Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Im Frühjahr 2009 jährt sich das Aus der Pläne zum Bau einer atomaren Anlage zur Aufarbeitung abgebrannter Kernbrennstäbe im Oberpfälzer Ort Wackersdorf zum zwanzigsten Mal. Das Thema ‘Atommüll und -risiken’ hat bis heute nichts von seiner Aktualität und Brisanz verloren: Asse, Krško, Tricastin, Fleurus, Temelin – in regelmäßigen Abständen kommen neue Stichwörter hinzu. Das Thema wird wohl noch die nächsten Jahrmillionen aktuell bleiben, so lange, bis der gesamte Atommüll der letzten 50 Jahre zerfallen sein wird. Angela Kreuz’ Roman WAAhnsinnszeiten ist eine packende Liebesgeschichte, aber auch eine gründlich recherchierte Geschichte, vor dem Hintergrund der teilweise sehr heftigen Auseinandersetzungen um die WAA Wackersdorf. Die 80er Jahre mit Bon Jovi, Parkas, Stoppt-Strauß-Plaketten, Zauberwürfeln und ihrer ganzen schillernden Palette von Eigenheiten werden ebenso lebendig wachgerufen wie die Szenarien der WAA-Zeit: BI-Büros, Hüttendorf, Bauzaun.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 184
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Alles, was Rang und Namen hatte, war bei der Premierenfeier im Stadttheater versammelt. Draußen war die Sonne längst untergegangen. Anna stand fröstelnd vor dem Eingang und drehte sich eine Zigarette. Sie schaute über den schneebedeckten Springbrunnen am Bismarckplatz zum Polizeipräsidium hinüber. Ihre Mutter hatte sie nach dem Abendessen genötigt, einen Rock fürs Theater anzuziehen, obwohl Anna Röcke hasste; sie hätte viel lieber Jeans getragen, ihren Rollkragenpulli und darüber den Parka, dann wäre es ihr jetzt wenigstens nicht kalt. Aber nein, ihre Mutter hatte darauf bestanden und ihr überdies die hässliche Bluse mit den Schulterpolstern herausgelegt, die sie als schick bezeichnete. Es wurde Zeit, dass Anna von zu Hause auszog. Seit sie im November zu studieren begonnen hatte, waren ihre Streitereien daheim ausgeufert. Anna kam sich verkleidet vor, exponiert, als müsste sie heute selbst auf der Bühne stehen; außerdem interessierte sie das Stück nicht. Hasemanns Töchter, was für ein bildungsbürgerlicher Kitsch. Bis vor Kurzem war In der Sache J. Robert Oppenheimer gelaufen – das wäre etwas für sie gewesen. Aber ihre Mutter wollte ja unbedingt dieses Lustspiel sehen. Zum Glück war keiner von ihren Kommilitonen hier. Sie hätte den Abend viel lieber im Büro ihrer Bürgerinitiative verbracht, hätte Flyer kopiert und an der neuen Infobroschüre weitergearbeitet. Das wäre sinnvoll gewesen, anstatt im Theater die Zeit abzusitzen – nur weil ihre Mutter Geburtstag hatte. Anna holte den Walkman aus der Tasche und setzte sich die Kopfhörer auf. Mit Bon Jovi war einfach alles leichter zu ertragen; sie wippte im Takt mit. Ooh, she’s a little Runaway.Daddy’s girl learned fast all those things he couldn’t say. Sie sah sich vom Bismarckplatz loslaufen, hinunter zur Donau und über den eisernen Steg, nach Stadtamhof Richtung Lappersdorf, Zeitlarn, Regenstauf, Maxhütte-Haidhof, über winterliche Felder und Wälder vorbei, am zugefrorenen Wackersdorfer Weiher durch den Taxöldener Forst zum Hüttendorf. Jemand tippte ihr auf die Schulter, sie erschrak und drehte sich herum.
»Kommst du endlich?«
Sie konnte die Worte von den Lippen ihres Vaters ablesen und schaltete den Walkman ab. Sein Gesicht wirkte alterslos, der Blick müde – objektiv, wie er immer sagte, ich sehe es halt objektiv. Es machte keinen Sinn, mit ihm über irgendetwas zu diskutieren; er würde Anna nie verstehen – auch nicht, dass es noch zehn Minuten bis zur Aufführung waren und sie das Lied hätte zu Ende hören können. Anna trottete hinter ihren Eltern her, die dem Strom von Zuschauern in den Theatersaal folgten. Sie nahmen in einer Loge Platz. Das Bühnenbild war barock gestaltet. Nach einer Szene, in der Rosa dem Vater die Liebe zu ihrem Ehemann gesteht, der sich vermeintlich von ihr scheiden lassen will, folgte eine Pause. Anna seufzte und erhob sich.
»Trinkst du ein Glas Sekt mit uns?«, fragte ihre Mutter; sie hatte Tränen gelacht und wischte sich über die Augenwinkel.
»Muss aufs Klo, ich komme nach.«
Vor der Damentoilette hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Anna machte aus Langeweile Kaugummiblasen und ließ sie mit einem Schnalzer platzen, woraufhin ihr eine Matrone mit dicken Klunkern missbilligend ins Gesicht starrte. Nachdem Anna ihre Hände gewaschen hatte, warf sie einen Blick in den Spiegel. Ein winziger Pickel, den außer ihr wohl niemand bemerkte, quälte sie. Wie konservativ sie in diesen unseligen Klamotten aussah, der Traum einer CSU-wählenden Schwiegermutter. Ein paar lose blonde Strähnen lösten sich aus dem Pferdeschwanz und fielen Anna ins Gesicht. Wenigstens dauerte es nach der Pause in der Regel nicht mehr so lang. Das Foyer war zu hell erleuchtet für Annas Geschmack; in einem schützenden Kneipenhalbdunkel hätte sie sich wohler gefühlt. Ihre Eltern unterhielten sich mit einem wichtigen Mandanten ihres Vaters. Anna nahm ein Sektglas entgegen und nippte daran; ein Bier wäre ihr lieber gewesen. An der Getränketheke fiel ihr ein junger Mann in Jeans und Turnschuhen auf. Seine lockigen Haare waren heruntergewachsen, und er war weit und breit der Einzige unter den Gästen, der ein Sweatshirt trug, auf dem ein Sticker prangte. Anna lächelte ihm zu, als er zu ihr herüberschaute, doch dann fiel ihr ein, dass sie selbst momentan wie eine Popperin aussah, und sie schämte sich. Der Mann lächelte erstaunt zurück, sie drehte sich schnell um und wurde zu allem Überfluss rot. Anna verwünschte ihre Kleidung und warf ihrer Mutter einen giftigen Blick zu. Endlich erlöste sie der Theatergong aus der peinlichen Situation; sie gingen zurück zu ihren Plätzen. Der Typ von der Sekttheke setzte sich in die Mitte des Parketts, von wo aus Anna ihn gut beobachten konnte. Er schien allein unterwegs zu sein. Ob er auch an der Uni studierte? Sie hatte ihn nie zuvor gesehen.