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Ehrenhafter politischer Aktivismus oder Datenspionage? Whistleblowing-Organisationen wie WikiLeaks wandeln in Zeiten des Anti-Terror-Datenhungers der Großmächte auf einem schmalen Grat. Dieser Band liefert eine öffentlichkeitstheoretische und politikwissenschaftliche Annäherung an das Phänomen WikiLeaks. Mit welchen Mitteln und Absichten bietet die Enthüllungsplattform eine neue Form von Öffentlichkeit? Diese und weitere zentrale Fragen zur Entstehung und Philosophie der aktuell umstrittensten Whistleblower-Bewegung werden hier erläutert. Aus dem Inhalt: Von politischer Öffentlichkeit zur digitaler Gegenöffentlichkeit; Öffentlichkeit als Dogma? Das Konzept von WikiLeaks; Ziele, Vorgehensweise und Legitimation von WikiLeaks; Diskretion oder Information – eine Alternativfrage?; Wikileaks und die Guantánamo-Files: Die Reaktion der Medien
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Seitenzahl: 152
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Impressum:
Copyright © 2013 ScienceFactory
Ein Imprint der GRIN Verlags GmbH
Coverbild: © Logo Wikileaks, Nowikileaks
Phänomen WikiLeaks:
Die Renaissance der Aufklärung
Jan Horak (2011): Öffentlichkeit als Dogma? Eine öffentlichkeitstheoretische Annäherung an das Phänomen WikiLeaks
Einführung
Das Phänomen WikiLeaks
Öffentlichkeit als Phasenraum
Öffentlichkeit als Dogma? WikiLeaks und die Öffentlichkeit
Fazit und Ausblick
Quellenverzeichnis
Niklas Weith (2011): Sapere aude! WikiLeaks als Fahnenträger der digitalen Gegenöffentlichkeit
Sapere aude – der Mut zum eigenen Verstand
Figuration der Öffentlichkeit
Figuration der Gegenöffentlichkeit
Die digitale Gegenöffentlichkeit
Zwischenfazit
WikiLeaks und die Renaissance der Aufklärung
Abschließende Analysen
Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Carolin Rychlik (2011): Wikileaks und die Guantánamo-Files: Darstellung und Rezeption in den Medien
Einleitung
Was sind die Guantánamo-Files?
Die Beteiligten
Die verschiedenen Herangehensweisen
Fazit
Literaturverzeichnis
Einzelpublikationen
Kaum ein Thema hat die gesellschaftlichen und politischen Diskurse der letzten Monate so stark geprägt wie die Veröffentlichungen der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Die Organisation kann mit Recht als ‚Phänomen‘ bezeichnet werden, verändert sie durch ihre Enthüllungen doch sowohl den Blick auf welt- und wirtschaftspolitische Prozesse als auch die Vorstellung davon, was ‚Öffentlichkeit‘ ist bzw. sein kann:
„WikiLeaks will den Regierungen dieser Welt nicht die politische Kontrolle entreißen, wohl aber die Kontrolle über ihr Herrschaftswissen. Plötzlich gibt es einen neuen Akteur, der sich das Recht herausnimmt, darüber mitzuentscheiden, was geheim bleibt.“ (Rosenbach/Stark 2011: 15)
Man kann die Organisation schlicht als neuen Akteur auf der Bühne massenmedialer Öffentlichkeit begreifen, oder aber in WikiLeaks eine neue Evolutionsstufe, ja eine logische Konsequenz in der Entwicklungskette politischer Öffentlichkeit von der antiken Versammlungs- über die neuzeitliche massenmediale Öffentlichkeit bis hin zur modernen Netzöffentlichkeit sehen – beide Betrachtungsweisen werden dem Phänomen WikiLeaks aufgrund seiner Komplexität und seiner vielschichtigen Beziehungen zu bestehenden Formen von Öffentlichkeit und deren Akteuren jedoch nicht gerecht. Im Zuge der folgenden Analyse wird davon ausgegangen, dass WikiLeaks eine eigene Form von Öffentlichkeit schafft, die zwar mit den bekannten Erscheinungsformen politischer und massenmedialer Öffentlichkeit interagiert, jedoch grundsätzlich eigenständig ist und sich in zentralen Merkmalen von diesen unterscheidet.
Ziel dieser Arbeit ist eine öffentlichkeitstheoretische Annäherung an das vieldiskutierte und gleichwohl umstrittene Phänomen WikiLeaks. Es soll aufgezeigt werden, welche Rolle Öffentlichkeit für die Organisation WikiLeaks spielt – sowohl als Lebensraum, in dem sie sich bewegt, als auch als herzustellenden Zielzustand – und welche konkrete Vorstellung von Öffentlichkeit den Funktions- und Handlungsweisen der Organisation zugrunde liegt. Zu diesem Zweck soll versucht werden, ein 2009 vom Öffentlichkeitstheoretiker Rudolf Stöber ursprünglich zur systematischen Analyse verschiedener Öffentlichkeitskonzepte entwickeltes Kategoriensystem auf die Öffentlichkeitsvorstellung der Organisation WikiLeaks anzuwenden, um auf dieser Basis eine kritische Betrachtung des Phänomens zu ermöglichen.
Bei WikiLeaks handelt es sich um eine international tätige Organisation, welche auf die anonyme Veröffentlichung geheimer Dokumente und Informationen im Internet spezialisiert ist. WikiLeaks wurde im Jahr 2006 von einer größtenteils namentlich unbekannten Gruppe Dissidenten, Journalisten und Mathematikern als „not-for-profit media organisation“ (WikiLeaks: What is WikiLeaks?) gegründet. Seitdem pflegt und betreut ein wechselnder Kreis hauptsächlich unentgeltlich tätiger Mitarbeiter unter der Leitung des ehemaligen australischen Hackers Julian Assange die Internetplattform wikileaks.org, über die in loser Folge geheime Dokumente, Videos und andere Aufzeichnungen aus anonymen Quellen veröffentlicht werden (vgl. SZ: Wer ist WikiLeaks?). Finanziert wird das Projekt WikiLeaks durch Spenden von privaten Unterstützern und Stiftungen – diese Spenden umfassen sowohl direkte finanzielle Zuwendungen als auch die kostenlose Bereitstellung von Dienstleistungen wie beispielsweise juristischen Beistand (vgl. Medien-Ökonomie-Blog: Leak-o-nomy. Die Ökonomie hinter WikiLeaks).
In den Fokus der breiten Öffentlichkeit rückte WikiLeaks erstmals im April 2010, als die Organisation im Rahmen einer Pressekonferenz Originalaufnahmen eines Luftwaffeneinsatzes der US-Armee in Bagdad präsentierte, bei dem insgesamt zwölf mutmaßlich unbewaffnete Zivilisten getötet wurden (vgl. WikiLeaks: Collateral Murder). Neben zahlreichen weiteren Veröffentlichungen führte vor allem die Publikation hunderttausender geheimer Einsatzprotokolle aus dem Afghanistankrieg im Juli 2010 und tausendender interner US-Botschaftsdepeschen im November 2010 zu großem Medienecho. Regierungen und staatliche Institutionen rund um den Globus – allen voran die US-Regierung – kritisierten WikiLeaks für diese Veröffentlichungen und bezichtigten die Organisation des Verrats von Staatsgeheimnissen und der Sabotage. In den USA wird momentan geprüft, rechtliche Schritte gegen WikiLeaks und ihren Vertreter Assange einzuleiten (vgl. u. a. N24: USA prüfen Anklage wegen Verschwörung).
Der Organisation WikiLeaks liegt die Leitidee des freien Zugangs zu jeder Form von öffentlich relevanter Information zugrunde: Hauptziel ist nach eigenen Angaben „to bring important news and information to the public“ (WikiLeaks: What is WikiLeaks?). WikiLeaks stellt die nötige Infrastruktur bereit, um der Öffentlichkeit Informationen zugänglich zu machen, die ihr bisher vorenthalten wurden. Im Gegensatz zu klassischen journalistischen Medien versucht WikiLeaks, politisch brisante Informationen möglichst ungefiltert, ungekürzt und anonymisiert zu veröffentlichen. Auf diese Weise soll größtmögliche Transparenz hinsichtlich welt- und wirtschaftspolitischer Entscheidungsprozesse geschaffen werden.
WikiLeaks tritt als Medium der Informationsvermittlung auf, welches publikationswürdige Interna aus verschiedensten Quellen zusammenträgt und diese dann veröffentlicht. Grundvoraussetzung für den Erfolg dieses Modells ist die Bereitschaft von privilegierten Besitzern einer Information, diese öffentlich zugänglich zu machen. Wiki-Leaks bietet seinen Informanten die Möglichkeit, Informationen anonymisiert, verschlüsselt und ohne persönlichen Kontakt online einzusenden (vgl. WikiLeaks: What is WikiLeaks?). Wird eine Information von der Organisation als veröffentlichungswürdig eingestuft, kann die Veröffentlichung je nach Umfang und Komplexitätsmaß des Materials auf verschiedenen Wegen erfolgen: Einzelne Dokumente, Mitschnitte oder Bilder werden in der Regel direkt über das organisationseigene Internetportal zur Verfügung gestellt. Diese Veröffentlichungen werden gelegentlich öffentlichkeitswirksam durch Pressekonferenzen begleitet, wie es beispielsweise bei der Veröffentlichung von Originalaufnahmen eines Luftwaffeneinsatzes der US-Armee in Bagdad im April 2010 der Fall war (vgl. Rosenbach/Stark 2011: 124f). Handelt es sich um große Datenmengen, die eine vorhergehende Selektion und umfassende Prüfung erfordern, arbeitet Wiki-Leaks zudem mit renommierten Printmedien zusammen – so geschehen beispielsweise im Zuge der Veröffentlichung hunderttausender geheimer Einsatzprotokolle aus dem Afghanistankrieg im Juli 2010. WikiLeaks stellte die Dokumente dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel, der New Yorker Tageszeitung New York Times sowie dem britischen Guardian zur Verfügung, welche diese dann prüften, journalistisch aufbereiteten und schließlich in einer koordinierten Aktion zeitgleich veröffentlichten (vgl. Rosenbach/Stark 2011: 158f).
Durch die Veröffentlichung oftmals brisanter, von staatlichen Stellen als geheim eingestufter Informationen rückte die Organisation ins Kreuzfeuer der Kritik verschiedener Regierungsorganisationen und staatlicher Institutionen. Kritiker werfen Wiki-Leaks Spionage, Geheimnisverrat und Sabotage vor – WikiLeaks gefährde durch seine Enthüllungen das Leben von Soldaten (vgl. u. a. Phoenix: Kritik an WikiLeaks nach Veröffentlichung von US-Dokumenten hält an) und vergifte das diplomatische Klima (vgl. u. a. Spiegel Online: Empörung über Depeschenenthüllung). Die Organisation hält dagegen, man trage lediglich zur Transparenz politischer Entscheidungsprozesse bei und leiste einen unverzichtbaren Dienst an der Demokratie. WikiLeaks schreibt sich selbst die Rolle des Kämpfers für eine umfassende Informationsfreiheit zu, welche es um jeden Preis zu verteidigen gelte: „We are fearless in our efforts to get the unvarnished truth out to the public” (WikiLeaks: What is WikiLeaks?). WikiLeaks erhebt den Anspruch, journalistische Qualitätsstandards zu erfüllen und mit journalistischen Maßstäben gemessen zu werden – es sieht sich als Teil des journalistischen Systems, von dem es sich jedoch gleichzeitig abzuheben versucht:
„WikiLeaks has provided a new model of journalism. […] Like a wire service, WikiLeaks reports stories that are often picked up by other media outlets. We encourage this. We believe the world’s media should work together as much as possible […].” (WikiLeaks: What is WikiLeaks?)
Aus diesem Selbstverständnis schöpft die Organisation einen wesentlichen Teil ihrer Legitimation. Sie tritt auf als Vorreiter einer Journalismuskultur, deren oberstes Primat Transparenz ist, und leistet Dienste am Allgemeinwohl, zu denen sie traditionelle journalistische Formate nicht in der Lage sieht. Welches Verständnis von Öffentlichkeit diesem Anspruch zugrunde liegt, soll im Zuge der folgenden Analyse herausgearbeitet werden.
In seinem Aufsatz „Öffentlichkeit/Öffentliche Meinung als Phasenraum“ (vgl. Stöber 2009) erarbeitet Rudolf Stöber ein Kategoriensystem zur systematischen Analyse von Öffentlichkeit und Öffentlichkeitskonzepten. Laut Stöber stelle Öffentlichkeit und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr ein „prinzipiell unabschließbares Thema“ dar (Stöber 2009: 53), zu dem es „tausendundeine Darstellung“ gebe (ebd.). Ziel Stöbers ist folglich nicht, den zahlreichen Definitionen von Öffentlichkeit eine weitere hinzuzufügen, sondern vielmehr durch die Exegese bestehender Konzepte und Forschungsansätze eine „historisch begründbare Systematik“ zu entwickeln (Stöber 2009: 53), mit der sich Formen und Funktionen von Öffentlichkeit kategorisieren und bewerten lassen. Grundgedanke der Ausführungen Stöbers ist die Annahme, bei dem wissenschaftstheoretischen Konstrukt ‚Öffentlichkeit‘ handele es sich um einen stetigem Wandel unterworfenen „Phasenraum“, der je nach Ausprägung verschiedener ordnender Dimensionen unzählige Erscheinungsformen annehmen kann. Die von Stöber genannten ordnenden Dimensionen ‚Verortung‘, ‚Trägerschaft‘, ‚Thema‘, ‚Modus‘ und ‚Zweck‘ sollen im Folgenden kurz erläutert werden, um sie anschließend als Heuristik auf das aus öffentlichkeitstheoretischer Sicht hochgradig interessante Phänomen Wiki-Leaks anwenden zu können.
Die erste von Stöber erläuterte Analysedimension von Öffentlichkeit ist die ‚Verortung‘. Stöber skizziert die Entwicklung von Öffentlichkeit seit der Antike und zeigt auf, wie sich Öffentlichkeit räumlich betrachtet verändert hat. In der Antike sei die Grundvoraussetzung für die Herstellung von Öffentlichkeit stets die Existenz öffentlich zugänglicher Plätze und öffentlich agierender politischer Institutionen gewesen, es handelte sich folglich um stadt- bzw. siedlungsinterne Versammlungsöffentlichkeiten (vgl. Stöber 2009: 53). Auch im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit galten Städte als besondere Rechtsräume mit lokal eingrenzbaren Öffentlichkeiten. Mit der Herausbildung und Festigung von Territorialstaaten sei eine räumliche Erweiterung des Geltungsbereichs von Öffentlichkeit erfolgt, es handele sich jedoch immer noch um Versammlungsöffentlichkeiten, die sich an konkreten Orten wie Parlamenten oder Gerichten manifestierten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts seien dann vermehrt auch Massenmedien als öffentlicher Ort des Meinungsaustausches betrachtet worden. Massenmediale Öffentlichkeit sei jedoch nicht als Versammlungsöffentlichkeit zu verstehen, sondern vielmehr als „virtuelles Forum“ (Stöber 2009: 55). Dies kann in besonderem Maße auch für das Internet gelten. Aus der dargelegten historischen Entwicklung der räumlichen Dimension von Öffentlichkeit von der Versammlungsöffentlichkeit der Antike zur virtuellen massenmedialen Öffentlichkeit der Gegenwart leitet Stöber für die Dimension ‚Verortung‘ die Ausprägungen ‚Größe‘ und ‚Realität‘ ab.
Grundlage der Dimension ‚Trägerschaft‘ ist die öffentlichkeitstheoretisch gängige antagonistische Unterscheidung von elitärem und antielitärem Öffentlichkeitsverständnis. Während beim elitären Konzept gesellschaftliche Eliten und Intellektuelle die Öffentlichkeit beherrschen und die Öffentliche Meinung prägen, dient Öffentlichkeit beim antielitären Konzept dazu, allen Mitgliedern einer Gesellschaft die Möglichkeit zur Artikulation eigener (öffentlicher) Meinungen einzuräumen, welche sich dann zu einer Öffentlichen Meinung verdichten. Die Massenmedien sind fester Bestandteil beider Konzepte: Je nach Öffentlichkeitsverständnis können sie als meinungsbildende Akteure oder als Orte des Meinungsaustausches auftreten, sie können eine elitäre Organfunktion der öffentlichen Meinung oder eine nichtelitäre Spiegelfunktion der selbigen einnehmen. Besonders durch die differenzierten Funktionen der Massenmedien lasse sich laut Stöber eine antagonistische Unterscheidung von elitären und antielitären Konzepten kaum halten; die ‚Trägerschaft‘ sei vielmehr über die Ausprägungen ‚Quantität‘, ‚Qualität‘ und ‚Repräsentation‘ zu bestimmen (vgl. Stöber 2009: 60).
Es existieren verschiedene Auffassungen, welche Inhalte zum Thema öffentlicher Debatten und somit Diskursgegenstand der Öffentlichkeit werden können, sollen oder dürfen. Stöber skizziert verschiedene Ansätze von Max Weber über Walter Lippmann und Jürgen Habermas zu Elisabeth Noelle-Neumann und kommt zu dem Schluss, mit der ‚evolutionären Ausdifferenzierung‘ von Öffentlichkeiten habe auch die Themenvielfalt automatisch zugenommen (vgl. Stöber 2009: 61). Grundsätzlich unterscheidet Stöber in Öffentlichkeiten mit konkreten Inhalten und solchen mit prinzipiell unbestimmten. Je nachdem, welche Bedeutung Öffentlichkeit und Öffentlicher Meinung zugesprochen wird, kann nach Stöber Öffentlicher Meinung ein Moment der Stärke oder ein Moment der Schwäche zukommen. In Anlehnung an Ferdinand Tönnies differenziert Stöber desweiteren zwischen drei Aggregatszuständen Öffentlicher Meinung (vgl. Stöber 2009: 63): Kurzlebige, tagesaktuelle Meinungen gelten als gasförmig; als flüssig werden verschiedene Meinungen zur Erreichung eines grundsätzlich gemeinsamen Ziels bezeichnet; fest sind Meinungen dann, wenn sie „zur Überzeugung des ganzen Volkes oder gar der ganzen zivilisierten Menschheit“ geworden sind (Stöber 2009: 63). So ergeben sich für die Dimension ‚Thema‘ die Ausprägungen ‚Inhalt‘, ‚Aggregatszustände‘ und ‚Momentum‘.
Die Dimension ‚Modus‘ bezieht sich auf die Funktionsweisen von Öffentlichkeit, wobei Stöber zwischen den Ausprägungen ‚Entscheidungsfindung‘, ‚Funktionskontext‘ und ‚Freiheitsgrad‘ unterscheidet (vgl. Stöber 2009: 64). Die ‚Entscheidungsfindung‘ finde entweder durch rationale Erörterung oder emotionale Bewertung von Inhalten statt, dabei spielten jedoch stets auch der ‚Freiheitsgrad‘ und der ‚Funktionskontext‘ eine Rolle. Der ‚Freiheitsgrad‘ kann entweder diskursiv-deliberativ oder autoritativ sein. Während diskursiv-deliberative Formen von Öffentlichkeit gleiche Zugangsmöglichkeiten und Verwirklichungschancen böten, betone ein autoritatives Verständnis von Öffentlichkeit deren „One-Way- und Verlautbarungscharakter“ (Stöber 2009: 65). Der ‚Funktionskontext‘ von Öffentlichkeit kann als kybernetisch, massenmedial oder sozialpsychologisch definiert sein: Dem kybernetischen Modell liegt die Annahme zugrunde, dass „öffentliche Prozesse wegen der Vielzahl der Einflussfaktoren kontingent verlaufen“ und „Überkomplexität erzeugen“ (Stöber 2009: 65) – sie sind damit kaum berechenbar. Das massenmediale Modell kann je nach Medienverständnis – Betonung ihrer Führungsfunktion oder Betonung ihres Forumscharakters – entweder deliberativen oder autoritativen Charakter haben. Und schließlich kann der ‚Funktionskontext‘ von Öffentlichkeit auch als sozialpsychologisch verstanden werden, wenn das gesellschaftlichen Meinungsklima eine autoritative Funktion einnimmt.
Die fünfte und letzte von Stöber angeführte Analysedimension von Öffentlichkeit ist der ‚Zweck‘, welcher „entweder auf die Sphäre von Macht und Politik [kursiv im Original] oder auf die von Individuum und Gesellschaft [kursiv im Original] projiziert [werde]“ (Stöber 2009: 67). Der ‚Zweck‘ von Öffentlichkeit kann also, kurz gefasst, entweder Machtgewinn und Machterhalt oder aber der Erhalt einer gesellschaftlichen Ordnung sein. In beiden Fällen kann die Herstellung von Öffentlichkeit jeweils noch auf verschiedene Weise begründet werden, indem sie entweder der Kontrolle, der Themensetzung oder der Themenbewertung diene. Kontrolle, Themensetzung und Themenbewertung können sich jeweils sowohl auf die Sphäre ‚Macht und Politik‘ als auch die Sphäre ‚Individuum und Gesellschaft‘ beziehen.
Die Ausführungen Stöbers münden schließlich in folgender Analysematrix:
Abbildung 1: Analysematrix nach Stöber (Stöber 2009: 71).
Es ist davon auszugehen, dass sich bei Weitem nicht alle diese Analysedimensionen eins zu eins auf WikiLeaks übertragen lassen. Daher soll vielmehr versucht werden, unter der heuristischen Zuhilfenahme der Stöber’schen Analysematrix die WikiLeaks zugrunde liegende Öffentlichkeitsvorstellung analytisch zu fassen, um eine anschließende kritische Betrachtung möglich zu machen.
Das Verhältnis der Organisation WikiLeaks zur (massenmedialen) Öffentlichkeit ist vielschichtig und komplex. Ohne die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit respektive der Massenmedien fänden die Veröffentlichungen von Geheimdokumenten durch Wiki-Leaks kein Publikum und verlören damit einen großen Teil ihrer Wirkung. Die Organisation ist folglich auf mediale Aufmerksamkeit angewiesen, und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen findet WikiLeaks ohne Öffentlichkeit nicht statt: Die dezentrale Struktur der Organisation, der kleine Kreis von Verantwortlichen und deren Anonymität erschweren es ihr, dauerhaft als öffentlich agierender Akteur wahr- und ernstgenommen zu werden. In der Konsequenz bedeutet dies, dass WikiLeaks es schaffen muss, allein durch seine Aktivitäten Anlass zu Berichterstattung und somit öffentlicher Auseinandersetzung liefern. WikiLeaks gelingt dies durch die gezielte Inszenierung von Pseudoereignissen wie der Pressekonferenz zur Veröffentlichung von Originalaufnahmen eines Luftwaffeneinsatzes der US-Armee in Bagdad (vgl. Kapitel „Daten und Fakten“). Zum anderen ist WikiLeaks bei der Veröffentlichung großer Datenmengen auf Unterstützung durch traditionelle Massenmedien angewiesen, da die Kapazitäten der Organisation für eine gründliche Sichtung, Prüfung und journalistische Aufbereitung des Materials oftmals nicht ausreichen. So arbeitete WikiLeaks sowohl bei der Veröffentlichung hunderttausender geheimer Einsatzprotokolle aus dem Afghanistankrieg im Juli 2010 als auch bei der Veröffentlichung tausendender interner US-Botschaftsdepeschen im November 2010 mit den Printmedien Der Spiegel, Guardian und New York Times zusammen (vgl. Kapitel „Ziele, Vorgehensweise und Legitimation“).
Im Laufe der Zeit hat sich WikiLeaks zudem selbst zu einem öffentlichen Diskursthema entwickelt. Das Interesse der Öffentlichkeit gilt nicht mehr nur den veröffentlichten Dokumenten und ihren Urhebern, sondern verstärkt auch der als Übermittler tätigen Organisation. Fragen nach Sinn und Zweck der Veröffentlichungen, nach der Legitimation der Organisation sowie nach den langfristigen Folgen für Demokratie und Mediensystem werden laut. Befeuert wird diese Entwicklung in einem nicht geringen Maße durch die massive Kritik seitens betroffener staatlicher Institutionen und Regierungen. Es ist zu beobachten, dass von Seiten der Kritiker versucht wird, die Deutungshoheit über die durch WikiLeaks ausgelösten öffentlich geführten Diskussionen zu gewinnen, indem inhaltlich nicht auf die Veröffentlichungen, sondern fast ausschließlich auf die vorgeblich damit einhergehenden Schäden und Gefahren eingegangen wird.
Zwar braucht WikiLeaks die Öffentlichkeit, sie ist jedoch in gewissem Maße auch ihr Feind, denn: WikiLeaks animiert politische Insider dazu, anonym Interna weiterzugeben – um zu funktionieren, ist die Organisation folglich auf einen funktionierenden Informantenschutz angewiesen. Hieraus resultiert ein grundsätzlicher Interessenkonflikt: Während die massenmediale Öffentlichkeit ein natürliches Interesse besitzt, Hintergründe zu beleuchten und im Zuge dessen auch Informanten zu identifizieren, muss WikiLeaks dies auf jeden Fall verhindern, will es nicht einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust riskieren, das Vertrauen potentieller Informanten verspielen und sich somit der eigenen Handlungsgrundlage berauben.
Es wurde deutlich, dass WikiLeaks sowohl Partner als auch Konkurrent etablierter Massenmedien und somit ein ernstzunehmender Akteur der massenmedialen Öffentlichkeit sein kann. Die Organisation sieht sich selbst als Teil des journalistischen Systems und übt durch ihre Aktivitäten, ähnlich traditioneller Massenmedien, eine nach ihrem Selbstverständnis unverzichtbare Watchdog-Funktion aus.
Doch WikiLeaks einfach als Teilelement massenmedialer Öffentlichkeit anzusehen, wird der Komplexität des Phänomens und seiner vielschichtigen Beziehungen zu den etablierten Akteuren dieser Öffentlichkeit nicht gerecht – WikiLeaks unterscheidet sich in einigen Punkten stark von den traditionellen Massenmedien als Trägern von Öffentlichkeit. Zunächst ist die Arbeitsweise eine grundsätzlich andere: WikiLeaks sucht nicht aktiv nach Informationen, sondern sammelt sporadisch eintreffende Dokumente anonymer Quellen, welche in der Regel unverändert und unkommentiert veröffentlicht werden, wobei die im Journalismus üblichen Zeilen- oder Sendezeitbeschränkungen grundsätzlich keine Rolle spielen. Eine Bearbeitung, Kommentierung und Bewertung des veröffentlichten Materials durch die Organisation selbst erfolgt lediglich dann, wenn es zur Maximierung der Reichweite opportun erscheint, Inhalte von der Plattform direkt in die massenmediale Öffentlichkeit zu tragen – beispielsweise im Rahmen von Pressekonferenzen. Hier wird deutlich, dass WikiLeaks zwar innerhalb des journalistischen Systems agiert und sich zum Teil dessen Instrumenten bedient, sich jedoch in seiner Funktionsweise von massenmedialen Akteuren der Öffentlichkeit stark unterscheidet.
Ein weiteres Indiz dafür, dass WikiLeaks nicht einfach als journalistischer Akteur betrachtet werden kann, lässt sich schon aus der Tatsache ableiten, dass offenbar entsprechender Bedarf