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Phantastische Fahrten vom Altmeister der Kriminal- und Schauerliteratur Edgar Allan Poe: Das Manuskript in der Flasche - Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall - König Pest - Hinab in den Maelström - Drei Sonntage in einer Woche - Die Maske des roten Todes - Lebendig begraben - Die längliche Kiste - Die Sphinx - Das System des Dr. Teer und Prof. Feder
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Seitenzahl: 259
LUNATA
Phantastische Fahrten
© 1922 Edgar Allan Poe
Aus dem Englischen von Gisela Etzel
© Lunata Berlin 2021
ISBN 9783753427010
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt
Das Manuskript in der Flasche
Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall
König Pest
Hinab in den Maelström
Drei Sonntage in einer Woche
Die Maske des roten Todes
Lebendig begraben
Die längliche Kiste
Die Sphinx
Das System des Dr. Teer und Prof. Feder
Qui n'a plus qu'un moment à vivre,
N'a plus rien à dissimuler.
Quinault – Atys
Von meiner Heimat und meiner Familie läßt sich wenig sagen. Schlechte Behandlung hat mich von dieser vertrieben, und Jahre der Trennung haben mich jener entfremdet. Ererbter Reichtum verpflichtete mich zu einem außergewöhnlich sorgfältigen Bildungsgang, und mein grüblerischer Geist ermöglichte es mir, die Schätze frühen Studiums gründlich zu verarbeiten. Von allen Dingen erfreuten mich am meisten die Werke der deutschen Moralisten, nicht etwa, weil ich so unbedacht war, ihre geschwätzige Narrheit zu bewundern, sondern weil meine streng logische Denkweise es mir leicht machte, ihre Fehler aufzudecken. Man hat mir sogar oft ein allzu nüchternes Denken vorgeworfen und meinen Mangel an Phantasie als Verbrechen hingestellt; ja, ich war berüchtigt wegen meiner Skepsis. Und in der Tat befürchte ich, daß meine Vorliebe für Physik auch meinen Geist in einen Fehler unserer Zeit verfallen ließ – ich meine: in die Gewohnheit, alle Dinge auf die Prinzipien eben jener Wissenschaft zurückzuführen – selbst wenn sie noch so sehr außerhalb ihres Bereiches lagen.
Nach vielen auf weiten Reisen im Ausland verbrachten Jahren trat ich im Jahre 18 . . von Batavia, der Hafenstadt der wohlhabenden und volkreichen Insel Java, eine Segelreise nach dem Archipel der Sundainseln an. Der Anlaß zu dieser Reise war kein geschäftlicher, sondern lediglich eine nervöse Rastlosigkeit, die mich mit teuflischer Ausdauer plagte.
Unser Fahrzeug war ein schönes, kupferbeschlagenes Schiff von etwa vierhundert Tonnen, das in Bombay aus malabarischem Teakholz gebaut worden war. Seine Fracht bestand aus Baumwolle und Öl von den Lachadive-Inseln. Ferner hatten wir Kokosbast, Zucker, konservierte Butter, Kokosnüsse und einige Behälter mit Opium an Bord. Das Schiff war mit dieser leichten Last fest gefüllt und hatte infolgedessen entsprechenden Tiefgang.
Wir stachen bei schwachem Wind in See und segelten tagelang an der Ostküste von Java dahin, und der einzige Zwischenfall auf unserer eintönigen Fahrt war das gelegentliche Zusammentreffen mit einem Schiffchen der malabarischen Inselgruppe.
Eines Abends, als ich an Backbord lehnte, gewahrte ich im Nordosten eine seltsame einzelnstehende Wolke. Sie fiel mir auf – einmal ihrer Farbe wegen, und dann, weil es die erste Wolke war, die sich seit unserer Ausfahrt aus Batavia sehen ließ. Ich beobachtete sie aufmerksam bis Sonnenuntergang, als sie sich ganz plötzlich nach Osten und Westen ausbreitete und den Horizont mit einem schmalen Nebelstreif umgürtete, der aussah wie ein langer flacher Küstenstrich. Bald darauf überraschte mich die dunkelrote Farbe des Mondes und das sonderbare Aussehen des Meeres, das sich ungemein schnell veränderte; das Wasser schien durchsichtiger als gewöhnlich. Obgleich ich deutlich auf den Grund sehen konnte, bewies mir das Senkblei, daß unser Schiff fünfzehn Faden lief. Die Luft war jetzt unerträglich heiß und mit Dunstspiralen geladen, wie sie etwa erhitztem Eisen entsteigen. Je näher die Nacht herankam, desto mehr erstarb der schwache Windhauch, und eine Ruhe herrschte, wie sie vollkommener gar nicht gedacht werden kann. Eine auf Hinterdeck brennende Kerzenflamme machte nicht die leiseste Bewegung, und ein langes, zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltenes Haar hing ohne die geringste wahrnehmbare Vibration. Da aber der Kapitän sagte, er sehe keine Anzeichen einer drohenden Gefahr, und da wir quer zum Ufer standen, so ließ er die Segel auftuchen und den Anker fallen. Es wurde keine Wache aufgestellt, und die Schiffsmannschaft, die hauptsächlich aus Malaien bestand, lagerte sich ungezwungen auf Deck. Ich ging hinunter – mit der bestimmten Vorahnung eines Unheils. Alle Anzeichen schienen mir auf einen Samum hinzudeuten. Ich sprach dem Kapitän von meinen Befürchtungen; aber er schenkte meinen Worten keine Beachtung und würdigte mich nicht einmal einer Antwort. Meine Unruhe ließ mich jedoch nicht schlafen, und gegen Mitternacht ging ich an Deck. Als ich den Fuß auf die oberste Stufe der Kajütentreppe setzte, überraschte mich ein lautes, summendes Geräusch, das dem Sausen eines kreisenden Mühlrades glich, und ehe ich seine Ursache feststellen konnte, erbebte das Schiff in seinem ganzen Bau. Im nächsten Augenblick stürzte ein heulender Schaumregen auf uns nieder, raste über uns hin und fegte das Schiff vom Steven bis zum Heck leer.
Die jähe Wucht des Windstoßes war für die Rettung des Schiffes in gewissem Grade von Vorteil. Trotzdem es vom Wasser überschwemmt worden war, hob es sich doch, als seine Masten über Bord gegangen waren, nach einer Minute schwerfällig wieder aus der Tiefe, schwankte eine Weile unter dem ungeheuren Druck des Sturmes und richtete sich schließlich auf.
Durch welches Wunder ich der Vernichtung entging, ist unmöglich festzustellen. Zuerst durch den Wasserguß betäubt, fand ich mich, als ich wieder zur Besinnung kam, zwischen dem Hintersteven und dem Steuer eingeklemmt. Mit großer Mühe richtete ich mich auf, und als ich verwirrt um mich blickte, kam mir zunächst der Gedanke, wir seien in die Brandung geraten; so über alles Denken schrecklich war der Wirbel sich türmender, schäumender Wasser, die uns umtosten. Nach einiger Zeit vernahm ich die Stimme eines alten Schweden, der sich, kurz bevor wir den Hafen verließen, als Matrose bei uns verdingt hatte. Mit aller Kraft rief ich ihn an, und sogleich taumelte er zu mir. Wir entdeckten bald, daß wir die einzigen Überlebenden des Unfalls waren. Alle an Deck mit Ausnahme von uns beiden waren über Bord gefegt worden; der Kapitän und die Maate mußten im Schlaf umgekommen sein, denn die Kajüten waren ganz unter Wasser gesetzt worden. Ohne Beistand konnten wir nur wenig zur Sicherheit des Fahrzeugs tun, und unsere ersten Bemühungen wurden durch die Erwartung sofortigen Untergangs lahmgelegt. Unser Ankertau war natürlich beim ersten Sturmstoß zerrissen wie ein Bindfaden, andernfalls wären wir im Nu vernichtet gewesen. Wir trieben mit furchtbarer Schnelligkeit dahin, und die Wasser machten alles um uns her zu Splittern. Das Fachwerk unseres Hecks war gräßlich zerschmettert, und wir waren in jeder Hinsicht furchtbar zugerichtet. Zu unserer unaussprechlichen Freude aber fanden wir die Pumpen unversehrt und sahen, daß wir nur wenig Ballast verloren hatten. Die erste Wut des Sturmes war schon gebrochen, und wir befürchteten von der Heftigkeit des Windes wenig Gefahr; mit Verzweiflung aber sahen wir der Zeit entgegen, wo er sich legen würde, denn wir wußten, daß wir mit unserm lecken Fahrzeug in der nachfolgenden Hochflut rettungslos zugrunde gehen mußten.
Diese sichere Vorahnung schien sich jedoch nicht so bald erfüllen zu wollen. Fünf volle Tage und Nächte – während deren unser einziger Unterhalt aus einer geringen Menge Zucker bestand, die wir mit großer Mühe aus dem Vorderschiff holten – raste der Schiffsrumpf mit unfaßbarer Geschwindigkeit dahin, von kurzen, sprunghaften Windstößen getrieben, die, ohne der ersten Heftigkeit des Samums gleichzukommen, noch immer schrecklicher waren als irgendein Sturm, den ich vordem erlebte. Unser Kurs blieb in den ersten vier Tagen bis auf geringe Abweichungen süd-südöstlich, und wir mußten an der Küste von Neu-Holland entlang getrieben sein. Am fünften Tage wurde die Kälte unerträglich, trotzdem der Wind ein wenig mehr aus Norden kam. Die aufgehende Sonne hatte einen grünlichgelben Schein und stieg nur wenige Grade über den Horizont empor; sie gab nur ein unbestimmtes Licht. Es waren keine Wolken sichtbar, aber der Wind nahm zu und blies in unregelmäßigen, wuchtigen Stößen. Gegen Mittag – so gut wir das feststellen konnten – wurde unsere Aufmerksamkeit von neuem durch den Anblick der Sonne gefesselt. Sie gab kein eigentliches Licht, aber einen matten, düsteren Glanz ohne Widerschein, als liefen alle ihre Strahlen in einen Punkt zusammen. Gerade bevor sie ins wogende Meer sank, erlosch ihr zentrales Feuer, als habe eine unerklärliche Macht es ausgelöscht. Sie war nur noch ein schwacher silberner Reif, als sie hinabglitt in den unermeßlichen Ozean.
Von nun ab umhüllte uns tiefste Dunkelheit, so daß wir auf zwanzig Schritte Entfernung vom Schiff keinen Gegenstand zu erkennen vermochten. Unausgesetzt umgab uns ewige Nacht, die nicht einmal von dem phosphoreszierenden Meeresleuchten erhellt wurde, an das wir in den Tropen gewöhnt gewesen waren. Der Sturm raste mit unverminderter Heftigkeit, aber die breite Schaumfläche, die uns bisher begleitet hatte, schwamm nicht mehr auf den Wogen. Rundum war Schrecken und tiefste Finsternis und ungeheure, ebenholzschwarze drohende Wüste. Mehr und mehr wurde der Verstand des alten Schweden von abergläubischem Grauen umnachtet, und meine eigene Seele hüllte sich in stummes Entsetzen. Wir gaben den Versuch, die Herrschaft über das Schiff wieder zu erlangen, als völlig nutzlos auf, banden uns, so gut es eben ging, am stehengebliebenen Stumpf des Besanmastes fest und spähten angstvoll in den weiten Ozean hinaus. Jede Möglichkeit einer Zeitberechnung fehlte uns, und ebensowenig wußten wir, wo wir uns befanden. Wir waren uns aber völlig klar, weiter nach Süden vorgedrungen zu sein, als je vorher ein Seefahrer gekommen war, und wunderten uns um so mehr, nicht den üblichen Eisbergen zu begegnen. Inzwischen drohte jeder Augenblick unser letzter zu sein – jede berghohe Woge uns zu verschlingen. Das Stürmen übertraf alles, was ich für möglich gehalten hätte, und daß wir nicht sofort begraben wurden, ist ein Wunder. Mein Gefährte erwähnte, wie leicht unsere Ladung sei, und erinnerte mich an die hervorragende Leistungsfähigkeit unseres Schiffes. Ich konnte aber nicht umhin, die völlige Sinnlosigkeit jeglicher Hoffnung zu fühlen, und erwartete schweren Herzens den Tod; ich gab uns höchstens noch eine Stunde Frist, denn mit jedem Knoten, den das Schiff machte, wurden die ungeheuren schwarzen Wolken noch ungeheurer, noch grauenvoller. Bald warf es uns in atemraubende Höhen empor, die nicht einmal der Albatros erfliegt, bald schwindelte uns bei dem rasenden Sturz in irgendeine Wasserhölle, wo die Luft erstickend war und kein Laut den Schlummer des Kraken störte.
Wieder einmal befanden wir uns auf dem Grunde eines solchen Höllenschlundes, als plötzlich ein Schrei meines Gefährten die Nacht durchgellte.
»Sieh! Sieh!« schrie er mir in die Ohren. »Allmächtiger Gott! Sieh! Sieh!«
Während er sprach, gewahrte ich einen matten Schimmer roten Lichtes, der an den Seiten des ungeheuren Abgrunds, in dem wir lagen, herunterfloß und unser Deck mit eigentümlichem Glanz überstrahlte. Ich wandte den Blick nach oben und sah ein Schauspiel, das mir das Blut in den Adern erstarren machte. In grauenvoller Höhe über uns und genau am Rande des gewaltigen Trichters schwebte ein riesiges Schiff von etwa viertausend Tonnen. Obgleich es auf dem Gipfel einer Woge stand, die seine eigene Höhe mehr als hundertmal übertraf, so schien es mir dennoch größer, als irgendein Linienschiff oder Ostindienfahrer jemals sein konnte. Sein ungeheurer Rumpf war von tiefem Schwarz und wies keine Schnitzerei und keinen Zierrat auf, wie er sonst bei Schiffen üblich ist. Aus den offenen Schießscharten lugten in langer Reihe erzene Kanonenrohre und spielten das Licht zahlloser Laternen wider, die in der Takelage hin und her schwangen. Was uns am meisten wunderte und entsetzte, war, daß das Schiff mit vollen Segeln hineinraste in das grauenvolle Meer und den unnatürlichen Orkan. Als wir es zuerst entdeckten, sah man nur den Bug, der langsam aus irgendeinem fürchterlichen Abgrund auftauchte. Einen schaudervollen Augenblick schwebte es auf schwindelndhohem Wogenkamm, wie in stolzem Bewußtsein seiner Erhabenheit, dann bebte es, schwankte und – kam herab. Und seltsam: ich wurde jetzt ganz ruhig und überlegend. Ich stolperte so weit nach rückwärts, wie es anging, und erwartete furchtlos den Untergang. Unser eigenes Schiff hatte mittlerweile den Kampf aufgegeben und versank mit seinem Vorderteil ins Meer. Der niedersausende Koloß traf mit aller Wucht auf diesen unter Wasser befindlichen Teil, und die unausbleibliche Folge war, daß ich mit großer Heftigkeit auf das fremde Schiff hinübergeschleudert wurde.
Als ich niederfiel, stand das Schiff in den Wind und wendete, und der dadurch entstehenden Verwirrung schob ich es zu, daß mein Erscheinen von der Mannschaft nicht bemerkt wurde. Ohne große Schwierigkeit gelangte ich ungesehen zur großen Luke, die zum Teil geöffnet war, und fand bald Gelegenheit, mich im Schiffsraum zu verbergen. Warum ich das tat, vermag ich kaum zu sagen. Ein unbestimmtes Grauen vor der Besatzung des Schiffes hatte mich gleich bei ihrem ersten Anblick erfaßt und war vielleicht die Hauptursache, daß ich mich so versteckte. Ich hatte kein Verlangen, mich einem Haufen Leute anzuvertrauen, die mir beim ersten Blick sonderbar und unheimlich erschienen waren. Ich hielt es daher für ratsam, mir im Schiffsraum ein Versteck herzurichten. Ich tat dies, indem ich einen Haufen Bretter in der Weise zurechtschob, daß ein kleiner freier Raum zwischen den ungeheuren Schiffsrippen für mich entstand.
Ich hatte mein Werk kaum vollendet, als nahende Schritte mich zwangen, in meinen Winkel zu kriechen. Ein Mann ging schwankend unsicheren Schrittes vorbei. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, seine Gesamterscheinung dagegen gut wahrnehmen. Er schien von der Last der Jahre schwach und gebrechlich; seine zitternden Knie vermochten ihn kaum zu tragen. Er murmelte in dumpfen, abgerissenen Worten vor sich hin – in einer Sprache, die ich nicht verstehen konnte – und wühlte in einer Ecke in einem Haufen seltsamer Instrumente und halbzerfallener Schiffskarten. Sein Gebaren war eine sonderbare Mischung von kindischem Greisentum und der feierlichen Würde eines Gottes. Er ging schließlich wieder an Deck, und ich sah ihn nicht mehr.
Ein Gefühl, für das ich keinen Namen habe, hat von meiner Seele Besitz genommen – ein Empfinden, das keine Analyse zuläßt, das durch keinen altüberlieferten Lehrsatz, durch keine Erfahrung geklärt werden und zu dem, wie ich fürchte, selbst die Zukunft keinen Schlüssel bieten kann. Bei einem Geist wie dem meinigen ist alles Nachsinnen von Übel. Ich werde niemals – ja ich weiß es – niemals diese Gedanken und Vorstellungen zu einem Abschluß bringen. Doch ist es durchaus nicht verwunderlich, wenn diese Vorstellungen unbestimmt sind, da sie so neuartigen Quellen entspringen. Ein neuer Begriff, eine neue Wesenheit ist meiner Seele aufgegangen.
Es ist lange her, seit ich das Deck dieses grausigen Schiffes zuerst betrat, und die Fäden meines Geschicks scheinen in einen Punkt zusammenzulaufen. Unbegreifliche Menschen! In einer Versunkenheit, deren Art und Ursache mir unergründlich ist, gehen sie an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Mich zu verbergen, ist einfach eine Narrheit, denn das Volk will mich nicht sehen! Soeben erst bin ich dicht am Steuermann vorbeigegangen; und es ist noch nicht lange her, daß ich mich in die Privatkabine des Kapitäns hineinwagte und ihr das Material entnahm, um diese Aufzeichnungen niederzuschreiben. Ich werde von Zeit zu Zeit dies Tagebuch fortsetzen. Es ist wahr: ich werde nicht leicht Gelegenheit finden, es der Welt bekannt zu geben, ich will aber den Versuch nicht unterlassen. Ich werde das Manuskript im letzten Augenblick in eine Flasche schließen und sie ins Meer werfen.
Wieder hat sich etwas ereignet, meinen Grübeleien neue Nahrung zu geben. Sind solche Dinge das Werk blinden Zufalls? Ich hatte mich an Deck gewagt und mich, ohne daß man mir die geringste Beachtung schenkte, zwischen einem Stapel Webeleinen und alter Segel auf den Boden der Schaluppe niedergeworfen. Während ich über mein eigenartiges Schicksal nachdachte, strich ich ganz unbewußt mit einem Teerpinsel, der mir irgendwie in die Hand geraten war, über den Knick eines sorgsam gefalteten Leesegels, das neben mir auf einer Tonne lag. Das Leesegel ist jetzt über dem Schiff ausgespannt, und die gedankenlosen Pinselstriche bilden das groß hingeschriebene Wort: Entdeckung.
Über die Bauart des Schiffes habe ich in letzter Zeit viele Beobachtungen gemacht. Obgleich gut bewehrt, scheint es mir doch kein Kriegsschiff zu sein. Seine Takelage, seine Form und allgemeine Ausrüstung sprechen dagegen. Was es nicht ist, kann ich leicht wahrnehmen; was es ist, läßt sich unmöglich sagen. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wenn ich seine seltsame Gestalt, den eigentümlichen Bau seiner Spieren, seine riesenhafte Größe, seine unzähligen Segel, seinen streng einfachen Bug und sein altmodisches Heck betrachte, so sind mir das alles längst vertraute Dinge, und mit diesen unklaren Schatten von Erinnerung vermischt sich eine unbestimmte Vorstellung an alte Bücher und Chroniken und fern vergangene Jahre.
Ich habe die Schiffsrippen untersucht. Sie bestehen aus einem Material, das mir fremd ist. Das Holz hat eine eigenartige Struktur, die es gerade für den Zweck, dem es dient, ungeeignet erscheinen läßt. Ich meine seine ungemeine Porosität, die nicht zu verwechseln ist mit dem wurmstichigen Zustand aller Schiffe in diesen Gewässern und auch nichts mit dem natürlichen Altersverfall zu tun hat. Die Bemerkung mag vorwitzig erscheinen, doch ich behaupte, das Holz hätte von der Sumpfeiche sein können, wenn es möglich wäre, Sumpfeichenholz durch irgendwelche Mittel biegsam zu machen.
Beim Überlesen des letzten Satzes kommt mir auf einmal ein Kernspruch ins Gedächtnis, den ein alter, wetterharter holländischer Seemann anzuwenden pflegte. »Es ist so gewiß«, sagte er, sobald jemand an seiner Wahrhaftigkeit zweifelte, »so gewiß, als es ein Meer gibt, in welchem das Schiff selbst in seinem Gebälk wächst, wie der lebendige Leib des Seefahrers.«
Vor etwa einer Stunde war ich kühn genug, mich in eine Gruppe der Mannschaft hineinzudrängen. Sie zollten mir nicht die geringste Aufmerksamkeit und schienen, obgleich ich mitten unter ihnen stand, keine Ahnung von meiner Gegenwart zu haben. Sie alle trugen, gleich dem einen, den ich zuerst im Schiffsraum gesehen hatte, untrügliche Zeichen hohen Alters. Ihre Knie wankten vor Schwäche; ihre Schultern waren von Alter und Hinfälligkeit tief gebeugt; ihre zusammengeschrumpfte Haut rasselte im Wind; ihre Stimmen waren leise, zittrig und heiser, ihre Augen glanzlos und triefend, und ihre dünnen, grauen Haare sträubten sich furchtbar im Sturm. Rund um sie her, überall an Deck verstreut, lagen mathematische Instrumente von wunderlicher und ganz veralteter Konstruktion.
Ich erwähnte vor einiger Zeit das Hissen eines Leesegels. Seit jener Zeit hat das Schiff, vom Winde umhergeworfen, seinen schrecklichen Lauf nach Süden fortgesetzt; alle Segel, selbst die armseligsten Fetzen, sind vom Royalsegel bis zur untersten Leesegelspiere gehißt, und jeden Augenblick tauchen seine Bramsegel-Rahenocks in die schaudervollste Wasserhölle, die Menschengeist sich nur vorstellen kann. Ich komme soeben von Deck, wo es mir unmöglich war, Fuß zu fassen, obgleich die Mannschaft wenig Unbehagen zu verspüren scheint. Es ist ein unerhörtes Wunder, daß unser ungeheures Schiff nicht sofort von den Wogen verschlungen wird. Sicherlich sind wir verdammt, für immer am Rande der Ewigkeit dahinzuschweben, ohne den letzten Sprung in den Abgrund tun zu dürfen. Von Wogen, tausendmal höher, als ich sie je gesehen, gleiten wir herab mit der Sicherheit einer Seemöwe, und die gewaltigen Wasser bäumen sich über uns wie Dämonen der Tiefe, doch wie Dämonen, die nur drohen, aber nicht zerstören dürfen. Ich komme dahin, unsere auffallende Rettung aus jeder Gefahr der einzig natürlichen Ursache solcher Wirkung zuzuschieben: ich muß annehmen, das Schiff befinde sich in irgendeiner Strömung von fortreißender Gewalt.
Ich habe dem Kapitän von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden und in seiner eigenen Kabine – aber es kam, wie ich erwartete: er schenkte mir keine Beachtung. Obgleich ein zufälliger Beobachter in seiner Erscheinung nichts Außergewöhnliches sehen wird, so mischte sich doch in die Verwunderung, mit der ich zu ihm aufsah, ein unwiderstehliches Gefühl von Ehrerbietung und Scheu. An Leibesgröße kommt er mir fast gleich; er hat also etwa fünf Fuß acht Zoll. Seine Gestalt ist stark und wohlgebaut, weder besonders robust noch sonstwie bemerkenswert. Es ist der eigenartige Gesichtsausdruck – ist die starke, wundersame, ergreifende Gewißheit so hohen, so ungeheuren Alters, was sich meiner Seele unauslöschlich einprägt. Seine nur wenig gefurchte Stirn scheint wie von Myriaden von Jahren gezeichnet. Seine grauen Haare sind Urkunden der Vergangenheit, und seine Augen, von noch tieferem Grau, Sibyllen der Zukunft.
Auf dem Boden der Kabine lagen allenthalben seltsame Folianten mit Eisenschlössern und verrostete Instrumente und veraltete, längst vergessene Karten. Er stützte den Kopf in die Hand und brütete mit fieberndem, unruhigem Blick über einem Pergamentblatt, das einen Befehl zu enthalten schien, wenigstens trug es die Unterschrift eines Monarchen. Er murmelte vor sich hin – ganz wie der erste Seemann, den ich im Schiffsraum gesehen hatte – und wieder waren es törichte, unverständliche Worte einer fremden Sprache; und obgleich der Mann dicht neben mir war, schien seine Stimme wie aus Meilenferne zu mir herzudringen.
Das Schiff und alles auf ihm ist wie mit Greisenhaftigkeit beladen. Die Mannschaft gleitet hin und her wie Gespenster begrabener Jahrhunderte; ihre Augen haben einen gierigen, rastlosen Ausdruck, und wenn ihre Gestalten im unsichern Schein der Laternen meinen Weg kreuzen, beschleicht mich ein Gefühl, wie ich es nie zuvor empfand, trotzdem ich mich mein Leben lang mit Altertümern befaßt und in Balbek und Tadmor und Persepolis die Schatten zerfallener Säulen in mich aufgesogen habe, bis meine Seele selber zur Ruine wurde.
Ich blicke um mich und schäme mich meiner früheren Besorgnisse. Wenn ich schon vor dem Winde zitterte, der uns bisher begleitete, muß ich nicht vor Entsetzen vergehen in diesem Chaos von Sturm und Meer, demgegenüber Bezeichnungen wie Wirbelwind und Samum bedeutungslos sind? In nächster Nähe des Schiffes ist alles Nacht und unergründlich schwarzes Wasser; in der Entfernung von etwa einer Meile aber, zu beiden Seiten des Schiffes, sieht man undeutlich und in Abständen ungeheure Eiswälle in den trostlosen Himmel ragen, wie Mauern, die das Weltall umschließen.
Es ist, wie ich annahm: das Schiff befindet sich in einer Strömung – wenn man diesen Namen anwenden kann auf eine Flut, die heulend und kreischend zwischen den Eiswällen gen Süden donnert, mit der Geschwindigkeit eines sich überstürzenden Wasserfalls.
Das Grauen meiner Empfindungen zu begreifen, ist, wie ich annehme, ganz unmöglich; dennoch wird selbst meine Verzweiflung von der Neugier beherrscht, in die Geheimnisse dieser schaudervollen Gegend einzudringen, von einer Neugier, die mir die entsetzlichste Todesart erträglicher macht. Es ist Tatsache, daß wir irgendeiner unerhörten Erkenntnis entgegeneilen – irgendeinem unenthüllbaren Geheimnis, dessen Enträtselung Untergang bedeutet. Vielleicht führt dieser Strom uns bis zum Südpol selbst. Ich muß bekennen, daß diese augenscheinlich so absurde Vorstellung alle Wahrscheinlichkeit für sich hat.
Die Mannschaft wandert mit rastlosen, zitternden Schritten an Deck auf und ab; ihre Gesichter aber tragen eher den Ausdruck leidenschaftlicher Hoffnung als den mutloser Verzweiflung.
Wir treiben noch immer vor dem Wind, und da wir mit Segeln ganz bepackt sind, so wird das Schiff zuweilen geradezu in die Luft gehoben! O Grauen über Grauen! – Die Eismauern rechts und links hören plötzlich auf, und wir wirbeln in ungeheuren konzentrischen Kreisen dahin – rund um den Rand eines riesigen Amphitheaters, dessen gegenüberliegende Seite sich in Dunkel und Ferne verliert. Doch wenig Zeit bleibt mir, über mein Schicksal nachzudenken! Die Spiralen werden enger und enger – wir stürzen mit rasender Eile in den Strudel – und mitten im Donnergeheul von Meer und Sturm erbebt das Schiff, wankt und – o Gott! – versinkt!
Anmerkung: Die Arbeit »Das Manuskript in der Flasche« wurde zum ersten Male im Jahre 1831 veröffentlicht; und erst einige Jahre später wurden mir die Mercatorschen Seekarten bekannt, nach deren Darstellung der Ozean sich in vier Mündungen in den (nördlichen) Polargolf ergießt, um dort von den Eingeweiden der Erde verschlungen zu werden. Der Pol selbst ist dargestellt als ein schwarzer, zu gewaltiger Höhe aufragender Fels.
Als Herrscher über das wilde Heer
Ungezügelter Phantasien,
Auf Windroß und mit Feuerspeer
Will fort in die Wildnis ich ziehen.
Tom O'Bedlams Sang
Den neuesten Berichten aus Rotterdam zufolge scheinen die Gelehrten dieser Stadt sich in höchster Aufregung zu befinden. In der Tat haben sich dort so völlig unerwartete Phänomene gezeigt – so unerhört neue, allen bisherigen Anschauungen aufs äußerste zuwiderlaufende Dinge –, daß zweifelsohne binnen kurzem ganz Europa in hellem Aufruhr lodern, die Physik einer Umwälzung verfallen und der gesunde Menschenverstand und die Astronomie sich in die Haare geraten werden.
Es begab sich, daß am … (ich weiß das Datum nicht genau) sich eine ungeheure Menschenmenge aus nicht ersichtlichen Gründen auf dem großen Börsenplatz in der wohlhabenden Stadt Rotterdam versammelt hatte. Es war ein für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Tag – kaum ein Lüftchen rührte sich, und die Menge empfand es nicht unangenehm, ab und zu von kurzen Regenschauern besprüht zu werden, die aus gewaltigen, über den blauen Himmelsbogen verteilten weißen Wolkenballen niederstürzten. Gegen Mittag machte sich eine schwache, aber unverkennbare Unruhe unter den Versammelten bemerkbar; es folgte ein Geplapper von zehntausend Mäulern, und einen Augenblick später waren zehntausend Köpfe zum Himmel gereckt, zehntausend Pfeifen fielen gleichzeitig aus zehntausend Mundwinkeln, und ein Geschrei, das nur mit dem Getöse des Niagara verglichen werden kann, erscholl lang, laut und ungestüm durch die Stadt und die ganze Umgebung von Rotterdam.
Die Ursache des Tumults wurde bald offenbar. Hinter der riesigen Masse eines der bereits erwähnten scharf umrissenen Wolkenberge schob sich langsam in den blauen Raum heraus ein rätselhafter, untrüglich aber massiver Gegenstand von so sonderbarer Form, so wunderlich zusammengesetzt, daß der Haufe behäbiger Bürger, die offenen Mundes drunten standen, nicht das geringste davon begriff und das Ding nicht genug bestaunen konnte. Was mochte das sein? Bei allen Teufeln Rotterdams, was mochte das sein und bedeuten? Keiner wußte es, keiner konnte es sich denken; keiner – nicht einmal der Bürgermeister Mynheer Superbus van Underduk – wußte den Schlüssel zu diesem Geheimnis zu finden. Da man also nichts Vernünftigeres tun konnte, schoben alle wie ein Mann die Pfeife in den Mundwinkel zurück, und – immer das Wunder im Auge behaltend – paffte man, hielt inne, watschelte umher und grunzte bedeutsam – watschelte zurück, grunzte, machte eine Pause und – paffte schließlich weiter.
Inzwischen aber näherte sich der Gegenstand so unermeßlicher Neugier und die Ursache so zahlloser Pfeifenwölkchen langsam der guten Stadt und kam schließlich nahe genug, um deutlich erkannt zu werden. Es schien – ja, es war zweifellos eine Art Ballon; sicher aber hatte man solch einen Ballon nie vorher in Rotterdam gesehen. Denn wer, frage ich, hätte je von einem Ballon gehört, der vollständig aus schmutzigem Zeitungspapier hergestellt war? Niemand in ganz Holland, sicherlich! Hier aber schwebte solch ein unglaubliches Ding den Leuten vor der Nase – oder richtiger, in einiger Entfernung über ihrer Nase – hier sah man so etwas, und es war, wie ich aus sicherster Quelle weiß, wahrhaftig aus dem genannten Material hergestellt, von dessen Verwendung zu einem solchen Zweck vordem noch kein Mensch etwas gehört hatte. – Es war eine unerhörte Herausforderung für den Verstand der Burghers von Rotterdam.
Was die Gestalt der Erscheinung anlangt, so schien sie noch unverantwortlicher, denn es war nicht mehr und nicht weniger als eine ungeheure, umgestülpte Narrenkappe. Und diese Ähnlichkeit wurde um nichts vermindert, als die Menge bei näherem Zusehen gewahrte, daß von der Spitze eine lange Troddel herunterhing und rund um den oberen Rand, die Kegelbasis, kleine Instrumente hingen, die an Schafglöckchen erinnerten und beständig nach der Melodie von »Betty Martin« klingelten.
Doch schlimmer noch! – Mit blauen Bändern am unteren Ende des phantastischen Apparats befestigt, hing als Gondel ein mächtiger, hellgrauer Biberhut mit einem unerhört breiten Rand und halbkugelförmigem Kopfnapf, den ein schwarzes Band mit silberner Schnalle zierte. Es ist jedoch immerhin erwähnenswert, daß viele Einwohner von Rotterdam schworen, den Hut schon wiederholt gesehen zu haben; allen kam er wohlbekannt vor, und Vrow Grettel Pfaall stieß bei seinem Anblick einen Laut freudiger Überraschung aus und erklärte, es sei todsicher der Hut ihres guten Mannes. Das blieb nun ein um so bemerkenswerterer Umstand, als Pfaall vor etwa fünf Jahren zusammen mit drei andern ganz plötzlich auf eine ganz unerklärliche Weise aus Rotterdam verschwunden und trotz aller erdenklichen Nachforschungen bis zum heutigen Tag nicht aufzufinden gewesen war. Allerdings – man hatte unlängst an einer abgelegenen Stelle im Osten der Stadt Knochen gefunden, die man für Menschengebeine hielt; es lag noch allerlei seltsamer Schutt dabei – und einige Leute vermuteten nun, an jenem Ort sei ein scheußlicher Mord verübt worden und die Opfer seien aller Wahrscheinlichkeit nach Hans Pfaall und seine Gefährten gewesen. – Doch fahren wir fort.
Der Ballon (denn zweifelsohne war es einer) hatte sich jetzt bis auf etwa hundert Fuß zur Erde herabgelassen und gestattete der Menge drunten, seinen Insassen näher zu betrachten. Das war wirklich eine sehr eigenartige Person. Keinesfalls größer als zwei Fuß! Aber selbst diese geringe Größe würde genügt haben, das Gleichgewicht zu gefährden und den Fahrer über den Rand seiner winzigen Gondel zu schleudern, hätte ihn nicht ein Reif festgehalten, der ihm die Brust umspannte und an den Ballonseilen befestigt hing. Die Gestalt des kleinen Mannes war verhältnismäßig breit, von höchst absonderlicher Rundlichkeit. Seine Füße konnte man natürlich nicht sehen. Die Hände waren ungeheuer groß. Das Haar war grau und rückwärts in ein Schwänzchen zusammengerafft. Seine Nase bog sich unendlich lang vor und glänzte entzündet; die Augen erschienen voll, strahlend und scharf. Kinn und Wangen, vom Alter runzlig, waren breit und aufgedunsen; von Ohren irgendwelcher Art jedoch war an seinem ganzen Kopf nichts zu entdecken. Dieses wunderliche Männchen hatte sich in einen lockeren Überrock von himmelblauem Satin und in enge Kniehosen von gleichem Stoff gekleidet, die mit Silberschnallen geschlossen waren. Seine Weste bestand aus strahlend gelbem Stoff; eine weiße Taffetmütze saß munter seitwärts auf dem Kopf, und zur Vervollständigung der Ausstattung umhüllte ein blutrotes seidenes Tuch den Hals und fiel zierlich in einer phantastischen Schleife von übertriebenem Umfang auf die Brust herab.
Als der kleine alte Herr, wie ich schon sagte, bis auf etwa hundert Fuß zur Erdoberfläche herabgekommen war, wurde er plötzlich von Angst befallen und schien nicht geneigt, sich der »terra firma« noch mehr zu nähern. Er warf also aus einem Leinensack, den er mit vieler Mühe aufhob, eine Menge Sand aus, und augenblicklich hielt sein Fahrzeug. Eilig und aufgeregt holte er nun aus einer Seitentasche des Überrocks eine große Brieftasche aus Saffianleder hervor. Diese wog er argwöhnisch in der Hand, betrachtete sie dann höchst verwundert und war offenbar über ihre Schwere erstaunt. Endlich öffnete er sie, entnahm ihr einen riesigen, mit rotem Lack versiegelten und mit rotem Zwirn verschnürten Brief und ließ ihn genau zu den Füßen des Bürgermeisters Superbus van Underduk niederfallen.
Seine Exzellenz bückte sich, um den Brief aufzuheben. Der Luftschiffer aber, der sich noch immer höchst unbehaglich fühlte und offenbar weiter nichts in Rotterdam zu verrichten hatte, begann im gleichen Augenblick Vorbereitungen zu seiner Abreise zu treffen; und da er, um den Aufstieg zu ermöglichen, genötigt war, Ballast auszuwerfen, fiel jeder einzelne von dem halben Dutzend Säcke, die er, ohne ihren Inhalt zu entleeren, einen nach dem andern herunterwarf, unglücklicherweise auf den Rücken des Herrn Bürgermeisters, der infolgedessen nicht weniger als ein halbes dutzendmal angesichts sämtlicher Leute von Rotterdam Purzelbaum schlug. Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß der große Underduk diese Unverschämtheit von Seiten des alten Männchens ungestraft hinzunehmen gesonnen war. Es heißt im Gegenteil, daß er bei jeder der sechs Umdrehungen einen betonten und wütenden Zug aus der Pfeife tat, die er die ganze Zeit krampfhaft festhielt und (so Gott will) bis zum Tag seines Hinscheidens festzuhalten beabsichtigt.