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Jasmin Pascal-Andersson, Lieutenant in der schwedischen Armee, wird bei einem Kriegseinsatz schwer verwundet. Vierzig Sekunden lang steht ihr Herz still. Nach der Reanimation leidet sie an Halluzinationen, die Ärzte attestieren ihr ein posttraumatisches Stresssyndrom. Eine schwierige Rekonvaleszenzzeit steht ihr bevor, und zurück in Stockholm entscheidet sie sich, aus dem Militärdienst auszutreten, um ein ruhigeres Leben zu führen. Sie findet einen Job als Sekretärin, bringt wenig später ein Kind zur Welt. Alles scheint in bester Ordnung. Doch als Jasmin mit ihrem Sohn in einen furchtbaren Autounfall verwickelt wird, kehren die Halluzinationen zurück ...
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Übersetzung aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
ISBN 978-3-492-97549-0
September 2016
© Lars Kepler 2015
Die schwedische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Playground« bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Published by Arrangement with Storytellers Literary Agency, Stockholm, Schweden
Covergestaltung: Favoritbüro, München
Covermotiv: Iakov Kalinin / shutterstock und altanaka / shutterstock
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Niemand weiß, wohin wir gehen, wenn wir sterben, ob die Orte, die beschrieben werden, nur in unserem Inneren existieren, in dem System aufblitzender Synapsen. Die immer wiederkehrenden Bilder in den Zeugnissen fast Gestorbener werden von den Forschern mit der panikartigen Reaktion des Gehirns auf den Sauerstoffmangel erklärt, der eintritt, wenn das Herz zum Stillstand kommt.
Unsere neurobiologischen Erklärungen sind natürlich erst einige Jahrzehnte alt, während die Zeugenberichte seit Jahrtausenden gleich sind. Von den frühesten Schriftkulturen bis heute wird mit auffallender Ähnlichkeit von dem berichtet, was uns erwartet, wenn wir sterben.
In der Religion des alten Ägypten wird Osiris’ Richterstuhl beschrieben, vor dem das Herz des Menschen gegen die Feder der Maat aufgewogen wird, und in Chinas klassischer Mythologie wird das Totenreich als die »Gelben Quellen« bezeichnet. Dort hausen die Toten als hungrige Geister, bis die Herrscher der Unterwelt einen Beschluss über ihr Schicksal fassen. In der griechischen, der römischen und in vielen afrikanischen Mythologien beginnt das Totenreich am Ufer eines Flusses, den man mit dem Schiff überqueren muss. Im Islam warten alle Toten auf ihr Urteil, und im Christentum gibt es ein Vorstadium zur Ewigkeit, in das Jesus hinabsteigt und aus dem Lazarus zurückkehrt. Im Judentum landen die Toten im Scheol als Schatten, ohne Gemeinschaft mit Gott, und nach dem hinduistischen sowie dem altnordischen Glauben kann man auch im Totenreich noch sterben.
Menschen, die in moderner Zeit davon berichten, was sie erlebt haben, als ihr Herz stillstand, kommen immer wieder zurück auf Tunnel, einen sie umhüllenden Lichtschein, die Begegnung mit toten Familienmitgliedern, dunkles Wasser und Orte, die sie nie zuvor gesehen haben.
Mythologie und persönliche Zeugnisse können natürlich sowohl psychologisch als auch neurologisch erklärt werden. Sein ganzes Leben hindurch ist sich der Mensch ungefähr zehn neuer Sinneseindrücke pro Sekunde bewusst, während unsere Sinnesorgane unbewusst mehr als zehn Millionen Eindrücke pro Sekunde registrieren. Das Gehirn hat die Fähigkeit, die Informationen zu in sich schlüssigen Einheiten zusammenzufassen und zu ordnen, die wir normalerweise als Erinnerung bezeichnen. Aber wir haben nur zu einem Bruchteil all dessen Zugang, was im Langzeitgedächtnis bewahrt wird, und das meiste davon wird in diesem riesigen Reservoir jungfräulich lagern bis zum Todeszeitpunkt.
Vor gefährlichen Einsätzen betrachtete Leutnant Jasmin Pascal-Andersson stets für eine Weile ein Foto, das sie in ihrer Brieftasche bei sich trug. Das glänzende Papier hatte einen tiefen Knick quer durch das Motiv. Auf dem Bild war die Gefechtsgruppe aus ihrem Zug zu sehen. Fünf Kampfteams à zwei Mann und Jasmin als einzige Frau in der Mitte. Die Männer standen wie Verehrer um sie herum, in Schutzwesten und Helmen. Mark hatte seine rosa Sonnenbrille aufgesetzt und eine Zigarette im Mundwinkel. Lars hatte sich einen weißen Strich unter die Augen und auf die Nase gemalt, und Nico hatte die Augen geschlossen.
Auf dem Foto trug Jasmin ihr rotes Haar in einem stramm geflochtenen Zopf, sie lachte wie ein Geburtstagskind und hielt ihre M240 Bravo mit aufgeklappter Lafette in den Händen. Das Maschinengewehr war fast so lang wie sie, und die Muskeln ihrer sommersprossigen Arme waren angespannt. Der schwere Patronengürtel mit vollummantelter Munition ringelte sich neben ihren Kampfstiefeln auf der Erde.
Eigentlich hatte Jasmin nie Angst, aber sie wusste, wann ein Einsatz ungewöhnlich riskant war. Eine Weile betrachtete sie das Foto, um sich bewusst zu machen, dass die Männer ihr vertrauten, dass deren Sicherheit in ihrer Verantwortung lag.
Sie war eine gute Gruppenleiterin.
Mark witzelte gern, es sei gar nichts anderes denkbar gewesen, als ihr das Kommando zu übertragen, weil sie sowieso immer das letzte Wort haben müsse.
»Muss ich gar nicht«, antwortete sie jedes Mal darauf.
Jasmin schob das Foto zurück in die Brieftasche und blieb eine Weile reglos stehen.
Es war äußerst selten, dass sie schlechte Vorahnungen hatte, aber im Augenblick hatte sie das Gefühl, ihre Seele wäre in ein Schattenreich geraten, obwohl doch alles war wie immer.
Sie zögerte, dann setzte sie die Perlenohrringe ein, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte.
Irgendwie machte sie das ruhiger.
Jasmins Sonderkampfgruppe gehörte zur NATO-Operation Joint Forge, ihr war jedoch ein Spezialauftrag in Leposavi´c zugeteilt worden.
Die serbischen Streitkräfte hatten sich schon vor langer Zeit aus dem Kosovo zurückgezogen. Wie eine riesige Schlange waren die Soldaten auf dem Rückzug durch Dörfer und Städte marschiert. Es hätte jetzt vorbei sein sollen, aber im Nordkosovo gab es immer noch Enklaven, die auf eigene Faust handelten.
Jasmins Gruppe war eine von fünf, die die Berichte von Übergriffen auf die Zivilbevölkerung in Soˇcanica untersuchen sollten.
Sie hatten keine Truppentransporter zur Verfügung, und als der Regen zunahm, wurde es für ihre Jeeps immer schwerer voranzukommen. Die Straßen waren kaputt gefahren, die Straßenränder weggespült, und der Fluss Ibar war trüb vom Lehm.
Vom Fahrersitz aus konnte Jasmin sehen, dass Lars ganz blass im Gesicht war, er hatte seinen Helm abgenommen und hielt ihn jetzt im Schoß.
»Vielleicht wäre es schlauer, in eine Plastiktüte zu kotzen«, neckte sie ihn.
»Mir geht es fantastisch«, entgegnete Lars und hielt den Daumen in die Höhe.
»Wir haben ein bisschen Misty Green für dich aufbewahrt«, sagte Nico grinsend.
»Und Nudeln mit Rattenscheiße«, ergänzte Mark mit einem Lachen.
Die Männer hatten die Erlaubnis erhalten, am Abend zuvor zu feiern. Die Sonderkampfgruppe hatte als Ausrede das chinesische Neujahrsfest angeführt. Sie bastelten aus Popcorntüten rote Lampions und feuerten Leuchtgranaten in den Himmel, die mit ihren Fallschirmen wie verzögerte Sternschnuppen zu Boden segelten. Sie aßen Frühlingsrollen und Instantnudeln und mixten sich einen Drink aus schwedischem Wodka und grünen Teeblättern aus der Hangzhou-Provinz zurecht, den sie Misty Green nannten.
Wie üblich trank Lars zu viel, und als er sich übergab, stand Mark daneben und behauptete, er hätte Rattenkot unter die Nudeln gemischt, um so das Jahr der Ratte willkommen zu heißen.
Als Lars über der Kloschüssel hing und schrie, er werde sterben, grölte der Rest der Gruppe, es sei eine Ehre, unter Jasmins Befehl zu sterben.
Jasmin war in ihr Zelt gegangen, hatte die neuesten Satellitenbilder studiert und versucht, sich das Terrain einzuprägen, während das Fest weiterging. Sie hörte die Jungs gern lachen, tanzen und singen.
Im Laufe der Jahre hatte Jasmin mit drei der Männer der jetzigen Sonderkampfgruppe Sex gehabt, aber das war, bevor sie die Leitung übernahm. Wenn sie ehrlich war, konnte sie sich durchaus vorstellen, mit dem einen oder anderen noch einmal zu schlafen.
Was natürlich nicht passieren würde – auch wenn die Einsamkeit sich in Todesnähe deutlich bemerkbar machte.
Früher am Abend war sie Marks funkelndem Blick begegnet und hatte ihm zugenickt. Er war süß, mit Augen, die immer bereit für einen Flirt waren, und breiten, muskulösen Oberarmen, und sie hatte überlegt, ob sie in dieser Nacht nicht doch eine Ausnahme machen sollte oder lieber nur onanieren.
Der Morgen war mit einem bleifarbenen, regenschweren Himmel gekommen. Der Jeep legte sich zur Seite, braunes Wasser reichte bis über die Räder. Jasmin schaltete runter, drehte das Lenkrad nach links und fuhr langsam den steilen Hang hinauf.
Einen halben Kilometer südlich von Soˇcanica war die Straße vollkommen zerstört, und Jasmin beschloss, zu Fuß weiterzugehen.
Während sie die Gruppe hinunterführte, nahm sie den Geruch von Waffenfett deutlicher als je zuvor wahr. Plötzlich war das Gewicht der Waffe eine Qual. Bei jedem Schritt hüpfte das Maschinengewehr im Tragegurt, als versuchte es, seinem Schicksal zu entkommen.
Ihre düstere Vorahnung wurde immer stärker.
Mark rauchte im Regen und sang China Girl zusammen mit Simon. Alles erschien wie von einem dumpfen Schmerz gedrückt: der nasse Himmel, die kahlen Hügel und das spatzengraue Wasser des Flusses.
Im Funkgerät knisterte es, die Verbindung war schlecht, aber sie konnte genug hören, um zu verstehen, dass die beiden britischen Sonderkampfgruppen kurz hinter Mitrovica festsaßen.
Jasmin beschloss, den Ort zu erkunden, solange sie auf die Engländer warten mussten, und führte die fünf Kampfteams hinunter auf den farblosen Ort zu.
Ihre Ohrringe klickten im Takt ihrer Schritte gegen den Riemen des Helms.
Noch bevor sie das erste Haus erreichten, sahen sie ein kleines Mädchen davor liegen, mit dem Gesicht zum Boden, in dem nassen Gras neben seinem Dreirad. Vor dem Haus saß eine schwangere Frau gegen die Wand gelehnt. Sie war an einer Schusswunde in der Brust verblutet. Ein paar weiße Hühner pickten im Kies vor ihr, und der Regen schlug Blasen in den Wasserpfützen.
Jasmin beruhigte Nico, ließ ihn zu Gott beten und sein Kruzifix küssen, bevor sie die Männer weiter hinunter in den Ort führte.
Ein entfernter Knall, kurz wie ein Peitschenhieb, hallte zwischen den Häusern in der Talsenke wider.
Vor einer langen Treppe zwischen zwei Häusern ließ Jasmin ihre Truppe halten, schob sich vorsichtig zur Seite und schaute hinunter auf den Marktplatz mit Gemüseständen und einem alten Wohnwagen. An die dreißig Männer der serbischen Enklave hatten eine Gruppe Jungen vor sich in einer Reihe aufstellen lassen.
Ein Soldat hielt einen Regenschirm über einen Offizier mit dichtem, schwarzem Bart, der auf einem geblümten Sessel saß. Der Regen vermochte nicht das Blut auf dem Boden vor seinen Füßen wegzuspülen. Ein Junge wurde gezwungen, sich hinzuknien, der Offizier sagte etwas und richtete ihn dann mit einem Pistolenschuss ins Gesicht hin.
Sie wollten alle Jungen aus dem Ort töten.
Während der tote Körper weggeschleppt wurde, bekam Jasmin endlich wieder Funkkontakt zu den beiden britischen Sonderkampfgruppen. Sie waren inzwischen auf dem Weg. In höchstens fünfzehn Minuten würden sie ihnen Unterstützung geben können.
Jasmin konnte sehen, dass der nächste Junge knallrote Wangen hatte, als er gezwungen wurde, sich vor dem Offizier hinzuknien.
Vielleicht waren einige der Meinung, dass sie die Entscheidung aus dem Gefühl heraus getroffen hätte, aber keiner ihrer Männer zögerte, ihrem Befehl zu gehorchen. Jasmin wusste, dass sie innerhalb von nur drei Minuten ihre fünf Kampfteams auf Positionen verteilen konnte, von denen aus es möglich sein würde, ohne eigene Verluste achtzig Prozent des Feindes zu schlagen.
Gerade als ihre Männer in Position waren, sah sie durch das Fernglas eine Kolonne von zehn lehmbeschmierten Personenwagen voll mit serbischen Soldaten auf die Hauptstraße einbiegen, die geradewegs zum Marktplatz führte.
Die Autos hatte sie schon früher auf den Satellitenbildern verfolgt, aber da waren sie auf dem Weg fort von der Stadt gewesen, bereits an Lešak vorbei. Aus irgendeinem Grund waren sie umgekehrt, und damit hatte sich das Risiko für ihre eigene Sonderkampfgruppe potenziert, wenn sie die Hinrichtungen verhindern wollten.
Dennoch gab sie Mark den Befehl, den Henker zu erschießen. Es gab einen Knall, die Kugel traf ihn direkt im Kopf, und Blut spritzte auf die Rückenlehne des Sessels.
Unter den serbischen Männern brach Chaos aus, und innerhalb von dreißig Sekunden hatte Jasmins Gruppe mehr als die Hälfte von ihnen unschädlich gemacht.
Ihr Herz hämmerte heftig, Adrenalin wurde ins Blut gepumpt und machte ihren Verstand eiskalt.
Drei Soldaten mit automatischen Karabinern versteckten sich hinter einer Ziegelsteinmauer.
Jasmins M240 kam zum Einsatz, und die Kugeln schlugen eine Reihe von Löchern in die Mauer, woraufhin eine rosa Blutwolke über der Krone aufstieg.
Gut zehn Soldaten waren im Rathaus verschwunden. Die Tür stand einen Spalt offen und bewegte sich leicht hin und her.
Die Jungs, die sich zu Boden geworfen hatten, als der Kugelhagel einsetzte, standen in der plötzlichen Stille auf. Verängstigt und verwirrt zogen sie sich in eine schmale Gasse neben dem Markt zurück. Ein magerer Junge hielt seinen weinenden kleinen Bruder an der Hand.
Jetzt wurde die Rathaustür aufgestoßen, ein Soldat der serbischen Miliz sprang heraus und lief hinter den Jungen her, wobei er den Splint einer Handgranate zog. Nicos Heckenschützengewehr knallte neben Jasmin, und der Soldat wurde im Kopf getroffen. Er fiel vornüber auf den Bauch und blieb still liegen, bis die Handgranate explodierte und der Körper in einer Staubwolke verschwand.
Die Jungen rannten die Gasse zur Talsenke hinunter, und Jasmin schoss Türen und Fensterläden des Rathauses zusammen, um ihnen Zeit zu verschaffen.
Als die Kinder verschwunden waren, guckte sie kurz nach rechts. Die Autos mit der serbischen Unterstützung hatten angehalten, zurückgesetzt und einen anderen Weg eingeschlagen. Sie bogen von der Hauptstraße ab und rasten mit hoher Geschwindigkeit einen Hügel hinauf, der sie in den Rücken von Jasmins Gruppe brachte. Ganz offensichtlich hatten sie Funkkontakt mit jemandem, der ihnen sagte, wo die Angreifer versteckt waren.
Mark und Vincent hatten leichte Schussverletzungen erlitten. Bald würde die Lage nicht mehr zu kontrollieren sein. Jasmin erteilte Lars und Nico den Befehl, an Ort und Stelle zu bleiben und den anderen Feuerschutz zu geben, während diese sich in den Schutz der alten Kirche begaben. Ihr war klar, dass die beiden Zurückbleibenden abgeschnitten sein würden, aber es gab keine Alternative. Sie selbst sprang auf, klappte die Lafette auf und legte sich auf den Bauch hinter das MG. Solange die Munition reichte, würde sie die Soldaten aus den Wagen daran hindern können, näher zu kommen.
Ihre Finger zitterten vor Adrenalin im Blut, als sie das Zielfernrohr justierte.
Jasmin konnte genau parallel zu den Häuserfassaden die Straße entlangschießen, aber sie hatte keine Möglichkeit, sich gegen Angreifer von hinten zu wehren. Doch in diesem Moment war ihre einzige Priorität, ihre Gruppe am Leben zu erhalten, bis die britische Unterstützung eintraf.
Sie sah, wie es Mark und den anderen Männern gelang, sich zur Kirche zu flüchten, während sie schoss. Ein serbischer Soldat sprang mit seinem sandfarbenen Automatikkarabiner vor, und sie traf ihn im Bauch und schoss dann ein rostiges Moped vor einer Wand in Stücke.
Jasmin hörte Rufe hinter sich, aber sie hatte keine Zeit, sich umzudrehen. Um ihre Männer zu decken, schoss sie immer weiter, die Häuserfassaden entlang. Splitter eines Fensterladens spritzten hoch, und ein vorstehender Eckstein zerbarst. Sie schoss und schoss, um den Feind zwischen den Häusern zurückzuhalten. Sie schoss und spürte den Rückschlag im Körper, die Hitze des Metalls und den Geruch von Schießpulvergasen. Schweiß lief ihr in die Augen, und der Knall der Salven hallte in ihren Ohren. Jasmin spürte, wie ihr die Finger taub wurden, und dann begann plötzlich ein sonderbarer Schmerz in ihrem Rücken zu brennen.
Jasmin Pascal-Andersson wachte im Országos-Orvosi-Krankenhaus in Budapest aus der Narkose auf. Am Fenster erahnte sie eine Gestalt und nahm an, es sei Mark. Sie versuchte zu reden, hatte aber noch keine Stimme. Es war schwer, Mark in den gezackten Lichtkreisen vor ihren Augen auszumachen. Er hatte einen ihrer Ohrringe dabei, setzte sich auf den Bettrand und sagte etwas, das sie nicht verstand, streichelte ihre Wange und befestigte die kleine Perle in ihrem linken Ohrläppchen. Mit einer kraftlosen Hand schob sie die feuchte Sauerstoffmaske hoch und atmete schwer.
»Der Tod funktioniert nicht«, brachte sie hustend heraus.
»Jasmin, du lebst, du bist nicht tot«, flüsterte Mark und versuchte zu lächeln.
»Die Menschen stehen im Hafen Schlange, um auf die Schiffe zu kommen«, keuchte sie. »Überall hängen rote Lampions, alle Schilder sind auf Chinesisch, ich verstehe nicht … denn alles ist falsch, ich verstehe nicht …«
»Das wird schon wieder«, versuchte er sie zu beruhigen.
Eine Krankenschwester kam ins Zimmer und fragte Jasmin auf Englisch, wie es ihr gehe, blickte auf ihre Sauerstoffwerte und die elektrokardiografische Herzkurve. Jasmin schaute Mark in die Augen, hatte dabei aber das Gefühl, durch ihn hindurchzusehen, direkt auf die unsortierten Bilder in ihrem eigenen Kopf.
»Gleich kommt ein Arzt«, erklärte die Schwester und ging wieder hinaus.
»Überall war die Triade«, fuhr Jasmin fort und kämpfte gegen die Tränen an. »Ich habe gesehen, wie sie Eltern ein Kind wegnahmen.«
»Ich höre, was du sagst, aber …«
»Es gibt keine Gerechtigkeit dort«, fuhr sie fort und strich sich über den Hals. »Ich habe alles gesehen, ich stand am Kai, ich habe Nico gesehen, wie er an Bord gegangen ist, mein Gott …«
»Nico ist tot, Jasmin«, sagte Mark und streichelte ihre Hand.
»Das sage ich doch, ich habe ihn im Hafen gesehen.«
»Lars ist auch tot.«
»Oh Gott«, sie weinte und drehte den Kopf zur Seite.
»Anscheinend hast du ziemlich schlimme Sachen geträumt …«
»Ich ertrage es nicht, ich ertrage es nicht«, schrie sie mit Tränen in den Augen. »Wir haben das Totenreich zerstört, es funktioniert nicht mehr, es ist nicht gerecht, wir machen alles kaputt …«
Jasmin verstummte, atmete aber immer noch heftig, als der Arzt die Tür öffnete und das Zimmer betrat. Ihre Herzfrequenz schoss nach oben, der Sauerstoffgehalt im Blut sank, und im Schlauch für das Wundwasser war Blut zu sehen.
Der Arzt trat ans Bett und erklärte ihr, sie werde wieder gesund werden, sie habe Glück gehabt, und berichtete dann von der Schusswunde und der notwendigen Operation.
Die Kugel war durch den großen Rückenmuskel Latissimus dorsi gedrungen, durch die elfte Rippe, hatte den Dickdarm gestreift und den Körper durch den Bauch wieder verlassen. Sie hatte viel Blut verloren, aber die Operation war gut verlaufen, und sie würde keine bleibenden Schäden zurückbehalten.
»Hätte man Sie fünf Minuten später gebracht, wäre es nicht mehr möglich gewesen, Sie zu retten«, erklärte er mit ernstem Blick. »Als wir Sie ins Koma versetzt haben, standen Sie durch den Blutverlust unter Schock, und Ihr Herz stand für eine Minute und vierzig Sekunden still.«
Nach der Rückkehr nach Schweden wurde Jasmin im Krisen- und Traumazentrum in Stockholm behandelt. Sie saß auf einem hellgrünen Sofa in dem heruntergekommenen Besprechungszimmer und füllte das obligatorische Formular aus, um über sich und ihre Probleme Auskunft zu geben. Als sie zu dem Abschnitt kam, in dem sie erklären sollte, was sie erlebt hatte, streikte der Stift.
Die Bilder dessen, was auf der anderen Seite zu erwarten war, fuhren Jasmin durch den Kopf. Als sie sich an die Gewalt in dem dunklen Hafen erinnerte, die Menschen, die in der Schlange standen, und den Geruch nach Dieselöl, begannen ihre Lippen zu prickeln, und sie bekam nur noch schwer Luft.
Sie hob eine zitternde Hand vor den Mund und dachte daran, wie sie Nico gesehen hatte, der mit gesenktem Blick an Bord eines rostigen Schiffes verschwand.
Auf dem Sessel ihr gegenüber saß eine junge Frau mit dem gleichen Formular. Sie füllte es langsam aus, während ihr die Tränen über das vernarbte Gesicht liefen, sodass ihr Hidschab dunkle Flecken bekam.
Jasmin musste schwer schlucken, schaute dann wieder auf die Frage, was sie erlebt habe, wollte zunächst einfach die Zeilen leer lassen, entschied sich dann doch anders und schrieb »ich bin gestorben«.
Drei Monate lang bekam sie Neuroleptika gegen die psychotische Wahnvorstellung, das Totenreich wirklich gesehen zu haben. Mark war die ganze Zeit bei ihr und unterstützte sie. Die Medikamente wurden langsam reduziert, während sie bis November an der kognitiven Verhaltenstherapie teilnahm.
Bemüht lächelte Jasmin, als der weißhaarige Psychologe erneut wiederholte, dass die halluzinatorische Vision von den traumatischen Erlebnissen während des Gefechts in Soˇcanica verursacht worden sei. Ein ganz natürlicher Abwehrmechanismus. Die Erinnerungsbilder der chinesischen Hafenstadt resultierten aus der Feier des chinesischen Neujahrsfestes der Kampfgruppe, und die Schlange stehenden Menschen am Kai seien ein mentales Spiegelbild der Jungen, die darauf warteten, hingerichtet zu werden.
»Oder aber ich habe Ihnen etwas berichtet, das Sie retten kann, wenn Sie sterben«, erwiderte Jasmin.
Das Feuergefecht im nördlichen Kosovo zog eine interne Untersuchung nach sich. Laut Abschlussbericht war Jasmins Gruppenführung absolut fehlerfrei und außergewöhnlich gut gewesen. Sie hatte ein Massaker gestoppt und den größten Teil ihrer Kampfgruppe gerettet durch die schwierige Entscheidung, gemeinsam mit einigen Kampfteams an einem strategischen Punkt zu bleiben. Ihr wurde die NATO Meritorious Service Medal verliehen, doch sie weigerte sich, sie entgegenzunehmen und bei der Zeremonie anwesend zu sein.
Während der Würdigung ihres Einsatzes befand Jasmin sich im Bett eines Hotelzimmers. Sie saß rittlings auf einem Mann, den sie im Fitnessstudio getroffen hatte. Mit seinem blonden Haar ähnelte er Nico, und es war sonderbar und gleichzeitig erregend, ihn in sich zu spüren.
Jasmins rote Locken waren zerzaust, ihr Blick glasig von fehlendem Schlaf. Die Sommersprossen waren verblasst, sahen aus wie kleine Brotkrümel in dem geröteten Gesicht. Ihre linke Wange war ganz rot von den Bartstoppeln, an denen sie sich gerieben hatte.
Das große Bett war von der Wand weggerutscht, und Jasmin konnte die Staubmäuse auf der Auslegware und die Kabel der Nachttischlampen sehen.
Es kam nicht oft vor, dass sie mit irgendeinem Mann im Hotelzimmer landete, aber ab und zu erschien es ihr unbedingt nötig. Diese flüchtige Nähe und die Leere hinterher gaben ihr ein Gefühl der Wirklichkeit.
Sie wusste, sie würde diesen Mann niemals wieder treffen, da sie es nicht ertrug, mit Menschen zu verkehren, die nicht verstanden, was sie und ihre Männer an diesem milden Wintertag im nördlichen Kosovo durchgemacht hatten.
Jasmin hatte Glück gehabt, die Schusswunde war schnell verheilt, und die Narbe vom Austrittsloch der Kugel verblasste mit der Zeit, bekam einen hellrosa Ton und sah schließlich fast aus wie das Blütenblatt einer Rose.
Schnell begriff sie, dass sie als psychisch krank betrachtet werden würde, solange sie von der Hafenstadt sprach. Gewisse Wahrheiten musste man für sich behalten.
Sie zog zu Mark, versuchte bei den alltäglichen Arbeiten zu helfen, doch die meiste Zeit lief sie in seinem Haus in einem ausgebeulten Pullover herum, der ihr bis über die Hüften hing, und dazu ausgeblichene, abgetragene Jeans, deren Hosenbeine ausgefranst waren.
Sie hatten eine sexuelle Beziehung, und im Nachhinein erschien ihr die Zeit mit Mark nur wie aus aufblitzenden Fragmenten zu bestehen: das Tequilaglas, das auf den Tisch fiel, tschechisches Bier und laut dröhnender Eminem, Gäste mit Blumen aus den Beeten der Nachbarn, Angst und schmerzstillende Tabletten, der Grill wie ein Feuerball aus brennendem Fett und Sex mit Mark auf dem zerwühlten Bett im Alkoholrausch oder bäuchlings auf dem Ledersofa, auf dem Küchenboden oder in dem taufeuchten Gras am See.
Dann blieb ihre Menstruation aus. Sie dachte nicht weiter darüber nach, aber nach zwei Wochen kaufte sie sich doch einen Schwangerschaftstest.
Als Jasmin den blauen Strich auf der Skala sah, blieb ihr fast die Luft weg. Sie wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, setzte sich auf den Deckel der Toilette und lachte leise vor sich hin.
Das Leben ist unbegreiflich, das Leben ist eine Ausnahme, ein kleines Aufflackern einer Kerze, umgeben von einer unendlichen Finsternis. Für Jasmin brachte die Schwangerschaft das Gefühl von Vergebung. Sie glaubte, die große Erschütterung in ihrem Leben hinter sich zu haben, aber die Beben, die sie bisher erlebt hatte, waren nur Vibrationen, die das tatsächliche Erdbeben vorbereiteten.
In vielen Nächten wachte sie auf von Albträumen, die in dem Hafen spielten, der an das Totenreich grenzte, aber diese Bilder behielt sie für sich.
Sie studierte an der Universität Internationales Krisen- und Konfliktmanagement, während Mark sich in keinerlei Hinsicht veränderte. Wenn er zwischen seinen Einsätzen daheim war, wurde gefeiert. Jasmin putzte am nächsten Morgen und saß in ihrem Zimmer über den Büchern, während die Gäste aufwachten und frühstückten.
An diesem Abend stand sie wie üblich vor dem Spiegel und betrachtete ihren Bauch. Anfangs hatte sie ihn vorgestreckt, um die kleine Kugel zu sehen, aber das war nicht mehr nötig. Sie war bereits in der siebenundzwanzigsten Woche und fand sich schön. Die Haut schimmerte, und das Haar erschien ihr roter als je zuvor. Die Sommersprossen leuchteten am ganzen Körper und verdichteten sich in einer Wolke vom Schlüsselbein über die Brüste, die Schultern und bis hinunter auf die muskulösen Arme.
Jasmin vergewisserte sich, dass die Schlafzimmertür verschlossen war, dann legte sie sich ins Bett. Sie lag mit geschlossenen Augen auf der Seite, konnte aber nicht einschlafen. Mark und seine Freunde spielten laute Musik, und eine Frau lachte und schrie, Autos fuhren auf den Hof, und Glas zerbrach.
Es war bereits vier Uhr, als Jasmin einschlief, die Hände auf den Ohren.
Sie wachte mit pochendem Herzen auf, erinnerte sich an den Traum mit den roten Papierlampions mit chinesischen Zeichen in blassem Gelb, drehte sich auf den Rücken und sah, wie Rauch ein Muster um die Deckenlampe zeichnete.
Schnell griff Jasmin nach dem Glas auf dem Nachttisch, kippte das Wasser darin auf eine Bluse, band sich den nassen Stoff über Mund und Nase und ging hinunter ins Erdgeschoss. Das Fest war vorbei, alles war still. Durch die diesige Luft sah sie Menschen in einem Chaos aus Flaschen, Chipstüten, Aluminiumfolie mit Haschstückchen und überquellenden Aschenbechern liegen und schlafen.
Sie ging weiter, in den Flur, schloss sorgfältig die Tür hinter sich, um das Feuer an weiterer Ausbreitung zu hindern, und näherte sich dem schwarzen Rauch, der unter der Küchentür hervorsickerte.
Tränen begannen ihr aus den brennenden Augen zu laufen, aber nach den vielen Übungen mit CS-Gas wusste sie, dass es nur eine Regel gab: Ertragen. Man durfte husten, weinen und sich erbrechen, aber solange man es ertrug, nicht die Augen zu reiben, konnte man seinen Auftrag erfüllen.
In der Hocke betrat sie die Küche, die voller Rauch war, und zog die Tür hinter sich zu. Das Feuer sah wie eine orangefarbene Flagge in dichtem Nebel aus.
Jasmin hielt den Atem an und spürte die Hitze im Gesicht, als sie sich dem Herd näherte. Ein Topf brannte, und die Flammen hatten sich an der Dunstabzugshaube vorbei hochgearbeitet und das Gewürzregal entzündet.
Sie streckte die Hand vor und schaltete den Herd aus, tastete sich an der Wand entlang zum Putzschrank, suchte hinter dem Staubsauger und fand den Feuerlöscher.
Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, kehrte sie zum Herd zurück, zog den Sicherungssplint aus dem Löscher und sprühte dichten Schaum, bis das Feuer erstickt war.
Es klapperte, als sie den Feuerlöscher über den Boden zog. Mit sich verkrampfender Lunge trat sie die Küchentür zum Garten auf, gelangte in die kühle Morgenluft und riss sich die Bluse vom Gesicht. Schwer atmend ging sie zurück ins Haus und öffnete alle Fenster, um den Rauch hinauszulassen.
Auf einer Bank bei den Fliederbeerbüschen fand sie Mark. Zusammen mit einer blonden Frau saß er dort und rauchte. Eine Flasche Whisky stand zwischen seinen nackten Füßen im Gras.
»Liebling«, lächelte er betrunken, als sie sich vor ihn stellte.
»Kann ich mal dein Telefon haben?«
»Natürlich«, sagte er und zog es unbeholfen aus der Brusttasche.
Jasmin nahm es entgegen, rief die Feuerwehr an, berichtete von dem Feuer, dass sie versucht hatte, es zu löschen, aber immer noch Glutnester im Gebälk sein konnten. Der Mann in der Zentrale sagte, er werde einen Einsatzwagen schicken, Jasmin bedankte sich und beendete das Gespräch.
»Brennt es in der Küche?«, fragte Mark.
Jasmin schüttelte den Kopf, dann rief sie ihre Mutter an und fragte, ob sie zu ihr ziehen könne.
»Ich bin ein Idiot«, murmelte Mark.
Sie gab ihm sein Handy zurück, sah ihn an, sein zerfurchtes Gesicht, die traurigen Augen und die Tätowierung, einen Drachen, der sich auf dem schlaffen Oberarm nach oben schlängelte.
Sie konnte nicht anders, er tat ihr leid, dennoch ging sie wortlos zum Gartentor, um dort auf ihre Mutter zu warten.
Mark befand sich in Afghanistan, als ihr Kind geboren wurde, aber Jasmins Mutter war mit im Krankenhaus, und ihre Schwester Diana nahm sich frei und flog nach Stockholm, sowohl um den kleinen Jungen nach der Geburt zu sehen als auch um ihn zur Taufe zu tragen.
Jasmin gab ihm den Namen Dante.
Mehr als ein Jahr lang lebte sie bei ihrer Mutter. Gemeinsam wechselten sie die Windeln, sahen den Kleinen wachsen, krabbeln und sich an den Möbeln hochziehen.
Jasmin bewarb sich um eine Aushilfstätigkeit als Sekretärin im Verteidigungsministerium und begann, halbtags zu arbeiten, daneben studierte sie weiterhin Internationales Krisen- und Konfliktmanagement.
Auch wenn Mark über längere Perioden nicht daheim war, achtete Jasmin darauf, dass er seinen Sohn sah. Als Dante das erste Mal bei Mark übernachtete, wartete Jasmin im Auto bis zum nächsten Morgen vor dem Haus. Mark war immer sehr lieb zu Dante, bekam sein Leben aber nicht in den Griff. Wenn er zwischen den Einsätzen zu Hause in Schweden war, musste er weiterhin mit seiner Clique Tequila saufen, hinter dem Haus grillen und nackt im See baden.
Die Aushilfstätigkeit im Verteidigungsministerium ging über in eine feste Stelle, und mithilfe ihrer Mutter konnte sich Jasmin eine Wohnung kaufen, von der aus Arbeit und Kindergarten zu Fuß erreichbar waren.
Manchmal erfüllte sie eine heftige Sehnsucht nach einer völligen Anwesenheit im Augenblick, nach den einfachen Bedürfnissen, die sich tief im Körperinneren verbergen, in den Nerven und unter der Haut. Dann traf sie einen Mann im Café der Universität und zog ihn mit sich in die Toiletten.
Nicht, dass sie dort einen Orgasmus gehabt hätte, das wäre vielleicht möglich gewesen, wären sie ins Hotel gegangen, aber darauf war sie gar nicht aus.
Vielleicht war es die Einsamkeit danach, die sie suchte, ihn hinausschieben zu können, die Tür wieder zu verschließen und sich mit zitternden Beinen auf den Toilettendeckel zu setzen.
Fünf Jahre dieses neuen Lebens waren vergangen. Jasmin Pascal-Andersson stellte die schweren Einkaufstaschen auf den Flurboden, und Dante zog sich die Mütze vom Kopf und warf sie aufs Regal. Seine Wangen waren rot, und die braunen Locken klebten an der feuchten Stirn.
Jasmin ging in die Knie, half Dante, die Stiefel auszuziehen, und öffnete seinen Schneeanzug.
»Nun hilf mal mit«, sagte sie und zog an den Ärmeln.
Dante hielt sich an ihrem Kopf fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und spielte dabei mit ihrem Ohrring.
»Eine echte Perle«, sagte er.
»Ja«, antwortete sie, bekam ein Bein aus dem Anzug heraus und zog ihm den geringelten Strumpf aus.
»Aber die andere hast du verloren«, sagte er.
»Ja«, nickte sie und dachte, dass sie dafür ihr Leben behalten hatte.
»Irgendwann kaufe ich dir einen ganz tollen Ohrring.«
Dante hatte Marks lange Wimpern geerbt und ein kleines Grübchen am Kinn. Er war ziemlich klein für sein Alter, genau wie sie es bis zur Pubertät gewesen war.
Sie setzte Dante in die Badewanne, und während sie das Essen vorbereitete, konnte sie ihn singen hören: Buchstabenlieder, voller Ernst und Inbrunst. Ihre große Schwester Diana war zu einem Ärztekongress nach Stockholm gekommen, verzichtete aber auf das Galaessen, um sie zu treffen und Dante schon im Voraus ein Geburtstagsgeschenk zu bringen.
Jasmins Leben war stabil geworden, und nichts deutete auf die Gefahr hin, der sie sich mit großer Geschwindigkeit näherte.
Sie bereitete kleine Klößchen aus Hackfleisch, Speck, Zwiebeln und Champignons, die sie anbriet und anschließend in Rotwein, Kalbsfond und Butter kochte.
Sie spülte das Küchenmesser mit der Hand, trocknete es ab und wog es einen Moment lang in der Hand, bevor sie sich umdrehte. Mit einer nach vorne schnellenden Armbewegung warf sie das Messer quer durch die Küche. Der Schein der Deckenlampe blitzte auf der Klinge auf. Das Messer drehte sich zweimal um sich selbst, bevor es in das dicke, vernarbte Messerbrett traf, das an der gegenüberliegenden Wand hing.
Dann stellte Jasmin die Herdflamme kleiner und ging zu Dante, der sich gerade einen langen Bart und eine Mütze aus dem knisternden Schaum formte.
Sie wusch ihm die Haare, trocknete ihn ab, und er hatte gerade den Pyjama mit den blauen und roten Booten angezogen, als es an der Tür klingelte.
»Nächste Woche werde ich fünf Jahre alt«, verkündete Dante, sobald er die Tür geöffnet hatte.
»Tatsächlich?«, fragte Diana mit gespieltem Erstaunen.
»Hallo, Schwester«, begrüßte Jasmin sie mit einer Umarmung und begann dann, ihren Mantel aufzuknöpfen. »Wie war der Kongress?«
»Ziemlich interessant.«
Diana hatte das gleiche rotblonde Haar wie Jasmin. Noch verschwanden die grauen Haarsträhnen in den hellen Locken, aber das sommersprossige Gesicht war von dünnen Fältchen durchzogen.
»Was hast du in der Tüte?«, fragte Dante.
»Lass sie doch erst mal reinkommen«, sagte Jasmin und hängte Dianas Mantel auf.
Diese zog ein Paket mit glänzend blauem Geschenkband aus der Tüte.
»Darf ich das jetzt schon aufmachen?«, fragte Dante und schaute dabei Jasmin an.
»Wenn du willst.«
Dante zerriss das Papier, stellte fest, dass es ein Buch war, bedankte sich, aber schaute es kaum an, als Diana noch ein Geschenk herausholte. Auch dieses Päckchen riss er auf und schrie laut vor Begeisterung, als ein silberfarbenes Plastikschwert zum Vorschein kam.
»Ist das unpädagogisch?«, fragte Diana lachend.
»Dante, was hältst du davon, wenn Kinder mit Spielzeugwaffen spielen?«, wollte Jasmin von ihrem Sohn wissen.
»Das ist schon okay«, antwortete er altklug, und dann gingen sie in die Küche.
Diana und Jasmin bestätigten einander, dass ihre Mutter inzwischen fröhlicher wirkte, sie aber immer noch für den Vater mit deckte, wenn sie allein war. Jasmin fing Dante ein, der mit der Gardine kämpfte.
»Du darfst mit dem Schwert in deinem Zimmer spielen und … Warte mal. Vorher sammelst du das ganze Papier im Flur auf.«
Jasmin schenkte zwei Gläser Wein ein, während die Soße einkochte.
»Weiß er, welchen Beruf du vor seiner Geburt hattest?«, fragte Diana, als Dante davongehüpft war.
»Dazu ist er noch zu klein«, antwortete Jasmin und löste das Küchenmesser aus dem Messerbrett an der Wand.
Sie schnitt ein großes Stück Butter ab und ließ es in der dunklen Soße schmelzen, rührte vorsichtig und sah zu, wie ihre gelbe Spur sich in einem langsamen Wirbel in die Länge zog.
»Hast du jemanden, mit dem du reden kannst?«, fragte Diana.
»Ich habe keine Zeit zum Reden«, sagte Jasmin lachend.
»Jedenfalls nicht, wenn du immer das letzte Wort haben musst.«
»Muss ich nicht«, erwiderte sie und trank von ihrem Wein.
»Als du klein warst, hast du sogar den Leuten widersprochen, die im Fernsehen geredet haben.«
»Wenn die etwas Falsches gesagt haben, man kann denen doch nichts glauben …«
»Machst du das immer noch?«
»Nein«, wehrte Jasmin ab.
Diana lachte und schaute dann zufrieden Jasmin an, wie diese den Herd ausschaltete und den Topf hochnahm.
»Mama hat mir erzählt, dass du dich nach einem neuen Job im Verteidigungsministerium erkundigt hast«, sagte Diana leise.
»Ich werde mich nicht drum bewerben«, erklärte Jasmin und goss die Soße durch ein feinmaschiges Sieb.
»Jedenfalls klang es spannend«, fuhr Diana in leichtem Plauderton fort.
»Na, es können ja nicht alle Neurochirurgen sein«, entgegnete Jasmin und kippte die Hackfleischbällchen in eine große Glasschüssel. »Dinge passieren, und der Mensch verändert sich … Ich brauche keine weitere Aufregung mehr in meinem Leben. Das klingt vielleicht langweilig, aber es gefällt mir, nur Sekretärin zu sein, und ich mache meinen Job gut.«
»Ich meine nur, dass du machen solltest, was du wirklich willst«, erklärte Diana ernst. »Du schaffst das, du hast ein Kriegstrauma überwunden, du hast ein Kind geboren, du hast Mark verlassen, dir eine eigene Wohnung gekauft und hast einen Job.«
»Aber Lars und Nico habe ich nicht gerettet, sie könnten noch leben, wenn ich Dinge anders gemacht hätte, wenn ich …«
»Du hast alles richtig gemacht«, unterbrach Diana sie. »Die Untersuchung hat das ergeben, du hast eine Medaille gekriegt, du hast alles getan, um sie zu retten …«
»Nicht im Hafen«, sagte Jasmin.
Die Antwort überraschte sie selbst. Es war lange her, dass sie vom Hafen gesprochen hatte, auch wenn ihre Gedanken immer wieder dorthin zurückkehrten.
»Mama sagt, dir geht es gut«, bemerkte Diana leise.
»Das tut es auch«, stimmte Jasmin zu und blickte aus dem Fenster. Der Himmel über den Hausdächern war bereits dunkel, und eine Mondsichel war hinter dünnen Wolkenschwaden zu sehen.
»Hast du immer noch das Gefühl, dass es die Hafenstadt wirklich gibt?«
»Was soll ich dir darauf antworten?«, fragte Jasmin und musste gegen ihren Willen lachen.
Auch in Schweden kündigte sich der Sommer an, die Kirschbäume im Kungsträdgården blühten, und die Tage wurden länger. Manchmal saßen Jasmin und Dante vor der Ballettakademie und teilten sich auf dem Weg von der Vorschule nach Hause ein Stück Kuchen.
Immer noch verbrachte sie einige Nachmittage in der Königlichen Bibliothek mit religionsgeschichtlichen Texten, Büchern über Chinas Kulturgeschichte und großen Werken über frühe Grabkunst.
Und es kam vor, dass sie Albträume hatte.
Feuerwerkskörper donnerten zwischen den Häuserwänden in einem engen Hutong. Hinter den Rauchschwaden und dem zuckenden Lichterschein zerrten Leute der Triade ein bewusstloses Mädchen an den Haaren hinter sich her.
Der Kinderkörper wurde auf einen alten Kahn geworfen, dass die roten Laternen schaukelten.
Schreiende Eltern wurden vom Kai weggedrängt.
In solchen Nächten wachte Jasmin schweißgebadet auf, kam mit zitternden Beinen aus dem Bett und erbrach sich in der Toilette. Erschöpft duschte sie und putzte sich die Zähne, bevor sie ins Bett zurückging.
An diesem Morgen sperrten sich ihre Locken gegen alle Bändigungsversuche. Sie war mit nassem Haar in Dantes Bett eingeschlafen, nachdem sie ihm eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte.
Als sie ihn in der Vorschule ablieferte, war sie gestresst gewesen, und während sie jetzt die Jakobsgatan entlanglief, mit trommelndem Regen auf dem Regenschirm, spürte sie eine wachsende Unruhe in sich.
Diana arbeitete als Neurochirurgin in Göteborg und musste jeden Tag Entscheidungen treffen, von denen das Leben anderer Menschen abhing, aber Jasmin wollte nie wieder in eine derartige Situation kommen. Sie zog es vor, Gutachten über Personalbedarf zu archivieren, während der wolkenverhangene Himmel vor dem Fenster des Büros sich ein wenig aufhellte.
Doch das Gefühl der Ruhe täuschte.
Denn in Wahrheit tickte die Uhr für sie immer schneller. Der Wendepunkt in ihrem Leben näherte sich.
Jede Entscheidung, jeder Schritt in ihrem Leben sollte bald eine andere Bedeutung bekommen.
Gegen elf Uhr schob Jasmin vorsichtig einen Teewagen in den Saal, in dem die Ministerkonferenz stattfand. Während sie Kaffee und Schokoladenkekse bereitstellte, sprach der Vertreter eines führenden Telekommunikationsunternehmens über eine kommende UNODA-Konferenz in Peking, bei der es um die Rolle der Telekommunikation bei Fragen der internationalen Sicherheit gehen sollte.
Um vier Uhr ging Jasmin die Regeringsgatan entlang, um Dante in der Lärkstadens-Vorschule abzuholen.
Er befand sich mit den anderen Kindern im schattigen Innenhof. Sie waren gerade von einem Ausflug zurückgekommen und trugen immer noch ihre knallgelben Sicherheitswesten.
Als Dante Jasmin entdeckte, lief er auf sie zu und warf sich in ihre Arme. Mit roten Wangen berichtete er begeistert, dass sie Umwelthelden seien. Jasmin folgte ihm, um die vier Müllsäcke zu bewundern, die die Kinder mit Unrat gefüllt hatten, dann gingen sie ins Haus, um sein Diplom zu holen.
Im Vorraum hatte ein Vater die Schuhgrenze ohne Schuhschutz überschritten, und seine Tochter schimpfte mit ihm und erklärte ihm lautstark, dass er nicht mit Schuhen hier hereindürfe. Ungeduldig antwortete er, dass sie es nicht schafften, ihr Diplom zu holen, wenn sie weiter nerve. Das Mädchen fing an zu weinen. Der Mann lockerte mit einem Finger seine Krawatte, und Jasmin sah, wie sein Gesicht weiß und schweißnass wurde.
»Ebba, wir haben es eilig«, sagte er.
Dante verkündete ihr, dass er sich Spielzeugkartoffeln aus Porzellan wünsche, und dann fiel ihm ein, dass er noch eine Zeichnung vergessen hatte, also zog er seine Schuhe wieder aus und lief zurück zu seinem Regalfach.
Feuchte Wärme strömte aus dem Trockenschrank.
Der gestresste Vater packte seine Tochter an der Jacke und zog sie mit sich zur Tür, zwischen anderen Kindern und Eltern hindurch. Plötzlich blieb er stehen und griff sich mit einer Hand an die Brust. Mit der anderen versuchte er sich an der Wand abzustützen, dann sank er zwischen Stiefeln und Regenkleidung mit dem Rücken gegen einen Kinderwagen zu Boden, schwer atmend.
»Papa!«, rief das Mädchen.
Der Mann starrte mit leerem Blick vor sich hin und antwortete nicht, als eine Frau sich über ihn beugte und fragte, was mit ihm los sei.
Er fiel weiter in sich zusammen, der weiche Flurteppich schob sich in Falten, der Karton mit dem Schuhschutz kippte um, und die hellblauen Plastikbäusche kullerten heraus.
Jasmins Herz begann zu rasen. Sie schloss für einige Sekunden die Augen und spürte, wie ihr der Schweiß aus den Achselhöhlen die Seiten hinunterlief. Mit einer Hand betastete sie das linke Ohr, wusste aber schon vorher, dass sie ihren Perlenohrring nicht drin hatte.
Jemand rief einen Krankenwagen, andere halfen dem Mann, sich besser hinzulegen, indem sie den Kinderwagen zur Seite schoben, sodass er genug Platz hatte.
Es dröhnte in Jasmins Kopf, als sie zu ihm ging. Die Erinnerungsfragmente aus der Hafenstadt blitzten in ihrem Unterbewusstsein auf. Sie merkte nicht, dass sie Jacken von den Haken mit sich riss und ein Hockeyschläger laut klappernd zu Boden fiel.
Sie zwängte sich zwischen den Menschen zu dem Mann auf dem Boden vor und kniete sich neben ihn.
»Sie kommen gleich in eine Hafenstadt«, sagte sie. »Folgen Sie den Menschen zum Kai hinunter …«
Sie beugte sich vor und stützte sich mit zitternden Armen auf dem schmutzigen Fußboden ab.
»Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern«, fuhr sie fort und versuchte seinen Blick einzufangen. »Aber wenn Sie eine Metallplakette um den Hals kriegen, dann …«
Jemand rief, dass die Sanitäter unterwegs seien. Das Herz hämmerte in Jasmins Brust, und Panik stieg in ihr auf, als die Lippen des Mannes blau wurden. Er antwortete nicht, als die Frau mit dem Telefon ihn fragte, wie es ihm gehe.
»Wenn Sie eine Metallplakette kriegen, dann müssen Sie zum Terminal gehen«, wiederholte Jasmin mit lauter Stimme.
»Sie sagen, es ist besser, wenn er halbwegs sitzt«, teilte die Frau mit, die Kontakt mit der Notrufzentrale hatte.
»Sie müssen zum Terminal gehen«, fuhr Jasmin fort. »Hören Sie, was ich sage?«
»Wovon redest du eigentlich?«, rief jemand.
Eine blonde Frau zerrte an Jasmin, doch diese schüttelte die Hand ab, worauf die Frau sie an der Jacke fasste und Jasmin sich umdrehte und ihr den rechten Ellenbogen direkt gegen das Brustbein stieß, sodass sie keine Luft mehr bekam und nach hinten fiel.
Mehrere Personen in der Garderobe schrien auf, aber Jasmin blieb auf den Knien hocken und strich mit der Hand über das verschwitzte Gesicht des Mannes. Er hatte aufgehört zu atmen. Jemand versuchte sie wegzuziehen, aber sie schlug um sich.
»Hüten Sie sich vor der Bande der Triade«, sagte sie mit lauter Stimme. »Die werden versuchen, Sie zu zwingen …«
»Mama?«, rief Dante.
»Schafft sie weg hier!«
»Was immer passiert, geben Sie nie die Metallplakette her«, schrie Jasmin, während sie weggezogen wurde. »Bleiben Sie beim Terminal, lesen Sie die Wandzeitungen, und warten Sie …«
Sie verlor ihre Tasche, sodass der Inhalt zu Boden fiel: Puder und Lippenstift, Kajalstift, Handy und Wohnungsschlüssel.
Jasmin wehrte sich, als die Polizei sie in die psychiatrische Notaufnahme des St.-Görans-Krankenhauses brachte. Sie schrie, sie müsse den Mann retten, das Zentralkomitee habe die Kontrolle über den Hafen verloren, sie müsse ihn vor der Triade warnen.
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