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Die erfolgreiche Modedesignerin Lotti Meier hat alles: einen gutdotierten Job, eine schöne Wohnung, ein Ferienhaus in den Schweizer Bergen. Aber richtig glücklich macht sie das schon seit Längerem nicht mehr. Sie ist vierzig Jahre alt, fühlt sich lustlos und müde, als sie spontan eine Hundeschlittentour in Lappland bucht. Dort verliert sie in der klirrend kalten Landschaft zwischen faszinierenden Polarlichtern, endlos weiten Wäldern und Seen ihr Herz – erst an die bewundernswert treuen und starken Huskys und später an einen Mann. Für ihren Traum, in der Stille und Abgeschiedenheit des hohen Nordens zu leben, gibt sie alles auf. Doch der Neustart nördlich des Polarkreises, weit weg von allem, was sie bisher kannte, verläuft ganz anders als erwartet. Nach einem herben Rückschlag muss sie für ihre Huskys kämpfen und gemeinsam mit den anhänglichen Vierbeinern baut sie sich doch noch das Leben auf, das sie sich schon so lange erträumt hat.
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Seitenzahl: 256
Alltag adieu
und spontan Richtung Nordlicht
Zwischen Jetset und Alpenidylle
und plötzlich gibt’s Huskys und noch viel mehr
Die richtig großen Träume
und endlich »eckige Runden«
Sonnenlicht um Mitternacht
und Glück ist ganz leicht
Heute so und morgen ganz anders
und noch mal von vorn
Von Vierbeinern und Zweibeinern
und immer positiv bleiben
Im Schlittentempo in die Achterbahn
aber ohne die Balance zu verlieren
Ein unerwartetes »Traumpaar«
und warum ich plötzlich Schlittensäcke nähe
Der Ruf der Tundratrommeln
und mein Kampf um die Hunde
Leben und Abschied
und immer Überraschungen
Mein Glück auf vier Pfoten
und was Lies damit zu tun hat
Ab und zu schmecken Schweizer Rösti besonders gut
Ein Husky ist das einzige Lebewesen auf der Welt,das dich mehr liebt als sich selbst …
Für meine treuen Tiere und die Menschen, die immer an mich geglaubt haben.
Stille! Danach sehne ich mich.
Ich habe nur einen Wunsch: nichts zu hören! Kein Telefon, kein »Lotti, hast du kurz Zeit?«, keine auf dem Parkett klappernden Absätze und auch keine ratternden Nähmaschinen.
»Ping!«
Gerade trudelt wieder ein Fax von einem Kunden herein und gesellt sich auf den Stapel zu den ganzen anderen. Was das heißt, ist klar: Überstunden. Wir haben gerade Hochsaison, und ich tanze auf vielen Hochzeiten, wie man so schön sagt. Das Marketing für die aktuelle Kollektion läuft gerade auf Hochtouren, zeitgleich beginnt die Produktion der nächsten Wäschekollektion – und wir präsentieren dem schon gespannten Fachpublikum bereits die übernächste. Gestern war ich deshalb in Florenz, nächste Woche geht’s nach New York.
Ich bin in der Leitung eines international führenden Schweizer Wäscheherstellers tätig und zuständig für den Bereich Herrenunterwäsche. Mein Büro im Großraum Basel hat alles, was man sich wünschen kann: Es ist luftig, schick und sehr repräsentativ, ganz in weißem Lack eingerichtet. Hier verbringe ich den Großteil meines Lebens.
In meiner Position gibt es zwar Kernarbeitszeiten, aber Überstunden sind die Regel. Ich gehe erst, wenn ich restlos müde bin, und selten ist das vor 19 Uhr der Fall. Dann fahre ich hinaus zu einem kleinen Bauerndorf im Baseler Umland. Hier wohne ich in einer luxuriösen Neubauwohnung mit großer Terrasse und Blick in den Wald.
Oft fahre ich später noch mal in die Stadt, gehe mit Freunden essen und bummele anschließend durch die Bars. Ich bin sehr gesellig und genieße es, in fröhlicher Runde abzuschalten.
Das heißt: Ich habe es sehr genossen. In den letzten Monaten ist mir der ganze Trubel zu viel geworden, und ich bleibe deshalb immer häufiger abends zu Hause auf meinem Sofa, allein. Meistens lese ich noch in Fachzeitschriften, bis mir die Augen zufallen, was in der Regel ganz schnell geht. Eine Freundin zieht mich schon immer auf. »Du bist knapp vierzig. Das Alter merkt man, meine Liebe!« Ich erinnere sie dann gern daran, dass wir gleichaltrig seien und sie schon viel länger ihre Abende auf dem Sofa verbringe. Touché … Für mich hat das allerdings mehr mit Stress zu tun.
Ich sehe auf meine schwarze Armbanduhr, ein witziges Designerstück, mit dem ich mich in London für drei durchgearbeitete Nächte belohnt habe, und schrecke auf. Nur noch ein paar Minuten bis zu meinem nächsten Termin! Wir starten bald eine neue Anzeigenkampagne, und der Leiter des Kreativbüros braucht mich. Vermutlich sitzt er schon im Konferenzzimmer und wartet.
Ich schließe kurz die Augen, atme tief und bewusst ein und aus. Das gibt mir Kraft. Gedankenverloren sehe ich dann nach draußen in den kleinen Stadtpark, der direkt an unser Bürogebäude grenzt.
Die Herbstsonne scheint heute golden. Eine junge Frau geht mit einer wunderschön gezeichneten Dogge ganz entspannt durch das bunte Herbstlaub. Ein schönes Bild!
Ich liebe Hunde und hätte wirklich zu gern einen eigenen. Am liebsten einen aus dem Tierheim. Eine arme Kreatur, die niemand will, und der ich mich widmen kann.
Aber in meinem Job ist das Unsinn. Ich kann einem Hund kein sicheres und geborgenes Zuhause bieten. Im Moment zumindest nicht.
Zum Glück habe ich wenigstens zwei Katzen, die zu Hause auf mich warten. Zora und Charly, zwei gestreifte Durchschnittstiger, mit denen ich am Abend immer ausgiebig kuschle.
Doch irgendwann einmal, wenn der Job nicht mehr die erste Geige in meinem Alltag spielt, kommt mir sofort ein Hund ins Haus …
Die Frau draußen wirft jetzt einen Ball, und die Dogge, der kräftigen Statur nach scheint es ein Rüde zu sein, sprintet übermütig los und schnappt sich den Ball hoch in der Luft.
Das schafft Benny nie, schmunzle ich. Benny ist ein Schäferhund-Mix und ein »Sharing Dog«, wie mein Bekannter Ralf immer sagt.
Ralf ist ein Kollege aus der Personalabteilung. Er spielt in seiner Freizeit viel Fußball und hat dann keine Zeit für Benny. Da freut er sich immer, dass ich ihn zu mir hole und mit ihm durch die Natur laufe. Im Sommer haben wir mit unseren zusammen sechs Beinen sämtliche Parkanlagen der Umgebung erobert.
Vielleicht kann ich dieses Wochenende ja auch ausgiebig mit Benny wandern. Das würde mir guttun.
Als ich den Terminkalender öffne, werde ich sogleich auf den Boden der alles andere als freizeitfreundlichen Tatsachen zurückgeholt. Wanderung ade! Ein Kunde kommt aus England, und ich muss noch Papiere vorbereiten. Ich werde mich wohl gleich am besten hier im Büro einnisten und einfach durchmachen.
Der Hund draußen hüpft vergnügt um sein Frauchen herum. Sie hält wieder den Stock hoch, und er versucht nun, danach zu schnappen. Der Wind pustet die Blätter über den Weg, und ich kann die frische, feuchte Luft, den Geruch von Erde und Moos, von Astern und Pilzen, von Vergänglichkeit und Ende förmlich riechen.
»Lotti, dein Besuch ist da und wartet im Besprechungsraum. Möchtest du einen Kaffee?«
Beatrice, unser Mädchen für alles, steht in der Tür. Ich nicke. »Gern, schön stark, ohne Milch. Ich bin in zwei Minuten drüben.«
Beim Hinausgehen werfe ich noch schnell einen kritischen Blick in den Spiegel und bin zufrieden. Mein langes blondes Haar ist im Nacken locker zum Zopf gebunden, das Make-up dezent, mein orangefarbener Lippenstift perfekt gezeichnet. Ich bin zufrieden. Ach ja, mein lilafarbener Hosenanzug sitzt wie maßgeschneidert, was er übrigens auch ist. Ich lege Wert auf sehr gute Schnitte. Heute trage ich dazu rote Pumps. Gewagt, stimmt, aber ich mag »gewagt«.
Jürg, der Kreativdirektor, erwartet mich mit einer dicken Mappe und ist bestens vorbereitet. Ich habe Glück. Unser Meeting ist schnell erfolgreich, und ich kann an diesem Abend endlich mal wieder pünktlich Schluss machen. Das passt gut, denn ich habe noch etwas vor.
»Wohin soll die Reise gehen?« Die Mitarbeiterin des Reisebüros sieht mich strahlend an. Ich strahle zurück und zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sage ich wahrheitsgemäß.
Es ist kurz vor sechs. Das Büro hat nicht mehr lange geöffnet, aber ich möchte jetzt sofort Nägel mit Köpfen machen. Ich brauche eine Auszeit, das ist mir heute im Büro klar geworden. Doch wie und wo ich die verbringen will, das weiß ich nicht.
»Ich mag keine Hitze«, plappere ich drauflos und erzähle, wie mein Urlaubsleben in den vergangenen Jahren ausgesehen hat. Ich probierte den typischen Strandurlaub schon mehrfach aus, war in Italien, Spanien, Griechenland und bin jedes Mal unzufrieden zurückgekommen. Im Sand dösen und am Wasser auf- und ablaufen ist nichts für mich. Der abendliche Small Talk an der Hotelbar reizt mich ebenfalls nicht. Deshalb habe ich anschließend Abenteuerreisen versucht, die Malediven und die Philippinen bereist, bin aber dabei weder ausgefüllt noch glücklich gewesen. Mittlerweile weiß ich, dass ich nicht gut mit den hohen Temperaturen zurechtkomme, mich schlapp und erschöpft fühle und dann keine Kraft habe, wirklich etwas zu unternehmen. Was dann bleibt, ist der faule Rückzug in den Schatten, und den kann ich vielleicht zwei Tage, aber auf keinen Fall länger ertragen.
Die freundliche Dame hinter dem Schreibtisch hört mir aufmerksam zu.
»Soso«, murmelt sie und greift dann gezielt nach hinten in ihr Regal. »Dann habe ich etwas für Sie!«
Sie legt mir einen farbenfrohen Prospekt mit Hochglanzfotos hin.
»Fahren Sie doch einmal dorthin, wo Sie keine Probleme mit der Hitze haben. Nach Finnland! Hier, sehen Sie mal. Schnee ist ja dann genau das Richtige. Was halten Sie von einer Hundeschlittentour?«
Ich horche auf. Finnland klingt nach Kälte. Prima. Hunde? Liebe ich sehr. Schnee? Mag ich ebenfalls.
»Warum nicht. Das klingt verlockend«, antworte ich.
Ich sehe auf die Uhr. Seit gerade mal zehn Minuten sitze ich an dem hellen Holzschreibtisch zwischen einem Globus und Stapeln mit dicken Reiseprospekten und weiß nun schon, was mich erwartet.
Es geht nach Finnland, genauer nach Rovaniemi, dem Tor zur Arktis. Die Stadt, in der auch der Weihnachtsmann wohnt, wie ich jetzt überraschenderweise erfahre.
»Acht Kilometer nördlich des Städtchens verläuft der Polarkreis«, erfahre ich jetzt von meiner sachkundigen Beraterin, und sie blättert für mich die Seiten des Prospekts durch, um mir neben malerischen Schneelandschaften auch herzige Huskys zu zeigen.
»Sind die süß«, schwärme ich begeistert. »Hier, der mit den blauen Augen, zu niedlich, wie der im Schnee tollt. Und dieser hier, der guckt so neckisch. Meine Güte, sind die knuffig.«
Als große Hundefreundin kann ich mich gar nicht sattsehen an diesen herrlichen Aufnahmen.
»Ich bin dabei«, sage ich schließlich und buche direkt eine Woche auf einer finnischen Hundeschlittenfarm.
»Sie werden das nicht bereuen. Unsere Kunden kommen jedes Mal völlig begeistert zurück«, bestätigt mich die sympathische Reisebürokauffrau in meiner Entscheidung, als sie mir den Vertrag zur Unterschrift vorlegt. Ich zögere auch jetzt nicht, obwohl der Preis meiner Spontanreise ziemlich happig ist: 4.000 Franken kostet mich das Vergnügen, bei bis zu minus 30 Grad Celsius auf einem Hundeschlitten durch die verschneite Polarlandschaft zu gleiten.
»Warum ausgerechnet Lappland?«, will am Abend meine Freundin Ursula wissen, als ich ihr am Telefon begeistert von meinen ungewöhnlichen Reiseplänen erzähle. »Ich hätte mir zwei Wochen Nichtstun in einem schönen Resort irgendwo auf der Welt besser für dich vorstellen können.«
Ich zögere nicht nur bei der Antwort, ich muss sie ihr sogar ganz schuldig bleiben. »Ich weiß kein ›Warum‹«, sage ich nachdenklich. »Ich habe einfach gespürt, dass es passt …« Und füge schnell noch hinzu: »Es ist vielleicht Schicksal.«
Ursula wird jetzt wohl milde lächeln. Das macht sie immer, wenn sie mich nicht versteht. In Ursulas Augen bin ich in diesen Dingen ein Bauchmensch, kreativ, spontan, unkalkulierbar. Sie ist genau das Gegenteil, studierte Betriebswirtin und arbeitet als Controllerin beim Schweizer Radio. Wir haben uns vor ein paar Jahren bei Freunden kennengelernt und sind seitdem dicke Freundinnen. Ursula ist zwei Monate jünger als ich, lebt in Bern und ist seit einigen Monaten auch nicht mehr allein, sondern mit Ulf, einem Computerfachmann, liiert.
Ursula ist das, was man unter einer »attraktiven Frau« versteht. Sie ist gertenschlank, hat schwarze, halblang geschnittene Haare und große mandelförmige Augen. Sie achtet sehr darauf, immer elegant gekleidet zu sein. Ich mag sie sehr, und sie weiß alles von mir, auch, dass meine Gefühlslage im Moment etwas angespannt ist, weil ich auf der Suche bin, aber nicht weiß, wonach ich suche. Es gibt Abende, da greife ich zum Telefon und rede mir mit Ursula das Leben schöner. »Typische Midlife-Crisis«, ulkt sie dann immer und schiebt meine Unzufriedenheit auf mein Alter von fast vierzig Jahren, während mir ständig etwas Neues einfällt, auf das ich sie schieben kann: kein passender Mann, zu viel oder zu wenig Arbeit, langweilige Kunden oder stressige Kollegen. Irgendetwas außer »alt sein« fällt mir schon ein, warum im Moment mal wieder alles »doof« ist.
Ursula lacht dann immer und heitert mich mit irgendeiner lustigen Bemerkung auf.
»Ich will dir deine Reise gar nicht vermiesen«, sagt sie jetzt weiter. »Eine Hundeschlittentour am Polarkreis, das ist mal etwas ganz anderes, und wer weiß: Vielleicht ist es ein Volltreffer, und du kommst rundherum zufrieden wieder zurück und beginnst ein neues, ganz anderes Leben, vielleicht als Hundezüchterin«, orakelt sie und prustet dann los.
Ich kontere sofort. »Ach was, du weißt doch, dass ich meine Arbeit liebe und mir nicht wirklich etwas anderes wünsche.«
»Das nehme ich dir nicht ab«, widerspricht sie mir. »Ich glaube eher, dir fällt im Moment nichts Besseres ein.«
Vermutlich hat sie recht. Aber ich will mir auch keine Gedanken darüber machen.
»Im Moment sehne ich mich erst einmal nur nach Stille. Das ist mein großes Sehnsuchtswort. Ich möchte einfach mal abschalten, auftanken, nichts hören und – vor allen Dingen – nichts gefragt werden!«
Ich seufze tief auf. »Du glaubst nicht, was bei mir heute wieder alles los war. Besuch aus Übersee, Vorstellung der Kollektion und jede Menge Katalogänderungen. Und am Wochenende steht ebenfalls ein Geschäftstreffen an. Es ist einfach zu viel, und glaub mir: So ein totaler Tapetenwechsel ist das, was ich nun brauche. Kaltes Eis statt heißer Studios, ich brauche einfach mal komplett andere Bilder im Kopf.«
»Ich bin gespannt«, meint Ursula und macht sich gar nicht erst die Mühe, ihre Skepsis zu verbergen. »Für mich klingt das nach ›typisch Lotti‹. Aber auf jeden Fall ist es ein Abenteuer. Mal sehen, was du für dich daraus machst.«
Weiß, weit und märchenhaft unwirklich. Im Landeanflug auf Rovaniemi umhüllt mich bereits der ganze Zauber dieser Landschaft. Der Himmel ist azurblau, unter mir liegt ein gigantischer Flockenteppich, und wie hineingestreut erkennt man einsam gelegene Gehöfte und jetzt auch die roten Dächer von Lapplands finnischer Hauptstadt, die mit knapp über 60.000 Einwohnern in unseren Augen eher klein ist.
Nach meiner Buchung im Reisebüro habe ich mir auch zwei Reiseführer über Lappland gekauft und in Windeseile gelesen. Die Landschaft interessierte mich auf einmal brennend. Ich weiß jetzt recht viel über diese Region:
Lappland ist kein eigener Staat, sondern eine Landschaft im äußersten Norden Europas, eine subarktische Wildnis, die sich von Ost nach West auf vier Länder erstreckt: Norwegen, Schweden, Finnland und Russland. Das Land ist reich an Bodenschätzen und lebt außerdem von der Forstwirtschaft. Außerhalb der wenigen Städte ist die ganze Region so gut wie unbewohnt.
»Sieh mal, diese Winterlandschaft, das ist ja traumhaft, wie im Film«, meint meine Sitznachbarin Sylvia, eine etwa dreißig Jahre alte Zahnärztin aus Zürich, die zu meiner Gruppe gehört. Sie hat den begehrten Fensterplatz, zieht mich aber ganz nah zu sich, damit ich auch einen Blick erhaschen kann.
»Wir werden mächtig Spaß haben in diesem Schneeparadies«, freut sie sich. Sylvia ist eine begeisterte Skilangläuferin, hat aber, genauso wie ich, noch nie auf einem Hundeschlitten gestanden. Nur Lisbeth, eine Lehrerin um die fünfzig, die genau hinter mir sitzt, hat so eine ähnliche Tour schon einmal gemacht und uns am Gate, als wir auf den Abflug warteten, von »unvergesslichen Erlebnissen« vorgeschwärmt.
Wir sind zu sechst in Zürich gestartet, haben uns am Flughafen bereits beschnuppert und uns sofort als Team gefühlt. Vier Frauen, zwei Männer, von Ende zwanzig bis Mitte fünfzig, und alle sehr gespannt, was diese ungewöhnliche Reise bringen wird: sieben Tage Finnland, ganze vier davon auf einem Hundeschlitten. Die Temperaturen, die uns erwarten, sind unwirtlich, zwischen minus zwanzig und minus dreißig Grad. Wir haben dicke Skikleidung im Gepäck und reichlich Sonnencreme für die vermutlich schnell strapazierte Haut im Gesicht.
Nach der Landung auf dem winzigen Flughafen geht’s mit dem Bus eine Stunde lang fast siebzig Kilometer über eine feste Schneedecke in ein idyllisch am Waldrand gelegenes Hotel. Uns erwartet ein köstliches Abendessen mit gebeiztem Lachs in Dillsoße, Fleisch in Brotteig und einem leckeren, alkoholarmen Hausbier. Zum Nachtisch gibt es Hefeteiggebäck und einige Gläschen Salmiakki, einen intensiv nach Lakritz schmeckenden Schnaps. Als ich ins Bett gehe, fühle ich mich so wohl wie schon lange nicht mehr und schlafe unter meiner weichen, wunderbar warmen Decke tief, fest und innerlich herrlich entspannt.
Am nächsten Morgen fahren wir noch einmal eine halbe Stunde zur ersehnten Huskyfarm, der »Ice Lodge«. Das kleine Anwesen liegt abgelegen auf einer Anhöhe. Bis zum nächsten Haus sind es fünf Kilometer, zur nächsten kleinen Ortschaft fünfzehn. Hier leben die beiden Eigentümer, Sven und seine Lebensgefährtin Kaisa, mit circa fünfzig Huskys, die vor ihren Hundehäuschen angepflockt stehen und uns schwanzwedelnd begrüßen, als wir aus dem Minibus steigen.
Es ist sonnig und wie erwartet bitterkalt. Sven, ein Hüne von Mann mit wachen, nugatbraunen Augen, lockigem blonden Haar und einem warmen Lächeln, der ursprünglich aus Schweden stammt, streckt uns die Hand entgegen und begrüßt uns freundlich und aufmerksam. Kaisa sieht neben ihm noch zarter aus, als sie sowieso schon ist. Sie hat ein junges, sehr hübsches Gesicht und wirkt fast schon ein bisschen schüchtern. Sie spricht kaum, lächelt uns aber alle herzlich und ganz offen an.
Die Stimmung ist locker. Wir sprechen Englisch, nennen uns beim Vornamen und sind schnell mitten in der Vorbereitung für den ersten Ausflug. Unsere mitgebrachte Skikleidung ist bei den Temperaturen hier nicht ausreichend. In einem Schuppen werden wir professionell winterfest verpackt. Ich behalte nur meine Sportunterwäsche an, bekomme dazu Stiefel, Thermohose und Kapuzenjacke, dazu dicke Handschuhe. Ich schlinge mir sicherheitshalber noch meinen mitgebrachten Schal um den Hals, und dann geht’s auch schon los.
»Sei gut zu deinem Husky, denn er wird dich immer mehr lieben als sich selbst«, meint Sven und erklärt uns, dass bei dem vor uns liegenden Abenteuer zuerst die Hunde kommen. »Kümmert euch erst um sie und dann um euch. Dann könnt ihr sicher sein, dass sie euch gut durch die Tour bringen.«
Während uns Kaisa mit heißem Tee versorgt, erfahren wir in einem Crashkurs allerlei Wissenswertes über diese faszinierenden Tiere. Unter anderem, dass sie mit den bei uns üblichen Huskys nur wenig zu tun haben.
»Die Rassehunde, die ihr kennt, sind Siberian Huskys«, erklärt uns Sven. »Die könnt ihr mit unseren Huskys nicht vergleichen.«
»Ja, meiner sieht auch ganz anders aus«, stellt Ludger überrascht fest. Er ist Psychologe und arbeitet in Zürich in einer Klinik, direkt am Fuße des Uetliberges. Er ist in meinem Alter und war mir auf Anhieb durch seine ruhige und ausgeglichene Art sympathisch. Im Bus habe ich neben ihm gesessen. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist ganz verschossen in seinen Husky, dem er den herrlichen Namen »Gerd« gegeben hat.
»Das glaube ich dir. Du hast einen Siberian, der unterliegt den Rassestandards«, antwortet Sven jetzt. »Wir haben hier Alaskan Huskys, die alle anders aussehen. Sie sind nicht nach Optik gezüchtet, sondern nach ihren Qualitäten als Schlittenhunde.«
Wir erfahren, dass sie völlig unterschiedlich schwer und groß sind, aber eines gemeinsam haben: den unbändigen Willen zu rennen. Sie können das Mehrfache ihres eigenen Gewichtes ziehen und laufen bis zu dreißig Stundenkilometer schnell über eine lange Distanz, bei Rennen sogar noch mehr.
»Aber nicht nur das zeichnet diese Tiere aus«, erklärt uns Sven weiter, und wir hören ganz gebannt zu. »Huskys besitzen einen ausgezeichneten Orientierungssinn. Sie kommen so gut wie nie von bekannten Wegen ab, auch wenn die eine dicke Schneedecke haben und man eigentlich nichts mehr erkennen kann.«
Er lacht uns jetzt an. »Also, vertragt euch, wie gesagt, mit euren Huskys! Damit ihr auch wieder gut nach Hause kommt. Seid lieb zu ihnen!«
»Sind sie denn auch lieb zu uns?«, fragt Sylvia, und Sven hat die Antwort schnell parat.
»Weißt du, Huskys sind traditionell mit den Familien der Eskimos aufgewachsen, also auch mit den Kindern, sie haben das freundlichste und anhänglichste Naturell, das man sich von Hunden wünschen kann.«
Ich glaube das sofort, denn die ganze Zeit über habe ich schon Blickkontakt mit Sissy, einer wunderschönen Huskyhündin, die ganz in meiner Nähe steht, mich mit ihren braunen Augen regelrecht anstrahlt und dabei ausgelassen mit dem Schwanz wedelt. Ich glaube, sie möchte los. Genau wie wir.
Aber wir brauchen noch Geduld. Unsere Einführungsstunde ist noch nicht zu Ende. Sven ist für unsere Sicherheit zuständig und deshalb auch besonders gründlich und gewissenhaft. Wir lernen zuerst die Kommandos, auf die die Tiere hören.
»Go« für »Los geht’s«, »Haw« für »links« und »Gee« für »rechts«. »Easy« heißt »das Tempo auf Trab zu verringern«, beim Abwärtsfahren zum Beispiel, und »Whuuu« steht für »stopp«.
Danach lernen wir, wie wir die Geschirre anlegen und mit dem Schlitten umgehen müssen.
Sven erklärt uns, wie wir mit dem Fuß bremsen können und wie wir den Schneeanker setzen, um das Gespann auf der Strecke oder am Start auf seinem Platz zu halten. Und wir lernen, dass wir die Handlebar, den Lenker, immer festhalten müssen.
»Egal, was passiert, ihr lasst den Lenker nicht los. Niemals!«, bläut er uns mehrmals ein und meint dann mit eindringlichen Blicken: »Das ist eure Lebensversicherung.«
Mit jedem seiner Sätze steigt die Spannung bei uns. Ludger vertüddelt sich vor lauter Aufregung mit den Leinen, und Sylvia hat Mühe, den schweren Schlitten in die richtige Position zu schieben. Marita, eine Buchhalterin in meinem Alter, ist so nervös, dass sie nicht mehr richtig zuhört und alles zweimal fragt. Nur Martin, der Ingenieur aus Basel, bewahrt die Ruhe, stellt gezielte Fragen und setzt mit Bravour um, was Sven uns beibringt. Aber auch die süßen Huskys können es kaum erwarten loszurennen und springen immer nervöser an ihren Pfosten hin und her.
Es ist schon Mittag, als es endlich losgeht. Wir haben Riesenglück. Die dicken Schneewolken, die uns kurzzeitig Sorgen machten, haben sich wieder verzogen. Der Himmel ist erneut stahlblau, die Sonne erstrahlt im schönsten Glanz. Die Hunde bekommen ihr Geschirr angelegt und heulen aufgeregt los.
Wir bekommen jeder einen eigenen Schlitten und ein Gespann aus vier Hunden. Ich bin happy, denn meine Leithündin, die an der Spitze des Gespanns läuft, ist Sissy, die süße Hündin, mit der ich schon die ganze Zeit geflirtet habe.
Als »Chef« Sven auf seinen vorderen Schlitten zugeht, ist die Spannung kaum mehr auszuhalten. Die ganze Meute springt aufgebracht in dem Geschirr hin und her. Wir Fahrer warten mit klopfendem Herzen auf den Start und pressen unsere Füße möglichst sicher auf das Standbrett. Ich habe die Position gleich hinter Sven, und mein Herz klopft vor Aufregung ganz schnell.
Und dann ist es endlich so weit. Sven hebt den rechten Arm, ruft das Startkommando »Go« und löst die Sicherungsleine vom Pfosten. Die Hunde sind jetzt nicht mehr zu halten und preschen nach vorn. Ruckartig setzt sich mein Gefährt in Gang, und ich werde dabei so heftig nach hinten geworfen, dass ich drohe, von der Plattform zu kippen und in den Schnee zu fliegen.
»Lasst den Lenker niemals los«, schießen mir Svens Worte durch den Kopf. Ich halte meine Hände in den dicken Handschuhen fest um den Lenker geschlossen und lehne mich schwungvoll in die entgegengesetzte Richtung. Geschafft! Ich stehe fest und sicher, fixiere konzentriert den Trail vor mir und lasse das Tempo zu. Aus den Augenwinkeln rast die Winterlandschaft an mir vorbei. Der Schnee ist meterhoch, die Äste der Tannen hängen unter der Last der weißen Pracht so tief, dass die unteren schon den frisch aufgeschneiten Schnee berühren.
Svens Schlitten gibt die Geschwindigkeit vor, und sie erscheint mir sehr, sehr hoch. Ich glaube, wir rasen. Immer weiter hinaus durch die lichten Wälder in die endlose Weite Finnlands. Der Himmel ist durchgehend tiefblau, die Schneekristalle glitzern in der Sonne, und vor mir breitet sich ein endlos weiter weißer Teppich aus.
Und dann, nach einer gefühlten Stunde, in der ich zunehmend Sicherheit auf dem Schlitten gewinne, meine Hände nicht mehr verkrampft, sondern entspannt den Lenker halten und ich scheinbar über die weiße Landschaft dahinfliege, ist sie da – die Stille.
Man hört das Surren der Kufen auf dem Schnee, das Atmen der Tiere. Das war’s. Nichts mehr. Absolut nichts. Meine Güte, ist das schön.
Die Hunde heulen längst nicht mehr, sondern machen das, was sie am meisten lieben: Sie rennen! Völlig rhythmisch und im absoluten Gleichklang sausen die Pfoten durch den Schnee, und diese positive Energie überträgt sich auf mich. Ich schwebe, und mit jedem Meter spüre ich, dass dieses Land mich und mein Leben verändern wird.
»Es war eine lehrreiche, aber auch harte Zeit bei der Air Force. Das schlimmste Erlebnis war mein Absturz in der Sierra Nevada, den ich nur um Haaresbreite überlebt habe. Hätten mich die Indianer nicht entdeckt, wäre ich qualvoll verdurstet.«
Sven schließt die Augen, sichtbar mitgenommen. Die Erinnerung an das Grauen scheint ihn einzuholen.
Wir sitzen zu siebt an einem Holztisch in unserem Nachtquartier, einer abgelegenen Holzhütte, irgendwo in den finnischen Bergen. Hinter uns liegt unsere erste Tagestour. Insgesamt waren wir sechs Stunden unterwegs. Drei davon in absoluter Dunkelheit. Mit unseren Stirnlampen konnten wir uns nur mühsam orientieren. Ich war froh, dass ich die ganze Zeit direkt hinter Sven fahren konnte und vor Martin, dem ich am meisten zutraue, hier alles richtig zu machen.
Lisbeth tat mir leid, weil sie die Letzte in unserem kleinen Tross war. Was wäre, wenn die Hunde irgendwo einfach falsch abbiegen? Dann rast sie bei der Eiseskälte ins Nichts. Es kann dauern, bis den anderen Tour-Mitgliedern das auffällt. Ich möchte das jedenfalls nicht erleben. Aber Lisbeth ist zum Glück kein Neuling mehr. Sie ist entsprechend erfahren. Vermutlich hat sie Sven deshalb als Letzte fahren lassen.
Es hat ja auch alles prima geklappt. Als wir an der Hütte ankamen, haben wir als Erstes die Tiere versorgt, ihnen das Geschirr abgenommen, sie angepflockt und das gefrorene Fleisch gehackt und verfüttert. Sven musste uns nicht mehr daran erinnern, dass sie zuerst kommen. Wir haben alle kapiert, wie wichtig das ist, und uns richtig verhalten. Später haben sich die Tiere im Schnee Kuhlen gebuddelt und sich hineingekuschelt.
Ich habe Sissy und den anderen Tieren aus meinem Team, so nennt man das ganze Gespann, noch »Gute Nacht« gewünscht und alle reichlich mit Streicheleinheiten versorgt. Sissy hat ihren Kopf dabei ganz fest an meine Hand gedrückt und konnte nicht genug gekrault werden. Es sind einfach total liebe Tiere, und es fiel mir richtig schwer, mich von ihnen zu trennen und sie in der Dunkelheit zurückzulassen.
Sven hat meine Gedanken anscheinend gelesen.
»Sie gehören hierher. Es ist ihr Leben, und sie mögen es«, hat er gemeint und mich mit einem Kopfnicken aufgefordert, jetzt auch endlich in die Hütte zu kommen.
»Frieren sie denn nicht?«, fragte ich beim Hineingehen.
»Nein, sie sind den polaren Regionen angepasst. Ihr Fell besitzt zwei Schichten, das Deckhaar und die Unterwolle«, erklärte er mir. »Darüber hinaus scheidet die Haut der Hunde Fett aus, das das Fell wasserundurchlässig macht. Das Fett schützt sie im Winter vor Kälte und im Sommer vor Überhitzung.«
Ich war fasziniert. »Das hat die Natur ja alles super geregelt«, resümiere ich.
»Die regelt alles am besten«, meinte Sven. »Schade, dass sich die Menschen immer einmischen. Übrigens ist ein Husky ›selbstreinigend‹. Man sollte ihn nie waschen, um die natürliche Fettschicht und die herausragenden Eigenschaften nicht zu beschädigen.«
Er lächelte mich freundlich an.
»So, jetzt hast du aber für heute genug gelernt. Ab in die Hütte, und deine Tiere schlafen hier gut und fest und träumen davon, dass sie morgen wieder rennen dürfen …«
Die anderen hatten alle schon ihre Schlafsäcke auf den Pritschen ausgebreitet und offenbar bereits auf mich gewartet.
»Bei Hunden vergesse ich die Zeit«, habe ich noch gealbert und mich dann mit dem ganzen Team ans Kochen gemacht. Über einem kleinen offenen Holzofen haben wir unser Abendessen zubereitet. Es gab Rentierfleisch und Kartoffeln, dazu Wasser und Tee.
Als Abrundung hat Sven uns leckeren Beerenschnaps hingestellt, den er selbst allerdings nicht anrührt. Weil er die Verantwortung für unsere Truppe hat, trinkt er als Einziger von uns keinen Alkohol. Umso mehr vergnügen wir uns mit dem süßen Tropfen. Wir sind alle entsprechend gesprächig, aber Sven beeindruckt uns mit seinem Absturz bei der Air Force am meisten.
»Was denkt man in solchen Grenzsituationen«, will Ludger wissen.
»Man denkt nichts, mein Lieber. Man funktioniert einfach, wenn es um das eigene Leben geht«, antwortet Sven da und atmet tief durch, bevor er an seinem Tee nippt.
Jetzt ist es einen Moment lang ganz still, und wir denken vermutlich alle das Gleiche: Es ist bewundernswert, wie dieser Mann so eine dramatische Erfahrung wegzustecken scheint.
Ludger nickt zustimmend. »Ich weiß, ich war als Kind einmal in einer lebensbedrohlichen Situation. Man macht instinktiv das Richtige.«
»Und was musstest du erleben?«, will Martin wissen. Er ist der Älteste von uns. Ein sehr stiller und sehr ernsthafter Mann, mit dem ich mich ganz wunderbar unterhalten kann.
Ludger möchte gerade von seiner Erfahrung berichten, als Sven aber schon weitererzählt. Dieses Mal geht es um seine Zeit auf einem U-Boot, in der sich jede Menge gefährliche Szenen abgespielt haben.
Ich mag die Art, wie er erzählt, so lebendig und anschaulich, und könnte ihm stundenlang zuhören. Ich mag auch ihn. Das war allerdings anfangs nicht ganz so. Bei unserer ersten Begegnung auf der »Ice Lodge« fand ich ihn ziemlich dominant. Er war ziemlich kurz angebunden und wirkte fast so, als sei er genervt von uns. Auch in den kurzen Pausen während der Tour fühlte ich mich nicht wirklich wohl mit ihm. Vielleicht war das aber auch einfach nur der Verantwortung geschuldet, die er für die ganze Gruppe trägt. Doch nun gewinne ich nach und nach ein anderes Bild von ihm. Hier, in dieser Hütte irgendwo in der Weite Lapplands, erlebe ich einen freundlichen, uns sehr zugewandten und ungeheuer charismatischen Mann, der von ganzem Herzen liebt, was er tut. Jemanden, der echt und authentisch ist. Die anfängliche Ruppigkeit ist wie weggeblasen. Vermutlich war er auch einfach in Eile, weil wir losmussten, um zur richtigen Zeit an der Hütte zu sein. Ich ärgere mich ein bisschen über mein vorschnelles Urteil und nehme mir vor, künftig nicht so empfindlich zu sein und bei Sven nicht jeden Satz auf die Goldwaage zu legen.
»Wie bist du denn hierhergekommen?«, will Ludger wissen. Und Sven erzählt wieder, von seiner Erfahrung als Hundetrainer beim schwedischen Militär und der Anfrage von finnischen Kollegen, die dazu führte, dass er sich in Finnland niederließ …
Obwohl wir eigentlich hundemüde sein müssten, sitzen wir an diesem Abend noch lange in entspannter Runde, hören Sven zu, erzählen aber auch aus unserem Leben, was natürlich nicht annähernd so spannend ist.
Es ist eine wundersam vertraute Stimmung hier in dieser Hütte. Wir kennen uns alle erst wenige Stunden und fühlen uns einander bereits sehr, sehr nah. Die Dunkelheit, die eisige Kälte, die Abgeschiedenheit, aber auch die nicht vorhandene Privatsphäre schweißen uns als Gruppe schnell zusammen. Unter diesen Bedingungen gibt es ja keinerlei Rückzugsmöglichkeiten. Wer auf die Toilette muss, erledigt das kurzerhand neben dem Schlitten, und unsere Schlafsäcke liegen in der Hütte so eng aneinander, dass wir den Atem des anderen spüren. Wir sind eine bunt zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft. Jeder teilt alles mit jedem. Es gibt ein unsichtbares Band, das uns für diese eine Woche ganz fest zusammenzurrt.
»Ich gehe noch einmal vor die Tür«, sage ich leise zu Sven, als sich alle schlafbereit machen. Mein Nachtlager liegt dicht an der Tür. Ich störe niemanden, wenn ich etwas später wieder hereinkomme.
Sven nickt, bittet mich aber, auf jeden Fall in der Nähe der Hütte zu bleiben.
Ich schlüpfe in den Schneeanzug, ziehe die Kapuze hoch, wickle mir den Schal um den Mund. Als ich die Tür öffne, schlägt mir die Eiseskälte ins Gesicht. Minus 25 Grad, solche Temperaturen habe ich bisher noch nie erlebt. Von Sven habe ich gelernt, dass man unter diesen Umständen anders atmen muss. Flacher als zu Hause, damit die Kälte nicht zu tief in die Lungen eindringt. Anfangs war das ein komisches Gefühl, aber man gewöhnt sich schnell daran, und es ist wirklich hilfreich.