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Peter und Veronika sind verbunden durch eine tiefe Liebe, die ihre unterschiedliche Herkunft überwindet. Für diese Liebe riskiert Veronika den Bruch mit ihrer Familie, denn für ihren Vater, den reichen Leitnerbauern, ist die Verbindung mit einem Habenichts undenkbar. Kurze Zeit sind die Liebenden einander ganz nahe, als sie als Sennerin in der Nähe des Waldes arbeitet, in dem Peter beschäftigt ist. Da erhält Peter die Chance, eine Gesangsausbildung zu machen und zieht als gefeierter Sänger hinaus in die Welt. Was wird nun aus Veronika?
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LESEPROBE zu
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2011
© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com
Bearbeitung und Lektorat: VerlagsService Dietmar SchmitzGmbH, HeimstettenTitelfoto oben: Bettina Eder, © www.istockphoto.comTitelfoto unten: Studio von Sarosdy, DüsseldorfSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-3-475-54382-1 (epub)
Hans Ernst
Peter und Veronika
Peter und Veronika sind verbunden durch eine tiefe Liebe, die ihre unterschiedliche Herkunft überwindet. Für diese Liebe riskiert Veronika den Bruch mit ihrer Familie, denn für ihren Vater, den reichen Leitnerbauern, ist die Verbindung mit einem Habenichts undenkbar. Kurze Zeit sind die Liebenden einander ganz nahe, als sie als Sennerin in der Nähe des Waldes arbeitet, in dem Peter beschäftigt ist. Da erhält Peter die Chance, eine Gesangsausbildung zu machen, und zieht als gefeierter Sänger hinaus in die Welt. Was wird nun aus Veronika?
Es ist um diese Zeit schon eine große Seltenheit, wenn die Tage noch so schön und still verglühen, denn es ist schon später Herbst, und in manchem Jahr hat in der letzten Hälfte des Oktobers schon Schnee gelegen und alles zugedeckt, was jetzt noch im üppigen Rausch der Farben im weiten Umkreis Herz und Auge entzückt.
Über dem buntfarbigen Wald schwingen sich die Berge empor; eine blau erstarrte Riesenwoge neben der anderen. Kleine, vom Goldton der sinkenden Sonne gefärbte Wolken ziehen um die hohen, einsamen Gipfel, zerteilen sich manchmal an einer scharfen Felsenkante und ziehen getrennt weiter, flaumige Wolkentiere, die es sehr eilig haben, als möchten sie fliehen vor der kommenden Nacht.
Schwer und immer weiter werfen die Berge ihre Schatten über die Wiesen her, die an ihrem Fuß liegen. Auch das Dorf ist schon halb davon verschlungen. Nur der hohe Kirchturm funkelt noch im roten Sonnengold. Auch die Hangwiese, Schwedenwiese genannt, die sich ein Stück außerhalb des Dorfes emporzieht, badet sich noch im letzten Sonnenlicht, und alle Dinge, die sich auf der Wiese bewegen, sind von rosigen Schleiern umsponnen.
Acht Ziegen sind es und drei Lämmer, die auf der Schwedenwiese weiden. Kein Laut ist in der großen Stille des Abends. Nur der Bach rauscht sein ewiges Lied, und manchmal bimmelt ein Glöcklein am Halse eines der Lämmer.
Der Hirt dieser gemischten Herde sitzt etwas abseits auf einem kleinen Hügel. Peter heißt er, ein strammer, schlank gewachsener Bursche, etwa sechzehn Jahre alt. Die Geißel um die aufgezogenen Knie geschlungen, sitzt er ganz still und schaut in die Ferne. Ein dickes Büschel schwarzer Haare hängt ihm widerspenstig bis zu den Augenbrauen herein. Und wenn er es auch zurechtstreicht, es fällt doch immer wieder herein in die hohe, braun gebrannte Stirn.
Voll von Gedanken ist die Seele des jungen Hirten, Gedanken, die ungerufen zu ihm kommen, die sich zu ihm setzen wie stille Gäste und ihn auch in der Dämmerung nach Hause begleiten, wenn er seine kleine Herde in das Dorf bringt. Sie bleiben auch noch bei ihm, wenn er im Stall die Ziegen melkt, und verschwinden erst, wenn die Bäuerin, Ulrike Markus, geborene Hintermeier, in den kleinen Stall kommt und mit ihrer schnarrenden Stimme fragt, ob er, der Peter, denn noch nicht fertig sei mit der Arbeit. Ein Faulpelz sei er, wie er im Buche stünde, und nicht einmal ein Stück Brot verdiene er.
Nein, das können die kleinen lieblichen Gedanken nicht mit anhören, was die Stiefmutter zum Peter sagt. Und sie verlassen ihn eilig und kommen erst wieder am anderen Abend zu ihm, wenn er einsam auf der Schwedenwiese sitzt.
Mit leisen Fingern greift nun die Dämmerung auch zu der Schwedenwiese her. Nur beim Bauern an der Leiten, dessen Hof am höchsten liegt, brennen die Fenster noch im Sonnenuntergangsfeuer.
Peter seufzt leise. Ach, nur einmal so im Geld schwimmen wie der Leitnerbauer, von dem die Leute sagen, dass er die Geldscheine in einem Sack nach Ellmoos auf die Kreissparkasse brächte.
Nun sind die Fenster da droben auch dunkel geworden, und man sieht die weißen Mauern des Hofes nur mehr undeutlich aus der Dämmerung herausschimmern.
Nun kommt sie wohl nimmer heute, sagt sich der Peter und denkt daran, seine Herde nach Hause zu bringen. »Priska!«, ruft er. »Komm, Priska! Gehn wir heim!« Priska ist die Mutterziege, und sie kommt auf den Anruf meckernd herbei. Alle anderen folgen ihr und scharen sich um ihren Hirten.
Die Abendglocke beginnt im Dorf zu läuten. Dunkle, ernste Töne sind es. Fledermäuse huschen lautlos durch die Dämmerung und verschwinden im Nebel, der leicht, aber unbeweglich über dem Wasser steht. Hell und feurig leuchtet der Abendstern am Himmel.
Gerade als Peter aufbrechen will, wird er angerufen. Eine helle Stimme ist es. Peter streicht das Haarbüschel aus der Stirne und schaut den Hang hinauf. Im sausenden Lauf, dass die weiße Windjacke flattert, kommt Veronika Büchler, die Tochter des Bauern an der Leiten, den Hang heruntergestürmt. Mit einem weiten Sprung setzt sie über den Bach und steht, heftig atmend, vor Peter.
Veronika ist ein auffallend schönes Mädchen, schon gut gewachsen für ihre fünfzehn Jahre. Ein Schüppel goldblonder Haare kraust sich über ihrer Stirn. Die Augen, tiefblau, sind überschattet von langen, seidenweichen Wimpern. Kühn und mit reizvollem Schwung hebt sich die Oberlippe über einer fest gefügten Zahnreihe, während die Unterlippe fast gerade verläuft.
»Beinah hätt ich heut net kommen können«, lacht sie, während sie sich niederbückt und einem Lamm über das Fell streichelt. »Der Vetter und die Base aus der Stadt waren da, und da konnt ich doch nicht davonlaufen.«
Er schüttelt den Kopf und sucht ihre Augen. Sehr lange und sehr tief schaut er sie an, so dass sie ein wenig verwirrt wird.
»Da!«, sagt sie und zerrt aus ihrer Hosentasche eine angebrochene Tafel Schokolade. »Die hat mir der Vetter mitgebracht, und das schenk ich dir!« Und weil er keine Anstalten macht, sie zu nehmen, steckt sie ihm die arg zerbröselten Stücke einfach in seine Jackentasche.
Immer noch schaut er sie an.
»Warum schaust mich denn so an, Peter?«, fragt sie.
»Sogar in der Nacht …«, antwortet er und wendet sich zum Gehen. Seine kleine Herde trabt meckernd hinter ihm her. Veronika aber bleibt an seiner Seite.
»Was denn, Peter? Was ist in der Nacht?«
»Deine Augen hab ich gemeint. Sogar in der Nacht glänzen sie. Wie zwei Sterne.«
»Ach geh, du, was hast denn heute?«
Nun lacht er und greift im Gehen nach ihrer Hand.
»Nix, Veronika. Gar nix. Bloß freuen tu ich mich, weil du bei mir bist. Freust du dich auch?«
Sie antwortet nicht, sondern drückt nur seine Hand. Da bleibt er plötzlich stehen und legt den Arm um ihre Schultern. Veronika ist ein wenig kleiner als Peter, und wie sie nun so zu ihm aufblickt, muss sie wieder denken: Was hat er denn heut bloß?
Peter sagt ihren Namen. Ganz leise und zärtlich spricht er ihn aus. Trotzdem erschrickt sie, vor seinen Augen vielleicht, die sie heute so ganz anders anschauen. Aber es ist ein seltsames Erschrecken, ganz ohne Furcht. Nein, sie möchte am liebsten ihr Gesicht an das seine drücken, denn es ist plötzlich etwas ganz Neues, noch nie Gekanntes da. Etwas, das aus ihrer Seele herausdrängt, so dass sie unwillkürlich auch seinen Namen sagt, ganz zärtlich.
»Peterle …«, sagt sie. Niemals vorher hat sie ihn Peterle genannt. Immer nur Peter. Das kommt ihr nun zum Bewusstsein, und sie fügt in ihrer Verlegenheit schnell hinzu: »Willst heut gar kein Lied singen?«
»Doch«, sagt er. »Aber du musst mir auch was schenken, Veronika.«
Ja, gern. Sie macht sich schnell von ihm los und kramt wieder in ihrer Jackentasche. »Da, einen Apfel hab ich noch.«
»Nein, den Apfel will ich net. Ein Bussel möcht ich gern.«
»Wer? Du? Aber, Peter, was fällt dir denn auf einmal ein?«
»Das fällt mir nicht erst jetzt ein. Daran hab ich schon lang gedacht. Ich hab dich doch so gern, Veronika.«
Sie macht einen Schritt auf ihn zu und tippt mit dem Zeigefinger an sein Herz.
»Du hast mich gern, Peter? Arg gern?«
Er nickt nur und legt den Arm wieder um ihre Schultern.
»Ein einziges Bussel«, bettelt er.
Ein Zittern geht durch sie hin. Immer noch hat sie die Hand an seinem Herzen liegen. »Wie laut dein Herz schlägt«, sagt sie in ihrer Verlegenheit.
Sie spürt seinen Atem um ihre Schläfen wehen, sieht im Dunklen seine Zähne schimmern hinter dem halbgeöffneten Mund.
»Nein, nein«, sagt sie schnell. »Nein, Peter … du frecher …«
Mehr kann sie nicht mehr sagen, denn sein Mund liegt fest auf dem ihren.
Beide Arme schlingt sie um seinen Hals. Der Apfel, den sie noch immer in der einen Hand hält, fällt zu Boden.
Eine Fledermaus huscht über ihren Köpfen hin. Dumpf schlägt die Turmuhr die siebente Abendstunde. Da reißt sich Veronika von ihm los und stürzt davon, ohne ein Wort zu sagen. Er sieht ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden ist und man nichts mehr hören kann als ihre raschen, flüchtigen Schritte.
»Dumm, dass sie nun fortrennt«, brummt er. »Jetzt weiß ich eigentlich gar nix, ob sie mich auch ein bissel gern hat oder so … Vielleicht liegt ihr an mir gar nix, und ich hab mich ganz schrecklich blamiert.«
Langsam wendet er sich um und geht weiter. Schon ist er bei den ersten Häusern des Dorfes. Freundlich blinken die Lichter hinter den Fenstern. Friedlich und geborgen sitzen die Menschen unter dem milden Schein der Lampe und genießen den Feierabend. Jeden Abend ist das so, wenn er seine kleine Herde heimtreibt, und es zieht ihm jedes Mal das Herz zusammen, denn auf ihn wartet noch eine Menge Arbeit zu Hause. Heute jedoch ist das Wirklichkeit geworden, was er sich in vielen einsamen Stunden so oft gewünscht und gedacht hat. Er hat Veronika in den Armen gehalten, hat sie geküsst und sie ihn wieder.
Jetzt kommt das Haus, in dem er geboren und das seine Heimat ist. Eine kleine Kramerei ist dabei. Im Licht der Bogenlampe kann man das verblichene Schild lesen, das dort aus Großvaters Zeiten noch hängt: »Kolonialwarenhandlung Thomas Markus.« Das ist falsch. »Ulrike Markus« sollte es heißen, denn Thomas Markus, Peters Vater, hat ja nichts mehr zu reden, seit er die Zweite ins Haus genommen hat. Er geht nebenbei seinem Handwerk als Zimmermann nach und kümmert sich kaum um das Geschäft. Seine zweite Frau hat es vortrefflich verstanden, sich alle Rechte anzumaßen, und trägt sich auch mit dem Gedanken, dass nicht Peter einmal das Anwesen bekommen soll, sondern ihr eigener Sohn, der Stefan, der jetzt zehn Jahre alt ist.
Kaum hat der Peter seine Tiere im Stall angehängt, kommt seine Stiefmutter schon vom Haus herüber und greint:
»Du brauchst ja überhaupt nimmer heimtreiben. Wo warst denn so lange?«
Peter gibt keine Antwort.
»Hackstock!«, schreit sie. »Hörst denn net, was ich dich frag?«
Die Tiere hätten gutes Futter gefunden und er hätte sie nicht heimtreiben wollen, bevor sie nicht ganz satt gewesen seien, erklärt nun Peter.
Brummend entfernt sich die Frau und schlägt krachend die Tür hinter sich zu. Peter nimmt den Melkeimer zur Hand und beginnt seine Arbeit. Er kann sich heute über gar nichts ärgern. Eine große Feierlichkeit ist in seinem Herzen. Nur der einzige Gedanke quält ihn, ob Veronika auch weiterhin den Weg zur Schwedenwiese finden wird, wenn er sie dort hütet, diese merkwürdige kleine Herde, die niemand braucht, die es nur gibt, weil es dem Vater Freude macht, wenn noch ein paar Tiere im längst verwaisten Stall stehen. Morgen ist Sonntag, da muss er am Nachmittag schon hüten. An den Werktagen darf er erst gegen Abend hinauf, wenn er den ganzen Tag schwer gearbeitet hat. Ach, lange kann es nicht mehr dauern, dann fällt der erste Schnee, und er kann Veronika nur mehr sonntags in der Kirche sehen, oder wenn sie manchmal in den Laden kommt. Aber da kann er nicht sprechen mit ihr; denn im Laden hat niemand etwas zu reden als die Mutter. Stefan darf wohl im Laden sein bei ihr, darf die Bonbons alle probieren und die Schokolade. Diese Dinge sind für Peter fremd geworden, wie er auch fast nie über Geld verfügt. Morgen zum Beispiel wäre in Ellmoos Jahrmarkt, und die Burschen in seinem Alter gehen alle hin, schießen auf Scheiben, fahren Karussell und kaufen große Lebkuchenherzen mit einem schönen Spruch. Ach, wie gerne würde er auch so ein Herz kaufen und der Veronika geben. Zehn oder zwanzig Mark, wenn er sie nur hätte. Aber es ist ja gar nicht daran zu denken, denn er muss ja die Ziegen hüten.
Als Peter mit seiner Arbeit fertig ist, geht er hinüber ins Bad unter die Dusche. Dann nimmt er sein Essen aus dem Backrohr. Zwei Kartoffelknödel liegen da in der Schweinsbratensauce und ein paar Zwiebelstücke. Das Fleisch hat die Zweite vorher schon verdrückt. Das ist nur für sie und den Stefan, der auf dem Sofa liegt und schläfrig zu dem Bruder herüberblinzelt, der schweigend sein karges Nachtmahl isst. Die Mutter sitzt Peter gegenüber und liest die Zeitung. Peter betrachtet verstohlen ihre Hände. Derbe rote Hände sind es. Peter hasst diese Hände – nicht deshalb, weil sie ihn schon so viele Male geschlagen hätten – sondern weil sie eben so rot und derb sind.
Da rutscht der kleine Stefan vom Sofa herunter, geht zur Tür hin, wo Peters Jacke hängt, und zieht die Schokolade heraus.
»Da schau her, Mama, was der Peter hat«, sagt er mit hämischer Freundlichkeit.
Die Mutter fragt erst gar nicht, wo der Peter das her hat. Sie springt einfach auf und plärrt:
»So? Stehlen tut er auch noch? Da hört sich schon alles auf!«
»Nein«, sagt Peter. »Die hab ich nicht …«
»Dein Maul halt! Wo hättest sie denn sonst her? Das ist die gleiche Marke, die wir in unserem Laden führen!«
»Die wird es woanders auch geben.«
Die Frau steht einen Augenblick sprachlos, mit offenem Mund.
»Jetzt schau den an! Widersprechen tut er mir auch noch. So wird’s recht. Was erlaubst du dir denn eigentlich?« Sie fuchtelt mit ihren Händen vor Peters Gesicht herum. »Auf der Stell gestehst es ein, dass du die Schokolade gestohlen hast!«
»Nein«, sagt Peter ganz ruhig und steht auf.
Da schlägt sie ihn ins Gesicht.
Ganz unbeweglich steht er. Nur das Wasser läuft ihm aus den starren Augen. Um seinen Mund zuckt es.
Aber als sie wieder zuschlagen will, umklammert er blitzschnell ihr Handgelenk. Sein Griff ist so hart, dass sie unwillkürlich stöhnt. Es hilft ihr nichts, so sehr sie auch zappelt und schreit, diese Fäuste halten wie Eisenklammern. Und gar nichts kann sie dagegen tun, als ihr Peter nun rücksichtslos ins Gesicht schreit, was er von ihr denkt.
»Meine Mutter willst du sein? Hast du nur einmal ein gutes Wort für mich gehabt? Kein Einziges! Nur Gekeife und Geschimpfe! Wenn der andere dort was anstellt, dann bin ich es gewesen. Der Stefan ist alleweil der liebe, der gute und der brave Junge. Ich bin nicht mehr als das Vieh im Stall draußen. Aber jetzt mag ich nimmer! Grad anrühren tu mich du noch mal. Oder behaupte noch mal, dass ich gestohlen hätt, dann vergess ich, dass ich dem Vater versprochen hab, in dir die Mutter zu sehen. Sei du zu mir, wie das sich gehört, dann bin ich es auch.«
Damit lässt er sie los und geht hoch aufgerichtet aus der Stube. Droben in seiner Kammer atmet er auf, wie von einer Zentnerlast befreit. Er weiß, dass sie nun gleich über den Vater herfallen wird, wenn er heimkommt, dass sie alles viel schlimmer machen wird, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Aber das macht ihm gar nichts mehr aus. Heute schon gleich gar nicht.
Er tritt ans Fenster und schaut hinaus in die Nacht. Seine Augen suchen den Hof an der Leiten. Die Stubenfenster sind erhellt. Veronika wird unter ihren Leuten sitzen und vielleicht die gleichen Gedanken haben wie er.
Mit den Gedanken an Veronika schläft er ein.
Am anderen Morgen ist Ulrike noch eisiger als sonst gegen den Stiefsohn. Sie redet kein Wort mit ihm, obwohl es im anderen Falle schon längst eine prächtige Gelegenheit gegeben hätte, richtig Radau zu schlagen, denn Peter hatte sich einfach Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank genommen zu seinem Frühstück.
Nein, sie sagt kein Wort, denn die Spuren seiner eisernen Fäuste sind noch zu deutlich sichtbar an ihren Handgelenken.
Da kommt der Vater von der Frühmesse heim. Erst sieht er den Sohn gar nicht, hängt umständlich seinen Rock und Hut auf und setzt sich auf das Sofa. Da sagt Peter:
»Guten Morgen, Vater.«
Im Laden bimmelt die Glocke, und die Kramerin muss hinaus. Es ist ja immer Hochbetrieb im Laden an den Sonntagen nach der Kirche, wenn die Touristen in der Souvenirecke kramen oder Filme kaufen wollen. Bevor sie hinausgeht, wirft sie ihrem Mann einen vielsagenden Blick zu. Der nickt, räuspert sich zuerst und sagt dann zögernd:
»Du, Peter, da hat mir die Mutter gestern erzählt, du wärst tätlich geworden gegen sie.«
»Sie wollt mich schlagen, und da hab ich mich halt gewehrt«, antwortet der Peter.
»Gestohlen sollst auch haben? Aber das glaub ich nicht. Gelt, Peter, das ist nicht wahr?«
Peter schüttelt den Kopf.
»Ja, das hab ich gewusst. Schau, Peter. Ich hab mir halt denkt – weil es doch kein rechtes Auskommen ist zwischen dir und der Mutter – wenn du dich um eine Arbeit umschauen tätst auf Lichtmess.«
»Nix wär mir lieber als das, Vater.«
»Na also, siehst. Und weil wir grad davon reden: der Angermeier hat mich gestern gefragt, ob du net einstehn willst bei ihm. Sein Bub studiert ja in Weihenstephan, und allein packt er die Hofarbeit nicht. Du bist groß und kräftig, und er zahlt dich anständig.«
»Da geh ich hin, zum Angermeier.«
»Außerdem hat mich auch der Bauer an der Leiten gefragt, ob du nicht zu ihm kommen willst.«
Einen Augenblick fliegt ein heller Schein über Peters Gesicht. Aber dann sagt er rasch: »Nein, da nauf geh ich net. Lieber schon zum Angermeier.«
Der Kramer nickt ein paar Mal vor sich hin und streicht dann dem Peter über den Scheitel. »Ich hab’s ja gewusst, dass man reden kann mit dir. Bist wie deine Mutter, die Maria, Gott hab sie selig! Genauso gut könntest aber auch ein Handwerk lernen. Hast denn wirklich zu gar nix Lust? Schreiner oder Zimmermann oder sonst was?«
Peter schüttelt den Kopf.
»Ich mag das nicht, Vater, den ganzen Tag in der Werkstatt stehn und den Wald und die Berge bloß durch die Glasscheiben anschauen. Ja, in den Bergen umeinanderkraxeln, den ganzen Tag, das wär mein Wetter! Am liebsten tät ich Holzknecht werden, dann wär ich die ganze Woch da oben im Berg und käm nur am Wochenende runter.«
»Das kannst ja«, antwortet der Vater. »Da brauch ich bloß einmal mit dem Oberförster reden. Der nimmt dich sicher. Im Augenblick bist halt noch ein bissel zu jung. Aber in ein paar Jahren kannst du das schon haben, wenn du Lust hast dazu.«
»Ich wollt ja schon lang fort von daheim. Aber ich hab mir allweil denkt, dir ist es nicht recht«, sagt Peter nach einer Weile.
»Ich hab nix dagegen. Im Übrigen – heimkommen kannst zu jeder Zeit. Hier ist deine Heimat, und das Haus kriegt einmal niemand anders als du. Das ist schon alles festgelegt.«
»Das hat noch lang Zeit, Vater.«
Mit schönem Hall läuten die Glocken zum Hochamt.
Die Kramerin kommt wieder in die Stube, und Peter geht in seine Kammer, um sich für den Kirchgang umzuziehen.
»Hast es ihm gesagt?«, fragt die Frau.
»Ich hab’s ihm gesagt. Auf Lichtmess schaut er sich um einen Platz.«
»Gott sei Dank! Dann ist endlich einmal Frieden im Haus.«
»Ja, hoffentlich. Den einen Nachteil hat es halt, dass du den andern ein bissel zur Arbeit einspannen musst. Den Stefan, mein ich.«
»Ja, da hat man’s wieder! Du hältst dem Peter alleweil die Stange. Wirst es schon noch sehn, was aus dem Burschen wird. Da kannst noch was erleben.«
»Die Zeit wird es zeigen. Jetzt möcht ich gern meinen Kaffee.«
Wenige Minuten später verlässt Peter das Haus. Schmuck und sauber schaut er aus in der kleidsamen Hochlandtracht, der kurzen Gamslederhose und der hellgrauen Lodenjoppe. Den grünen Hut mit dem Adlerflaum hat er ein wenig schief auf dem Kopf, die Fäuste in den Taschen der Lederhose vergraben, geht er langsam auf der Straße dahin.
Im Gottesacker begegnet er Veronika. Sie nickt nur flüchtig und wird feuerrot dabei. In ihrer Verlegenheit drückt sie schnell das Köpfchen in das seidene Miedertuch und hastet zur Kirchentüre hinein.
Der Peter, mit seiner hellen Stimme, singt im Kirchenchor mit und hat so Gelegenheit, von Zeit zu Zeit über die Brüstung der Empore ins Kirchenschiff hinunterzuschauen.
Im zweiten Betstuhl kniet Veronika, über das Gebetbuch geneigt. Nach dem Credo schaut sie einmal flüchtig zurück, sieht droben auf der Empore den Peter und beugt sich gleich wieder mit brennendem Gesicht über ihr Gebetbüchlein.
Er muss lächeln und denkt an den gestrigen Abend. »Veronika«, flüstert er leise und wünscht dabei, dass sie am Nachmittag wieder zu ihm kommen möge auf die Schwedenwiese.
Da stupft ihn der Schmied, der den Bass singt. Beinahe hätte er seinen Einsatz vergessen, und der Lehrer wirft ihm einen fürchterlichen Blick von der Orgel herunter zu.
Am Nachmittag, gleich nach dem Essen, treibt Peter seine Herde wieder auf die Schwedenwiese. Die Burschen in seinem Alter gehen gerade nach Ellmoos zum Volksfest.
»Lass dich doch gern haben, Peter«, rufen sie ihm zu. »Soll doch dein Bruder die Geißen hüten! Geh mit uns zum Markt!«
Einen Augenblick wandelt ihn die Lust an, auf die Burschen zu hören. Aber – er hat ja kein Geld und müsste nur zusehen, wenn die anderen sich vergnügten. Und dann – wenn Veronika auf die Wiese käme, wäre er nicht da.
Mild und warm ist der Nachmittag. Gleich einem zitternden Feuerschein liegt es über allen Wipfeln in der Luft. Über das fahle Grün der Schwedenwiese webt die Sonne ein wunderbares Mosaik von goldenen Lichtern und zuckenden Schatten. Hauchfeine silberne Marienfäden ziehen träge in schwebendem Flug vom Wald herüber.
An dem schon etwas morschen Brückengeländer, das über den Bach führt, lehnt Peter und schaut sinnend in das dahinsprudelnde Wasser, aus dem ab und zu eine Forelle hochschnellt. Früher hat er oft stundenlang diesem Spiel zusehen können. Heute jedoch ist eine brennende Unruhe in ihm. Immer wieder schaut er hinauf zu dem Hof an der Leiten. Aber er kann nichts erspähen.
Oder doch? Ja, wirklich. Jetzt kommt etwas rot Schimmerndes aus der Türe, geht langsam bis zum Hoftor. Veronika ist es. Peter hat sie sofort erkannt. Aber warum bleibt sie da oben stehen und kommt nicht zu ihm?
Sie scheint auf jemanden zu warten. Es kommt auch wirklich noch jemand aus dem Haus, und die beiden gehen nun den Hang herunter, auf Peter zu.
Neugierig blickt er den beiden Mädchen entgegen. Was soll denn das nun bedeuten? Hat Veronika Angst vor ihm und nimmt zu ihrem Schutz eine Freundin mit? Eine Falte schiebt sich zwischen seine Brauen. Sein Blick ist so unfreundlich, dass Veronika, die lachend auf ihn zukommt, unwillkürlich stutzt.
Wortlos steht sie vor ihm, und sie ist ihm noch nie so schön erschienen wie an diesem Nachmittag, als sie in ihrem weinroten Dirndlkleid und der hellblauen Seidenschürze vor ihm steht, ein wenig unsicher und keine Worte findend. Aber dann zeigen sich doch plötzlich die zwei Grübchen wieder in ihren Wangen, und sie sagt:
»Na, so red halt was!«
Er muss darüber lachen. Aber er sagt immer noch nichts, sondern blinzelt nur zu dem anderen Mädchen hin, das etwas abseits stehen geblieben ist und mit den Lämmern spielt.
Als könnte Veronika seine Gedanken lesen, sagt sie schnell:
»Das ist die Tina, meine Cousine aus Rosenheim. Ich hab sie beschwatzt, dass sie deine Geißen hütet, weil du mit mir nach Ellmoos gehen sollst zum Volksfest. So schau doch net so entgeistert und geh weiter!« Sie ruft dem Mädchen noch zu: »Gib gut Obacht, Tina! Bis zum Abend sind wir wieder zurück.«
Damit wendet sie sich zum Gehen, und Peter folgt ihr etwas benommen. Plötzlich bleibt sie stehen und wendet ihm ihr Gesicht zu.
»Eigentlich sollte ich dir bös sein, Peter.«
»Warum denn, Veronika?«
»Du wirst es schon wissen. Wegen gestern.«
Er lacht recht lausbübisch. »Warum bist mir denn dann nicht bös?«
Aufmerksam blickt sie in sein Gesicht. Die Augen, den Mund, die Nase, jede Linie, alles betrachtet sie ganz genau. Und dabei zupft sie mit den Fingern an einem Hirschhornknopf seiner Joppe.
»Denkt hab ich mir schon, dass ich dir bös sein sollt«, sagt sie. »Aber dann ist es einfach nicht gegangen. Und die ganze Nacht hab ich von dir geträumt.«
»Ich auch von dir«, erwidert er strahlend. Und dann fassen sie sich bei den Händen und gehen in den Wald hinein.
Peter beginnt zu singen, und Veronika fällt ein. Kein Sonnenstrahl fällt durch das dichte, buntfarbige Dach der Buchen auf den Waldweg. Wie in einer kühlen hohen Halle wandelt es sich. Plötzlich wird Veronika still. Peter singt die Strophe allein zu Ende.
Als er dann schweigt, ist es im Wald, als jubilierten tausend Vögel in den Wipfeln.
»Wundervoll«, sagt Veronika, und ihre Augen leuchten. »Peter, weißt du überhaupt, was für eine herrliche Stimme du hast? Als ich im vorigen Winter in der Stadt war, hat mich der Vetter einmal mitgenommen in die Oper. Und da war auch einer, der so hoch hat hinaufsingen können wie du.«
»Ist’s wahr?«, fragt er, und in seinem Blick ist wieder der Ausdruck eines fernen, verlorenen Suchens. »Die Sommergäste, die voriges Jahr bei uns waren, haben auch gesagt, dass ich Gesangsunterricht nehmen sollte. Aber die Mutter hat gesagt, das wär Spinnerei. Ich soll zuerst die Arbeit richtig lernen, dass sie mich nicht allweil umsonst füttern müsst.«
Veronika streicht über seine Hand. »Armer Peter«, sagt sie leise, aber ihre Stimme zittert vor Zärtlichkeit. »Mag deine Stiefmutter dich denn gar nicht?«
Er schüttelt den Kopf.
»Jetzt nimmer, seit der Stefan da ist. Vorher hat sie mich schon mögen. Aber weißt, ich mag sie auch nicht. Da gleicht es sich wieder aus. Überhaupt, Veronika …«, er schiebt eine Locke aus der Stirne – »überhaupt ist es jetzt nimmer so schlimm, wenn meine Mutter mich nicht mag. Ich weiß ja jetzt, dass mich wer anders mag.«
»Alle mögen dich, Peter.«
»Ich hab jetzt bloß eine gemeint. Eine Bestimmte, weißt.«
»Wen denn?«
»Dich, Veronika.«
»Geh, was du dir so alles einbildest«, sagt sie lachend. »Meinst, weil ich dir gestern ein Bussel geben hab?«
»Du hast mir’s ja net geben. Ich hab’s mir selber genommen. Aber net deswegen hab ich es gemeint. Weißt, die Liebe, die muss man fühlen, inwendig, mein ich.«
»Wie gescheit du bist, Peter«, sagt sie ein wenig hochmütig.
»Da braucht man gar net viel Gescheitheit. Und brauchst auch nicht zu spötteln, Veronika. Es kommt schon noch die Zeit, wo die Lieb über dich herfällt, dann wirst an mich denken und sagen, der Peter hat Recht gehabt.«
Da bleibt sie stehen, und während sie sich an seiner Joppentasche ganz unauffällig zu schaffen macht, sagt sie: »Geh, Peter, ich denk ja allweil an dich. Meinst du denn, dass ich sonst der Tina heut zehn Mark geschenkt hätt, dass sie deine Geißen hütet und du mit mir zum Jahrmarkt gehen kannst? Aber jetzt komm, ich hör die Musik schon spielen.« Sie nimmt ihn an der Hand und beginnt zu laufen.
Schulter an Schulter rennen sie vom Wald heraus auf die Wiese. Erst bei den ersten Häusern von Ellmoos lassen sie sich los und gehen nebeneinander her. Ordentlich stolz ist der Peter, als er mit Veronika an den Buden der Schausteller vorbeigeht. Sie sind ein auffallendes Paar, und manch bewundernder Blick folgt ihnen. Peter hat die Fäuste in die Hosentaschen vergraben. Das gibt seinem Schritt Gewicht und Breite. Aber da überkommen ihn auf einmal Kummer und Trauer. Viele Mädchen begegnen ihnen, und jede hat ein Lebkuchenherz um den Hals hängen. Sie tragen es stolz und herausfordernd über dem Mieder, und Peter kommt es vor, als fragten die vielen Augen ihn: Warum kaufst denn du deiner Begleiterin kein solches Herz?
Er könnte wohl drauf sagen: Wozu denn? So ein Lebkuchenherz geht kaputt, oder es wird gegessen. Da schenk ich ihr lieber mein eigenes Herz, das hat sie immer.
Aber nein, niemand braucht dies zu wissen. Das ist seine Sache ganz allein. Aber dumm ist es, wenn man gar kein Geld in der Tasche hat; denn schließlich könnte man auch Autoscooter fahren mit Veronika. Im selben Augenblick sagt sie:
»Autoscooter fahren mag ich nicht, Peter. Da wird mir allweil schlecht, wenn man mit den anderen zusammenrumpelt.«
»Du hast Recht«, sagt er. »Ich bin auch kein Freund davon.«
Im selben Augenblick sieht er seinen Vater, der gerade auf das Festzelt zugeht. Der muss mir ein paar Markl geben, fährt es ihm in den Sinn, und er will ihm schon nachlaufen. Da fasst ihn Veronika beim Joppenärmel und sagt:
»Peter, dort an der Schießbude probierst einmal dein Glück. Das ist ganz was anderes als das dumme Autoscooter fahren.«
Peter wird rot über das ganze Gesicht. Womit soll er denn dort bezahlen?
»Ja, ja«, stottert er. »Da schieß ich dir was raus. Einen Blumenstock vielleicht oder ein Briefpapier. Aber weißt … ich hab … kein Geld dabei. Ich hab ja auch nicht gewusst, dass ich da her komm. Aber meinen Vater hab ich grad zum Bierzelt hineingehn sehn, der leiht mir schon was.«
Veronika schaut ihn treuherzig an, lächelt kaum merklich.
»Freilich hast ein Geld«, sagt sie. »Lang einmal in deine Joppentasche hinein.«
Wirklich, da findet er einen Fünfzigmarkschein. »Das kann ich nicht annehmen!«
»Was annehmen? Was hast denn Dummes? Meinst gleich gar, ich hätt dir das Geld in die Joppe gesteckt? Geh weiter, Peter, jetzt ist der Schießstand grad leer.«
»Will der junge Herr einmal sein Glück versuchen?«, fragt das Fräulein, das die Gewehre lädt.
Peter steht noch ein wenig unschlüssig, da sagt dann Veronika: »Geben Sie uns nur ein Büchsl! Ich möchte es auch probieren.«
So stehen sie nun nebeneinander am Schützenstand. Peter zielt ruhig und bedächtig, setzt noch mal das Gewehr ab und sagt: »Was kostet denn die Gaudi eigentlich?«
Doch da jagt Veronika schon den ersten Schuss hinaus. Ganz schlecht ist sie abgekommen. Nur mehr den unteren Rand der Scheibe hat sie gestreift.
Peter lächelt. »Du darfst nicht so lang zielen, Veronika, sonst wird die Hand zittrig. Einfach von unten raufziehn, und wenn du die Mitte schön hast, druckst ganz ruhig ab. Schau her, so!«
Er nimmt das Gewehr an die Wange und trifft mitten ins Blatt.
Schuss um Schuss jagen die beiden hinaus. Veronika steht ihm an Treffsicherheit nicht weit nach. Ein paar Leute aus dem Dorf schauen ihnen zu. Denn es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Mädel am Schießstand eine solche Fertigkeit zeigt. Schön sind sie anzusehen, die beiden. Die jungen Gesichter sind vom Eifer gerötet. Und immer, wenn ein Schuss im Zwölfer sitzt, nicken sich beide lachend zu.
»Bravo!«, schreit plötzlich eine Stimme im Hintergrund. »Bravo, Vroni!«
Es ist der Leitnerbauer, Veronikas Vater, der an die Theke der Schießbude tritt und einen Geldschein auf den Tisch wirft.
»Was die beiden verschossen haben, das zahl ich«, sagt er ein wenig prahlerisch.
Der Bauer von der Leiten ist trotz seiner gebeugten Schultern ein großer, kräftiger Mann. Er hat einen beträchtlichen Leibesumfang, und auf dem wuchtigen Nacken ruht ein großer Kopf mit einer niederen, kantigen Stirne. Über den Hängebacken blitzen zwei kleine graue Augen, beschattet von dichten Brauen, schwarz wie das kurz geschorene Haar und der Backenbart, der bis zu den Ohrläppchen reicht. Die breite Nase ragt über einem Mund mit vollen Lippen, zwischen denen er den Atem schnaufend einzieht und die Worte polternd hervorstößt. Er pocht schwer auf seinen Reichtum – kann er auch, denn er hat zweimal reich geheiratet. Die Erste brachte ihm eine halbe Million auf den Hof und von dieser ersten hat er einen Sohn, den Sepp. Die Zweite stand der Ersten im Vermögen nicht viel nach. Aus dieser Ehe stammt Veronika. Der Spott des Leitner ist überall gefürchtet, und im Gemeinderat ducken sie sich alle, wenn er das Wort ergreift und zu kritisieren beginnt.
Im Augenblick aber ist er bester Laune. »Sakra«, sagt er schmunzelnd. »Ihr zwei schießt gar net schlecht. Kramerbub, du müsstest ein Jäger werden.«
Peter macht eine wegwerfende Handbewegung. »Was wär ich denn da schon? Ein besserer Holzknecht, mehr net. Das Wild müsst ich hegen und pflegen, und schießen tun es die Herrn.«
»Teufelsbub«, staunt der Leitner. »Um eine Antwort bist du nicht verlegen. Aber was habt ihr denn gewonnen bei eurer Pulverei?«
Peter erhält eine Flasche Wein und Veronika einen springenden Hirsch aus Plastik.
Lachend klopft ihr der Leitner auf die Schulter.
»Wär gescheiter, du wärst ein Bub geworden und dein Bruder ein Weibsbild. Der Kerl hat ja gar kein Leben. Aber jetzt geh weiter, Veronika! Jetzt kehren wir ein. Der Preis, den du gewonnen hast, der muss gefeiert werden. Was magst denn? Weißwürst oder Schweinswürstel mit Kraut? Und eine Maß – oder vielleicht besser ein Spezi.«
»Das ist mir gleich, Vater. Aber gelt, der Peter geht auch mit.«
»Freilich geht er mit«, sagt der Leitner lachend. »Auf das bissel, was der isst, kommt es mir nicht an. Wär ja noch schöner. Geh nur weiter, Peter!«
So gehn die drei nicht ins Bierzelt, sondern zum »Heinzelbräu«, wo der Leitner sein Auto geparkt hat, und finden schnell ein Platzerl in der Stube.
»Eine Halbe Dunkles, Herr Büchler?«, fragt die Kellnerin.
Ja, in Ellmoos wird der Leitner als Herr Büchler angesprochen, was ihm ungemein schmeichelt.
»Nein, ein Weißbier mag ich heut. Und die zwei kriegen jedes einen Spezi. Und die Speisekarte bringst auch.«
Peter und Veronika sitzen nebeneinander und fühlen sich gar nicht recht wohl. Sie wären viel lieber für sich allein gewesen.
»Du wirst mit deinem Vater heimfahren?«, fragt Peter leise.
Sie schüttelt den Kopf. »Ich geh wieder mit dir, Peter.«
Der Angermeier ist auch in der Stube, und als er einmal hinausgeht, folgt ihm Peter.
»Ich hab gehört, du brauchst eine Hilfe auf dem Hof«, redet er den Bauern an.
»Ja, Peter, brauchen tu ich freilich jemand.«
»Magst mich nehmen, Angermeier?«
»Wenn du willst? Du bist gut gewachsen und bist fleißig, das weiß ich. Was willst denn an Lohn?«
»Das überlasse ich dir, Bauer. Schau nur zuerst einmal, was ich leisten kann.«
»Na, da hab ich keine Angst, dass du deinen Mann net stellst. Sagen wir halt, vierhundert Mark die Woch’ im Winter und im Sommer fünf. Das Essen ist auch net schlecht bei mir.«
»Gilt schon, Angermeier. Ich komm!«
»Alsdann, ist mir recht, Peter. Bin froh, denn bei dir weiß ich, was ich krieg. Die guten Arbeiter sind rar. Geh her, dann kriegst gleich dein Drangeld.« Er drückt ihm zwei Hunderter in die Hand und klopft ihm auf die Schulter. »Also, auf Lichtmess kommst!«
So, nun kann er wenigstens der Veronika ein Lebkuchenherz kaufen. Das allergrößte und schönste wird er nehmen. Ganz glücklich ist er nun.
Als er zurückkommt, stehen die Würste schon am Tisch, und der Leitner sagt: »So, lasst es euch schmecken! Du kannst auch mit mir heimfahren.«
Veronika und Peter tauschen einen flüchtigen Blick.
»Zuerst möchte ich mir aber noch ein bissel das Volksfest anschaun«, sagt Veronika.
»Von mir aus. Um sieben fahr ich halt weg, wenn ihr net da seid, könnt ihr heimlaufen.«
»Das wollen wir ja«, denken alle beide, bedanken sich für das Essen und gehen hinaus.
Sie halten sich nicht allzu lange auf dem Marktplatz auf. Peter sucht nur noch ein Herz heraus, das größte, das zu finden ist.
Veronika hängt es um den Hals und meint: »Wenn du mir was kaufst, dann muss ich dir doch auch was schenken.« Sie sucht ein Taschenmesser aus, eines, das den teueren Schweizer Taschenmessern ähnlich sieht. Zwei Klingen hat es und einen Korkenzieher.
Dann verschwinden sie hinter den Kramerständen und eilen dem Wald zu. Veronika trägt ihren unglaublich kitschigen Plastikhirsch unter dem Arm, und aus Peters Joppentasche ragt der Hals der Weinflasche.
Es ist erst um die vierte Nachmittagsstunde, und sie haben wohl beide den gleichen Gedanken, dass es mit dem Heimgehen noch gar nicht pressiert. Sie suchen sich eine Stelle aus im Wald, etwas abseits vom Weg; denn sie wollen die Flasche Wein zusammen trinken und dabei von neugierigen Blicken verschont bleiben. Eine kleine Blöße ist es, mit einem Tümpel in der Mitte. Hell und warm flutet das Sonnenlicht herein, und die kleinen Meisen huschen mit erregtem Gezwitscher im Geäst hin und her.
Peter wählt einen der Felsbrocken als geeigneten Sitz für Veronika. Er selbst kauert sich auf den Boden, indem er den Stein als Lehne benutzt.
»So«, sagt er. »Da ist ein gutes Rasten. Nur gut, dass wir wieder für uns allein sind. Ich hab das Gefühl gehabt, dass wir zwei gar net unter die vielen Leut passen.« Er zieht die Weinflasche aus der Tasche, liest das Etikett und lacht. »Schwarze Katz«, sagt er. »Komischer Name für einen Wein.«
»Es gibt auch einen ›Schwarzen Herrgott‹«, antwortet Veronika. »Wir haben ein paar Kisten voll in unserem Keller. Die lasst sich der Vater alle Jahr schicken.«
Darauf schweigen sie alle beide. Es ist plötzlich da, dieses Schweigen, und legt sich drückend auf ihre Gemüter.
»Den Tag vergess ich nie«, sagt Peter endlich.
Veronika stellt ihren Plastikhirsch neben sich ins Moos und verschränkt die Hände im Schoß. »Ja, ja«, sagt sie gedankenlos, denn sie weiß nicht, warum der Tag so unvergesslich sein sollte. War denn etwas Besonderes an diesem Tag? Sie sind auf dem Volksfest gewesen, haben ein wenig geschossen und sitzen nun hier, mitten im Wald, und sonst ist nichts, aber rein gar nichts. Da war der gestrige Abend schon viel ereignisreicher.
Zwar ist alles ein wenig überraschend gekommen, und Veronika hat sich ihren ersten Kuss ganz anders vorgestellt. Frech war das eigentlich schon vom Peter. Wer weiß, wie oft er das schon getan hat? Vielleicht wird er morgen schon wieder ein anderes Mädchen küssen?
Bei diesem Gedanken fühlt sie plötzlich ein heftiges Misstrauen. Und sie greift in seine Haare und zieht ihm – nicht gerade sanft – den Kopf zurück, so dass er zu ihr aufschauen muss.
»Du…«, sagt sie drohend. »Busselst du eigentlich auch noch andere ab?«
Peter ist verblüfft über diese plötzliche Wandlung.
»Wie kommst denn auf den Gedanken, Veronika?«
»Du sollst mir Antwort geben«, entgegnet sie drängend.
Peter Markus weiß noch nicht viel von den Mädchen. Dazu ist er zu jung. Aber dass aus ihr die Eifersucht schreit, das erkennt er plötzlich. Mag der Teufel wissen, wie er auf den Gedanken kommt, sie noch mehr zu reizen.
»Das kommt grad darauf an«, sagt er lächelnd.
Da steht sie mit einem Ruck auf. Ihr Gesicht hat alle Farbe verloren. Dunkel, fast unheimlich leuchten ihre Augen. Krampfhaft bewegen sich ihre Lippen, dann schreit sie ihm ins Gesicht:
»So einer bist du also? Jetzt kenn ich dich!« Die Stimme zittert ihr, sie ist dem Weinen nah. Ihre Hände öffnen und schließen sich langsam wieder. »Gut, dass ich jetzt weiß, was du für einer bist.«
Ein Zucken fliegt über seine Stirne. Ganz ruhig aber fragt er: »So? Weißt es? Was bin ich denn dann für einer?«
»Ein Lump bist!«, schreit sie. »Da musst du dir schon eine andere suchen, die wo zu dir passt, aber nicht die Leitner Veronika.«
Ganz unbeweglich steht er vor ihr. Er hört das Wort »Lump« und fühlt, wie ihm das Blut ins Gesicht springt. Aber er kann nichts sagen. Nein, er kann und will einfach nicht.
»Nicht einmal eine Antwort kannst geben«, schluchzt sie weiter.
»Nein, da weiß ich keine Antwort. Da ist es besser, man sagt gar nix.« Ganz unversöhnlich klingt es.
Vielleicht spürt sie, dass sie zu weit gegangen ist, dass sie ihn beleidigt hat, denn sie macht einen Schritt auf ihn zu und sieht ihn an. Sein Blick geht eigensinnig an ihr vorbei.
»Peter.« Ganz leise sagt sie es. Und noch mal:»Peterle …« Ängstlich hoffend hält sie den Atem an, in Erwartung einer Antwort. Aber es kommt keine. Nichts regt sich. Nur im Tümpel quaken ein paar Frösche, und das welke Laub rauscht unter einem Windhauch.
Da lässt Veronika kraftlos die Schultern sinken und geht fort. Ganz langsam geht sie dahin und, sie ist schon ein schönes Stück unter den Bäumen, da ruft er ihren Namen.
Sie bleibt stehen, wendet sich aber nicht um. Da fassen seine Hände sie an beiden Schultern. Mit einem Ruck dreht er sie zu sich herum, und sie erschrickt fast vor dem wilden Feuer in seinen Augen. Zu sprechen vermag er nicht.
»Ich hab dir doch net wehtun wollen«, sagt sie endlich.
»Ich bin kein Lump«, fährt es aus ihm heraus.
»Nein, Peter, nein! Ich bin ein dummes Dirndl, ich weiß schon. Aber schau, grad du musst es doch kennen, dass ich dich gern mag.«
»Ich glaub dir ja«, antwortet er. »Aber du glaubst mir nix.«
»Doch, doch, Peter. Ganz gewiss, jetzt weiß ich es.« Sie schluchzt glücklich auf, schlingt beide Arme um seinen Hals, zieht sein Gesicht zu sich herunter und legt ihre tränennasse Wange an die seine. »Schau, so gern mag ich dich, Peter.«
»Du Dummerle«, sagt er. Warm und gütig klingen die zwei Worte. Verstehen, Verzeihen und Gutsein liegt darin. Ganz glücklich liegt sie in seinem Arm und sieht mit weit offenen, leuchtenden Augen in die Sonne, die schon rot zu schimmern beginnt.
»Was denkst jetzt wieder?«, fragt er.
»Dass ich dich so gern hab, so wie du bist«, antwortet sie. »So hart, so eigensinnig, so trotzig. Ein Mannsbild muss wohl so sein.«
Sie reden nun, während sie zurückgehen, eigentlich recht vernünftige Dinge. Wie der Mensch sein soll und wie er nicht sein soll. Sie trinken abwechselnd aus der Flasche, werden heiter dabei und bekommen rote Gesichter. Da merkt man dann schon, dass sie noch halbe Kinder sind, denn sie beginnen nun, recht dumme und unüberlegte Sachen zu reden und sich die Zukunft in den rosigsten Farben auszumalen.
Sie denken gar nicht daran, dass es einmal anders kommen könnte. Sogar Peter, der sonst so nüchterne Peter, glaubt, dass seine himmelstürmenden Träume in Erfüllung gehen. Dass es einen Bauern an der Leiten gibt, der sich alldem mit seiner ganzen Macht und Autorität entgegenstellen wird, daran denkt von den beiden keiner.
Damals haben sie den Wein ausgetrunken und die Flasche an einen Stein geschlagen. »Scherben bringen Glück«, haben sie alle beide gejubelt. Und dann haben sie mit heißen Köpfen den Heimweg gesucht. Den Plastikhirsch haben sie im Moos liegen lassen.
Wie lange ist das nun schon her! Peter ist inzwischen ein richtiges Mannsbild geworden, und Veronika ist noch ein ganzes Stück gewachsen. Nun sind sie beide fast gleich groß und können einander bequem in die Augen schauen. Sie sind auch in ihrer Liebe zueinander gewachsen und halten zusammen.
Drei Jahre war Peter beim Angermeier im Dienst. Erst im letzten Winter hat er sich seinen Jugendwunsch erfüllt und arbeitet nun im Wald. Hoch droben, wo schon die Felsen beginnen, wohnt er in einer Hütte aus Rinden und Moos. Nur am Wochenende geht er herunter ins Dorf, wartet, bis die Dämmerung ins Tal gefallen ist, und macht sich dann auf den Weg nach dem Hof an der Leiten, wo Veronika bei den Hollerstauden auf ihn wartet.
Es fehlt nicht an Brautwerbern, die regelmäßig auf dem Leitnerhof vorsprechen. Burschen, die begütert sind und einen prächtigen Hof zu übernehmen haben, auf den keine so gut als Bäuerin passen würde wie die Veronika.
»Ich mag noch nicht heiraten«, sagt sie immer. Und wenn der eine oder der andere meint, er könne ja noch warten, dann sagt sie ganz unverblümt: »Da brauchst gar net warten. Ich nehm dich doch nicht.«
Im Geheimen wundert sich Veronika selber, dass ihre Liebschaft mit Peter so lange Geheimnis bleibt. Es hat Gelegenheiten genug gegeben, wo sie vor allen anderen so sehr von Peter schwärmte, dass man es hätte merken müssen. Aber auf den Gedanken, dass die schöne, reiche Veronika sich in einen armen Holzknecht verlieben könnte, ist bis jetzt noch niemand gekommen.
Wieder ist so ein Samstag. Es ist noch am frühen Nachmittag, und Veronika hat gerade die Stube gescheuert. Nun eilt sie in den Garten, um einige Blumen für den Herrgottswinkel zu holen.
Veronika setzt sich ein wenig auf das Bankerl, das, halb verdeckt von den Brombeerbüschen, am untersten Ende des Gartens steht. Die braun gebrannten Arme um die Lehne geschlungen, sitzt sie ganz still und blickt zu den Bergen hinauf. Man kann genau in einer Mulde das rote Dach einer Sennhütte herausspitzen sehen. Das ist die Leitner Alm, auf der die halbtaube Bärbel den Sommer über das Vieh betreut. Veronika wäre für ihr Leben gerne diesen Sommer auf die Alm gegangen. Aber der Vater leidet es nicht. Sie sei noch viel zu unerfahren, um solch eine Verantwortung zu tragen.
Ein spöttisches Lächeln zuckt um Veronikas Mund. Nicht einmal richtig arbeiten darf man, wenn man vom Bauern an der Leiten stammt, muss sie denken. Wäre sie aus einem kleinen Häusl, niemand würde sie fragen, ob sie dies oder jenes machen könne. Da hieße es einfach: Du musst arbeiten. Bist alt genug. Ja, und dann würde sie eben in einem Büro sitzen – oder vielleicht sogar auf einer Alm sein, wo Peter jeden Abend einkehren könnte. Und sie würde mit ihm vor der Hütte sitzen bis Sonnenuntergang. Vielleicht würde Peter dann ein Lied singen. Eines von den wunderschönen Liedern, die von Liebe sagen und vom Glück.
Ganz traurig ist ihr zumute, weil sie nun so allein dasitzt und nichts anzufangen weiß mit ihrer Sehnsucht. Der Vater ist mittags fort auf die Jagd. Nur die Mutter ist daheim.
Ganz still ist es ringsum. Nicht einmal das Gegacker der Hühner dringt über die Dächer in die kleine, verwunschene Einsamkeit herein.
Plötzlich raschelt es in den Büschen. Veronika dreht erschrocken den Kopf und sieht in ein braun gebranntes Männergesicht. Es ist der Würmseer Andi, ein Bauernsohn aus dem Dorf.
Veronika steht auf und sagt nicht gerade freundlich: »Ach, du bist es.«
Der Andreas zwirbelt an seinem Bärtchen. »Ja, ich. Hättest dir einen anderen erhofft?«, fragt er lauernd.
Kälte und Abwehr ist in ihrem Gesicht. »Dich einmal gewiss nicht.«
Andi lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Mit kühnem Sprung setzt er über den Gartenzaun und steht vor ihr.
»Freundlich bist du nicht gerade«, sagt er.
»Warum soll ich zu dir anders sein als zu allen anderen? Was ist denn das eigentlich für eine Manier, beim helllichten Tag einfach in einen fremden Garten zu steigen? Hast du sonst keine Arbeit?«
Andi zündet sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an und deutet mit dem Daumen über die Schulter.
»Da drüben auf der Wiese hab ich Heu eingefahren. Ich hab dich in den Garten gehen sehen, und weil der Ladewagen grad voll ist, hab ich mir denkt, ich möcht ein bissel plauschen mit dir. Und das kann man doch am helllichten Tag grad so, als wenn es dunkel ist. Oder nicht?«
Sein lauernder Blick und die spöttische Art, wie er alles sagt, ärgern Veronika. Sie wendet sich von ihm ab und bückt sich um ein paar Nelken.
»Ich hab aber keine Zeit zum Plaudern«, sagt sie.
»Zeit hättest schon, aber mögen tust nicht, gelt?«
»Ja, Recht hast. Mögen tu ich nicht.«
»Ist auch gescheiter, du redest mit anderen Leuten.«
»Das kann ich machen, wie es mir passt.«
Andi blickt auf sie nieder und muss sich alle Gewalt antun, um dieses trotzige, herrische Dirndl nicht einfach an sich zu reißen. Merkt sie denn gar nicht, warum er hier steht? Hat sie denn keine Augen im Kopf? Ist er denn nicht der älteste Sohn vom Würmseer, um den sich andere die Finger abschlecken würden, wenn sie in den Hof kommen könnten? Nein, das scheint sie gar nicht zu bemerken. Oh, er weiß ganz genau, warum sie so kalt zu ihm ist. Dieser Peter, der in der Woche vielleicht dreihundert Mark verdient, der braucht nicht zu warten auf ein gutes Wort. Wie er ihn hasst! Er muss es ihr doch einmal sagen.
»Meinst, ich weiß nicht, warum du zu mir so unfreundlich bist?«
Veronika dreht das Gesicht über die Schulter zurück. »Ich bin zu allen Menschen gleich. Mir hat noch niemand gesagt, dass ich unfreundlich bin.«
»Am allerwenigsten wird das der Peter behaupten können«, fährt es ihm heraus.
Mit einem Ruck steht Veronika kerzengerade vor ihm. »Was willst du damit sagen?«
»Dass du verliebt bist in ihn, und dass du ihn jeden Samstag, wenn es dunkelt, bei den Hollerstauden triffst.«
»Ja, ich hab ihn gern.« Ganz ruhig sagt sie es. »Hast uns nachspioniert?«
»Ja, ich hab euch gesehen.«
»Schäm dich! Ein erwachsenes Mannsbild schleicht zum Horchen umeinander.«
Mit einem raschen Griff hat er ihr Handgelenk. »Ich leid es nicht«, sagt er heiser.
Mit einem Ruck macht sie sich von ihm frei.
»Du leidest es nicht? Ja, sollt ich dich vielleicht um Erlaubnis fragen, wen ich gernhaben darf?«
»Sei doch gescheit, Vroni. Was hat denn das für einen Sinn? Wo willst denn hinheiraten? Der hat ja hint und vorn nix.«
Veronikas Augen funkeln. Sie streckt sich ein wenig und schaut ihn aus halbgeschlossenen Augen an.
»Dir hat er viel voraus, Andi. Wenn ich euch zwei, dich und den Peter, nebeneinander stell, dann ist das grad wie Licht und Schatten. Damit will ich dir von deiner Ehr gar nix abknöpfen. Zu einer anderen passt du vielleicht ganz gut. Zu mir niemals.«
»Das kann man doch jetzt noch gar nicht wissen. Schau, Vroni, du weißt ja gar nicht, wie gern ich dich hab. Und meine Leut, die hätten gar nix dagegen, wenn wir im Herbst schon Verlobung feiern täten. Der Vater ist nimmer recht gut beinander, und die Mutter war ja auch nie eine von den Festen. Es gehört eine junge Kraft ins Haus. Überleg es dir wenigstens einmal, Vroni!«
Der Ton, in dem er nun gesprochen hat, lässt auch sie ein wenig weicher werden.
»Da gibt es nichts zu überlegen, Andi. Inwendig muss man das fühlen, ob man einen Menschen so gern hat, dass man ein ganzes Leben lang mit ihm zusammen leben kann. Ich hab den Peter schon gern seit meiner Kindheit. Wir lassen auch niemals voneinander.«
Der Bursche lacht gereizt auf. »Spinnerei! Verrücktheit ist das! Glaubst denn du, dass dein Vater das jemals zugeben wird? Wart nur, was er sagt, wenn er es einmal erfährt!«
»Willst du vielleicht hingehen und es ihm sagen?«
»Ja, ja!«, schreit er. »Der Leitner muss erfahren, was da hinter seinem Rücken vorgeht. Eine Schand ist es für die ganze Gemeinde! Du, die Veronika von der Leiten – und der armselige Kramerbub! Da lachen ja die Hühner!« Er lacht, dass ihm die Schultern zucken.
Veronika betrachtet ihn von oben bis unten, schiebt die Unterlippe vor und sagt verächtlich:
»Mannsbild, saudummes!« Damit wendet sie sich ab und geht ins Haus.
Andi sieht ihr brennenden Auges nach. Seine Fäuste zittern. »Wart nur, du Weibsbild, du ungutes! Dir brock ich schon eine Suppe ein!«
Veronika hört noch, dass er etwas brummt, kann es aber nicht verstehen. Sie schlägt das Gartentürchen hinter sich zu, ohne den Kopf zu wenden, geht schnell an den Wirtschaftsgebäuden entlang und verschwindet im Haus.
Missmutig steigt der Würmseer Andi wieder über den Zaun und rattert mit seinem Ladewagen ins Dorf hinunter. Als er beim Wirt vorbeirollt, sieht er den Leitnerbauern im Garten sitzen. Der kommt ihm jetzt wie gelegen. Schnell stellt er den Traktor ab und steuert auf den Tisch zu, an dem der Leitner sitzt.
»Grüß dich, Leitner«, sagt er freundlich. »Warm macht’s heut, was?«
»Ich kann’s aushalten«, lächelt der Bauer und dreht die Daumen übereinander.
Andi seufzt. »Wer es halt so schön haben könnt wie du! Warst auf der Jagd?«
»Ein bissel, ja. Du – weißt mir keinen Holzarbeiter? Die Schonung am Lärchengraben braucht ein wenig Ausputzen. Beim Heigenlechner war ich schon, aber der hat jetzt keine Zeit, weil er in Ödenhub am Bau schafft.«
Andi blinzelt in die Sonne.
»Holzarbeiter?«, fragt er listig. Brockenweise könnte er es jetzt dem Bauern hinwerfen. Aber er will sich schön Zeit lassen. Umständlich hebt er das Glas und macht einen kräftigen Zug. »Holzarbeiter?«, fragt er wieder und zwinkt das linke Auge ein. »Jetzt im Sommer wird schlecht einer aufzutreiben sein. Aber Leitner, da fällt mir grad was ein. Brauchst ja bloß in deiner angehenden Verwandtschaft ein bissel umschauen.«
»Närrischer Bub«, lacht der Bauer. »In meiner Verwandtschaft sind keine Tagwerker, sind lauter Bauern. Der kleinste hat dreißig Küh im Stall.«
»Ja, ich weiß schon. Ist ein nobler Schlag, deine Rasse. Aber ich hab ja gesagt, in der angehenden Verwandtschaft. Das heißt also: Was nicht ist, kann noch werden.«
Der Leitner zieht die Brauen hoch. »Du redest ein bissel komisch daher, Andi.«
»Glaub’s schon, dass es dir komisch vorkommt. Aber so – ich mein – es ist ja kein unrechter Bursche, der Kramer Peter.«
»Wie kommst denn jetzt auf den Kramer Peter?«
»Na ja, ich hab halt gemeint. Tut mir Leid, Leitner. Wenn ich gewusst hätt, dass du von der Sach keine Ahnung hast, dann hätt ich lieber mein Maul gehalten.«
Der Bauer stellt das Glas, aus dem er gerade trinken will, unsanft auf den Tisch zurück und fragt interessiert: »Was für eine Sach?«
»Ja, ja, mit deiner Veronika halt und dem Kramer Peter!«
»Was ist es mit dene zwei?«
»Nein, Leitner, es tut mir Leid, aber mehr kann ich nicht sagen. Ich will nicht haben, dass es dann heißt: Der Würmseer Andi ist das Waschweib gewesen. Und dass du es weißt: Ich hab es dir nur gesagt, weil du mir Leid tust, da alles so hinter deinem Rücken geschieht. Jeden Sonntag treffen sie sich hinterm Stadel. Aber ich will nix gesagt haben, Leitner. Das möcht ich allweil wieder betonen. Nur dir zulieb hab ich’s getan, weil ich weiß, dass du ein Ehrenmann bist.«
Das ohnehin schon rote Gesicht des Leitners färbt sich noch eine Nuance dunkler. Wortlos greift er nach seinem Hut und dem Gewehr.
»Dank dir schön für die Botschaft, Andi.«
Damit verlässt er den Garten und geht so schnell den Hügel hinauf, dass man dies seinen zwei Zentnern gar nicht zugetraut hätte.
»Sodala«, sagt Andi befriedigt. »Jetzt hab ich den Stein schon ins Rollen gebracht. Und dankbar wird er mir noch sein, der Alte. Da kenn ich ihn. Geh her, Burgl, zahlen möcht ich.«
Er wirft ein paar Münzen auf den Tisch und verlässt den Garten. Gerade kann er noch sehen, wie der Leitner droben in seinen Hof einbiegt.
Der Leitnerbauer geht zuerst in die Stube linker Hand und hängt das Gewehr auf. Dann geht er in die Küche, wo die Bäuerin das Abendessen bereitet.
»Wo ist denn die andere?«, fragt er grob.
»Na, na, was hast denn heut? Was für eine andere?«
»Unser sauberes Töchterl halt! Himmisakra! Nette Sachen muss man da hören! Ja, Alte, wo hast denn du deine Augen, dass du so was nicht merkst? Für was bist denn du die Mutter?«
»So sag doch erst , was sie angestellt hat! Du tust ja grad, als wenn sie ein Verbrechen begangen hätt.«
»Da fehlt es schon nicht recht weit davon! Eine Liebschaft hat sie mit dem Kramerbengel.«
»Geh, Matthias! Benimm dich doch nicht gleich gar so grob! Was ist denn da dabei, wenn sie ihn ein bissel gern hat?«
Der Bauer fährt mit dem Gesicht herum.
»Du bist ja nicht …! Du leistest, wie mir scheint, der Sach sogar noch Vorschub! Jetzt wird’s Tag! Wo ist sie denn?«
»In der Stuben ist sie. Aber gelt, Vater, sei nicht gleich so grob mit dem Madl! So weit wird es nicht gleich fehlen.«
Der Bauer gibt keine Antwort mehr, sondern geht schnurstracks in die Stube, wo Veronika gerade fertig geworden ist mit dem Schmücken des Herrgottswinkels. Sie steht noch auf der Bank und dreht langsam das Gesicht, als der Bauer so stürmisch in die Stube kommt.
»Grüß Gott, Vater!«, sagt sie. Aber er gibt ihr keine Antwort, sondern geht zuerst ans Fenster, weil der Sepp gerade mit einem Fuder Heu in den Hof fährt. Dann wendet er sich mit einem Ruck um.
»Du, geh einmal runter da von der Bank. Mit dir hab ich was zu reden.«
Veronika zieht die Brauen hoch, wie es ihre Art ist, wenn ihr etwas Unerwartetes begegnet. Sie steigt herunter und stemmt die Arme in die Hüften.
»Was ist denn?«
»Da hört man ja ganz saubere Sachen von dir!«
»So? Was denn?«
»Frag nur nicht so dumm! Du weißt ganz gut, was ich mein.«
»Nein, ich kann mir’s nicht denken, Vater.«
»Dann muss ich es dir halt sagen. Mit so einem Bettelbuben hast du eine Liebschaft! Und gar nix erfährt man davon! Fremde Leut müssen es einem sagen.«
Veronika ist wohl im ersten Augenblick zusammengezuckt. Aber nun streckt sie sich. Ganz instinktiv fühlt sie, dass sie nun mit ganzem Herzen dafür einzustehen hat, was ihr Lebensinhalt ist.
»Meinst du den Peter?«, fragt sie.
»Gelt, du weißt, was ich mein! Kruzitürken! So eine Schand! Hast du denn gar keinen Stolz mehr? Hast du denn vergessen, dass du vom Bauern an der Leiten bist? Und mit einem gibst du dich ab, der von allen im Dorf das wenigste hat! Das sag ich dir aber, da wird Schluss gemacht, sonst kannst was erleben!«
»Ich schau nicht drauf, was der Mensch hat, sondern wie er ist.« Ganz ruhig und klar sagt es Veronika.
»Red nur du recht dumm daher! Du kommst mir jagrad recht. Über dich hab allweil ich noch zu bestimmen, verstehst! Ich glaub, dir hab ich allweil zu viel hingehen lassen. Aber noch bist mir nicht über den Kopf gewachsen.«
Veronika senkt einen Augenblick den Kopf. Gleich darauf wirft sie ihn aber mit einem Ruck zurück. Ihre Augen sprühen.
»Ich kann die paar Monate warten, bis ich mündig bin. Und zwingen lass ich mich zu gar nix.«
»Ich glaub, du wärst so verrückt! Geh nur zu, wenn du meinst. Kriegen tust aber keinen Pfennig.«
»Mein Muttergut muss ich ja kriegen.«
»Ah, darauf spekulierst du? Da ist ja schon alles bis ins Kleinste beredet, wie mir scheint. Da ist es höchste Zeit, dass wir einen Riegel vorschieben. Morgen kommt der Reitenberger Wast von Griesberg. Und untersteh dich und sei unfreundlich zu dem! Da kannst mich aber von einer anderen Seite kennen lernen.«
Der Leitner Sepp, durch die lauten Stimmen aufmerksam geworden, kommt in die Stube.
»Was schreist denn so, Vater?«, fragt er.
Der Bauer verschränkt die Hände hinter dem Rücken und geht die Stube auf und ab, so heftig, dass der Boden dröhnt. Dann bleibt er plötzlich vor dem Sohn stehen.
»Hast denn gar keine Augen im Kopf gehabt, dass du da nie was gemerkt hast? Oder steckst du mit der da unter einer Decke und hilfst ihr noch zu ihrer Liederlichkeit?«
Der Sepp ist ein gutmütiger Bursch und nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.
»Ich weiß ja gar nicht, um was es sich handelt«, sagt er achselzuckend.
»Natürlich, du merkst ja auch immer erst was, wenn es schon die Spatzen von den Dächern pfeifen. Dir hab ich das Madl anvertraut, wenn ihr in eine Disco oder sonst wo hingegangen seid. Du hättest drauf schauen sollen, dass sie mit dem Kramer Peter nicht so viel allein ist. Aber wenn du einmal den Bierkrug vor dir stehen hast, dann ist dir alles andere gleich.«
Sepp regt sich über den Vorwurf nicht im Geringsten auf. Er zuckt die Schultern und meint:
»Ich kann doch dem Madl nicht allweil auf der Kittelfalten sitzen. Und die Veronika wär grad die Richtige, dass sie sich was einreden lässt. Überhaupt – ein Weiberleut, wenn es einmal in dene Jahr ist, da kannst aufpassen, wie du magst. Da bist hundertmal der Ausgeschmierte. Und mit dem Kramer Peter ist unsere Veronika schon allweil gut Freund gewesen. Da hätt ich mir wirklich nix dabei denkt, und es wird mir auch in Zukunft nicht einfallen, dass ich ihr da Vorschriften mach.«
»In Zukunft! In Zukunft!« Der Bauer schnappt förmlich nach Luft. »Ja, bildest du dir denn ein, dass es in Zukunft so bleiben wird? Da wirst schaun, was sich bei uns in der nächsten Zeit alles ändert! Und das sag ich dir, Veronika …« Er dreht sich um. Aber Veronika hat längst die Stube durch die hintere Tür verlassen.