Unregelmäßigkeiten waren an Bord eines derart komplexen Gebildes alltäglich und wurden meist in Minutenschnelle von der Semitronik und den Notkommandos beseitigt.
Doch dieser eine Fleck auf Deck 11 pulsierte heftig und machte deutlich, dass dort tatsächlich ein ernst zu nehmendes Problem entstand. Einer der Paratron-Konverter drohte der Kontrolle der ANANSI zu entgleiten.
*
Techniker isolierten den Konverter aus dem Verbund der anderen 35 und fuhren ihn langsam herunter. Das Element mit der Kennzeichnung I-KV-033 war ein zylindrischer Riese mit einem Durchmesser von 120 und einer Höhe von 200 Metern. Dutzendschaften an Wartungsingenieuren kümmerten sich augenblicklich um ihn und suchten nach der Ursache des Schadens. Als sie die Unterstützung durch geschulte Posbis anforderten, verweigerte ich es per Überrangbefehl. Ohne zu begründen, warum ich vorerst keinen Roboter in die Nähe des Konverters lassen wollte.
»Du wirst es ihnen erklären müssen, Perry«, mahnte mich Sichu, die mittlerweile eingeweiht und via Holo zugeschaltet war. Sie wirkte reichlich nervös.
»Später. Zuvor möchte ich von dir eine Einschätzung unserer Lage. Und zwar rasch.«
»Ohne dass ich fundierte Unterlagen zur Verfügung hätte? Weißt du, was du da von mir verlangst?«
»Ja, Sichu. Los, mach schon! Sag mir aus dem Bauch heraus, wie groß die Gefahr für uns ist.«
Sie zögerte keine Sekunde und sagte: »Zumindest so groß, dass ich den Dilatationsflug augenblicklich abbrechen würde.«
Mich erschreckte diese Einschätzung mehr, als ich ihr und Shengelaia gegenüber zugeben wollte. Ich blieb ruhig, während ich Holokontakt zu Kakulkan aufnahm und ihn davon unterrichtete, dass die RAS TSCHUBAI die Reise durch die Zeit unterbrechen sollte. »Sofort!«, fügte ich mit Nachdruck hinzu.
Er sah mich an, sagte kein Wort. Streng genommen war er der Herr über dieses riesige Schiff. Über ein stadtgroßes Habitat. Doch er wusste, dass etwas Ungewöhnliches im Umfeld des Paratron-Konverters geschehen war und wir auf Gefahren zusteuerten.
Er bestätigte und schaltete das Holo weg. Nur wenige Sekunden später gellte Alarm durch die RAS TSCHUBAI. Kakulkan hielt eine kurze Ansprache und informierte die Besatzung über den außerplanmäßigen Aufenthalt in der Vergangenheit.
Wo würden wir stranden? Konnte uns ANANSI einen Überblick geben, nun, da wir den Dilatationsflug verließen und die Fluggeschwindigkeit auf unter ein Prozent Licht fiel?
»Ich will doppelt und dreifach überprüfte und gesicherte Informationen«, sagte ich leise zu dem Avatar. »Du triffst keine wichtige Entscheidung mehr, ohne dich mit deinen Betreuern zu besprechen und gegebenenfalls mit den technischen und wissenschaftlichen Abteilungen.«
»Ja, Perry.«
»Du lässt alle Reparatur- und Überprüfungsroutinen am Schiff widerspruchslos zu. Ein Aufbegehren wäre für mich ein Zeichen dafür, dass du von den Indoktrinatoren beeinflusst wirst. Du lässt dich überwachen. Die Zellplasmakomponente wird kontrolliert, ebenso das symmunikative System. Jede einzelne Schnittstelle, die dein Wesen mit der Technik an Bord verbindet, muss überprüft werden. Also muss im Prinzip alles, was die RAS TSCHUBAI zum Funktionieren bringt, untersucht werden. Der Feind kann überall stecken.«