Pferdeferien oder die Reise nach Kopenhagen - Örjan Persson - E-Book

Pferdeferien oder die Reise nach Kopenhagen E-Book

Örjan Persson

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Beschreibung

Die 16-jährige Eva denkt gar nicht daran, ihren Ferien zusammen mit ihren Eltern und ihren Geschwistern auf dem Gut Verwandten zu verbringen. Doch die Ferien entwickeln sich schnell anders als von Eva gedacht. Auf dem Nachbarhof des Gutes darf Eva sich um den schönen Vollblüter Amadeus kümmern. Und so werden aus den langweiligen Sommerferien schnell spannende Pferdeferien voller Abenteuer, die Eva erlebt. Denn die 16-Jährige trifft schon bald auf einen attraktiven jungen Mann und erlebt mit ihm eine aufregende Reise nach Kopenhagen. – Ein tolles Buch über das Erwachsenwerden. Rezensionszitat "Persson hat ein gutes Händchen für Erzählungen und vermischt traditionelle Elemente wie Pferderomantik, Liebe und Spukgeschichten, mit modernen Elementen wir Schmuggel und Erotik." – Per-Olof Mattsson/Svenska Dagbladet "Örjan Persson ist ein toller Schrifsteller, der für seine Inhalte und Kompositionen bekannt ist." – Östersunds-Posten Biografische Anmerkung Örjan Persson ist ein schwedischer Schriftsteller und Autor, der sich vor allem auf Kinder- und Jugendbücher spezialisiert hat. Im Mittelpunkt dieser spannenden Geschichten steht immer wieder der Sprung vom Teenager- ins Erwachsenenleben sowie die Zeit dazwischen.

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Örjan Persson

Pferdeferien oder Die Reise nach Kopenhagen

Deutsch von Lothar Schneider

Saga

1

Es war der Morgen meines sechzehnten Geburtstags, und Petrus, mein Zwillingsbruder, der natürlich ebenfalls sechzehn wurde, war als erster mit einem Paket und diesem Gedicht zu mir hereingekommen.

Ich muß wohl erklären, was er mit dem Gedicht meinte, dann versteht man vielleicht besser, warum ich es gemein fand.

Wenn Dein Herz mal wieder bricht,

wie bei Christer, diesem Wicht,

nimm nicht Uhu, um zu kleben,

vergiß ihn, und weiter geht das Leben.

Denk daran, du hast ja Mister,

Alles Gute, liebe Sister!

„Das ist eine Gemeinheit“, schimpfte ich, als ich das Gedicht gelesen hatte. „Und du bist so unverschämt und kommst mit einem Geschenk daher! Ich glaube nicht, daß ich es aufmache. Wie ich dich kenne, springt mir sowieso nur irgendein scheußlicher Horrorteufel aus Plastik ins Gesicht.“

„Aber Eva, ich wollte doch gar nicht gemein sein!“ Petrus sah beleidigt aus, und einen Augenblick lang glaubte ich ihm fast. „Das ist das beste Gedicht, das ich je geschrieben habe. Übrigens auch mein erstes. Mach jetzt das Geschenk auf, ich verspreche dir, daß nichts Schlimmes drin ist!“

„Aber dieser komische Reim!“ sagte ich. „Mit Sister! Und warum mußtest du mich an Christer erinnern? Du weißt doch, wie mich das fertiggemacht hat!“

Was er über Mister schrieb, ist ganz in Ordnung, denn Mister ist mein Pferd, und daß ich, wenn das Leben besonders hart ist, bei ihm Trost finde, stimmt. Denn Mister freut sich fast immer, wenn ich komme. Natürlich freut er sich noch mehr, wenn ich ein Stück Brot oder einen Apfel mitbringe.

Manchmal ist ja das Leben gar nicht toll. Alle sind griesgrämig und sauer, und man wird angemacht, weil man sein Zimmer nicht aufgeräumt hat, dabei hatte man einfach keine Lust dazu. Oder man hat sich bei einer Mathearbeit blamiert, weil man an andere Dinge dachte und deshalb jede Menge Leichtsinnsfehler machte, obwohl man eigentlich alles gekonnt hätte. Oder vielleicht war man neidisch und wütend über Mia, die um ein Jahr ältere Schwester, die so gut aussieht und Kurven hat, während man selber pickelig und häßlich ist und flach wie ein Bügelbrett. Mia braucht den Typ, den sie haben will, nur ein bißchen verführerisch anzulachen, und schon rennt er hinter ihr her, so lange sie will. Das sind einige kleine Beispiele, um zu zeigen, warum man sich manchmal am liebsten ertränken würde oder wenigstens irgendwo verkriechen.

Aber zum Glück habe ich Mister und brauche mich nicht zu ertränken. Wenn er draußen auf der Weide ist, hört er auf mein Pfeifen und kommt zu mir. Wir haben eine große Weide mit einem ziemlich großen Gehölz darin, und wenn ich mich auf einen kleinen Hügel stelle, zehn Meter hinter dem Gatter, und pfeife, hört mich Mister, egal, wo er gerade ist, und bricht aus dem Wäldchen hervor.

Drei Meter vor mir bremst er und hofft, daß ich etwas zum Naschen für ihn dabeihabe. Greife ich dann mit der Hand in die Tasche, stupst er gegen mein Handgelenk, damit ich das Stück Brot, oder was ich sonst habe, heraushole. Bringe ich aber nur das Halfter mit, kann es sein, daß er mich verwundert anschaut, kehrtmacht und davongaloppiert.

Er nimmt dann nicht die Brücke über den Graben, nein, er überwindet den breiten Graben in einem eleganten Sprung, daß die schwarze Mähne nur so flattert. Er sieht dann aus wie der Schwarze Hengst, die Muskeln spielen unter dem glänzenden, schwarzen Fell, stolz streckt er den Kopf nach vorn.

Manchmal scheint Mister zu glauben, er sei noch ein Junghengst, dabei ist er ein fünfzehn Jahre alter Wallach. Und wenn wir in die Nähe einer rossigen Stute kommen, benimmt er sich manchmal total albern. Er wiehert und schnaubt und bäumt sich sogar auf.

Als er das zum ersten Mal machte, war ich völlig unvorbereitet. Ich war zehn Jahre alt, und wir hatten Mister eben gekauft. Ich ritt ganz langsam im Schritt auf einer Dorfstraße, als er plötzlich eine rossige Stute erspähte und sich auf die Hinterbeine stellte.

Ich fiel herunter. Zum Glück sah mich niemand, es muß sehr komisch ausgesehen haben. Ich verlor die Zügel, die Sicherheitssteigbügel öffneten sich, ich rutschte rückwärts hinunter und landete hinter den Hufen von Mister. Das hat verdammt weh getan. Und ich wurde wütend! Ich sprang auf und zog ihm die Gerte über die Hinterbacke. Das war dumm und ungerecht von mir. Mister kümmerte sich zwar nicht mehr um die Stute, aber er war mit einem Satz fort, rannte nach Hause. Und ich mußte zwei Kilometer stiefeln, mit schmerzendem Steißbein und ganz verschwitzt.

Zu Hause habe ich niemandem erzählt, daß ich ihn geschlagen habe. Aber ich habe es nie wieder getan. Später habe ich mich bei ihm entschuldigt, und ich hoffe, er hat mich verstanden.

Mister ist eine Kreuzung aus einem Vollblüter und einem New Forest. Eigentlich ist er ein Pony, aber ich bezeichne ihn trotzdem als Pferd. Wäre er einen Zentimeter größer, müßte man ihn als Pferd einstufen. Er ist gut im Springen, wir beide haben mehrere Wettkämpfe gewonnen, unter anderem zwei Clubmeisterschaften. In der Dressur ist er nicht ganz so gut, aber das ist mit Sicherheit auf mich zurückzuführen. Ich bin eben nicht so gut, er ist ein großartiges Pferd.

Wo war ich stehengeblieben? Wenn ich von Mister erzähle, vergesse ich mich gewöhnlich und höre nicht mehr auf zu reden. Dabei wollte ich ja das Gedicht, das Petrus mir gemacht hatte, erklären.

Wenn man mit sich und der Welt zerfallen ist, gibt es nur eins, was man tun kann, falls man sich nicht ertränken will: zu seinem Pferd zu gehen. Und wenn Mister nicht auf der Weide ist, sondern im Stall, gehe ich in die Box und lege meinen Kopf an seinen Hals und erzähle ihm, was passiert ist und wie ich mich fühle. Und Mister versteht mich genau. Er lacht nicht, darauf kann ich mich verlassen. Er steht ruhig da und dreht nach einer Weile den Kopf, um mich mit dem Maul aufmunternd anzustupsen und mich verständnisvoll anzusehen. Dann weiß ich, daß er mit mir fühlt und mich trösten will.

Dann bekommt er ein Zuckerstück oder etwas Hafer, und wir denken beide über die Widrigkeiten und Ungerechtigkeiten der Welt nach. Ich setze mich dann in die hintere Ecke der Box und grüble.

Und Mister kommt ab und zu mit seinem schönen, klugen Kopf zu mir herunter, um nachzusehen, wie es mir geht. Nach einer Weile taucht meistens jemand auf und schreit, daß Essenszeit ist und: „Du solltest doch wissen, daß wir um diese Zeit essen!“

Dann protestiere ich mit der schwachen Ausrede, keine Uhr bei mir zu haben, und verspreche, gleich zu kommen. Und ich streichle Mister, der ein Bein hochgezogen hat und aussieht, als würde er schlafen. Dann renne ich los zu den anderen, die schon beim Essen sitzen. Weil Stallkleidung in der Küche verboten ist, muß ich mich noch umziehen und waschen, und bis ich dann fertig bin, haben die anderen gegessen und sind wieder aufgestanden. Dann sitze ich allein bei Tisch, das Essen ist lauwarm, und allein muß ich abdecken und die Teller in die Spülmaschine stellen. Etwa zu diesem Zeitpunkt ist der Funken guter Stimmung, die ich hatte, als ich aus dem Stall kam, wieder erloschen, und ich ziehe mich in mein Zimmer zurück und bin nicht mehr zu sprechen.

Ist außerdem am nächsten Tag eine Kurzarbeit über die Geschichte Rußlands zu erwarten, kann man leicht schwermütig werden. Wirklich. Aber ich kann ja das Buch mitnehmen zu Mister, kann mich in eine Ecke der Box verkrümeln und ihm alles über russische Geschichte vorlesen.

Mister hört mir aufmerksam zu und nickt verständig. Hin und wieder grunzt er. Und manchmal, wenn ich mit meinen Hausaufgaben bei ihm saß, sind wir beide eingeschlafen. Meistens kommt dann jemand daher und schreit: „Eva! Was machst du denn hier? Es ist schon lange Schlafenszeit!“ Oder etwas Ähnliches.

Also trottet man in sein Zimmer und schläft dort weiter, und am nächsten Tag hat man keine Ahnung mehr, wann die russische Revolution war, und die Arbeit wird ein lausiger Fünfer.

Ich frage mich oft, wozu wir wissen müssen, wann die russische Revolution war, oder all das andere Zeug, das man für eine Arbeit paukt, um es einen Tag später wieder zu vergessen. Es gibt doch wichtigere Dinge. Zum Beispiel, wie man die Futtermenge für einen fünfzehnjährigen Wallach berechnet. Oder wie man Mauke behandelt. Oder wie man einen Sattel pflegt. Das sind schließlich ganz wichtige Dinge in diesem Leben.

Aber das war sicher wieder eine Abschweifung von Petrus’ Gedicht. Es ist verrückt, wie leicht man abschweift, wenn man über Pferde redet.

Wenn Dein Herz mal wieder bricht, wie bei Christer, diesem Wicht.

Diese zwei Zeilen hätte er lieber nicht schreiben sollen. Obwohl sie zutrafen, das kann ich nicht abstreiten. Es tut immer noch weh in der Herzgegend, wenn ich an Christer denke. Und es ist auch noch gar nicht so furchtbar lange her, daß wir auseinandergegangen sind. Unsere Trennung war eher brutal, und ich hoffe, daß ich nie mehr in meinem Leben so etwas durchmachen muß.

2

Es war in den Sommerferien.

Mia wollte mit einer Freundin zu einem Sprachkurs nach Frankreich fahren. Petrus wollte für zwei Wochen nach Finnland, um ein Mädchen zu treffen, das er im vorigen Sommer im Schärengarten von Stockholm kennengelernt hatte. Sie heißt Anja, und sie ist hörgeschädigt. Aber Petrus hat sich über beide Ohren in sie verliebt, und den ganzen Winter über hat er einen Kurs besucht, um die Zeichensprache zu lernen, damit er sich beim nächsten Mal mit Anja unterhalten kann. Und offenbar hat er einiges gelernt, denn als er aus Finnland zurückkam, sprach er nur von Anja und erzählte mir, was sie dachte und meinte.

Papa und Cilla wollten gemeinsam mit den Kindern von Cilla, Kerstin und Oskar, nach Schonen fahren. Kerstin ist elf und Oskar acht.

Und ich? Ich hatte die Wahl, allein mit meinem Pferd Mister daheim zu bleiben oder mit nach Schonen zu fahren.

Meine Mutter, also die Frau, mit der Papa in erster Ehe verheiratet war, mußte den ganzen Sommer arbeiten, mit ihr konnte ich also auch nichts unternehmen. Sonst sind Mia, Petrus und ich immer einen Teil der Ferien bei ihr. Vor allem Petrus, denn ich habe ja meinen Mister, und Mia hat auch ein Pferd gehabt, das vor ihrer Reise nach Frankreich verkauft wurde. Sie hatte keine Zeit mehr für das Pferd, sagte sie, aber es war nicht schwer zu erraten, welches Interesse die Oberhand gewonnen und wofür Mia jetzt mehr Zeit hatte: für Jungen.

Nach langen Überlegungen beschloß ich, mit nach Schonen zu fahren. Ich wollte nicht allein zu Hause sitzen und zwei endlose Wochen vor mich hinstarren. Und ich merkte, daß sich Papa und Cilla sehr über meinen Entschluß freuten. Die zwei Kleinen übrigens auch.

Ich dagegen freute mich gar nicht, entsprechend verdrossen war ich bei der Hinreise. Ich lag auf dem hintersten Sitz im VW-Bus und las ununterbrochen, redete kein Wort. Sogar wenn Oskar rief: „Schau Eva, Pferde!“ stützte ich mich nur unwillig auf und starrte zu den Pferden hinüber, an denen wir vorbeifuhren. Je weiter wir nach Süden kamen, um so mehr Pferde sahen wir, und schließlich fauchte ich Oskar an, er solle den Mund halten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich Mister allein gelassen hatte. Dabei wußte ich, daß er bestens versorgt war. Und ich war ja nur zwei Wochen fort.

Der arme Oskar wurde ganz still, mein Verhalten war ziemlich gemein. Ich wußte ja, daß er mich nur ein bißchen aufheitern wollte.

Papa hat einen entfernten Verwandten in Schonen, Graf Olsson. Dieser Graf Olsson besitzt ein Schloß, ein richtiges Schloß mit vielen Zimmern und einem hohen Turm.

Keiner von uns war jemals dort gewesen, und nicht einmal Papa wußte besonders viel von Graf Olsson. Bis unser Vater eines Tages einen Brief erhielt, in dem Graf Olsson uns einlud, in den Sommerferien auf sein Gut zu kommen.

Papa und Cilla waren anfangs unsicher, ob sie zusagen sollten, aber weil sie nichts anderes vorhatten, fuhren wir hin. Es würden billige Ferien werden, und ich nehme an, daß das den Ausschlag gab. Papas Truthahnfarm war einige Jahre sehr schlecht gegangen, und schließlich hatte er den Betrieb verkaufen müssen. Nicht den Hof natürlich, aber die Truthähne und das, was man zur Aufzucht dieser Tiere benötigt. Er versuchte es dann mit Schafen, fing mit zwanzig jungen Mutterschafen an, die im Frühjahr achtundzwanzig Lämmer bekamen. Aber große Einkünfte waren vorerst nicht zu erwarten, und wir lebten von Cillas Gehalt und einigen Nebenjobs, die Papa hatte.

„Hat er keinen Vornamen, dieser Graf?“ fragte ich, als wir daheim am Küchentisch saßen und über den kommenden Sommer redeten.

„Doch“, sagte Papa, „muß er ja wohl. Aber ich habe ihn nie gehört.“

„Er heißt natürlich mit Vornamen Graf“, sagte Kerstin, die alles weiß.

„Er wird nicht Graf heißen“, sagte ich. „Er ist Graf, kapierst du das nicht? Und er hat irgendeinen Vornamen, ist doch klar!“

„Olsson!“ sagte Kerstin. „Wer Olsson heißt, ist kein Graf!“

„Ja, Kerstin, ich glaube, daß er weder Graf ist noch so heißt“, sagte Papa lachend. „Er nennt sich vermutlich nur so. Wenn ich mich nicht irre, ist er zwar aus adliger Familie, aber seine Großmutter oder sein Großvater ..., einer von beiden verlor jedenfalls aus irgendeinem Grund den Titel. Besonders schlau scheint er nicht zu sein, dieser Olsson. Irgendwann in den vierziger Jahren kam er, ich weiß nicht wie, in den Besitz des alten Familiengutes. Er bewirtschaftet das Land nicht selbst, er hat alles verpachtet. Und das Schloß selbst ist, soviel ich weiß, ziemlich verfallen.“

„Das wird ja unheimlich spannend“, rief Oskar. „Ein Spukschloß! Weißt du, ob es dort auch Gespenster gibt? Die mit Ketten rasseln und stöhnen und röcheln? Und eine weiße Frau, die um Mitternacht erscheint?“

„Sicher“, sagte Papa. „Das nehme ich an. Das ist ja in allen alten Schlössern so.“

„Könnten wir nicht lieber nach Gotland fahren?“ fragte Kerstin. „Wo es richtig schön ist?“

„Entfällt“, sagte Papa. „Ich liebe Gotland zwar, aber jetzt haben wir die Gelegenheit, in einem Spukschloß zu wohnen! Und das dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“

Oskar nickte eifrig, aber Kerstin konnte sich nicht recht begeistern.

„Das mit den Gespenstern wird schon nicht so schlimm werden, Kerstin“, sagte Cilla. „Die verschwinden vermutlich fluchtartig, wenn wir da einziehen.“

„Jedenfalls heißt er Graf“, sagte Kerstin. „Und ich weiß nicht, was daran komisch ist.“

Petrus wollte also zu seiner geliebten Anja, aber von dort aus wollte er auch nach Schonen kommen und die letzten Ferientage mit uns verbringen.

Gegen Abend kamen wir nach Schonen. Es war schon ziemlich spät und bereits dunkel. Es war nicht einfach, Sellerup, so hieß das Gut, zu finden, aber schließlich fuhren wir durch eine lange Allee und kamen auf einen großen Hofplatz, der von großen, dunklen Gebäuden begrenzt war.

Direkt vor uns lag das Schloß, und in der Dunkelheit sah es richtig gespenstisch aus. Im Erdgeschoß waren einige Fenster beleuchtet, und Papa ging an zwei grinsenden Steinlöwen vorbei zu dem Eichenportal und klopfte mit dem Türklopfer. Über den Löwen brannten zwei trübe Lampen, und in dem spärlichen Lichtschein war nicht viel Phantasie nötig, damit die Raubtiere sich bewegten und sich das Maul leckten.

Ich stieg aus dem Bus und streckte Arme und Beine. Nachdem das Echo des Türklopfers verklungen war, hörte man keinen Laut mehr. Unsere Ankunft schien niemand bemerkt zu haben.

„Wir fahren nach Gotland“, sagte Kerstin im Bus.

„Seltsam“, sagte Papa. „Warum macht niemand auf? Haben sie uns nicht gehört? Sie wissen doch, daß wir kommen!“

Er packte noch einmal den Türklopfer und knallte mehrere Male gegen die Tür.

Nach einer Weile erschien in einem der Fenster ein Gesicht, und kurz darauf erschien ein alter Herr in Anzug und Krawatte und öffnete.

„Na so was. Da seid ihr ja!“ sagte er. „Denn ihr seid es doch?“

„Ja, wir sind es“, erwiderte Papa gereizt. „Wir stehen hier schon einige Zeit und klopfen.“

„Klopfen?“ fragte der Alte erstaunt. „Warum benützt ihr nicht die elektrische Klingel?“ Er deutete auf einen gut sichtbaren Knopf neben der Tür. „Gibt es so moderne Einrichtungen bei euch noch nicht? Wißt ihr“, fuhr er freundlich fort, „den Türklopfer hören wir drinnen nicht. Aber jetzt seid erst mal alle zusammen willkommen. Du bist Eva, stimmt’s?“

Er sprach den breiten Dialekt dieser Gegend, aber man konnte verstehen, was er sagte. Er war groß und sah vornehm aus, kerzengerade stand er da und strich sich ständig eine graue Locke, die ihm über das linke Auge fiel, zurück. Als ich ihn so ansah, dachte ich, daß er vor vielen Jahren sicher ein fescher Mann war.

Seine Frau, die uns in der Halle begrüßte, sah auch sehr gut aus. In einem seidenen Kleid und mit Diamanten an den Handgelenken und um den Hals schien sie sich gerade für ein größeres Fest zurechtgemacht zu haben.

Ich fühlte mich wie ein Trampel, als ich in meinen alten Jeans und dem verschwitzten T-Shirt in die Halle stolperte. Was sie wohl von uns hielten?

Von der Halle mit den Portraits der Ahnen und einigen Jagdtrophäen kamen wir in einen Salon, in dem der Teetisch gedeckt war, mit Tellern und Tassen und einem großen Tablett mit köstlichen, belegten Broten!

Gräfin Olsson bediente uns.

„Heutzutage ist es schwierig mit Personal. Man muß alles selber tun“, sagte sie und schenkte uns ein.

Wir nahmen uns von den Schnitten. Ich begann mit einem Käsebrot. Der Belag sah zwar nicht ganz frisch aus, aber ich war hungrig und biß kräftig hinein. Aber es war vergeblich, ich kam nicht durch. Das Ganze war steinhart! Offensichtlich waren alle Schnitten so, denn ich sah, daß sich auch die anderen ungläubig anstarrten. Das zweite Brot, das vor mir lag, war mit Leberpastete bestrichen, und ich sah, daß sie an einer Seite schimmelig war.

„So ein hartes Brot!“ sagte Oskar, der rechts neben mir saß.

„Still, du Idiot!“ fauchte ich und trat ihm auf den Fuß.

„Oh, sind sie hart geworden?“ klagte die Gräfin. „Das ist mir sehr unangenehm. Ich habe sie rechtzeitig vorbereitet, damit bestimmt alles fertig ist, wenn ihr kommt.“

„Wann denn?“ fragte der freche kleine Oskar.

„Gestern morgen, wenn ich mich nicht irre“, antwortete die unglückliche Gastgeberin.

„Hm, ich glaube sogar, es war vorgestern“, berichtigte ihr Mann und strich sich die Locke aus der Stirn. „Ich habe doch gesagt, das ist ein bißchen früh.“

„Vielleicht kann man das Brot eintunken“, schlug die Gräfin vor und zupfte nervös an ihrem Seidenkleid.

Ich würgte die Käseschnitte herunter, aufgeweicht in lauwarmem, dünnem Tee, das Stück mit der Pastete ließ ich liegen.

„Ich glaube, die Kinder sind müde“, sagte Cilla. „Wo können wir schlafen?“

„Im Ostflügel“, antwortete der Graf. „Wir haben ein paar Betten aufgestellt, sonst gibt es da nicht sehr viel Mobiliar. Der Trakt hat viele Jahre leergestanden. Ihr könnt dort einziehen und euch einrichten, wie ihr wollt. Ich bringe euch hin.“

Wir gingen hinaus, vorbei an den blutrünstigen Löwen, überquerten den knirschenden Kiesplatz und betraten den Ostflügel. Der Graf öffnete eine quietschende, schwere Tür, und wir standen in einem stockdunklen Gang.

„Mit Licht sieht es hier schlecht aus“, sagte der alte Herr. „In die Schlafzimmer habe ich aber Lampen gestellt. Und wenn ihr nachts auf die Toilette geht, müßt ihr die Taschenlampe mitnehmen.“

„Wo ist die Toilette?“ fragte Cilla.

„Im oberen Stock. Da ist auch eine Dusche. Man geht die Treppe neben der Küche, die am Ende des Flügels ist, hinauf, dann am Billardtisch und an drei hintereinanderliegenden Zimmern vorbei. Auf der Toilette gibt es ein Licht. Nur der Weg dorthin ist dunkel. Die elektrischen Leitungen sind nicht mehr in Ordnung.“

„Wunderbar“, sagte Cilla, „daß auf der Toilette Licht ist!“