Picknick an der Grenze - Angela Kreuz - E-Book

Picknick an der Grenze E-Book

Angela Kreuz

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Beschreibung

August 1989: Sängerin Kitty wird überraschend für einen Gig am Eisernen Vorhang in Ungarn engagiert – ausgerechnet von ihrer Ex-Band, mit der sie sich drei Wochen zuvor uferlos zerstritten hat. Ihr verhasster Konkurrent Grizzly steht bereits als neuer Sänger fest, ist aber momentan auf Reisen und nicht erreichbar. Kitty muss auf die Schnelle einen brandaktuellen Song schreiben, der ihren Platz am Mikro sichern und der Band zum Durchbruch verhelfen soll. Was aber am Tag des Paneuropa-Picknicks wirklich passieren würde, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand…

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Seitenzahl: 185

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Inhalt

PICKNICK AN DER GRENZE 

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Angela Kreuz, geboren 1969 in Ingolstadt. Studium der Philosophie und Psychologie in Konstanz. 2007 erschien ihr erster Roman Warunee, gefolgt von WAAhnsinnszeiten (2009) und California Dreaming (2013). Dazwischen kam ihr zweisprachiger Gedichtband Train Rides and Tides - Ebbe, Flut und zurück heraus, mit Übersetzungen von Barbara Yurtdas. Ihre jüngsten Publikationen waren 2017 der Roman Straßenbahnträumer und 2018 Das surrealistische Büro. Kein Roman. Angela Kreuz erhielt bislang mehrere Auszeichnungen, u.a. den Kulturförderpreis der Stadt Regensburg 2012.

 

 

 

 

 

Vollständige e-Book Ausgabe 2019 

 

Originalausgabe: ›Picknick an der Grenze‹ 

© 2019 SPIELBERG VERLAG, Neumarkt 

Umschlagillustration: © Tom Meilhammer, grafikmeile.de 

Alle Rechte vorbehalten.

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können ziviloder strafrechtlich verfolgt werden.

 

(e-Book) ISBN: 978-3-95452-101-2 

 

www.spielberg-verlag.de 

PICKNICK AN DER GRENZE 

 

»Wir hätten unsere Reunion-Tour letztes Jahr machen sollen«, Hias griff sich an die Stirn. »Fünfundzwanzig Jahre Europa-Picknick, hallo? Alle Konzerte wären Monate im Voraus ausverkauft gewesen, aber doch nicht nach sechsundzwanzig Jahren. Da kommt nicht mal das Regionalfernsehen.«

Im Nörgeln war Hias Weltmeister, ihm war prinzipiell nichts gut genug; er schlug sogar Speedy um Längen.

»Jetzt fang nicht wieder damit an.« Sepp saß wie angegossen im Sessel; seit ihrem letzten Treffen hatte er gut zehn Kilo zugelegt. Er zog genervt sein Handy aus der Tasche.

»Fünfundzwanzig kann jeder«, sagte Bob, »sechsundzwanzig ist schon was anderes. Ich finde das originell.« Er hielt ein Tablet hoch und fotografierte in die Runde. »Cheese.« Abgesehen von den grauen Schläfen hatte er sich nicht groß verändert. Die Aknenarben lagen wie ein Schatten auf seinen Wangen.

»Das stellst du jetzt aber nicht auf Facebook«, warnte ihn Hias.

»Doch«, sagte Bob. »Und wer hat’s letztes Jahr vergeigt?«

Kitty war diese Diskussion leid, sie hatte mit den Jungs bereits im letzten Jahr stundenlang am Telefon gestritten, weil alle angeblich zu beschäftigt waren, um sich zu treffen. Speedy blätterte in der SPEX und sah über den Rand seiner Lesebrille auf. »Was schaut ihr mich alle so an?«

»Du hättest deinen Urlaub echt verschieben können«, sagte sie. »In Hawaii wäre es jetzt garantiert wärmer als hier.«

»Ich hatte keine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen, sorry.« Mit den gestylten Haaren sah Speedy aus wie ein gealterter Teeny. »Habe ich das noch nicht erzählt?« Sein linkes Bein wippte nervös.

»Reiserücktrittsversicherung.« Kitty starrte durch die getönte Scheibe. »Wenn dir dein Flug wichtiger war als unsere Tournee.«

Max schaltete den Scheibenwischer an und fuhr wieder auf die Autobahn. Der Tourbus schnurrte vor sich hin.

»Okay, wenn ihr’s unbedingt wissen wollt«, Speedy nahm seine Brille ab, »meine Ex hat ein Kind bekommen, und ich wollte bei der Geburt dabei sein.«

Kitty spürte einen Stich in der Brust, davon hatte er am Telefon kein Wort erwähnt, er hatte sich nur verdächtig bedeckt gehalten, warum er unbedingt nach Hawaii wollte.

Zum Glück war sie damals nicht schwanger geworden. Er war immer noch hübsch, Gitarrespielen hielt einfach jung, vor allem, wenn man sich mit nichts anderem beschäftigte.

»Mädchen oder Junge?« Sie versuchte sich ihn im Kreißsaal vorzustellen, wie er die Hand einer Frau hielt und sie gemeinsam atmeten; aber es gelang ihr beim besten Willen nicht. Speedy gab es einfach nur single.

»Blöde Frage«, sagte Sepp, »ist das wichtig? Wir haben bei unseren Kindern nicht mal einen Ultraschall machen lassen.«

»Wenn’s mich halt interessiert«, entgegnete Kitty.

»Eine Anuhea«, sagte Speedy.

»Ist die Mutter aus Hawaii?«

»Ja.«

»Hast du noch Kontakt zu den beiden?«, fragte Hias skeptisch.

»Schwierig.«

»Dir ist echt nicht zu helfen.« Kitty blies sich eine Strähne aus der Stirn. Wie es wohl ihrer eigenen Tochter gerade im Praktikum ging? Jenny hatte es sich partout nicht ausreden lassen, in den Semesterferien bei dieser NGO mitzuhelfen; ausgerechnet bei der Seenot-Rettung musste sie die Heldin spielen. Auf einem Fischkutter. Als ob sie nicht schon genug eigene Probleme hätte. Wenn sie wenigstens ans Handy ginge, doch Jenny reagierte prinzipiell nicht auf das Klingelzeichen ihrer Mutter. Als sie noch bei ihr gewohnt hatte, war sie oft tagelang nicht nach Hause gekommen. No news is good news, Mama. Kitty sah ihr trotziges Gesicht vor sich. Ob ihre Kollegen dort mit ihren Wutausbrüchen zurecht kamen?

»Was hast du eigentlich aus Hawaii mitgebracht«, fragte Bob, »ich meine musikmäßig?«

»Fusion«, sagte Speedy.

»Wie Fusion?«

»Fusion eben.«

»Alles klar.« Kitty quälte ein pochender Kopfschmerz auf der linken Seite. Hoffentlich fing jetzt ihre Migräne nicht an; das konnte sie momentan überhaupt nicht brauchen. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach einer Schmerztablette.

»Wir sollten mal wieder experimentieren, nicht immer den alten Scheiß spielen«, sagte Speedy.

»Immer?«, entgegnete Bob. »Wann haben wir denn zum letzten Mal den alten Scheiß gespielt.«

Speedy zuckte mit den Schultern. Hias untersuchte die Minibar und nahm eine Flasche heraus; der Alkohol hatte deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen.

»Frühstücksbierchen?«, bemerkte Sepp.

»Noch ’n Toast, noch ’n Ei, noch’n Kaffee, noch’n Brei«, trällerte Bob. Speedy und Sepp stimmten mit ein.

Hias ignorierte die Spitze.

»Jedenfalls soll’s heute Abend saukalt werden«, sagte Kitty, »und das im August.«

»Wie viele Leute passen da eigentlich rein?«

»Gut 750.« Max verstellte den Rückspiegel, ihre Blicke kreuzten sich. Kitty betrachtete die lichter werdende Stelle an seinem Hinterkopf – er wurde auch nicht jünger. Wenn er die Band damals nicht gepusht hätte, wären sie sangund klanglos untergegangen, und Kitty hätte sich mit Gagen auf Hochzeiten durchbringen müssen – ein Albtraum.

»Und wie viele Karten hast du verkauft?«

»Moment – bis jetzt sind es –«

Ein vorbeirastender Porsche hupte. »Sonntagsfahrer«, schimpfte Max.

»Pass doch auf den Verkehr auf!«, rief Kitty erschrocken.

»Du kannst doch jetzt nicht mit dem Handy rummachen.«

»Und du schrei bitte nicht so rum. Also, aktuell sind es 557.«

»Oh Mann«, sagte Hias, »wenn das mal nicht leer ausschaut. Toller Start.«

»Die Eventmanagerin hat mir gesagt, dass noch was an der Abendkasse geht«, beschwichtigte Max. »Die Ungarn sind da eher spontan.«

»Wer glaubt, ist nie allein, sagt der Papst.«

»Ex-Papst«, sagte Sepp.

»Ausverkauft wird’s wohl nicht.« Hoffentlich lief der Vorverkauf in Budapest besser. An Wien, München und Berlin mochte Kitty noch gar nicht denken.

»Übrigens eine super Idee, gleich am Anreisetag aufzutreten.« Sepp spielte mit seinem Handy. »Was ist, wenn irgendwas mit dem Equipment nicht funktioniert?«

»Keine Sorge, das regle ich vor Ort«, sagte Max. Das Getriebe knirschte. »Sorry, ich bin zurzeit völlig ausgebucht. Ich war bis um halb vier mit einer anderen Band unterwegs.«

»Schon okay«, murmelte Sepp. Ein alberner Pfeifton setzte ein, er antwortete postwendend auf eine Nachricht.

Hias war dabei, neue Saiten auf seinen Bass zu ziehen. Er zwickte ein überstehendes Ende ab und strich über sein Zappabärtchen.

»Wohnst du immer noch in Sinzing neben dem Golfplatz?«, fragte Sepp.

»Was?« Hias kurbelte.

»Ob du immer noch in Sinzing wohnst«, rief Sepp.

Bob lachte. »Würde mich wundern, wenn er umgezogen wäre.«

»Sag mal, bist du schwerhörig?«

Hias klemmte das Stimmgerät an die Kopfplatte.

»Ich habe mein Wohnmobil erst letztes Jahr renoviert, das hat mich eine Stange Geld gekostet.«

»Hast du den Schimmel vom Blümchenzelt abgekratzt«, stichelte Sepp, doch Hias war mit der Saite beschäftigt und sparte sich die Antwort. Er würde den Camper seiner Zwillingsschwester nie verschrotten. Kitty hatte noch zu Schulzeiten das Drama in ihrer Nachbarschaft mitbekommen. Die Zwillinge hatten damit quer durch Europa fahren wollen, waren aber gerade mal bis Wien gekommen, als dieser frustrierte Vollidiot einen Pflasterstein von der Autobahnbrücke geworfen hatte. Hias’ Schwester war bis zu ihrem Tod wochenlang im Koma gelegen.

Max nahm die nächste Ausfahrt. Auf dem Monitor über dem Tisch lief ein Clip von KITTY & THE CATS aus den 90ern. Hias griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab.

»Was für abartige Klamotten«, bemerkte Kitty, mit den Plateauschuhen hatte sie sogar Speedy überragt.

»Ich finde sie immer noch scharf.« Bob schmatzte.

Insgeheim gab sie ihm recht, zumindest hatte sie sich zu jener Zeit vor Verehrern kaum retten können. Unwillkürlich summte sie den Refrain von Stone Bridge Archway.

Gate of Eternity, who knows what’s behind.

Kitty schaute in den beleuchteten Schminkspiegel und betrachtete ihre Fältchen – sie würde sich nie liften lassen oder Botox spritzen und wie ein Zombie mit einer Gesichtslähmung herumlaufen. Seit ein paar Jahren färbte sie sich ihre Locken; schließlich wollte sie nicht als Oldie vor dem Mikro stehen. Sie zog ihre Lippen nach.

»Was habt ihr eigentlich die letzten Jahre so gemacht?«, fragte sie in die Runde. »Ich meine, außer eure Mails zu checken.«

»Soll das jetzt eine Gruppentherapie werden oder was?« Hias verschränkte die Arme.

»Wieso, redest du nicht so gern über deine Probleme?« Bob legte die Beine hoch.

»Warst du wieder auf Entzug?«, fragte Speedy. »Man hat ja in der letzten Zeit gar nichts mehr gehört von dir.«

Sepp tippte aufs Handy. »Stimmt, jetzt wo du’s sagst – er war komplett von der Bildfläche verschwunden.«

Kitty war mit ihrem Lidstrich beschäftigt und sagte nichts dazu. Hias war noch nie in der Lage gewesen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzten, und würde es wohl nie sein. Er brummelte übellaunig vor sich hin und slappte das Bass-Solo von Danube River.

»Lass mich raten, dir ist deine Minderjährige abgehauen«, bohrte Sepp grinsend nach.

»Wenn ihr mich nicht sofort in Ruhe lasst, steig ich aus, dann könnt ihr die Tour ohne mich machen!« Er stellte den Bass in den Ständer und war kurz vorm Platzen. Kitty sah Sepp warnend an; er brauchte jetzt nicht auch noch mit seinen blöden Witzen anzukommen.

»Aber den Unterschied zwischen einem Bassisten und einem Kondom kennst du?«

»Der hat so einen Bart«, sagte Kitty.

Hias’ Blick wurde starr. »Ihr könnt mich echt mal.« Er stieg mit den Schuhen auf die Bank und zog das Case hinter dem Sitz hervor. »Lässt du mich mal kurz raus, Max?« Mit zusammengekniffenen Lippen verstaute er den Bass und drückte die Verschlüsse zu.

»Wo willst du denn hin in der Pampa?«, brummte Sepp.

Kitty hatte diese sinnlosen Streitereien so satt. Sie rieb sich den Nacken, ihre Muskeln waren völlig verspannt.

»Das geht dich einen Scheißdreck an«, sagte Hias.

»Bitte sehr.« Max nahm die nächste Ausfahrt und hielt an einem Rastplatz.

»Komm, wir gehen eine rauchen«, schlug Bob vor und öffnete die Schiebetür.

Hias schulterte seine Reisetasche, griff nach dem Koffer und verließ den Bus. Die beiden verschwanden hinter einem LKW.

»Und was machen wir, wenn Bob ihn diesmal nicht überreden kann?«, fragte Speedy.

»Woher soll ich das wissen?«, sagte Kitty.

Der Pfeifton setzte wieder ein, und Sepp langte nach dem Handy.

»Ihr seid solche Penner«, sagte sie, »könnt ihr euch nicht einmal zusammenreißen?«

»Anscheinend nicht.« Speedy pfiff die Melodie von Danube River vor sich hin und blätterte die Seite um.

»Max, kannst du die Klimaanlage ein bisschen runterdrehen?«, rief Kitty nach vorne. »Mich friert’s langsam.« Sie streckte die Beine auf der Sitzbank aus und kuschelte sich in eine Decke.

»Okay, Chefin.«

»Und nenn mich nicht immer Chefin.«

Kitty saß auf dem Sofa, im Schoß ihr Notizbuch, und kaute auf einem Bleistiftstummel herum. In der Wohnung war es schwül, wenigstens wehte durch die geöffneten Fenster ein Lüftchen herein. Die anderen waren zum Badeweiher gefahren, und sie hatte die Bude endlich einmal ein paar Stunden für sich. Kitty wickelte eine Locke um ihren Finger, während sie den orangeroten Wolken zuschaute, wie sie sich über dem knorrigen Zwetschgenbaum ineinander schoben und vor sich hinquollen. Schwalben zogen ihre Runden und stießen spitze Schreie aus. Das Wolkengebilde wirkte fast überirdisch.

In a tree by the brook there’s a songbird who sings. Sometimes, all of our thoughts are misgiven.

Der Radiergummi schmeckte eklig, eigentlich roch er mehr, als dass er schmeckte.

Drei Wochen war dieser Grizzly schon bei der Band. Grizzly! Wenn einer schon so hieß. Wie der Typ nur zu diesem bescheuerten Spitznamen gekommen war. Wahrscheinlich schwitzte er wie ein Bär und hatte Mundgeruch, oder seine Stimme hörte sich an wie aus der Blechdose. Am liebsten würde sie ihn zum Mond schießen. Kitty kritzelte eine Pershing aufs Blatt. Ihr doch egal – sie würde eine neue Band gründen, die wie eine Rakete die Charts hochschnellen würde. Nur der ultimative Song fehlte verdammt nochmal. Die Abendsonne brach durch. Kitty blinzelte. Der Song würde jeden Tag im Radio laufen, ein richtiger Ohrwurm, und sie könnte endlich im Schlachthof auftreten, nicht nur in der Alten Mälzerei oder in irgendeiner Dorfkneipe. Mälze war gestern. Nässt der Regen, flieg ich durch die Welt – flieg ich durch die Welt. Wer behauptet, deutsche Texte wären per se platt, hat einfach nichts kapiert. Neue Deutsche Welle hin oder her.

Vielleicht sollte sie alles hinschmeißen und in München einen Neustart hinlegen, dann wäre sie näher an den Plattenfirmen, dem Radio und den Tonstudios. Eine schicke Münchner Band würde sich sowieso besser vermarkten lassen als eine Regensburger Provinz-Combo. Andererseits hatte Kitty garantiert keine Lust, die Deppen von der Musikhochschule wieder zu treffen.

In der Zimmerecke stand ein desolater Wüstenkaktus und ließ seine halbvertrockneten Blätter hängen. Seit dem Bruch mit der Band kam sich Kitty vor, als würde sie halbtot die Sahara durchqueren. Ihr fiel nichts Vernünftiges mehr ein, keine Akkordfolge, keine Melodie und vor allem kein Text. In the desert, you can’t remember your name. Vom langen Sitzen war ihr Hintern ganz platt, außerdem hatte sie Bauchweh.

Wind zog auf, und der Himmel verdunkelte sich. Ein Fensterflügel schlug gegen die Wand. Neben dem Schornstein der Zuckerfabrik blitzte es. Kitty lehnte sich zurück; sie fischte eine Zigarette aus der Packung, die auf der Platte über den Ytong-Steinen lag, und zündete sie an. Der Aschenbecher quoll über, und die Bierund Weinflecken von der gestrigen Party sahen aus wie ein Rorschachtest, zwei Gehirnhälften, ohne Verbindung, als wüssten sie nichts voneinander. Ihre besten Songs waren ihr immer unter der Dusche eingefallen. Jedenfalls machte es keinen Sinn, hier weiter herumzuhirnen. Sie blies Ringe in die Luft. In der Ferne donnerte es. Vielleicht hätte sie Speedy nicht anschreien sollen. Er konnte einem aber auch auf die Nerven gehen mit seiner ewigen Rumnörgelei. Krautrock ist völlig out, kapiert? Früher hätte er sich das nicht getraut. Da hatten sie es ihr alle nur recht machen wollen. Kitty hier, Kitty da. Ständig war einer von den Jungs angeschissen gekommen und hatte ihr Komplimente gemacht oder wenigstens etwas zu trinken gebracht. Deine Stimme ist genial. Aber seit dieser Kacke mit dem Artikel in der SPEX war das Ganze gekippt. Begnadeter Lead-Gitarrist spielt Sängerin ins Abseits. Bestimmt hatten sie sie schon längst loswerden wollen und nur nach einem Grund gesucht. KITTY & THE CATS war ihr Leben gewesen, sie hatte die Band aufgebaut, es war ihr Werk. Die anderen hätten keinen einzigen Gig je an Land ziehen können und würden ohne sie noch heute in der PuffGarage sitzen und Led Zeppelin covern. Und jetzt stand dieser supergeile Grizzly an ihrem Mikro. Der Donner grollte. Kitty war zum Heulen. Sie schloss die Augen und spürte, wie ihr eine zornige Träne die Wange herablief.

 

Nach einer Weile ging die Tür und ihre Mitbewohner trampelten durch den Flur. Kitty wischte sich schnell übers Gesicht. Ein Gegenstand knallte auf den Boden, sicher wieder Cheesys Surfbrett.

»Hallo.« Friedel grinste, als hätte er im Lotto gewonnen.

»Na, wie läuft’s?« Sein T-Shirt hatte vom Regen Flecken.

»Geht so.« Sie setzte sich widerwillig auf, was er als Einladung missverstand. Er ließ sich aufs Sofa fallen und blickte ihr neugierig über die Schulter. »Schreibst du Tagebuch?«

Kitty klappte ihm das Heft vor der Nase zu. Sein dürrer Körper verströmte einen Geruchsmix aus Schweiß und Kokosöl. Konnte er nicht einfach duschen gehen?

Gudruns Badelatschen machten ein schmatzendes Geräusch, als sie die Fenster schloss. »Also, wenn ihr mich fragt, ich habe Hunger«, sagte sie in die Runde. Ihre helle Haut war gerötet, und die Nase pellte sich vom Sonnenbrand. »Es ist noch Pizzateig übrig.«

Eigentlich hatte sie niemand gefragt.

Cheesy fleezte sich in den Sessel und band seine Rastalocken zusammen. »Ich bin dafür.« Er legte die sandigen Füße auf den Tisch. »Wer noch?«

Seine Zehen waren lang und knochig, fast wie Finger. Friedel hob die Hand.

»Kitty?«, fragte Gudrun.

»Immer diese Abstimmungen, man kann es mit der Demokratie auch übertreiben.«

»Da bist du aber alleine mit deiner Meinung.«

»Na und, dann beantrage ich Minderheitenschutz.« Friedel lachte wie ein Schlumpf.

»Pizza gab’s gestern und vorgestern«, sagte Kitty, sie hatte keine Lust, demnächst mit Pickeln auf der Bühne zu stehen.

»Ist denn nichts Frisches da?«

»Falls du in der Zwischenzeit was eingekauft hast, schon.« Gudruns Unterton nervte.

»Hätte ich das machen sollen?«

»Letzte Woche war Friedel beim NETTO. Am Samstag wärst du dran gewesen.«

Kitty hob die Hände. »Hätte mir auch mal einer von euch sagen können.«

Gudrun lächelte schief, was Kitty regelmäßig auf die Palme brachte. »Steht ganz groß auf unserer neuen Liste am Kühlschrank.« Sie verschwand in der Küche und kehrte mit dem Zettel zurück. »Hier.«

»Seit wann soll die da hängen?«

»Schon eine Woche.«

»Hey, entspannt euch«, versuchte Cheesy zu schlichten.

»Wir belegen zusammen eine Pizza, und der Käse ist gegessen.«

If you listen to fools, the mob rules. Kitty hatte genug, sie stand auf und ging auf ihr Zimmer; gemeinsames Kochen war nicht ihr Ding, und gemeinsames Pizzabelegen erst recht nicht.

»Du bist mit Spülen dran«, rief ihr Gudrun hinterher.

»Arschgeige«, murmelte Kitty. Manchmal kam einfach alles zusammen.

Im Flur klingelte das Telefon. Sie drückte vergeblich auf den Lichtschalter; Friedel hätte die Glühbirne längst auswechseln können. Kitty tastete im Halbdunkel nach dem Telefon, das nicht an seinem Platz auf der Weinkiste stand, und forschte dem Kabel nach. Wer war auf die hirnverbrannte Idee gekommen, es ins Schuhschränkchen zu stellen?

»Ja?«

»Kitty?«

Speedy. Sie griff nach dem Apparat, stolperte über ein paar Schuhe und drückte die Tür hinter sich zu.

»Wir haben einen Auftritt.« Er hörte sich gedämpft an.

»Toll für euch. Warum erzählst du das ausgerechnet mir?« Kitty stützte sich am Türrahmen ab und starrte auf den Flickenteppich.

»Äh –«, er stockte und räusperte sich nervös, »also ich –«

»Habt ihr endlich einen neuen Namen?«

»So schnell geht das nicht.«

Sie knetete das Telefonkabel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wie wär’s mit GRIZZLY & THE BEARS?«

»KITTY & THE CATS soll spielen.«

»Was?« Sie heftete ihren Blick auf das Poster an der Wand. Kitty in Lederjacke vorm Mikrofon, mit geballten Fäusten, ihre wilde Lockenmähne umringte das schmale Gesicht. No, no, no, I never let you go. Hinter ihr lugten links und rechts Speedy, Hias, Bob und Sepp in die Kamera. KITTY & THE CATS.

»KITTY & THE CATS gehört mir«, stellte sie klar.

Für einen Moment war Stille, und sie dachte, Speedy hätte aufgelegt, aber er hielt nur die Luft an. »Grizzly ist für ein paar Tage weggefahren.«

»Aha.«

»Wir können ihn nicht erreichen.«

Sie stellte sich das Plakat mit fünf zotteligen Neandertalern vor. »So ein Pech.« Ihretwegen brauchte der Typ gar nicht wiederzukommen.

»Das ist nicht irgendein Gig, Kitty. Das ist was – Größeres.«

»Und was hat das mit mir zu tun?« Kitty setzte sich aufs Bett.

»Wir haben keinen Sänger.«

»Und jetzt kommst du bei mir angeschleimt?«

Er fluchte leise. »Kannst du einmal sachlich bleiben?« Sein Unverständnis verletzte sie. »Nee!«

Kitty hatte das Poster im Zorn zerrissen, es aber am nächsten Tag wieder mit Tesa zusammengeklebt. Ihre Augen wanderten an dem Riss entlang. Es fühlte sich an, als wäre sie gevierteilt und nachher wieder zusammengeflickt worden. Die ockergelb lasierten Wände ringsherum wirkten wie Dünen. My sisters and I have one wish before we die.

Ihr Mund war trocken, und sie hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. »Willst du damit sagen, ich soll für ihn –«

»Nur diesen einen Auftritt«, sagte er knapp, »so eine Chance bekommen wir nie wieder.«

Was sollte das schon für eine Chance sein mit diesen Pennern.

»Und nachher schickt ihr mich wieder in die Wüste?«

»Du tust so, als wäre es meine Schuld, dass du mir den Mikroständer nachgeworfen hast.«

Diese Sache würde er ihr in hundert Jahren noch nachtragen.

»Interessiert mich nicht mehr«, wehrte sie ab, »null Bock.«

»Du hättest dich wenigstens entschuldigen können.«

»Und jetzt soll ich’s deiner Meinung nach wieder gutmachen?«

»Das ist deine allerletzte Chance, kapierst du das nicht?« Er atmete hörbar aus, dann schlug er einen vertraulicheren Ton an. »Jetzt sei nicht so stur, wir brauchen einen eigenen Song –«

»Wenn du meine Texte schon so beknackt findest, frag ich mich echt, warum du überhaupt anrufst.«

»Kannst du mich wenigstens mal ausreden lassen?«

»Sprich.« Kitty sah zum Notenständer hin, auf dem sich ihre vergilbten Liedtexte stapelten – nichts davon hatte der Band gefallen.

»Einen brandneuen – auf Deutsch.«

»Jetzt auf einmal«, wunderte sie sich, »früher habt ihr meine deutschen Texte einfach nur peinlich gefunden.«

Sie wollten immer nur englische Songs spielen, aber auf Englisch kamen ihre Texte einfach nicht rüber.

»Er soll ins Ungarische übersetzt werden. Wir werden ihn – also du sollst ihn zweisprachig singen.«

»Auf Ungarisch?«

»Das Konzert findet direkt an der österreich-ungarischen Grenze statt. Die veranstalten ein Paneuropäisches Picknick.«

»Ein Pan-Was?«

»Ist doch egal. Stell dir vor, die öffnen für drei Stunden den Eisernen Vorhang!«

»Wo genau soll das sein?«

»In der Nähe von Sopron, Sopronpuszta, kennst du eh nicht. Irgendwo in der Pampa.«

»Klar kenne ich das«, widersprach Kitty, »aus Sopron kommt meine Campingplatz-Tante. Wir waren früher öfters am Neusiedler See.«

»Echt?«, sagte er überrascht. »Meine Schwester wohnt auf der österreichischen Seite in Mörbisch.«

»Und wer soll da hinkommen?«

»Beim WAAhnsinnsfestival waren es auch hunderttausend, obwohl’s in Burglengenfeld war. Schon vergessen?« Speedy wusste in letzter Zeit immer alles besser.

»Das ist ja wohl was anderes«, sagte sie, doch er ignorierte ihren Einwand. Der Traum ist aus, der Traum ist aus.

»Bist du jetzt dabei oder nicht?«

»Nein!« Manchmal konnte sie einfach nicht aus ihrer Haut.

»Du spinnst total«, sagte er.