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Gotthold Ephraim Lessings Werk "Philosophische Beiträge" ist eine Sammlung von Aufsätzen und Abhandlungen, die sich mit verschiedenen philosophischen Themen auseinandersetzen. Lessing präsentiert seine Gedanken auf eine klare und prägnante Weise, die den Leser dazu anregt, über komplexe philosophische Fragen nachzudenken. Der literarische Stil ist geprägt von einer tiefen Gelehrsamkeit und einer klaren Argumentationsstruktur, die es auch dem nicht spezialisierten Leser ermöglicht, die komplexen Themen zu verstehen. Diese Sammlung von philosophischen Schriften ist ein wichtiger Beitrag zur Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts und zeigt Lessings Talent als Denker und Schriftsteller.
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Seitenzahl: 1767
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Inhaltsverzeichnis
Ernst Woran denks du, Freund?
Falk An nichts.
Ernst Aber du bist so still.
Falk Eben darum. Wer dekt, wenne er geniesst? Und ich geniesse des erquickenden Morgens.
Ernst Du hast recht; und du hättest mir meine Frage nur zurückgeben dürfen.
Falk Wenn ich an etwas dächte, würde ich darüber sprechen. Nichts geht über das laut denken mit einem Freund.
Ernst Gewiss.
Falk Hast du des schönen Morgens schon genug genossen, fällt dir etwas ein: so sprich du Mir fällt nichts ein.
Ernst Gut das! – Mir fällt ein, dass ich dich schon längst um tewas fragen wollen.
Falk So frage doch.
Ernst Ist es wahr, Freund, dass du ein Freimäurer bist?
Falk Die Frage ist eines, der keiner ist.
Ernst Freilich! – Aber antworte mir geradezu. – Bist du ein Freimäurer?
Falk Ich glaube es zu sein.
Ernst Die Antwort ist eines, der seiner Sache eben nicht gewiss ist.
Falk O doch! Ich bin meiner Sache so ziemlich gewiss.
Ernst Denn du wirst ja wohl wissen, ob und wenn und wo und von wem du aufgenommen worden.
Falk Das weiss ich allerdings; aber das würde so viel nicht sagen wollen.
Ernst Nicht?
Falk Wer nimmt nicht auf, und wer wird nicht aufgenommen!
Ernst Erkläre dich.
Falk Ich glaube ein Freimäurer zu sein; nicht sowohl, weil ich von älteren Maurern in einer gesetzlichen Loge aufgenommen worden: sondern weil ich einsehe und erkenne, was und warum die Freimäurerei ist, wenn und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördet oder gehindert wird.
Ernst Und drückst dich gleichwohl so zweifelhaft aus? – »Ich glaube einer zu sein!«
Falk Dieses Ausdrücks bin ich nun so gewohnt. Nicht zwar, als ob ich Mangel an eigner Ueberzeugung hätte: sondern weil ich nicht gern mich jemanden gerade in den Weg stellen mag.
Ernst Du antwortest mir als einem Fremden.
Falk Fremder oder Freund!
Ernst Du bist aufgenommen, du weisst alles.
Falk Andere sind auch aufgenommen und glauben zu wissen.
Ernst Könntest du denn aufgenommen sein, ohne zu wissen, was du weisst?
Falk Leider!
Ernst Wieso?
Falk Weil viele, welche aufnehmen, es selbst nicht wissen, die wenigen aber, die es wissen, es nicht sagen können.
Ernst Und könntest du denn wissen, was du weiszt, ohne aufgenommen zu sein?
Falk Warum nicht? – Die Freimäurerei ist nichts Willkürliches, nichts Entbehrliches, sondern etwas Notwendiges, das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft gegründet ist. Folglich muss man auch durch eignes Nachdenken ebensowohl darauf verfallen können, als man durch Anleitung darauf geführet wird.
Ernst Die Freimäurerei wäre nichts Willkürliches? – Hat sie nicht Worte und Zeichen und Gebräuche, welche alle anders sein könnten und folglich willkürlich sind?
Falk Das hat sie. Aber diese Worte und diese Zeichen und Gebräuche sind nicht die Freimäurerei.
Ernst Die Freimäurerei wäre nichts Entbehrliches? – Wie machten es denn die Menschen, als die Freimäurerei noch nicht war?
Falk Die Freimäurerei war immer.
Ernst Nun, was ist sie denn, diese notwendige, diese untentbehrliche Freimäurerei?
Falk Wie ich dir schon zu verstehen gegeben: Etwas das selbst die, die es wissen, nicht sagen können.
Ernst Also ein Unding.
Falk Uebereile dich nicht.
Ernst Wovon ich einen Begriff habe, das kann ich auch mit Worten ausdrücken.
Falk Nicht immer; und oft wenigsten nicht so, dass andere durch Worte volkommen ebendenselben Begriff bekommen, den ich dabei habe.
Ernst Wenn nicht vollkommen ebendenselben, doch einen etwanigen.
Falk Der etwanige Begriff wäre hier unnütz oder gefährlich. Unnütz, wenn er nicht genug, und gefährlich, wenn er das geringste zu viel enthielte.
Ernst Sonderbar! Da also selbst die Freimäurer, welche das Geheimnis ihres Ordens wissen, es nicht wörtlich mitteilen können, wie breiten sie denn gleichwohl ihren Orden aus?
Falk Durch Taten. Sie lassen gute Männer und Jûnglinge, die sie ihres nähern Umgangs würdigen, ihre Taten vermuten, erraten, sehen, soweit sie zu sehen sind; diese finden Geschmack daran und tun ähnliche Taten.
Ernst Taten? Taten der Freimäurer? Ich kenne keine andere als ihre Reden und Lieder, die meistenteils schöner gedruckt als gedacht und gesagt sind.
Falk Das haben sie mit mehrern Reden und Liedern gemein.
Ernst Oder soll ich das für ihre Taten nehmen, was sie in diesen Reden und Liedern von sich rühmen?
Falk Wenn sie es nicht bloss von sich rühmen.
Ernst Und was rühmen sie denn von sich? – Lauter Dinge, die man von jedem guten Menschen, von jedem rechschaffnen Bürger erwartet. – Sie sind so freundlich, so guttätig, so gehorsam, so voller Vaterlandsliebe!
Falk Ist denn das nichts?
Ernst Nichts! – um sich dadurch von andern Menschen auszusondern. – Wer soll das nicht sein?
Falk Soll!
Ernst Wer hat, dieses zu sein, nicht, auch ausser der Freimäurerei, Antrieb und Gelegenheit genug?
Falk Aber doch in ihr und durch sie eine Antrieb mehr.
Ernst Sage mir nichts von der Menge der Antriebe. Lieber einem einzigen Antriebe alle mögliche intensive Kraft gegeben! – Die menge solcher Antriebe ist wie die Menge der Räder in einer Maschine. Je mehr Räder : desto wandelbarer.
Falk Ich kann dir das nicht widersprechen.
Ernst Und was für einen Antrieb mehr! – Der alle andre Antriebe verkleinert, verd¨chtig macht! sich selbst für den stärksten und besten ausgibt!
Falk Freund, sei billig! – Hyperbel, Quidproquo jener schalen Reden und Lieder! Proberwerk! Jüngerarbeit!
Ernst Das will sagen : Bruder Redner ist ein Schwätzer.
Falk Das will nur sagen : was Bruder Redner an den Freimäurern preiset, das sind nun freilich ihre Taten eben nicht. Denn Bruder Redner ist wenigstens kein Plauderer ; und Taten sprechen von selbst.
Ernst Ja, nun merke ich, worauf du zielest. Wie konnten sie mir nicht gleich einfallen, diese Taten, diese sprechende Taten. Fast möchte ich sie schreiende nennen. Nicht genug, dass sich die Freimäurer einer den andern unterstützen, auf das kräfstigste unterstützen : denn das wäre nur die notwendige Eigenschaft einer jeden Bande. Was tun sie nicht für das gesamte Publikum eines jeden Staats, dessen Glieder sie sind!
Falk Zum Exempel? – Damit ich doch höre, ob du auf der rechten Spur bist.
Ernst Zum Exempel die Freimäurer in Stockholm! – Haben sie nicht ein grosses Findelhaus errichtet?
Falk Wenn die Freimäurer in Stockholm sich nur auch bei einer andern Gelegenheit tätig erwiesen haben.
Ernst Bei welchem andern?
Falk Bei sonst andern, meine ich.
Ernst Und die Freimäurer in Dresden, die arme junge Mädchen mit Arbeit beschäftigen, sie klöppeln und stükken lassen – damit das Findelhaus nur kleiner sein dürfe.
Falk Ernst! Du weisst wohl, wenn ich dich deines Namens erinnere.
Ernst Ohne alle Glossen dann. Und die Freimäurer in Braunschweig, die arme fähige Knaben im Zeichnen unterrichten lassen.
Falk Warum nicht?
Ernst Und die Freimäurer in Berlin, die das Basedowsche Philanthropin unterstützen.
Falk Was sagst du? – Die Freimäurer? Das Philanthropin? unterstützen? – Wer hat dir das aufgebunden?
Ernst Die Zeitung hat es ausposaunet.
Falk Die Zeitung! – Da müsste ich Basedows eigenhändige Quittung sehen. Und müsste gewiss sein, dass die Quittung nicht an Freimäurer in Berlin, sondern an die Freimäurer gerichtet wäre.
Ernst Was ist das? – Billigest du denn Basedows Institut nicht?
Falk Ich nicht? Wer kann es mehr billigen?
Ernst So wirst du ihm ja diese Unterstützung nicht misgönnen?
Falk Misgönnen? – Wer kann ihm alles Gutes mehr gönnen als ich?
Ernst Nun dann! – Du wirst mir unbegreiflich.
Falk Ich glaube wohl. Dazu habe ich unrecht. – Denn auch die Freimäurer können etwas tun, was sie nicht als Freimäurer tun.
Ernst Und soll das an allen auch ihren übrigen guten taten gelten?
Falk Vielleicht! – Vielleicht, dass alle die guten Taten, die du mir da genammt hast, um mich eines scholastischen Ausdruckes der Kürze wegen zu bedienen, nur ihre Taten ad extra sind.
Ernst Wie meinst du das?
Falk Nur ihre Taten, die dem Volke in die Augen fallen ; – nur Taten, die sie bloss deswegen tun, damit sie dem Volk in die Augen fallen sollen.
Ernst Um Achtung und Duldung zu geniessen?
Falk Könnte wohl sein.
Ernst Aber ihre wahre Taten denn? – Du schweigst?
Falk Wenn ich dir schon geantwortet hätte? – Ihre wahre Taten sind ihr Geheimnis.
Ernst Ha! ha! Also auch nicht erklärbar durch Worte?
Falk Nicht wohl! – Nur so viel kann und darf ich dir sagen : die wahren Taten die Freimäurer sind so gross, so weit aussehend, dass ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man sagen kann : das haben sie getan! Gleichwohl haben sie alles Gute getan, was noch in der Welt werden wird – merke wohl, in der Welt.
Ernst O geh! Du hast mich zum besten.
Falk Wahrlich nicht – Aber sieh! dort fliegt ein Schmetterling, den ich haben muss. Es ist der von der Wolfmichsraupe. – Geschwind sage ich dir nur noch : die wahren Taten der Freimäurer zielen dahin, um grösstenteils alles, was man gemeinlich gute Taten zu nennen pflegt, entbehrlich zu machen.
Ernst Und sind doch auch gute Taten?
Falk Es kann keine bessere geben. – Denke einen Augenblick darüber nach. Ich bin gleich wieder bei dir.
Ernst Gute Taten, welche darauf zielen, gute taten entbehrlich zu machen? – Das ist ein Rätsel. Und über ein Rätsel denke ich nicht nach. – Lieber lege ich mich indes unter den Baum und sehe den Ameisen zu.
Ernst Nun? wo bleibst du denn? Und hast den Schmeterling doch nicht?
Falk Er lockte mich von Strauch bis an den Bach. – Auf einmal war er herüber.
Ernst Ja, ja. Es gibt solche Locker!
Falk Hast du nachgedacht?
Ernst Ueber was? Ueber deine Rätsel? – Ich werde ihn auch nicht fangen, den schönen Schmetterling! Darum soll er mir aber auch weiter keine Mühe machen. – Einmal von der Freimäurern mit dir gesprochen und nie wieder . Denn ich sehe ja wohl ; du bist wie sie alle.
Falk Wie sie alle? Das sagen diese alle nicht.
Ernst Nicht? So gibt es ja wohl auch Ketzer unter den Freimäurern? Und du wärest einer. – Doch alle Ketzer haben mit den Rechtgläubingen immer noch etwas gemein. Und davon sprach ich.
Falk Wovon sprachst du?
Ernst Rechtgläubinge oder ketzerische Freimäurer – sie alle spielen mit Worten und lassen sich fragen und antworten, ohne zu antworten.
Falk Meinst du? – Nun wohl, so lass uns von etwas andern reden. Denn einmal hast du mich aus dem behaglichen Zustande des stummen Staunens gerissen.
Ernst Nichts ist leichter, als dich in diesen Zustand wieder zu versetzen. – Lass dich nur hier bei mir nieder und sieh!
Falk Was denn?
Ernst Das Leben und Weben auf und in und um diesen Ameisenhaufen. Welche Geschäftigkeit und doch welche Ordnung! Alles trägt und schleppt und schiebt ; und keines ist dem andern hinderlich. Sieh nur? Sie helfen einander sogar.
Falk Die Ameisen leben in Gesellschaft wie die Bienen.
Ernst Und in einer noch wunderbarern Gesellschaft als die die Bienen. Denn sie haben niemand unter sich, der sie zusammenhält und regieret.
Falk Ordnung muss also doch auch ohne Regierung bestehen können.
Ernst Wenn jedes einzelne sich selbst zu regieren weiss : warum nicht?
Falk Ob es wohl auch einmal mit den Menschen dahin kommen wird?
Ernst Wohl schwerlich!
Falk Schade!
Ernst Jawohl!
Falk Steh auf und lass uns gehen. Denn sie werden dich bekriechen, die Ameisen ; und eben fällt auch mir etwas bei, was ich bei dieser Gelegenheit dich doch fragen muss. – Iche kenne deine Gesinnungen darüber noch gar nicht.
Ernst Worüber?
Falk Ueber die bürgerliche Gesellschaft des Menschen überhaupt. – Wofür hälst du sie?
Ernst Für etwas sehr Gutes.
Falk Ohnestreitig. – Aber hälst du sie für Zweck oder Mittel?
Ernst Ich verstehe dich nicht.
Falk Glaubst du, dass die Menschen für die Staaten erschaffen werden? Oder dass die Staaten für die Menschen sind?
Ernst Jenes scheinen einige behaupten zu wollen. Dieses aber mag wohl das Wahrere sein.
Falk So denke ich auch. – Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelme Mensch seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sichrer geniessen könne. – Das Totale der einzeln Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats, bei welcher auch noch so wenig einzelme Glieder leiden und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nichts!
Ernst Ich möchte das nicht so laut sagen.
Falk Warum nicht?
Ernst Eine Wahrheit, die jeder nach seiner eignen Lage beurteilet, kann leicht gemissbraucht werden.
Falk Weisst du, Freund, dass du schon ein halber Freimäurer bist?
Ernst Ich?
Falk Du. Denn du erkennst ja schon Wahrheiten, die man besser verschweigt.
Ernst Aber doch sagen könnte.
Falk Der Weise kann nicht sagen, was er besser verschweigt.
Ernst Nun, wie du wilst! – Lass uns auf die Freimäurer nicht wieder zurückkommen. Ich mag ja von ihnen weiter nichts wissen.
Falk Verzeih! – Du siehst wenigstens meine Bereitwilligkeit, dir mehr von ihnen zu sagen.
Ernst Du spottest! – Gut! das bürgerliche Leben des Menschen, alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit. Was weiter?
Falk Nichts als Mittel! Und Mittel menschlicher Erfindung ; ob ich gleich nicht leugnen will, dass die Natur alles so eingerichtet, dass der Mensch, sehr bald auf diese Erfindung geraten müssen.
Ernst Dieses hat denn auch gemacht, dass einige die bürgerliche Gesellschaft für Zweck der Natur gehalten. Weil alles, unsere Leidenschaften und unsere Bedürfnisse, alles darauf führe, sei sie folglich das letzte, worauf die Natur gehe. So schlossen sie. Als ob die Natur nicht auch die Mittel zweckmässig hervorbringen müssen! Als ob die Natur mehr die Glückseligkeit eines abgezogenen Begriffs – wie Staat,, Vaterland und dergleichen sind – als die Glückseligkeit jedes wirklichen einzeln Wesens zur Absicht gehabt hätte!
Falk Sehr gut! Du kömmst mir auf dem rechten Wege entgegen. Denn nun sage mir ; wenn die Staatsverfassungen Mittel, Mittel menschlicher Erfindungen sind ; sollten sie allein von dem Schicksale menschlicher Mittel ausgenommen sein?
Ernst Was nennst du Schicksale menschlicher Mittel?
Falk Das, was unzertrennlich mit menschlichen Mitteln verbunden ist ; was sie von göttlichen unfehlbaren Mitteln unterscheidet.
Ernst Was ist das?
Falk Das sie nicht unfehlbar sind. Dass sie ihrer Absicht nicht allein öfters nicht entsprechen, sondern auch wohl gerade das gegenteil davon bewirken.
Ernst Ein Beispiel! wenn dir eines einfällt
Falk So sind Schiffahrt und Schiffe Mittel, in entlegene Länder zu kommen ; und werden Ursache, dass viele Menschen nimmermehr dahin gelangen.
Ernst Die nämlich Schiffbruch leiden und ersaufen. Nun glaube ich dich zu verstehen. – Aber man weiss ja wohl, woher es kömmt, wenn so viel einzelne Menschen durch die Staatsverfassung an ihrer Glückseligkeit nichts gewinnen. Der Staatsverfassungen sind viele ; eine ist also besser als die andere ; manche ist sehr fehlerhaft, mit ihrer Absicht ofenbar streitend ; und die beste soll vielleicht noch erfunden werden.
Falk Das ungerechnet! Setze die beste Staatsverfassung, die sich nur denken lässt, schon erfunden ; setze, dass alle Menschen in der ganzen Welt diese beste Staatsverfassung angenommen haben : meinst du nicht, dass auch dann noch, slebst aus dieser besten Staatsverfassung, Dinge entspringen müssen, welche der menschlichen Glückseligkeit höchst nachteilig sind, und wovon der mensch in dem Stande der Natur schlechterdings nichts gewusst hätte?
Ernst Ich meine, wenn dergleichen Dinge aus der besten Staatsverfassung entsprängen, dass es sodann die beste Staatsverfassung nicht wäre.
Falk Und eine bessere möglich wäre? – Nun, so nehme ich diese bessere als die beste an : und frage das nämliche.
Ernst Du scheinest mir hier bloss von vorneherein aus dem angenommenen Begriffe zu vernünfieln, dass jedes Mittel menschlicher Erfindung, wofür du die Staatsverfassungen samt und sonders erklärest, nicht anders als mangelhaht sein könne.
Falk Nicht bloss.
Ernst Und es würde dir schwer werden, eins von jenen nachteiligen Dingen zu nennen.
Falk Die auch aus der besten Staatsverfassung notwending entspringen müssen? – O zehne für eines.
Ernst Nur eines erst.
Falk Wir nehmen also die beste Staatsverfassung für erfunden an ; wir nehmen an, dass alle Menschen in der Welt in dieser besten Staatsverfassung leben : würden deswegen alle Menschen in der Welt nur einen Staat ausmachen?
Ernst Wohl schwerlich. Ein so ungeheurer Staat würde keiner Verwaltung fähig sein. Er müsste sich also in mehrere kleine Staaten verteilen, die alle nach den namlichen Gesetzen verwaltet würden.
Falk Das ist : die Menschen würden auch dann noch Deutsche und Franzosen, Holländer und Spanier, Russen und Schweden sein, oder wie sie sonst heissen würden.
Ernst Ganz gewiss!
Falk Nun, da haben wir ja schon eines. Denn nicht wahr, jeder dieser kleinern Staaten hätte sein eignes Interesse? und jedes Glied derselben hätte das Interesse seines Staats?
Ernst Wie anders?
Falk Diese verschiedene Interesse würden öfters in Kolision kommen, so wie itzt : und zwei Glieder aus zwei verschiedenen Staaten würden einander ebensowenig mit unbefangenem Gemüt begegnen können, als itzt ein Deutscher einem Franzose, ein Franzose einem Engländer begegnet.
Ernst Seht wahrscheinlich!
Falk Das ist : wenn itzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer oder umgekehrt begegnet, so begegnet nicht mehr ein blosser Mensch einem blossen Menschen die vermöge ihrer gleichen Natur gegeneinander angezogen werden, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die ihrer verschiednen Tendenz sich bewusst sind, welches sie gegeneinander kalt, zurückhaltend, misstrauisch macht, noch ehe sie führ ihre einzelne Person das geringste miteinander zu schaffen und zu teilen haben.
Ernst Das ist leider wahr.
Falk Nun, so ist es denn auch wahr, dass das Mittel, welches die Menschen vereiniget, um sie durch diese Vereinigung ihres Glückes zu versichern, die Menschen zugleich trennet.
Ernst Wenn du es so verstehest.
Falk Tritt einen Schritt weiter. Viele von den kleinern Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene Bedürfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen haben. Meinst du nicht?
Ernst Das ist ein gewaltiger Schritt!
Falk Die Menschen würden auch dann noch Juden und Christen und Türken und dergleichen sein.
Ernst Ich getraue mir nicht nein zu sagen.
Falk Würden sie das, so würden sie auch, sie möchten heissen, wie sie wollten, sich untereinander nicht anders verhalten, als sich unsere Christen und Juden und Türken von jeher untereinander verhalten haben. Nicht als blosse Menschen gegen blosse Menschen, sondern als solche Menschen gegen solche Menschen, die sich einen gewissen geistigen Vorzug streitig machen und darauf Rechte gründen, die dem natürlichen Menschen nimmermehr einfallen könnten.
Ernst Das ist sehr traurig, aber leider doch sehr vermutlich.
Falk Nur vermutlich?
Ernst Denn allenfalls dächte ich doch, so wie du angenommen hast, das alle Staaten einerlei Verfassung hätten, dass sie auch wohl eine einerlei Religion haben könnten. Ja, ich begreife nicht, wie einerlei Staatsverfassung ohne einerlei Religion auch nur möglich ist.
Falk Ich ebensowenig. – Auch nahm ich jenes nur an, um deine Ausflucht abzuschneiden. Eines ist zuverlässig ebenso unmöglich als das andere. Ein Staat : mehrere Staaten. Mehrere Staaten : mehrere Staatverfassungen. Mehrere Staatverfassungen : mehrere Religionen.
Ernst Ja, ja, so scheint es.
Falk So ist es. – Nun sieh da das zweite Unheil, welches die bürgerliche Gesellschaft, ganz ihrer Absicht entgegen, verursacht. Sie kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen ; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hinzuziehen.
Ernst Und wie schrecklich diese Klüfte sind! wie unübersteiglich oft diese Scheidemauern!
Falk Lass mich noch das dritte hinzufügen. Nicht genug, dass die bürgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene Völker und Religionen teilet und trennet. – Diese Trennung in wenige grosse Teile, deren jeder für sich ein Ganzes wäre, wäre doch immer noch besser als gar kein Ganzes. Nein, die bürgerliche Gesellschaft setzt ihre Trennung auch in jedem dieser Teile gleichsam bis ins Unendliche fort.
Ernst Wieso?
Falk Oder meinest du, dass ein Staat sich ohne Verscheidenheit von Ständen denken lässt? Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weiniger nahe : unmöglich können alle Glieder desselben unter sich das nämliche Verhältnis haben. – Wenn sie auch alle an der Gestzgebung Anteil haben, so können sie doch nict gleichen Anteil haben, wenigstens nicht gleich unmittelbaren Anteil. Es wird also vornehmere und geringere Glieder geben. – Wenn anfangs auch alle Besitzungen des Staats unter sie gleich verteilet worden, so kann diese gleiche Verteilung doch keine zwei Menschenalter bestehen. Einer wird sein Eigentum besser zu nutzen wissen als der andere. Einer wird sein schlechter genutztes Eigentum gleichwohl unter mehrere Nachkommen zu verteilen haben als der andere. Es wird also reichere und ärmere Glieder geben.
Ernst Das versteht sich.
Falk Nun überlege, wieviel Uebel es in der Welt wohl gibt, das in dieser Verschiedenheit der Stände seinen Grund nicht hat.
Ernst Wenn ich dir doch widersprechen könnte! – Aber was hatte ich für Ursache, dir überhaupt zu widersprechen? – Nun ja, die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen! nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu erhalten! Das ist nun einmal so. Das kann nun nicht anders sein.
Falk Das sage ich eben!
Ernst Also, was willst du damit? Mir das bürgerliche Leben dadurch verleiden? Mich wünschen machen, dass den Menschen der Gedanke, sich in Staaten zu vereinigen, nie möge gekommen sein?
Falk Verkennst du mich so weit? – Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute hätte, dass allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet werden kann : ich würde sie auch bei weit grössern Uebeln noch segnen.
Ernst Wer des Feuers geniessen will, sagt das Sprichwort, muss sich den Rauch gefallen lassen.
Falk Allerdings! – Aber weil der Rauch bei dem Feuer unvermeidlich ist : durfte man darum keinen Rauchfang erfinden? Und der den Rauchfang erfand, war der darum ein Feind des Feuers? – Sieh, dahin wollte ich.
Ernst Wohin? – Ich verstehe dich nicht.
Falk Das Gleichnis war doch sehr passend. – Wenn die Menschen nicht anders in Staaten vereiniget werden konnten als durch jene Trennungen : werden sie darum gut, jene trennungen?
Ernst Das wohl nicht.
Falk Werden sie darum heilig, jene Trennungen?
Ernst Wie heilig?
Falk Dass er verboten sein sollte, Hand an sie zu legen?
Ernst In Absicht?...
Falk In Absicht, sie nicht grösser einreissen zu lassen, als die Notwendigkeit erfordert. In Absicht, ihre Folgen so unschädlich zu machen als möglich.
Ernst Wie könnte das verboten sein?
Falk Aber geboten kann es doch auch nicht sein ; durch bürgerliche Gesetze nicht geboten! – Denn bürgerliche Gesetze erstrecken sich nie über die grenzen ihres Staats. Und dieses würde nun gerade ausser den Grenzen aller und jeder Staaten liegen . – Folglich kann es nur ein Opus supererogatum sein : und es wäre bloss zu wünschen, dass sich die Weisesten und Besten eines jeden Staats diesem Operi superogato freiwillig unterzögen.
Ernst Bloss zu wünschen ; aber recht sehr zu wünschen.
Falk Ich dächte! Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile des Völkerschaft hinweg wären und genau wüssten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhöret.
Ernst Recht sehr zu wünschen!
Falk Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem Vorurteile ihrer angebornen Religion nicht unterlägen ; nicht glaubten, dass alles notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen.
Ernst Recht sehr zu wünschen!
Falk Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt ; in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herablässt und der Geringe sich dreist erhebet.
Ernst Recht sehr zu wünschen!
Falk Und wenn er erfüllt wäre, dieser Wunsch?
Ernst Erfüllt? – Es wird freilich hier und da, dann und wann einen solchen Mann geben.
Falk Nicht bloss hier und da ; nicht bloss dann und wann.
Ernst Zu gewissen Zeiten, in gewissen Ländern auch mehrere.
Falk Wie, wenn es dergleichen Männer itzt überall gäbe? zu allen Zeiten nun ferner geben müsste?
Ernst Wollte Gott!
Falk Und diese Männer nicht in einer unwirksamen Zerstreuung lebten? nicht immer in einer unsichtbaren Kirche?
Ernst Schöner Traum!
Falk Dass ich es kurz mache. – Und diese Männer die Freimäurer wären?
Ernst Was sagst du?
Falk Wie, wenn es die Freimäurer wären, die sich mit zu ihrem Geschäfte gemacht hätten, jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als möglich wieder zusammenzuziehen?
Ernst Die Freimäurer?
Falk Ich sage : mit zu ihrem Geschäfte.
Ernst Die Freimäurer?
Falk Ach! verzih! – Ich hatt' es schon wieder vergessen, dass du von den Freimäurern weiter nicht hören willst – Dort winkt man uns eben zum Frühstücke. Komm!
Ernst Nicht doch! – Noch einen Augenblick! – Die Freimäurer, sagst du –
Falk Das gespräch brachte mich wider Willen auf sie zurück. Verzeih! – Komm! Dort in der grössern Gesellschaft werden wir bald Stoff zu einer tauglichern Unterredung finden. Komm!
Ernst Du bist mir den ganzen Tag im Gedränge der Gesellschaft ausgewichen. Aber ich verfolge dich in dein Schlafzimmer.
Falk Hast du mir so etwas Wichtiges zu sagen? Der blossen Unterhaltung bin ich auf heute müde.
Ernst Du spottest meiner Neugierde.
Falk Deiner Neugierde?
Ernst Die du diesen Morgen so meisterhaft zu erregen ,wusstest.
Falk Wovon spachen wir diesen Morgen?
Ernst Von den Freimäurern.
Falk Nun? – Ich habe dir im Rausche des Pyrmonter doch nicht das Geheimnis verraten?
Ernst Das man, wie du sagst, nicbt verraten kann.
Falk Nun freilich ; das beruhigt mich wieder.
Ernst Aber du hast mir doch über die Freimäurer etwas gesagt, das mir unerwartet war ; das mir auffiel ; das mich denken rnachte.
Falk Und was war das?
Ernst 0 quäle mich nicht! – Du erinnerst dich dessen gewiss.
Falk Ja, es fällt mir nach und nach wieder ein. – Und das war es, was dich den ganzen langen Tag unter deinen Freunden und Freundinnen so abwesend machte?
Ernst Das war es! – Und ich kann nicht einschlafen, wenn du mir wenigstens nicht noch eine Frage beantwortest.
Falk Nach dem die Frage sein wird.
Ernst Woher kannst du mir aber beweisen, wenigstens nur wahrscheinlich machen, dass die Freimäurer wirklich jene grosse und würdige Absichten haben?
Falk Halbe ich dir von ihren Absichten gesprochen? lch wüsste nicht. – Sondern da du dir gar keinen Begriff von den wahren Taten der Freimäurer machen konntest, habe ich dich bloss auf einen Punkt aufmerksam machen wollen, wo noch so vieles geschehen kann, wovon sich unsere staatsklugen Köpfe gar nichts träumen lassen. – Vielleicht, dasz die Freimäurer da herum arheiten. Vielleicht! – da herum! – Nur um dir dein Vorurteil zu benehmen, dass alle baubedürftigen Plätze schon ausgefunden und besetzt, alle nötige Arbeiten schon unter die erforderlichen Hände verteilet wären.
Ernst Wende dich itzt, wie du willst – Genug, ich denke mir nun aus deinen Reden die Freimâurer als Leule, die es freiwillig über sich genommen haben, den unvermeidlich en Uebeln des Staats entgegenzuarbeiten.
Falk Dieser Begriff kann den Freimäurern wenigstens keine Schande machen. – Bleib dabei! – Nur fasse ihn recht. Menge nichts hinein, was nicht hineingehöret. – Den unvermeidlichen Uebeln des Staats! – Nicht dieses und jenes Staats. Nicht den unvermeidlichen Uebeln, welche, eine gewisse Staatsverfassung einmal angenommen, aus dieser angenommenen Staatsverfassung nun totwendig folgen. Mit diesen gibt sich der Freimäurer niemals ab ; wenigstens nicht als Freimäurer. Die Linerung und Heilung dieser überlässt er dem Bürger, der sich nach seiner Einsicht, nach seinem Mute, auf seine Gefahr damit befassen mag. Uebel ganz andrer Art, ganz höherer Art sind der Gegenstand seiner Wirksamkeit.
Ernst Ich habe das sehr wohl begriffen. – Night Uebel, welche den missvergnügten Bürger machen, sondern Uebel, ohne welche auch der glücklichste Bürger nicht ein kann.
Falk Recht! Diesen entgegen – wie sagtest du? – entgegenzuarbeiten?
Ernst Ja!
Falk Das Wort sagt ein wenig viel. – Entgegenarbeiten! – Um sie vö11ig zu heben? – Das kann nicht sein. Denn man würde den Staat selbst mit ihnen zugleich vernichten. – Sie müssen nicht einmal denen mit eins merklich gemacht werden, die noch gar keine Empfindung davon haben. Höchstens diese Empfindung in dem Menschen von weitem veranlassen, ihr Aufkeimen begülnstigen, ihre Pflanzen versetzen, begäten beblatten – kann hier entgegenarbeiten heissen. – Begreifst du nun, warum ich sagte, ob die Freimäurer schon immer tätig wären, dass Jahrhunderte dennoch vergehen könnten, ohne dass.slch sagen lasse : das haben sie getan.
Ernst Und verstehe auch nun den zweiten Zug des Rätsels – Gute Taten, welche gute Taten entbehrlich machen sollen.
Falk Wohl! – Nun geh und studiere jene Uebel und lerne sie alle kennen und wäge all ihre Einflüsse gegeneinander ab, und sei versichert, dass dir dieses Studium Dinge aufschliessen wird, die in Tagen der Schwermut die niederschlagendsten, unauflöslichsten Einwürfe wider Vorsehung und Tugend zu sein scheinen. Dieser Aufschluss, diese Erleuchtung wird dich ruhig und glücklich machen – auch ohne Freimàurer zu heissen
Ernst Du legest auf dieses heissen so viel Nachdruck.
Falk Weil man etwas sein kann, ohne es zu heissen
Ernst Gut das! ich versteh' – Aber auf meine Frage wieder zu kommen, die ich nur ein wenig anders einkleiden muss. Da ich sie doch nun kenne, die Uebel, gegen welcbe die Freimäurerei angehet.
Falk Du kennest sie?
Ernst Hast du mir sie nicht selbst genannt?
Falk Icb habe dir einige zut Probe namhaft gemacht. Nur einige von denen, die auch dem kurzsichtigsten Auge einleuchten ; nur einige von den unstreitigsten, weitumfassendsten. – Aber wie viele sind nicht noch übrig, die, ob sie schon nicht so einleuchten, nicht so unstreitig sind, nicht so viel umfassen, dennoch nicht weniger gewiss, nicht weniger notwendig sind!
Ernst So lass mich meine Frage denn bloss auf diejeniten Stücke einschränken, die du mir selbst namhaft gemacht hast. – Wie beweisest du mir auch nur von diesen Stücken, dass die Freimäurer wirklich ihr Ahsehen darauf haben? – Du schweigst? – Du sinnest nach?
Falk Wahrlich nicht dem, was ich auf diese Frage zu antworten hätte! – Aber ich weiss nicht, was ich mir für Ursachen denken so11, warum du mir diese Frage tust.
Ernst Und du willst mir meine Frage beantworten, wenn ich dir die Ursachen derselben sage?
Falk Das verspreche ich dir.
Ernst Ich kenne und fürchte deinen Scharfsinn.
Falk Meinen Scharfsinn?
Ernst Ich fürchte, du verkaufst mir deine Spekulation für Tatsache.
Falk Sehr verbunden!
Ernst Be1eidiget dich das?
Falk Vielmehr muss ich dir danken, dass du Scharfsinn nennest, was du ganz anders hättest benennen können.
Ernst Gewiss nicht. Sondern ich weiss, wie leicht der Scharfsinnige sich selbst betriegt ; wie leicht er andern Leuten Pläne und Absichten leihet und unterlegt, an die sie nie gedacht haben.
Falk Aber woraus schliesst man auf der Leute Pläne und Absichten? Aus ihren einzeln Handlungen doch wohl?
Ernst Woraus sonst? – Und hier bin ich wieder bei meiner Frage. – Aus welchen einzeln, unstreitigen Handlungen der Freimàurer ist abzunehmen, dass es auch nur mit ihr Zweck ist, jene von dir benannte Trennung, welche Staat und Staaten unter den Menschen notwendig machen müssen, durch sich und in sich wieder zu vereinigen?
Falk Und zwar ohne Nachteil dieses Staats und dieser Staaten.
Ernst Desto besser! – Es brauchen auch vielleicht nicht Handlungen zu sein, woraus jenes abzunehmen. Wenn es nur gewisse Eigentümlichkeiten, Besonderheiten sind, die dahin leiten oder daraus entspringen. – Von: dergleichen müsstest du sogar in deiner Spekulation ausgegangen sein ; gesetzt, dass dein System nur Hypothese wäre.
Falk Dein Misstrauen äussert sich noch. – Aber ich hoffe, es soll sich verlieren, wenn ich dir ein Grundgesetz der Freimäurer zu Gemüte führe.
Ernst Und welches?
Falk Aus welchem sie nie ein Geheimnis gemacht haben. Nach welchem sie immer vor den Augen der ganzen Welt gehandelt haben.
Ernst Das ist?
Falk Das ist, jeden würdigen Mann von gehöriger Anlage, ohne Unterschied des Vaterlandes, ohne Unterchied der Religion, ohne Unterschied seines bürgerlichen Standes in ihren Orden aufzunehmen.
Ernst Wahrhaftig!
Falk Freilich scheint dieses Grundgesetze dergleichen Männer, die über jene Trennungen hinweg sind, vielmehr bereits vorauszusetzen als die Absicht zu haben, sie zu bilden. Allein das Nitrum muss ja wohl in der Luft sein, ehe es sich als Salpeter an den Wänden anlegt.
Ernst O ja!
Falk Und warum sollten die Freimäurer sich nicht hier einer gewöhnlichen List haben bedienen dürfen? – Dass man einen Teil seiner geheimen Absichten ganz offenbar treibt, um den Argwohn irrezuführen, der immer ganz etwas anders vermutet, als er sieht.
Ernst Warum nicht?
Falk Warum sollte der Künstler, der Silber machen kann, nicht mit altem Bruchsilber handeln, damit man so weniger argwohne, dass er es machen kann?
Ernst Warum nicht?
Falk Ernst! – Hörst du mich? – Du antwortest im Traume, glaub' ich.
Ernst Nein, Freund! Aber ich habe genug ; genug auf diese Nacht. Morgen mit dem frühsten kehre ich wieder nach der Stadt.
Falk Schon? Und warum so bald?
Ernst Du kennst mich, und fragst? Wie lange dauert deine Brunnenkur noch?
Falk Ich habe sie vorgestern erst angefangen.
Ernst So sehe ich dich vor dem Ende derselben noch wieder. – Lebe wohl! gute Nacht!
Falk Gute Naeht! lebe wohl!
Haec omnia inde esse quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt.
Ich habe die erste Hälfte dieses Aufsatzes in meinen Beyträgen bekannt gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen.
Der Verfasser hat sich darum auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt.
Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse.
Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt!
Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrachte, um den ich oft verlegen gewesen!
Ich meyne diesen. – Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bey allem im Spiele: nur bey unsern Irrthümern nicht?
§. 1.
Was die Erziehung bey dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bey dem ganzen Menschengeschlechte.
§. 2.
Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.
§. 3.
Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in der Theologie kann es gewiß sehr großen Nutzen haben, und viele Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet.
§. 4.
Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.
§ 5.
Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in welcher Ordnung sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bey seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maaß halten müssen.
§. 6.
Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgetheilte, und nicht erworbene Begriff, unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. Sobald ihn die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermeßlichen in mehrere Ermeßlichere, und gab jedem dieser Theile ein Merkzeichen.
§. 7.
So entstand natürlicher Weise Vielgötterey und Abgötterey. Und wer weiß, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in diesen Irrwegen würde herumgetrieben haben; ohngeachtet überall und zu allen Zeiten einzelne Menschen erkannten, daß es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen hätte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu geben.
§. 8.
Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können.
§. 9.
Dieß war das Israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiß, was es für einen Gottesdienst in Aegypten hatte. Denn an dem Gottesdienste der Aegyptier durften so verachtete Sklaven nicht Theil nehmen: und der Gott seiner Väter war ihm gänzlich unbekannt geworden.
§. 10.
Vielleicht, daß ihm die Aegyptier allen Gott, alle Götter ausdrücklich untersagt hatten; es in den Glauben gestürzt hatten, es habe gar keinen Gott, gar keine Götter; Gott, Götter haben, sey nur ein Vorrecht der bessern Aegyptier: und das, um es mit so viel größerm Anscheine von Billigkeit tyrannisiren zu dürfen. – Machen Christen es mit ihren Sklaven noch itzt viel anders? –
§. 11.
Diesem rohen Volke also ließ sich Gott anfangs blos als den Gott seiner Väter ankündigen, um es nur erst mit der Idee eines auch ihm zustehenden Gottes bekannt und vertraut zu machen.
§. 12.
Durch die Wunder, mit welchen er es aus Aegypten führte, und in Kanaan einsetzte, bezeugte er sich ihm gleich darauf als einen Gott, der mächtiger sey, als irgend ein andrer Gott.
§. 13.
Und indem er fortfuhr, sich ihm als den Mächtigsten von allen zu bezeugen – welches doch nur einer seyn kann, – gewöhnte er es allmälig zu dem Begriffe des Einigen.
§. 14.
Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen, noch unter dem wahren transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen!
§. 15.
Zu dem wahren Begriffe des Einigen – wenn sich ihm auch schon die Besserern des Volks mehr oder weniger näherten – konnte sich doch das Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, warum es so oft seinen Einigen Gott verließ, und den Einigen, d. i. Mächtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden glaubte.
§. 16.
Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer moralischen Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen.
§. 17.
Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zusammen. Noch konnte Gott seinem Volke keine andere Religion, kein anders Gesetz geben, als eines, durch dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung es hier auf Erden glücklich oder unglücklich zu werden hoffte oder fürchtete. Denn weiter als auf dieses Leben gingen noch seine Blicke nicht. Es wußte von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem künftigen Leben. Ihm aber nun schon diese Dinge zu offenbaren, welchen seine Vernunft noch so wenig gewachsen war: was würde es bey Gott anders gewesen seyn, als der Fehler des eiteln Pädagogen, der sein Kind lieber übereilen und mit ihm prahlen, als gründlich unterrichten will.
§. 18.
Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so rohen Volkes, eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen mußte? Ich antworte: um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel sichrer zu Erziehern aller übrigen Völker brauchen zu können. Er erzog in ihm die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts. Das wurden Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer aus einem so erzogenen Volke.
§. 19.
Denn weiter. Als das Kind unter Schlägen und Liebkosungen aufgewachsen und nun zu Jahren des Verstandes gekommen war, stieß es der Vater auf einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es in seines Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte.
§. 20.
Während daß Gott sein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung führte: waren die andern Völker des Erdbodens bey dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. Die meisten derselben waren weit hinter dem erwählten Volke zurückgeblieben: nur einige waren ihm zuvorgekommen. Und auch das geschieht bey Kindern, die man für sich aufwachsen läßt; viele bleiben ganz roh; einige bilden sich zum Erstaunen selbst.
§. 21.
Wie aber diese glücklichern Einige nichts gegen den Nutzen und die Nothwendigkeit der Erziehung beweisen: so beweisen die wenigen heidnischen Völker, die selbst in der Erkenntniß Gottes vor dem erwählten Volke noch bis itzt einen Vorsprung zu haben schienen, nichts gegen die Offenbarung. Das Kind der Erziehung fängt mit langsamen aber sichern Schritten an; es hohlt manches glücklicher organisirte Kind der Natur spät ein; aber es hohlt es doch ein, und ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen.
§. 22.
Auf gleiche Weise. Daß, – die Lehre von der Einheit Gottes bey Seite gesetzt, welche in den Büchern des Alten Testaments sich findet, und sich nicht findet – daß, sage ich, wenigstens die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, und die damit verbundene Lehre von Strafe und Belohnung in einem künftigen Leben, darum völlig fremd sind: beweiset eben so wenig wider den göttlichen Ursprung dieser Bücher. Es kann dem ohngeachtet mit allen darinn enthaltenen Wundern und Prophezeyungen seine gute Richtigkeit haben. Denn laßt uns setzen, jene Lehren würden nicht allein darinn vermißt, jene Lehren wären auch sogar nicht einmal wahr, laßt uns setzen, es wäre wirklich für die Menschen in diesem Leben alles aus: wäre darum das Daseyn Gottes minder erwiesen? stünde es darum Gotte minder frey, würde es darum Gotte minder ziemen, sich der zeitlichen Schicksale irgend eines Volks aus diesem vergänglichen Geschlechte unmittelbar anzunehmen? Die Wunder, die er für die Juden that, die Prophezeyungen, die er durch sie aufzeichnen ließ, waren ja nicht blos für die wenigen sterblichen Juden, zu deren Zeiten sie geschahen und aufgezeichnet wurden: er hatte seine Absichten damit auf das ganze jüdische Volk, auf das ganze Menschengeschlecht, die hier auf Erden vielleicht ewig dauern sollen, wenn schon jeder einzelne Jude, jeder einzelne Mensch auf immer dahin stirbt.
§. 23.
Noch einmal. Der Mangel jener Lehren in den Schriften des Alten Testaments beweiset wider ihre Göttlichkeit nichts. Moses war doch von Gott gesandt, obschon die Sanktion seines Gesetzes sich nur auf dieses Leben erstreckte. Denn warum weiter? Er war ja nur an das Israelitische Volk, an das damalige Israelitische Volk gesandt: und sein Auftrag war den Kenntnissen, den Fähigkeiten, den Neigungen dieses damaligen israelitischen Volks, so wie der Bestimmung des künftigen, vollkommen angemessen. Das ist genug.
§. 24.
So weit hätte Warburton auch nur gehen müssen, und nicht weiter. Aber der gelehrte Mann überspannte den Bogen. Nicht zufrieden, daß der Mangel jener Lehren der göttlichen Sendung Mosis nichts schade: er sollte ihm die göttliche Sendung Mosis sogar beweisen. Und wenn er diesen Beweis noch aus der Schicklichkeit eines solchen Gesetzes für ein solches Volk zu führen gesucht hätte! Aber er nahm seine Zuflucht zu einem von Mose bis auf Christum ununterbrochen fortdaurenden Wunder, nach welchem Gott einen jeden einzeln Juden gerade so glücklich oder unglücklich gemacht habe, als es dessen Gehorsam oder Ungehorsam gegen das Gesetz verdiente. Dieses Wunder habe den Mangel jener Lehren, ohne welche kein Staat bestehen könne, ersetzt; und eine solche Ersetzung eben beweise, was jener Mangel, auf den ersten Anblick, zu verneinen scheine.
§. 25.
Wie gut war es, daß Warburton dieses anhaltende Wunder, in welches er das Wesentliche der Israelitischen Theokratie setzte, durch nichts erhärten, durch nichts wahrscheinlich machen konnte. Denn hätte er das gekonnt; wahrlich – alsdenn erst hätte er die Schwierigkeit unauflöslich gemacht. – Mir wenigstens. – Denn was die Göttlichkeit der Sendung Mosis wieder herstellen sollte, würde an der Sache selbst zweifelhaft gemacht haben, die Gott zwar damals nicht mittheilen, aber doch gewiß auch nicht erschweren wollte.
§. 26.
Ich erkläre mich an dem Gegenbilde der Offenbarung. Ein Elementarbuch für Kinder, darf gar wohl dieses oder jenes wichtige Stück der Wissenschaft oder Kunst, die es vorträgt, mit Stillschweigen übergehen, von dem der Pädagog urtheilte, daß es den Fähigkeiten der Kinder, für die er schrieb, noch nicht angemessen sey. Aber es darf schlechterdings nichts enthalten, was den Kindern den Weg zu den zurückbehaltnen wichtigen Stücken versperre oder verlege. Vielmehr müssen ihnen alle Zugänge zu denselben sorgfältig offen gelassen werden: und sie nur von einem einzigen dieser Zugänge ableiten, oder verursachen, daß sie denselben später betreten, würde allein die Unvollständigkeit des Elementarbuchs zu einem wesentlichen Fehler desselben machen.
§ 27.
Also auch konnten in den Schriften des Alten Testaments, in diesen Elementarbüchern für das rohe und im Denken ungeübte Israelitische Volk, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und künftigen Vergeltung gar wohl mangeln: aber enthalten durften sie schlechterdings nichts, was das Volk, für das sie geschrieben waren, auf dem Wege zu dieser großen Wahrheit auch nur verspätet hätte. Und was hätte es, wenig zu sagen, mehr dahin verspätet, als wenn jene wunderbare Vergeltung in diesem Leben darinn wäre versprochen, und von dem wäre versprochen worden, der nichts verspricht, was er nicht hält?
§. 28.
Denn wenn schon aus der ungleichen Austheilung der Güter dieses Lebens, bey der auf Tugend und Laster so wenig Rücksicht genommen zu seyn scheinet, eben nicht der strengste Beweis für die Unsterblichkeit der Seele und für ein anders Leben, in welchem jener Knoten sich auflöse, zu führen: so ist doch wohl gewiß, daß der menschliche Verstand ohne jenem Knoten noch lange nicht – und vielleicht auch nie – auf bessere und strengere Beweise gekommen wäre. Denn was sollte ihn antreiben können, diese bessern Beweise zu suchen? Die blosse Neugierde?
§. 29.
Der und jener Israelite mochte freylich wohl die göttlichen Versprechungen und Androhungen, die sich auf den gesammten Staat bezogen, auf jedes einzelne Glied desselben erstrecken, und in dem festen Glauben stehen, daß wer fromm sey auch glücklich seyn müsse, und wer unglücklich sey, oder werde, die Strafe seiner Missethat trage, welche sich sofort wieder in Segen verkehre, sobald er von seiner Missethat ablasse. – Ein solcher scheinet den Hiob geschrieben zu haben; denn der Plan desselben ist ganz in diesem Geiste. –
§. 30.
Aber unmöglich durfte die tägliche Erfahrung diesen Glauben bestärken: oder es war auf immer bey dem Volke, das diese Erfahrung hatte, auf immer um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungeläufigen Wahrheit geschehen. Denn wenn der Fromme schlechterdings glücklich war, und es zu seinem Glücke doch wohl auch mit gehörte, daß seine Zufriedenheit keine schrecklichen Gedanken des Todes unterbrachen, daß er alt und lebenssatt starb: wie konnte er sich nach einem andern Leben sehnen? wie konnte er über etwas nachdenken, wornach er sich nicht sehnte? Wenn aber der Fromme darüber nicht nachdachte: wer sollte es denn? Der Bösewicht? der die Strafe seiner Missethat fühlte, und wenn er dieses Leben verwünschte, so gern auf jedes andere Leben Verzicht that?
§. 31.
Weit weniger verschlug es, daß der und jener Israelite die Unsterblichkeit der Seele und künftige Vergeltung, weil sich das Gesetz nicht darauf bezog, gerade zu und ausdrücklich leugnete. Das Leugnen eines Einzeln – wäre es auch ein Salomo gewesen, – hielt den Fortgang des gemeinen Verstandes nicht auf, und war an und für sich selbst schon ein Beweis, daß das Volk nun einen großen Schritt der Wahrheit näher gekommen war. Denn Einzelne leugnen nur, was Mehrere in Ueberlegung ziehen; und in Ueberlegung ziehen, warum man sich vorher ganz und gar nicht bekümmerte, ist der halbe Weg zur Erkenntniß.
§. 32.
Laßt uns auch bekennen, daß es ein heroischer Gehorsam ist, die Gesetze Gottes beobachten, blos weil es Gottes Gesetze sind, und nicht, weil er die Beobachter derselben hier und dort zu belohnen verheissen hat; sie beobachten, ob man schon an der künftigen Belohnung ganz verzweifelt, und der zeitlichen auch nicht so ganz gewiß ist.
§. 33.
Ein Volk, in diesem heroischen Gehorsame gegen Gott erzogen, sollte es nicht bestimmt, sollte es nicht vor allen andern fähig seyn, ganz besondere göttliche Absichten auszuführen? – Laßt den Soldaten, der seinem Führer blinden Gehorsam leistet, nun auch von der Klugheit seines Führers überzeugt werden, und sagt, was dieser Führer mit ihm auszuführen sich nicht unterstehen darf? –
§. 34.
Noch hatte das jüdische Volk in seinem Jehova mehr den Mächtigsten, als den Weisesten aller Götter verehrt; noch hatte es ihn als einen eifrigen Gott mehr gefürchtet, als geliebt: auch dieses zum Beweise, daß die Begriffe, die es von seinem höchsten einigen Gott hatte, nicht eben die rechten Begriffe waren, die wir von Gott haben müssen. Doch nun war die Zeit da, daß diese seine Begriffe erweitert, veredelt, berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz natürlichen Mittels bediente; eines bessern richtigern Maaßstabes, nach welchem es ihn zu schätzen Gelegenheit bekam.
§. 35.
Anstatt daß es ihn bisher nur gegen die armseligen Götzen der kleinen benachbarten rohen Völkerschaften geschützt hatte, mit welchen es in beständiger Eifersucht lebte: fing es in der Gefangenschaft unter dem weisen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das eine geübtere Vernunft erkannte und verehrte.
§. 36.
Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung.
§. 37.
Das war der erste wechselseitige Dienst, den beyde einander leisteten; und dem Urheber beyder ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig unanständig, daß ohne ihm eines von beyden überflüssig seyn würde.
§. 38.
Das in die Fremde geschickte Kind sahe andere Kinder, die mehr wußten; die anständiger lebten, und fragte sich beschämt: warum weiß ich das nicht auch? warum lebe ich nicht auch so? Hätte in meines Vaters Hause man mir das nicht auch beibringen; dazu mich nicht auch anhalten sollen? Da sucht es seine Elementarbücher wieder vor, die ihm längst zum Ekel geworden, um die Schuld auf die Elementarbücher zu schieben. Aber siehe! es erkennet, daß die Schuld nicht an den Büchern liege, daß die Schuld ledig sein eigen sey, warum es nicht längst eben das wisse, eben so lebe.
§. 39.
Da die Juden nunmehr, auf Veranlassung der reinern Persischen Lehre, in ihrem Jehova nicht blos den größten aller Nationalgötter, sondern Gott erkannten; da sie ihn als solchen in ihren wieder hervorgesuchten heiligen Schriften um so eher finden und andern zeigen konnten, als er wirklich darinn war; da sie vor allen sinnlichen Vorstellungen desselben einen eben so großen Abscheu bezeugten, oder doch in diesen Schriften zu haben angewiesen wurden, als die Perser nur immer hatten: was Wunder, daß sie vor den Augen des Cyrus mit einem Gottesdienste Gnade fanden, den er zwar noch weit unter dem reinen Sabeismus, aber doch auch weit über die groben Abgöttereyen zu seyn erkannte, die sich dafür des verlaßnen Landes der Juden bemächtiget hatten?
§. 40.
So erleuchtet über ihre eignen unerkannten Schätze kamen sie zurück, und wurden ein ganz andres Volk, dessen erste Sorge es war, diese Erleuchtung unter sich dauerhaft zu machen. Bald war an Abfall und Abgötterey unter ihm nicht mehr zu denken. Denn man kann einem Nationalgott wohl untreu werden, aber nie Gott, so bald man ihn einmal erkannt hat.
§. 41.
Die Gottesgelehrten haben diese gänzliche Veränderung des jüdischen Volks verschiedentlich zu erklären gesucht; und Einer, der die Unzulänglichkeit aller dieser verschiednen Erklärungen sehr wohl gezeigt hat, wollte endlich »die augenscheinliche Erfüllung der über die Babylonische Gefangenschaft und die Wiederherstellung aus derselben ausgesprochnen und aufgeschriebnen Weissagungen,« für die wahre Ursache derselben angeben. Aber auch diese Ursache kann nur in so fern die wahre seyn, als sie die nun erst vereitelten Begriffe von Gott voraus setzt. Die Juden mußten nun erst erkannt haben, daß Wunderthun und das Künftige vorhersagen, nur Gott zukomme; welches beydes sie sonst auch den falschen Götzen beygeleget hatten, wodurch eben Wunder und Weissagungen bisher nur einen so schwachen, vergänglichen Eindruck auf sie gemacht hatten.
§. 42.
Ohne Zweifel waren die Juden unter den Chaldäern und Persern auch mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter geworden. Vertrauter mit ihr wurden sie in den Schulen der Griechischen Philosophen in Aegypten.
§. 43.
Doch da es mit dieser Lehre, in Ansehung ihrer heiligen Schriften, die Bewandniß nicht hatte, die es mit der Lehre von der Einheit und den Eigenschaften Gottes gehabt hatte; da jene von dem sinnlichen Volke darum war gröblich übersehen worden, diese aber gesucht seyn wollte; da auf diese noch Vorübungen nöthig gewesen waren, und also nur Anspielungen und Fingerzeige Statt gehabt hatten: so konnte der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele natürlicher Weise nie der Glaube des gesammten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewissen Sekte desselben.
§. 44.
Eine Vorübung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, nenne ich z. E. die göttliche Androhung, die Missethat des Vaters an seinen Kindern bis ins dritte und vierte Glied zu strafen. Dieß gewöhnte die Väter in Gedanken mit ihren spätesten Nachkommen zu leben, und das Unglück, welches sie über diese Unschuldige gebracht hatten, voraus zu fühlen.
§. 45.
Eine Anspielung nenne ich, was blos die Neugierde reizen und eine Frage veranlassen sollte. Als die oft vorkommende Redensart, zu seinen Vätern versammlet werden, für sterben.
§. 46.
Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgend einen Keim enthält, aus welchem sich die noch zurückgehaltne Wahrheit entwickeln läßt. Dergleichen war Christi Schluß aus der Benennung Gott Abrahams, Isaacs und Jacobs. Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen Beweis ausgebildet werden zu können.
§. 47.
In solchen Vorübungen, Anspielungen, Fingerzeigen besteht die positive Vollkommenheit eines Elementarbuchs; so wie die oben erwähnte Eigenschaft, daß es den Weg zu den noch zurückgehaltenen Wahrheiten nicht erschwere, oder versperre, die negative Vollkommenheit desselben war.
§. 48.
Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil – 1) die Einkleidung der nicht wohl zu übergehenden abstrakten Wahrheiten in Allegorieen und lehrreiche einzelne Fälle, die als wirklich geschehen erzählet werden. Dergleichen sind die Schöpfung, unter dem Bilde des werdenden Tages; die Quelle des moralischen Bösen, in der Erzählung vom verbotnen Baume; der Ursprung der mancherlei Sprachen, in der Geschichte vom Thurmbaue zu Babel, u. s. w.
§. 49.
2) den Stil – bald plan und einfältig, bald poetisch, durchaus voll Tavtologieen, aber solchen, die den Scharfsinn üben, indem sie bald etwas anders zu sagen scheinen, und doch das nehmliche sagen, bald das nehmliche zu sagen scheinen, und im Grunde etwas anders bedeuten oder bedeuten können: –
§. 50.
Und ihr habt alle gute Eigenschaften eines Elementarbuchs sowol für Kinder, als für ein kindisches Volk.
§. 51.
Aber jedes Elementarbuch ist nur für ein gewisses Alter. Das ihm entwachsene Kind länger, als die Meinung gewesen, dabey zu verweilen, ist schädlich. Denn um dieses auf eine nur einigermaassen nützliche Art thun zu können, muß man mehr hineinlegen, als darum liegt; mehr hineintragen, als es fassen kann. Man muß der Anspielungen und Fingerzeige zu viel suchen und machen, die Allegorieen zu genau ausschütteln, die Beyspiele zu umständlich deuten, die Worte zu stark pressen. Das giebt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand; das macht es geheimnißreich, abergläubisch, voll Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte.
§. 52.
Die nehmliche Weise, wie die Rabbinen ihre heiligen Bücher behandelten! Der nehmliche Charakter, den sie dem Geiste ihres Volks dadurch ertheilten!
§. 53.
Ein bessrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. – Christus kam.
§. 54.
Der Theil des Menschengeschlechts, den Gott in Einen Erziehungsplan hatte fassen wollen – Er hatte aber nur denjenigen in Einen fassen wollen, der durch Sprache, durch Handlung, durch Regierung, durch andere natürliche und politische Verhältnisse in sich bereits verbunden war – war zu dem zweyten großen Schritte der Erziehung reif.
§. 55.
Das ist: dieser Theil des Menschengeschlechts war in der Ausübung seiner Vernunft so weit gekommen, daß er zu seinen moralischen Handlungen edlere, würdigere Bewegungsgründe bedurfte und brauchen konnte, als zeitliche Belohnung und Strafen waren, die ihn bisher geleitet hatten. Das Kind wird Knabe. Leckerey und Spielwerk weicht der aufkeimenden Begierde, eben so frey, eben so geehrt, eben so glücklich zu werden, als es sein älteres Geschwister sieht.
§. 56.
Schon längst waren die Bessern von jenem Theile des Menschengeschlechts gewohnt, sich durch einen Schatten solcher edlern Bewegungsgründe regieren zu lassen. Um nach diesem Leben auch nur in dem Andenken seiner Mitbürger fortzuleben, that der Grieche und Römer alles.
§. 57.
Es war Zeit, daß ein andres wahres nach diesem Leben zu gewärtigendes Leben Einfluß auf seine Handlungen gewönne.
§. 58.
Und so ward Christus der erste zuverlässige, praktische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele.
§. 59.
Der erste zuverlässige Lehrer. – Zuverlässig durch die Weissagungen, die in ihm erfüllt schienen; zuverlässig durch die Wunder, die er verrichtete; zuverlässig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem Tode, durch den er seine Lehre versiegelt hatte. Ob wir noch itzt diese Wiederbelebung, diese Wunder beweisen können: das lasse ich dahin gestellt seyn. So, wie ich es dahin gestellt seyn lasse, wer die Person dieses Christus gewesen. Alles das kann damals zur Annehmung seiner Lehre wichtig gewesen seyn: itzt ist es zur Erkennung der Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr.
§. 60.
Der erste praktische Lehrer. – Denn ein anders ist die Unsterblichkeit der Seele, als eine philosophische Speculation, vermuthen, wünschen, glauben: ein anders, seine innern und äussern Handlungen darnach einrichten.
§. 61.
Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst. Denn ob es gleich bey manchen Völkern auch schon vor ihm eingeführter Glaube war, daß böse Handlungen noch in jenem Leben bestraft würden: so waren es doch nur solche, die der bürgerlichen Gesellschaft Nachtheil brachten, und daher auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft ihre Strafe hatten. Eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu empfehlen, war ihm allein vorbehalten.
§. 62.
Seine Jünger haben diese Lehre getreulich fortgepflanzt. Und wenn sie auch kein ander Verdienst hätten, als daß sie einer Wahrheit, die Christus nur allein für die Juden bestimmt zu haben schien, einen allgemeinem Umlauf unter mehrern Völkern verschaft hätten: so wären sie schon darum unter die Pfleger und Wohlthäter des Menschengeschlechts zu rechnen.
§. 63.
Daß sie aber diese Eine große Lehre noch mit andern Lehren versetzten, deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich war: wie konnte das anders seyn? Laßt uns sie darum nicht schelten, sondern vielmehr mit Ernst untersuchen: ob nicht selbst diese beygemischten Lehren ein neuer Richtungsstoß für die menschliche Vernunft geworden.
§. 64.
Wenigstens ist es schon aus der Erfahrung klar, daß die Neutestamentlichen Schriften, in welchen sich diese Lehren nach einiger Zeit aufbewahret fanden, das zweyte beßre Elementarbuch für das Menschengeschlecht abgegeben haben, und noch abgeben.
§. 65.
Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr als alle andere Bücher beschäftiget; mehr als alle andere Bücher erleuchtet, sollte es auch nur das Licht seyn, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug.
§. 66.
Unmöglich hätte irgend ein ander Buch unter so verschiednen Völkern so allgemein bekannt werden können: und unstreitig hat das, daß so ganz ungleiche Denkungsarten sich mit diesem nehmlichen Buche beschäftigten, den menschlichen Verstand mehr fortgeholfen, als wenn jedes Volk für sich besonders sein eignes Elementarbuch gehabt hätte.
§. 67.
Auch war es höchst nöthig, daß jedes Volk dieses Buch eine Zeit lang für das Non plus ultra seiner Erkenntnisse halten mußte. Denn dafür muß auch der Knabe sein Elementarbuch vors erste ansehen; damit die Ungeduld, nur fertig zu werden, ihn nicht zu Dingen fortreißt, zu welchen er noch keinen Grund gelegt hat.
§. 68.
Und was noch itzt höchst wichtig ist: – Hüte dich, du fähigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches stampfest und glühest, hüte dich, es deine schwächere Mitschüler merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehn beginnest.
§. 69.