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Die vorliegende Studie lotet das didaktische Potenzial der Poesía Visual für einen gegenstands- und kompetenzorientierten Spanischunterricht aus. Die spezifische formale und inhaltliche Beschaffenheit des Gegenstands wird als Ausgangspunkt genommen und literaturwissenschaftlich und -historisch untersucht. Von den Spezifika ausgehend wird aus fremdsprachendidaktischer Perspektive danach gefragt, welche Kompetenzen ausgebildet und gefördert werden können. Die daraus resultierenden Kompetenzbereiche werden definiert und anhand von Unterrichtsbeispielen mit poemas visuales illustriert.
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Seitenzahl: 482
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Victoria del Valle
Poesía Visual im Spanischunterricht
Von der literaturwissenschaftlichen Analyse zur gegenstands- und kompetenzorientierten Didaktik
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0070-0
Die vorliegende Arbeit wurde im November 2016 als Dissertationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover angenommen. Sie fand am Romanischen Seminar der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum im Bereich der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen ihren Anfang und wurde am Romanischen Seminar der Leibniz Universität Hannover im Fachgebiet Didaktik der romanischen Sprachen zum Abschluss gebracht. Von ihrer Entstehung als Idee bis zur vorliegenden Publikation wurde ich von verschiedenen Seiten unterstützt. An dieser Stelle möchte ich mich bei denjenigen bedanken, die mich in dieser herausfordernden, aber auch ungemein lohnenden Phase meiner akademischen Laufbahn begleitet haben.
Dass ich die Poesía Visual als poetisches Phänomen für den Spanischunterricht erforschen durfte, habe ich Prof. Dr. Lieselotte Steinbrügge zu verdanken. Sie begeisterte sich mit mir für poemas visuales, weckte meine Leidenschaft für die fremdsprachliche Literaturdidaktik und hat meine Arbeit in Bochum stets mit viel Geduld und Feingefühl kompetent und engagiert betreut. Ganz besonderer Dank und meine größte Verbundenheit gelten Prof. Dr. Andrea Rössler; ohne ihren wertvollen Rat und ihre akademische Unterstützung hätte ich diese Arbeit nicht abschließen können. Sie bot mir durch die Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin überhaupt erst den akademischen Rahmen, in dem ich das wissenschaftliche Vorhaben verfolgen konnte. Sie hat mich zu jeder Zeit mit ihrem unerschöpflichen Fundus an fachdidaktischen wie fachwissenschaftlichen Hinweisen in neue Sphären gelenkt und stand immer für konstruktive Gespräche zur Verfügung. Es ist mir eine große Ehre, an ihrer Seite geforscht und gelehrt zu haben.
Meinen wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen am Romanischen Seminar sowohl in Bochum als auch in Hannover danke ich für die jederzeit zielführenden Diskussionen, die so manche thematische Wende in meine Dissertation gebracht haben. Insbesondere möchte ich meinen beiden „Doktorschwestern“, Junior-Prof. Dr. Corinna Koch und Lena Krogmeier, dafür danken, dass sie mich als Gefährtinnen durch „dick und dünn“ begleitet haben.
Dem an der Ruhr-Universität Bochum initiierten fremdsprachendidaktischen Kolloquium „DiDi – Didaktik am Dienstag“, das in Kooperation mit den Universitäten Essen-Duisburg und Wuppertal stattfand, möchte ich für die zahlreichen Anregungen und die Kritik in der ersten Entstehungsphase meiner Arbeit ebenfalls meinen Dank aussprechen.
Ausdrücklich bedanke ich mich bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungskolloquiums „Fremdsprachendidaktik und Interkulturelle Kommunikation“ des Romanischen wie auch des Englischen Seminars der Leibniz Universität Hannover. Sie haben die letzten Phasen meiner Arbeit intensiv mitverfolgt und in anregenden Diskussionen und mit kritischen Rückmeldungen maßgeblich zur Entwicklung des Forschungsprojektes beigetragen. Ganz besonders danke ich Prof. Dr. Gabriele Blell für ihre Unterstützung, Hinweise und Ratschläge.
Des Weiteren möchte ich Prof. Dr. Alfons Knauth ausdrücklich danken. Er hat von Anfang an als Wissenschaftler und Dichter meinen Blick auf die Besonderheiten der visuellen Dichtung geschärft.
Für die außerordentliche Unterstützung bei der Korrekturarbeit bedanke ich mich bei Dr. Andrea Mesecke und, darüber hinaus, bei Wencke Hauth, Julian Nazaruk und Henning Zerth, die mich als studentische Hilfskräfte nicht nur bei der Korrekturarbeit sowie bei der Digitalisierung und Archivierung der vielen poemas visuales unterstützt und sachkundig beraten haben, sondern mir auch immer interessierte, kritische und muntere Begleiterinnen waren und stets ein offenes Ohr für meine Sorgen hatten.
Diese Arbeit wäre niemals ohne die bedingungslose Unterstützung und Großzügigkeit vieler Menschen aus dem Kreise der Poesía Visual Española zustande gekommen. Ausdrücklich danken möchte ich diesen Menschen im Folgenden auf Spanisch:
Quiero expresar mi más distinguido agradecimento a los grandes poetas Antonio Gómez, Francisco Aliseda, Francisco Peralto, Joaquín Gómez Ferreira, Juan López de Ael, Juan Rosco Madruga, Juan José Ruiz Fernández, Julián Alonso, Manuel Calvarro y Mikel Jáuregui por la dedicación y la paciencia, la información y las ganas de compartir conmigo sus exhaustivos conocimentos sobre la poesía visual. Sin ellos y su apoyo, esto es seguro, no hubiera sido posible mi estudio.
Además quiero darle las gracias a la Diputación de Badajoz, particularmente a Antonieta Benítez Martín, por la perfecta colaboración, el apoyo y la facilitación del acceso a las obras. Además a la Editorial Corona del Sur de Málaga (a los Peralto, además de Paco a Carmen, Rafael y Margarita – por los momentos dedicados y todo el material), y no menos también al Centro de Poesía Visual de Peñarroya-Pueblonuevo. No me será posible nombrar a todas aquellas personas que me han apoyado y han falcilitado mi participación en el círculo de poetas visuales, porque son muchas, a todos y todas les estoy agradecida de corazón por su generosidad y su maravillosa obra, que para mi es un verdadero placer y honor poder divulgar.
Schließlich danke ich von ganzem Herzen meiner wunderbaren Familie, meinen großartigen Eltern und meiner einzigartigen Schwester, die mein Projekt in allen Phasen vorbehalts- und bedingungslos mit allen möglichen Mitteln unterstützt haben. Und zuletzt meiner Tochter Frida, ohne ihren liebevollen Rückhalt wäre diese Arbeit nicht zu dem Werk geworden, das es heute ist.
Hannover im September 2017
Victoria del Valle Luque
Para mi prima Encarni
Dass Literaturunterricht in der Fremdsprache immer auch Sprachunterricht bedeutet, heißt nicht, dass sich Literaturunterricht an den Sprachunterricht ohne weiteres anschließen lässt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass „der Sprachunterricht nicht einfach in Literaturunterricht“ (Weinrich 1983, 201) mündet. Denn erfolgreich erworbene Sprachkompetenzen sind kein Garant für einen erfolgreichen Literaturunterricht. Die erste Begegnung mit literarischen Texten, mit dem Ausdrucksreichtum und der Dichte von poetischer Sprache, kann im Fremdsprachenunterricht zu Motivationsverlust bei den Lernenden führen. Die von der Norm abweichende Form der literarischen Sprache und ihr hoher Grad an Poetizität und ihre Komplexität können bei den Fremdsprachenlernenden Beklemmung und eine ablehnende Haltung auslösen.
Weinrich erkannte diesen Umstand bereits vor mehr als drei Jahrzehnten und nennt diese beklemmende Begegnung mit der Komplexität von Literatur im Fremdsprachenunterricht „Literaturschock“ (ebd.). Er postuliert, dass im Fremdsprachenunterricht „der sprachlichen Komplexität nicht auszuweichen [ist], sondern [versucht werden soll,] Methoden zu entwickeln, ihr zu begegnen“ (ebd., 203). Aus diesem Grund plädiert er dafür, Literatur von Anfang an in den Fremdsprachenunterricht zu integrieren, sodass die Komplexität von Sprache als ihre Natur verstanden und gelernt wird, von Anfang an mit ihr umzugehen (vgl. ebd. 203f.).
Weinrichs Plädoyer bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Ihm folgend geht sie davon aus, dass sich literarische Texte von Beginn an in den Fremdsprachenunterricht integrieren lassen und so dem Komplexitätsschock vorgebeugt werden kann. Besonders geeignet erscheinen ihm hierfür poetische Texte, die erstens kurz oder sehr kurz sind, damit sie im Fremdsprachunterricht früh zu bewältigen sind, und zweitens überdeterminiert, damit auch mit wenig Sprache viel Bedeutung erzeugt werden kann.
Die Besonderheit poetischer Texte im Fremdsprachenunterricht liegt jedoch letztlich nicht in ihrer Kürze. Die Begründung für den Einsatz poetischer Texte untermauert Weinrich mit der These, dass zwischen poetischem und fremdsprachlichem Lesen eine Strukturhomologie existiere, und er konstatiert, angelehnt an strukturalistische Untersuchungen, „dass die Literatur eine poetische Sprache hat, die häufig so beschaffen ist, dass sie den Leser durch allerlei Hemmnisse und Behinderungen zu einer erschwerten und folglich verlangsamten Rezeption des Textes zwingt“ (ebd., 204; vgl. auch Steinbrügge 2015). Das Lesen in der Fremdsprache hat insbesondere bei Fremdsprachenlernanfängern große Ähnlichkeit mit dem Lesen poetischer Texte (vgl. Weinrich 1983, 204). In beiden Fällen sind die Leserinnen und Leser gezwungen, mehr Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form des Textes zu richten. Fremdsprache und poetische Sprache erfordern eine gleichermaßen intensive Auseinandersetzung, um zur Bedeutung des Textes zu gelangen. Der Umgang mit Sprache sei in beiden Fällen fast identisch: Der sperrige, überdeterminierte Signifikant verunmögliche einen Automatismus beim Lesen und erfordere ein längeres Verweilen am Text. So ist das Rezeptionstempo bei Lesern poetischer und fremdsprachlicher Texte gleichermaßen stark verlangsamt. Das langsame oder sogar sehr langsame Lesen bedeute jedoch nicht nur weniger schnelles Lesen, sondern vor allem eine andere Art des Lesens: Fremdsprachliche und poetische Texte würden nicht linear von links nach rechts gelesen, vielmehr sei der Leser wiederholt gezwungen, vor- und zurückzugehen und den Text förmlich zu umkreisen. Die Aufmerksamkeit des Lesers teile sich zudem in beiden Fällen immer auf zwischen Signifikant und Signifikat und befinde sich in einem ständigen Wechsel zwischen sprachlicher Form und der Bedeutung. Aus diesem Grund sei beim Lesen fremdsprachlicher einerseits und poetischer Texte andererseits sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form zu richten als auf den Inhalt (vgl. ebd.).
Fremdsprachenlerner und Leser poetischer Texte befinden sich also in einer ähnlichen Situation angesichts eines Textes, dessen fremdsprachliches Vokabular oder dessen poetische Sprache den aus der Muttersprache beziehungsweise aus der nicht literarischen Standardsprache gewohnten automatischen Zugang zur Bedeutung nicht zulasse. In diesem Moment erhöhter, auf die sprachliche Form gerichteter Aufmerksamkeit befänden sich Fremdsprachenlernende sowie Leser poetischer Texte in einem „Schwebezustand“ oder „poetischen Zustand“ (ebd., 205). Das längere Verweilen am fremdsprachlichen Text sei dem Umstand geschuldet, dass er erst dekodiert, das heißt übersetzt werden muss. An poetischen Texten und Textteilen ist ein längeres Verweilen deshalb notwendig, weil es sich bei poetischer Sprache um Sprache handelt, die ästhetisch überdeterminiert und autoreferenziell ist und infolgedessen ein aufwändiges Entschlüsseln einfordert. Diese ästhetische Erfahrung als Teil des Leseprozesses bilde den formästhetischen Reiz poetischer Texte. Für den fremdsprachlichen Text ist diese Erfahrung nicht primär als ästhetisch zu bezeichnen, sondern zunächst als bewusste Wahrnehmung des Unbekannten, als eine außergewöhnliche Erfahrung. Der (fremdsprachen-)didaktische Mehrwert von ästhetisch-literarischem Lesen und fremdsprachlichem Lesen liegt im Wahrnehmungsprozess, der in beiden Fällen mit erhöhter Intensivität und Bewusstheit ablaufe.
Für die Auswahl literarischer Gegenstände für den Fremdsprachenunterricht zieht Weinrich deshalb folgende Schlussfolgerung: In besonderem Maße eigneten sich Texte, die für ein längeres Verweilen geschaffen wurden (vgl. ebd., 206). Wenn Leserinnen und Leser fremdsprachlicher Texte ohnehin große Aufmerksamkeit auf den Signifikanten richten, dann sollten ihnen Texte dargeboten werden, die ein langes Verweilen ertragen, die langsam, wiederholt und zögernd gelesen werden wollen (vgl. Steinbrügge 2015, 8). Es sind daher Texte zu wählen, die eine autoreferenzielle, verdichtete Sprache vorweisen:
Als Texte nun, die gerade für die ersten Lektionen des Fremdsprachunterrichts in Frage kommen, bieten sich zunächst höher strukturierte Gebilde an, die so beschaffen sind, daß sie einen wesentlich größeren Teil der Aufmerksamkeit der Lernenden bei den Sprachformen festhalten, und zwar auf lustbetonte Weise. Hierzu eignen sich in besonderem Maße die Texte der konkreten und visuellen Poesie (Weinrich 1983, 206).
Der Einsatz poetischer Texte im fremdsprachlichen Literaturunterricht wird hier ausdrücklich nicht mit ihrem Bildungsgehalt – einem der zentralen Argumente in der literaturdidaktischen Diskussion der letzten Jahrzehnte (vgl. z. B. Hellwig 2008) – begründet; vielmehr ist das entscheidende Kriterium für die Auswahl eines literarischen Textes für den Fremdsprachenunterricht seine besondere sprachliche Form und Strukturiertheit:
Dieses Kriterium erfüllen Texte, die eine hohe sprachliche Dichte aufweisen, oder, um es mit den Strukturalisten zu sagen, einen hohen Grad an Poetizität und Literarizität. Das heißt, der Text hat bestimmte Merkmale, die bewirken, dass die Sprache abweicht von der Alltagssprache (Steinbrügge 2015, 9).
Die Inhalte der poetischen Texte – so Steinbrügge (ebd.) – seien deswegen nicht bedeutungslos oder gar obsolet, sie seien nur nicht – im Gegensatz zu den formalen Aspekten – das ausschlaggebende Kriterium.
Ein solcher literaturdidaktischer Ansatz, der ganz von der Beschaffenheit seines Gegenstandes her denkt, also text- und formzentriert ist, mag vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um den Stellenwert literarischer Texte in einem kommunikations- und kompetenzorientierten und lernerzentrierten Fremdsprachenunterricht zunächst ungewöhnlich, wenn nicht befremdlich erscheinen. Ein wesentliches Ziel dieser Arbeit wird es sein, aufzuzeigen, dass eine gegenstandsorientierte Literaturdidaktik und ein kompetenzorientierter Fremdsprachenunterricht sich nicht nur nicht ausschließen, sondern vielmehr miteinander versöhnt werden müssen und auch können.
Erste Schritte auf diesem Weg sind bereits in den 1990er Jahren (und damit einige Zeit vor dem Greifen des Paradigmenwechsels zu einem kompetenz- und standardorientierten Fremdsprachenunterricht in Theorie und Praxis) Gienow und Hellwig (1996) mit ihrer prozessorientierten Mediendidaktik gegangen. Sie verbinden in ihrem methodisch-didaktischen Ansatz Gegenstands- und Lernerorientierung miteinander, indem sie dafür plädieren, nur solche Texte im Fremdsprachenunterricht einzusetzen, die „bedeutungsgeschichtet, mehrdeutig, interpretationsoffen, problemhaltig, rätselhaft, beunruhigend, innovativ und alternativ“ (Gienow/Hellwig 1996, 6) seien und zudem „die allgemeine Lebenspraxis und -erfahrung der Lerner so weit wie möglich betreffen“ und kommen zu dem Schluss, dass alle genannten Auswahlkriterien bei „kunsthaltigen Texten“ (ebd.) gegeben seien. Küster (2003) konstatiert folgerichtig:
Im Gegensatz zu rein sprachfertigkeitsorientierten Ansätzen der Fremdsprachendidaktik sehen Gienow/Hellwig (1997: 17) eine Interdependenz von Sprach-, Bedeutungs- und Sinnbildung im Fremdsprachenunterricht. (…) Mit diesem Konstrukt verbindet das Autorenduo zwei ansonsten als unüberbrückbar erscheinende didaktische Ansätze, jene nämlich, die vom Gegenstand und jene, die vom Lerner ausgehen (Küster 2003, 129).
Die vorliegende Arbeit knüpft daran an, geht aber noch einen Schritt weiter, insofern es ihr darum zu tun ist, die Gegenstandsorientierung nicht nur mit der Lernerorientierung, sondern mit der Kompetenzorientierung insgesamt zu versöhnen, und macht sich damit auf einen Weg, den nicht zuletzt Hellwig selbst viele Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen seiner Beiträge zu einer prozessorientierten Mediendidaktik und wohl unter dem Eindruck des oben genannten Paradigmenwechsels eingeschlagen und vorgezeichnet hat (vgl. Hellwig 2008).
Der Gegenstand meiner Studie, den ich für dieses literaturdidaktische Anliegen im Hinblick auf den hier in Rede stehenden Spanischunterricht zum Ausgangspunkt nehme, ist die bisher für den Spanischunterricht wenig beachtete Gattung der Poesía Visual. Sie erfüllt die oben genannten Kriterien in besonderem Maße und kann einerseits mit Gienow/Hellwig als „bedeutungs- und belangvoller“ (ebd.) Lerngegenstand für den Spanischunterricht und andererseits mit Weinrich als „höher strukturiertes Gebilde“ (1983, 206), als verdichteter Text mit einem hohen Überschuss an impliziter Bedeutung eingestuft werden. Als Äquivalent zur Konkreten Poesie (die Weinrich selbst als potenziellen Gegenstand für den fremdsprachlichen Literaturunterricht ins Spiel brachte) können poemas visuales für den fremdsprachlichen Literaturunterricht allein durch ihre externe Kürze und Überdeterminiertheit in Betracht gezogen werden: Sie funktionieren mit nur sehr wenigen Wörtern, manchmal mit nur einem einzigen Wort, das zu einem Bildelement in Beziehung gesetzt wird. Darüber hinaus sind poemas visuales - und hier liegt das besondere didaktische Potenzial dieser Gattung - intermediale und hybride poetische Texte, bestehend aus Schrift und Bild. Was bedeutet, dass poetische Botschaften durch visuell-kommunikative Zeichen mitgestaltet werden. Das Bild ist somit im Zusammenspiel mit der Schrift als ein kommunikatives und zugleich poetisches Zeichen zu sehen.
Das Bild als konstitutives Element dieser hybriden literarischen Kurzgattung ist noch aus einem zweiten Grund relevant für die Wahl gerade dieses Gegenstandes für die vorliegende Studie. Im Zeitalter des sogenannten iconic turn (Boehm 1994)1 ist unser Alltag stärker denn je von Bildern geprägt. Aufgrund ihrer gattungsspezifischen Schrift-Bild-Kombination und ihrer Verbreitung im Internet handelt es sich bei der Poesía Visual somit um eine aktuelle poetische Gattung, die einen starken Bezug zur Erfahrungswelt von jugendlichen Schülerinnen und Schülern vorweist. Mit Bildern zu sprechen und Bilder zu lesen, ist den Jugendlichen von heute nicht fremd. Poemas visuales als Gegenstand des Spanischunterrichts aufzunehmen, bedeutet, Elemente der Bildsprache als Elemente einer poetisch-ästhetischen Sprache im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts thematisieren zu können und damit einen entscheidenden Beitrag zur Ausbildung und Förderung einer visual literacy zu leisten. Sie ermöglichen die Sensibilisierung für das ästhetische Lesen von ikonischen (und grafischen) Zeichen, die nach den Vorstellungen Weinrichs an die Notwendigkeit, die „Ästhetik des Alltags“ (Jakobson 1960) in den Unterricht zu holen, anknüpft.
In der vorliegenden Dissertation werden zum ersten Mal die Gattung der Poesía Visual und das visuelle kommunikative Zeichen als (fremd)sprachliches und poetisches Ausdrucksmittel aus didaktischer Perspektive untersucht. Sie ist folgerichtig im Spannungsfeld zwischen Literatur- und Bildwissenschaft einerseits und der fremdsprachlichen Literatur- und Bilddidaktik andererseits angesiedelt. Im Sinne der Gegenstandsorientierung macht sie es sich zunächst zur Aufgabe, die noch weitgehend unerforschte Gattung der Poesía Visual für den Spanischunterricht systematisch zu erschließen. Da es in der Hispanistik bisher nur wenige Untersuchungen zur Poesía Visual gibt, wird sie zunächst als Gegenstand in der spanischsprachigen Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte (TEIL I) beleuchtet. Die daraus resultierenden Erkenntnisse bilden die Voraussetzung für die in TEIL II erfolgende didaktisch-methodische Analyse der Gattung als Gegenstand des Spanischunterrichts.
Was ist überhaupt Poesía Visual? Wie lässt sich diese Gattung begrifflich fassen? Welche formalen Charakteristika weist sie auf? Und welche Typen von poemas visuales gibt es? Dies sind die Leitfragen, denen im ersten Kapitel von Teil I (Poesía Visual: Definition – Theorie – Typologie) nachgegangen wird. Anliegen und gleichermaßen Herausforderung des Kapitels ist es, eine Gattungsanalyse vorzulegen, die für den literaturwissenschaftlichen Forschungsstand in der Hispanistik repräsentativ und für die Spanischdidaktik relevant ist. So werden verschiedene Definitionen herausgearbeitet und verschiedene Typen von poemas visuales vorgestellt und analysiert.
Als Korpus diente eine Auswahl von über 300 poemas visuales, die in der akademischen Version der Dissertation als editorischer Teil in Form einer Anthologie von poemas visuales vorgelegt wurde und das Ziel verfolgte, einen repräsentativen Überblick über die aktuelle Poesía Visual zu geben. Es wurde auf eine möglichst breite Zusammenstellung von Gedichten und, damit verbunden, auf eine vielfältige Auswahl von Dichterinnen und Dichtern geachtet. In Anbetracht der kaum überblickbaren Fülle von veröffentlichten poemas in Zeitschriften und insbesondere im Internet wurde als zentrale Quellen auf bestimmte Einrichtungen, Veröffentlichungsorgane und Internetportale rekurriert. Da nicht alle spanischsprachigen visuell-poetischen Veröffentlichungen berücksichtigt werden konnten, wurde die Poesía Visual auf ihr Vorkommen auf der Iberischen Halbinsel beschränkt, was bedeutet, dass die ausgesuchten Quellen in Spanien verortet sind (im Fall des Internetportals wurde die Postadresse des Webmasters herangezogen). Die geografische Eingrenzung bezieht sich jedoch lediglich auf die Quellen und somit auf gewisse Kern- und Versammlungspunkte der visuell-poetischen Szene. Eine geografische Eingrenzung der Poesía Visual als Gattungsphänomen ist gänzlich unmöglich und im Übrigen auch ganz und gar nicht im Sinne der Poesía Visual, die sich als avantgardistische Kunst und daher in jeglicher Hinsicht als grenzenlose Gattung versteht (siehe Kapitel 1.3). Bei der Auswahl der Quellen, aus denen die poemas visuales geschöpft wurden, lag die höchste Priorität darin, eine authentische und mithin vielseitige Repräsentation der aktuellen Poesía Visual zu erlangen.
Kapitel 2 widmet sich der historischen Entwicklung der Poesía Visual, verfolgt also eine literaturgeschichtliche Fragestellung. In aktuellen deutschsprachigen Forschungsarbeiten ist zu beobachten, dass der Betrachtung der historischen Entwicklung dieser Gattung zunehmend Beachtung geschenkt wird (vgl. v. a. Dencker 2011; Ernst 2012). Dies gilt gleichermaßen für spanische Studien (vgl. v. a. Fernández Serrato 1995; Millán Domínguez 1999). Der Grund für das wachsende historische Forschungsinteresse dürfte nicht zuletzt daran liegen, die Visuelle Poesie überhaupt erst als eigenständige Gattung zu etablieren, ein Prozess, der noch nicht als abgeschlossen gelten kann.
Das wesentliche Ziel von TEIL II besteht indes darin, das fremdsprachendidaktische Potenzial von poemas visuales auszuloten und eine didaktisch-funktionale Typologie für diese Gattung vorzulegen.
Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine multiperspektivische Didaktik, die einen künstlerisch-poetischen Gegenstand zum Thema hat. Weil die Poesía Visual ein dynamischer und facettenreicher Gegenstand ist, wird ein perspektivenreicher und interdisziplinärer Blick auf sie gerichtet, aus dem unterschiedliche Konsequenzen für eine didaktische Operationalisierung dieses Gegenstandes folgen. Der didaktischen Transformation liegen so zwei entscheidende konzeptuelle Vorüberlegungen zugrunde: Zum einen wird ein interdisziplinärer Zugang verfolgt, der literatur-, medien-, sprach- und kulturdidaktische Reflexionen integriert. Der hybride und intermediale Gegenstand Poesía Visual macht eindeutige Genrezuordnungen und Gattungsdefinitionen unmöglich, lässt sie bisweilen sogar absurd erscheinen. Die interdisziplinäre Orientierung erlaubt indes eine perspektivenreiche Annäherung an diesen vielschichtigen Gegenstand.
Außerdem verorten sich die vorgeschlagenen didaktischen Transformationen im Spannungsfeld eines gegenstandsorientierten Unterricht einerseits und eines kompetenzorientierten Unterrichts andererseits (Kapitel 6.1). Gegenstandsorientiert bedeutet zunächst den Text mit seinen gattungsspezifischen Charakteristika und Besonderheiten an unterrichtliche, methodische und lernpsychologische Erfordernisse anzuknüpfen, und nicht a priori den Lerner als Ausgang zu sehen. Kompetenzorientiert ist das Vorgehen, weil es ausgehend von den Spezifika des Gegenstandes danach fragt, welche funktionalen kommunikativen Kompetenzen und welche Text- und Medienkompetenzen damit ausgebildet und gefördert werden können. Folgerichtig werden die didaktischen Potenziale der Poesía Visual nach Kompetenzen und Teilkompetenzen ausdifferenziert.
Im Einzelnen gliedert sich TEIL II der Dissertation folgendermaßen: Nach einer Bestandsaufnahme des aktuellen Forschungsstandes zu visuell-poetischen Texten im Fremdsprachenunterricht (Kapitel 3) werden im Kapitel 4 die Gattungsmerkmale der Poesía Visual im Sinne einer fremdsprachendidaktisch relevanten Sachanalyse herausgefiltert, um ihr (fremdsprachen-)didaktisches Potenzial zu bestimmen und entsprechende didaktisch-methodische Überlegungen anzuschließen. Dabei erweisen sich die Untersuchungen zum Verhältnis von Schrift und Bild im poema visual – als hybride und intermediale Repräsentationsformen – als besonders zielführend. Als Analyseinstrumentarium werden strukturalistisch-mediensemiotische Ansätze gewählt, die das Zusammenspiel von Schrift und Bild im poema visual sowie die für den Sprachunterricht relevanten Konsequenzen begreifbar und beschreibbar machen. Daran schließt sich eine Typologisierung der Poesía Visual an (Kapitel 5), in der drei Typen von poemas visuales unterschieden werden: poemas verbales, poemas verbo-visuales und poemas imagen. Es handelt sich hierbei um eine ganz bewusst und genuin für den Unterricht konzipierte Typologie, die deshalb als didaktisch-funktionale Typologie bezeichnet wird. Sie bildet die Grundlage für die darauffolgende methodisch-didaktische Transformation nach (Teil-)Kompetenzbereichen (Kapitel 6). Es werden drei Kompetenzbereiche für den Umgang mit poemas visuales im Spanischunterricht ausdifferenziert, die aus ihren Gattungsspezifika hervorgehen: die visuell-literarische Kompetenz (Kapitel 6.2), die lexikalische Kompetenz (Kapitel 6.3) und die inter- und transkulturelle Kompetenz (Kapitel 6.4), alle integrieren jeweils Einzel- und Teilkompetenzen. In den Unterkapiteln zu den jeweiligen Kompetenzen werden konkrete Unterrichtsbeispiele vorgestellt.
Nach dem Diccionario de la Lengua Española2 bedeutet poesía „arte de componer obras poéticas en verso o en prosa“ (DRAE s.v. poesía [del lat. poēsis, y este del gr. ποίησις]) und visual „perteneciente o relativo a la visión“ (DRAE s.v. visual [del lat. visuālis]). Dementsprechend kann poesía visual auf das Wesentliche reduziert als „arte de componer obras poéticas en verso perteneciente a la visión“ definiert werden. Die deutsche Übersetzung „visuelle Dichtung“ oder „visuelle Poesie“ bezeichnet eine sprachlich-visuelle künstlerische Ausdrucksform, die lange Zeit als „merkwürdige moderne Kunstform“ (Adler 1989, 28) galt und inzwischen als poetische Gattung3 von der Literaturwissenschaft anerkannt wird (vgl. Dencker 2011; Ernst 2012).
Visuelle Poesie wird ins Spanische zwar mit poesía visual übersetzt, in der vorliegenden Arbeit verwende ich Poesía Visual aber nicht als begriffliche Übersetzung, sondern als kulturspezifische literarische Erscheinungsform im spanischsprachigen Raum. Poesía Visual steht somit für die spanischsprachige visuelle Poesie. Sie ist keineswegs allein ein dichterisches Phänomen der spanischsprachigen Welt, doch um eben diese spanischsprachige Erscheinungsform, la Poesía Visual Española, soll es im Folgenden gehen.
Die erwähnte Merkwürdigkeit dieses Kunstphänomens liegt in der Grenzüberschreitung zwischen bildender Kunst und Literatur. Die Operatoren visuell-poetischer Texte4 sind Schrift und Bild gleichermaßen, was eine eindeutige Zuordnung zu den klassischen Gattungen unmöglich macht; gleiches gilt für die entsprechenden forschenden Disziplinen. Lange Zeit wurde Poesía Visual von den Theorien als „manieristische Wunderlichkeit“ (Adler 1989, 28) abgewertet und erst relativ spät im Verhältnis zu ihrem historischenVorkommen von der Wissenschaft ernstgenommen. Aufgrund ihrer Grenzlage zwischen Literatur und Kunst ist es den gattungszuschreibenden Wissenschaften daher auch lange schwer gefallen, Visuelle Poesie zu definieren. Jeremy Adler hat diese Grenzlage zwischen Kunst und Literatur folgendermaßen umrissen:
Auf das Einfachste reduziert, kann die Form [gemeint ist die Kunstform Visuelle Poesie] als ein Genre definiert werden, das sowohl Dichtung als auch visuelle Kunst ist. Worte können in einer visuell bedeutsamen Weise angeordnet werden oder so untrennbar mit einem visuellen Element verbunden sein, daß beide nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Umgekehrt beeinflussen sie einander auch, um eine komplexe Bedeutung oder einen Gehalt, den weder Bild noch Wort allein hervorbringen können, schaffen. (Adler 1989, 28)
Adler veröffentlichte diese Definition in einer kunstwissenschaftlichen Zeitschrift (Bildende Kunst 1989). Diese Tatsache ist insofern von Belang, als die Kunstwissenschaft offener mit Grenzüberschreitungen umzugehen scheint als die Literaturwissenschaft. Dies mag daran liegen, dass Schrift viel selbstverständlicher in künstlerische Prozesse integriert wird als, umgekehrt, Bilder in literarische. Aus Sicht der bildenden Künste sind Bild-Schrift-Kombinationen ganz und gar nicht „merkwürdig“ (wie beispielsweise eingebaute Textfragmente in Bildern, Collagen, Ornamentik etc.). Die Integration von Bezugssystemen wie Sprache und Schrift wird in der Kunstwissenschaft von jeher berücksichtigt (vgl. Markò 1989, 17). Dagegen ist in literarisch-theoretischen Positionen immer wieder ein gewisses Unbehagen festzustellen, wenn es darum geht, das Bild als literarisches Ausdrucksmittel zu akzeptieren. Die Bedeutung von Schrift in der „Ideenkunst“ (gemeint sind hier die avantgardistischen und post-avantgardistischen Bewegungen wie etwa Futurismus, Dada, konzeptionelle Kunst) sieht Martina Markò in der methodischen Problematisierung dieser Kunstkonzepte, Denkprozesse zu visualisieren (vgl. ebd.). So beschäftige sich die Visuelle Poesie aus kunstwissenschaftlicher Sicht mit der “wahrnehmungspsychologische[n] und erkenntnistheoretische[n] Frage des Auseinanderklaffens von Realität, Abbild und Bedeutung” (ebd.). Visuelle Poesie, so Markò weiter, sei allerdings ein „literaturzentrierter Begriff“ (ebd., 15), der als poetisches Schrift-Bild-Konzept in der Literaturwissenschaft im Zuge der Konkreten Poesie ab den 1950er Jahren erstmalig auftauche (auf diese begriffliche Entwicklung und die daraus entstandene Problematik wird im folgenden Kapitel genauer eingegangen).
Äquivalente Dichtkunstformen sind im europäischen Sprachraum entsprechend unter visual poetry, poésie visuelle, poesia visiva etc. zu verzeichnen. Ab Mitte der 1980er Jahre entsteht ein reges Forschungsinteresse an Visueller Poesie, das das Augenmerk zunächst auf die Untersuchung der historischen Entwicklung lenkt und bald darauf theoretisch-ontologischen Betrachtungen nachgeht (vgl. Adler/Ernst 1990; Bohn 1986; Dencker 1972; Higgins 1987). Aus diesem Forschungszusammenhang stammt folgende allgemein vergleichende Definition von visual poetry:
[W]e can define visual poetry as poetry meant to be seen. Combining painting and poetry, it is neither a compromise nor an evasion but a synthesis of the principles underlying each medium. (Bohn 1987, 2)
Willard Bohn beschreibt visual poetry als eine Kombination von Bild und poetisch-diskursivem Text, wie er nachfolgend bezüglich der Verwendung von poetry näher erläutert (vgl. ebd.). Visuelle Poesie ist dementsprechend als eine Kunstform zu verstehen, die bildliche wie schriftsymbolische Elemente verwendet, um sie zu einer Botschaft poetisch zu verdichten. Sie lässt sich somit in der Schnittmenge von bildender Kunst und Literatur verorten und muss – um bei den Worten Bohns zu bleiben - nicht nur gelesen, sondern auch „gesehen” werden. Bohns Definition ist eine allgemein deskriptive, wissenschaftliche und historische, die eine durch Sammlungen von visuellen Gedichten, Dichtern und Gruppierungen beziehungsweise Bewegungen (beispielsweise Futurismus, Guillaume Apollinaire, calligrammes, Joan Salvat-Papasseit, Ultraismus) repräsentierte poetische Gattung beschreibt.
Hieran lässt sich die Definition des katalanischen visuellen Poeten Joan Brossa (einer der Hauptakteure der Poesía Visual) anschließen, die zur gleichen Zeit entstand und aus Sicht des Dichters insbesondere auf die Bedeutung des Visuellen für die zeitgenössische Dichtung eingeht:
La poesia experimental del nostre temps és la poesia visual. El poeta muda de codi; deixa el codi literari i s’expressa en un llenguatge que s’esdevé de la recerca d’una nova dimensió entre allò visual i allò semántic. El poema visual no ès ni dibuix ni pintura, sinó un servei a la comunicació. Un intent ben típic del nostre temps en què la funció de la imatge ha adquirit una gran importància. (Brossa 1984 in Bordons et al. 2008, 187)
La poesía experimental de nuestro tiempo es la poesía visual. El poeta cambia de código; deja el código literario y se expresa en un lenguaje que acontece en la búsqueda de una nueva dimensión entre lo visual y lo semántico. El poema visual no es ni dibujo ni pintura, sino un servicio a la comunicación. Un intento muy típico de nuestro tiempo en que la función de la imagen ha adquirido una gran importancia. (Übersetzung von Carlos Vitale Bordons et al. 2008, 190)
Brossas Auslegung ist insbesondere in Bezug auf zwei Gesichtspunkte interessant: Zum einen beschreibt er die Poesía Visual als eine Erscheinungsform der poesía experimental und klassifiziert sie demnach als Genre derselben; zum anderen legitimiert er die kommunikativ-gesellschaftliche Teilhabe der visuellen Poesie. Er versteht das Bild als sprachliche Einheit und beschreibt die kommunikative Funktion von Bildern als einen sprachlichen Code, der dem Dichter neben einem código literario (dt. schriftsymbolischer Code) zur Verfügung stehe. Das poema visual wird von ihm - mit „un servei a la comunicació“ - deutlich als Botschaft definiert, die sich an eine zeitgenössische, visuell geprägte Gesellschaft richtet.
In der Aussage Brossas liegt ferner ein strukturalistisches Verständnis von Dichtung: Dass Sprache in all ihren Facetten poetisch verwendet werden kann, erscheint einleuchtend. Allerdings ist poetische Sprache von nicht-poetischer Sprache zu unterscheiden. Dies gelingt, weil nicht-poetische Sprache eine eher zufällige und meist planlose Ausdrucksform darstellt, wohingegen poetische Sprache geplant und insbesondere nicht-zufällig zustande kommt (vgl. Jakobson 1960, 85). Wenn Poesie als Sprache bezeichnet wird, liegt eine linguistische Betrachtung zugrunde, die anhand Jakobsons strukturalistischer Definition von Poesie und poetischer Sprache zusammenfassend wie folgt erklärt werden kann: Poetische Sprache ist ein verbales Sprachverhalten, das auf den grundlegenden Operationen von „Selektion” und „Kombination” beruht (vgl. ebd., 94). Das bedeutet, dass sich poetische Texte im Wesentlichen von nicht-poetischen unterscheiden, weil sie a) nicht-zufällig entstehen und b) sich aus selektierter und kombinierter Sprache zusammensetzen. Poesía Visual ist daher, nach Brossas Verständnis, eine nicht-zufällige, selektierte und kombinierte visuell-verbale sprachliche Ausdrucksform.
Nicht zu ignorieren ist schließlich der Umstand, dass Poesía Visual als grenzüberschreitendes hybrides Konzept nur bedingt definierbar ist. Aufgrund ihrer Anwendung „en un proceso abierto y cambiante“ (Fernández Serrato 1995b, 43) erweist sich auch darüber hinaus eine Klassifizierung als schwierig.
Auf die Frage, was Poesía Visual ist, biete ich folgende Definition an, die sowohl an den herangezogenen theoretischen Definitionen als auch den Stellungnahmen der Dichter anknüpft.
Im Rahmen der vorliegenden Dissertation wurden mit Dichterinnen und Dichtern aus der aktuellen Szene in Spanien schriftliche Interviews geführt (siehe Anhang 1) und Stellungnahmen zur aktuellen Poesía Visual eingeholt. Es wurden insgesamt 20 Dichterinnen und Dichter angeschrieben. Von ihnen haben 14 (12 Dichter und 2 Dichterinnen) dem Interview zugestimmt und die Fragen schriftlich (digital) beantwortet.5 Die Stellungnahmen geben Aufschluss über das Selbstverständnis der Poesía Visual. Die Antworten fließen mit inhaltlich vergleichbaren Publikationen (vgl. Fernández Serrato 1995a; Reglero 2013), in die folgende Definition sowie in die Reflexionen über das Selbstverständnis der Poesía Visual, poética interna, ein (vgl. Kapitel 1.3.2.2).
Unter Berücksichtigung dessen verstehe ich Poesía Visual im Rahmen meiner Forschungsarbeit als ein Genre der poesía experimental, in dem eine Botschaft mittels bildlicher und schriftlicher Codes (ikonischer und symbolsicher Zeichen) verdichtet wird. Ich untersuche hier lediglich jene Produktionen ab den 1970er Jahren, die auf der iberischen Halbinsel entstanden sind.6
Eine Betrachtung der Poesía Visual7 gestaltet sich insofern als schwierig, als es sich um ein begrifflich äußerst inkonsistentes Phänomen handelt. Die Bezeichnungen wie poesía concreta, poesía concreto-visual oder poesía experimental, die auf ein verwandtes Phänomen hindeuten, stellen sich als irreführend heraus, denn die Begriffe werden teilweise synonym verwendet. Dieses grundsätzliche „problema de la denominación“, wie Juan Carlos Fernández Serrato es nennt, erweist sich als regelrechte Begriffsverwirrung, die es im Folgenden zu beseitigen gilt (1995b, 43 ff., und 2003, 21 ff.). Dabei soll es vor allem darum gehen, diese tradierten Begriffe im Kontext und in Beziehung zur Poesía Visual nachzuzeichnen, um damit einem Definitionskonflikt auszuweichen.
Die Begriffskonfusion hat zwei Ursachen: Zum einen wurden die Bezeichnungen poesía concreta und poesía visual von der deutschen Tradition der Konkreten Poesie beeinflusst, zum anderen ist poesía experimental ein Begriff, der sich in der spanischen segunda vanguardia als Oberbegriff für verschiedene poetische Praktiken entwickelt hat. Die sich zum Teil überlappenden Bedeutungen der vorliegenden Bezeichnungen beruhen auf der grenzüberschreitenden Tendenz der jeweiligen künstlerischen Ausdrucksformen. Poesía visual, poesía experimental, poesía concreta etc. liegen nicht sehr nah beieinander, sondern vielmehr ineinander, sodass sie nur bedingt isoliert voneinander betrachtet werden können. Die synonyme Verwendung der Bezeichnungen und die damit einhergehende Begriffsverwirrung ergeben sich demnach als logische Konsequenz.
Poesía concreta ist neben Poesía Visual eine Erscheinung, die - wie im Zusammenhang mit der Konkreten Poesie noch näher erläutert wird - als Teilgebiet der poesía experimental angesehen werden kann. Hingegen bezeichnet poesía de vanguardia die Dichtkunst der (Neo-)Avantgarde, die als übergeordnetes Konzept poesía concreta und poesía experimental mit einschließt. Bevor genauer auf die beiden Ursachen für die Begriffsverwirrung eingegangen wird, soll die folgende Grafik veranschaulichen, wie die Beziehung der diskutierten Bezeichnungen zueinander zu verstehen ist (Abbildung 1).
Die Begriffe poesía de vanguardia, poesía experimental, poesía concreta und poesía visual im Zusammenhang.
In den 1970er Jahren führen verschiedene Kausalitäten dazu, dass die Theorien und auch Praktiken der deutschsprachigen Konkreten Poesie in das Umfeld der spanischen poesía experimental geraten und deren Begriffskonstitution beeinflussen. Der in Deutschland wohnhafte Felipe Boso und Ignacio Gómez de Liaño, beides Dichter und Verfasser zahlreicher theoretischer Arbeiten über die spanische visuelle Dichtung, veröffentlichen in der Literaturzeitschrift Akzente (1972) unter dem Titel Experimentelle Dichtung in Spanien dreißig zeitgenössische Gedichte. Sie präsentieren dabei die spanische poesía experimental als Variante der Konkreten Poesie, ohne die Bezeichnungen explizit zu erläutern, und versuchen, vermutlich im Hinblick auf die deutsche Leserschaft, sich dem deutschen Diskurs der Konkreten Poesie anzuschließen. Gómez de Liaño beleuchtet den möglichen Einfluss der brasilianischen8 und deutschen Konkreten Poesie auf die spanische experimentelle Poesie und leitet daraus eine zusammenhängende Entwicklung ab (1972, 291 f.). Eine solche Schlussfolgerung ist nicht abwegig, denn sie ist anhand von Fakten belegbar: Während des „tardofranquismo“ (Fernández Serrato 1995a, 269) in den 1960er Jahren, als Spanien unter der Zensur der faschistischen Diktatur leidet, verbreiten beispielsweise Eugen Gomringer und Reinhard Döhl systematisch die Ideen des deutschen Konkretismus. Dies geschieht im Rahmen der Vortragsreihe Conferencia pronunciada en el ciclo. Nuevas tendencias: poesía, música, cine im Instituto Alemán in Madrid (Dezember 1967) und deren anschließenden Veröffentlichung (1968) (vgl. ebd.; López Gradolí 2008, 114).9 Was die Autoren damals wahrscheinlich nicht wissen, ist die Tatsache, dass etwa zur gleichen Zeit im deutschsprachigen Konkretismus intensive Diskussionen im Hinblick auf die Begriffe konkret und visuell aufkommen. Daran maßgeblich beteiligt sind unter anderem Eugen Gomringer selbst (1972) wie auch Max Bense (1972), Klaus Peter Dencker (1972), Siegfried J. Schmidt (1971, 1974) sowie später Heinz Gappmayr (1978) und Christina Weiss (1984). Sie alle versuchen in langen Traktaten, die Begriffskonfusion aufzuklären. Diese war dadurch entstanden, dass der von Gomringer analog zur Konkreten Kunst10 etablierte Begriff Konkrete Poesie in theoretischen Positionen programmatisch beschrieben und von den Dichterinnen und Dichtern übernommen worden war (vgl. Stieg 1979, 43). Konkret wird in diesem Zusammenhang nach philosophischen Grundsätzen als Eigenschaft verstanden, die einem Gegenstand zusteht, der real wahrnehmbar, also sichtbar und greifbar ist (vgl. Kopfermann 1974, X). Dementsprechend beansprucht die Konkrete Poesie in ihren Anfängen das weite Gebiet des Konkreten für sich. Dies führt dazu, dass unter Konkreter Poesie alles bezeichnet wird, was sich mit der konkreten, materiellen Gestalt von Sprache beschäftigt. In diesem Sinne wird auch Visualisierung als Konkretisierung verstanden. Konkrete Poesie gilt in diesem Kontext folglich als Überbegriff für alle poetischen Entwicklungen, die die äußere Gestalt von Sprache (den Saussure’schen signifiant) zum Thema haben. Diese Art von Generalisierung berücksichtigt jedoch in keiner Weise die lange Tradition der Visuellen Poesie. Nicht zuletzt deshalb widmen sich auch neuere wissenschaftliche Untersuchungen der historischen Entwicklung (vgl. u. a. Alcón Alegre 2005; Dietz/Gálvez 2013; Millán Domínguez 1999; Muriel Durán 2000; Pineda 2002). Anhand der historischen Entwicklung zeigt sich, dass es sich bei der Visuellen Poesie eben nicht um ein Genre der konkreten oder experimentellen Dichtung, sondern um eine eigene, traditions- wie typenreiche Gattung handelt. Infolge ihrer literaturhistorischen Unkenntnis zeichnete sich bei den Vertretern der Konkreten Poesie indes die Tendenz ab, die Begriffe konkret und visuell synonymisch zu verwenden. Im Verlauf der Zeit wurde die Visuelle Poesie schließlich zu einem Genre der Konkreten Poesie erklärt, was letztendlich die Begriffsverwirrung provozierte (vgl. Dubiel 2004, 10). Gomringer beschreibt in diesem Zusammenhang visuelle Gedichte als „in den meisten fällen seh-gegenstände, seh-texte, die unter dem überbegriff ‚konkrete poesie‘ angeboten werden“ (1996, 9; Kleinschreibung v. d. Verf. übernommen). Primär lanciert durch literaturhistorische Forschungen über Visuelle Poesie (u. a. Higgins 1987; Adler 1989; Adler/Ernst 1990), zeichnete sich ab den 1990er Jahren jedoch der Gattungsbegriff Visuelle Poesie in der deutschen Literaturwissenschaft ab. Er emanzipierte sich von der Konkreten Poesie und gilt heute - gemeinsam mit seinen europäischen Entsprechungen visual poetry, poésie visuelle etc. - als Bezeichnung einer eigenständigen poetischen Gattung (vgl. Dencker 2011; Ernst 2012).
Die beiden Autoren Boso und Gómez de Liaño unterschlagen zwar nicht die Bezeichnung, doch sehr wohl die künstlerische Bewegung, die bereits in Spanien etablierte poesía experimental, und passen sich, wie es zumindest in der Zeitschrift Akzente (1972) den Anschein macht, den damaligen poetischen Konventionen der Konkreten Poesie an. Boso erklärt die poesía experimental zu einem (späten) spanischen Beitrag der Konkreten Poesie und lässt erahnen, dass er sie, wenn nicht als Genre, so doch als Synonym versteht:
Zu was also hier und im Jahre 1972 diese Auswahl an spanischer experimenteller Dichtung? Um es vorweg zu sagen: weil sie eben dabei ist, in Spanien populär zu werden. […] Gewiß ist jedenfalls, daß in der Abenddämmerung der konkreten Dichtung ihr spanischer Beitrag erst wichtig wird. (Boso 1972, 300)
Allerdings ist poesía experimental im spanischsprachigen Kontext, wie im Folgenden dargestellt, letztendlich die kontinuierliche und daher angemessenere Bezeichnung (vgl. Millán/García Sánchez 2005 [1975], 12).
Die Entwicklungen und Zusammenhänge von Poesía Visual und poesía experimental sind insbesondere in der sogenannten segunda vanguardia, der Wiederaufnahme und Fortführung der Avantgarde ab den 1960er Jahren in Spanien, zu beobachten. Die Bezeichnung poesía de vanguardia ist der Versuch, einer überaus unübersichtlichen Wechselwirkung von Film, Musik oder plastischer Kunst und poetischer Praxis einen Namen zu geben. Mit den Worten Fernández Serratos „quiere [la poesía de vanguardia] aglutinar experiencias más o menos novedosas desarrolladas del medio literarios, cinematigráfico, musical y plástico“ (Fernández Serrato 1995b, 45). Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Ausstellungskataloges Poesía Internacional de vanguardia (Madrid, April 1970) zeigt, inwiefern poesía de vanguardia als übergeordneter Begriff verwendet wurde:
poesíaconcreta poesíacinética
carteles objetos libros films
poesíaespacial poesíaobjetiva
revistas cintasmagnetofónicas
poesía n.o. poesíasemiótica
discos serigrafías grabados y
poesíaexperimental poesía n.o.
fotomontajes librósobjeto [sic] y
poesía-simbiótica metaart zaj
plásticos revistas objetos y
poesíagráfica poesíavisual y
carteles objetos libros films
verbofonía poesíasemántica y
cintasmagnetofónicas grabados
música poesíamatemática y zaj
diseños serigrafías grabados
poesíavisiva poesíatecnológic
fotomontajes grabados objetos
poesíasónica poesíacinética
plásticos revistas grabados
músicaelectrónica poesía n.o. (vgl. Díez Borque 1973, 41)
Auffällig ist, neben den vielen als poesía de vanguardia geltenden Genres, der Zusammenhang mit audio-visuellen Medien („cintasmagnetofónica, serigrafías, films“), womit die Hinwendung zum technischen Fortschritt und mit ihr die avantgardistische Haltung abermals deutlich wird. Es ist möglich, dass die Wiederaufnahme des Begriffs vanguardia als Bezeichnung poetischer Praktiken lediglich den Wunsch der spanischen Künstlerinnen und Künstler manifestiert, die „nueva poesía“ als einen „paso más allá de la evolución del arte“ zu sehen (Fernández Serrato 1995b, 46). Es wäre auch denkbar, dass die infolge des Bürgerkriegs und der anschließenden Franco-Diktatur versäumte Zeit wieder aufgegriffen und erlebt werden musste, was den Zusammenhang zu den Grundsätzen der Avantgarde erklären würde (vgl. ebd.).
Für die begriffliche Entwicklung ist poesía de vanguardia eher ein historischer Terminus. Er wird dem frühen 20. Jahrhundert, sei es der klassischen oder der Neo-Avantgarde, zugeordnet und läuft deshalb nicht Gefahr, mit poesía experimental oder poesía visual verwechselt zu werden. Vielmehr hat poesía de vanguardia den Weg für poesía experimental und ferner Poesía Visual geebnet: In dem 1973 erschienenen Themenschwerpunkt Literatura Experimental der Zeitschrift El Urogallo (Soriano/Montero 1973) beziehen verschiedene Theoretiker und Dichter (u. a. José María Díez Borque, Jesús García Sánchez, Alfonso López Gradolí oder Fernando Millán) zum Begriff poesía experimental erstmals Stellung. In der Diskussion um „lo experimental“ postuliert Millán, dass es sich eher um einen Terminus technicus handele als um „una nueva forma de hacer poesía“ (Millán 1973, 45). Es wird insbesondere die von Max Bense (1954, 15) lancierte Theorie des Experiments in der Dichtung aufgenommen (vgl. Lanz Rivera 1992, 57). Bense versteht das Werk deshalb als Experiment, weil es zum einen als Kontinuum im Prozess nie als abgeschlossen gelten darf und - als Konsequenz daraus - zum anderen eine Vielfalt an Lesarten zulässt (vgl. ebd.). Poesía experimental ist daher eine Bezeichnung, die den Modus Operandi fokussiert (vgl. Fernández Serrato 1995b, 51/52). Das Experiment selbst zielt nicht auf ein Ergebnis ab, sondern nur auf den Prozess, weshalb es nie als abgeschlossen gilt. Die Vielzahl von Varianten des poetischen Experimentierens entsteht aus der Hybridisierung der Bestandteile von Dichtung mit einer anderen künstlerischen Ausdrucksform (Musik, darstellende Kunst, bildende Kunst etc.) (vgl. del Villar 1974). Die Gemeinsamkeit all dieser verschiedenen Genres liegt lediglich im experimentellen Charakter ihrer Techniken. Alle möglichen Varianten der poesía experimental zu bestimmen, ist daher unmöglich. Je nach technischen Verfügbarkeiten, was in Anbetracht der digitalen Wende während der 1990er Jahre besonders relevant wird, erweitern sich die Möglichkeiten des Experimentierens und der daraus entstehenden Varianten entsprechend.
Poesía experimental ist also ein allgemein gehaltener Oberbegriff für eine heterogene und vielschichtige Gruppe, unter der alle denkbaren poetischen Manifestationen subsumiert werden, die Überschreitungen von verschiedenen künstlerisch-medialen Ausdrucksformen erkennen lassen. Sie zu typisieren, erweist sich daher als äußerst schwierig. Es lassen sich dennoch einige Kategorisierungen und Typologien finden, die den Versuch aufzeigen, Struktur in die komplexe Vielfalt zu bringen. Lanz Rivera beispielsweise gruppiert die unzähligen Varianten der poesía experimental in zwei kategorische Untertypen (1992, 66): poesía visual und poesía fónica. Jene poemas, die sich der Visualität von Sprache widmen, ordnet er der Poesía Visual zu, und jene, die das Akustische hervorheben, der poesía fónica. Diese kategorische Zweiteilung ist insofern bedenklich, als sie nur bedingt die vielen Schnittmengen zwischen visuell und akustisch oder gar anderen Formen, wie etwa poesía acción (darstellende Gedichte), berücksichtigt. Félix Morales Prado (2004, 11 ff.) versucht der Heterogenität der poesía experimental in seiner Typologie gerecht zu werden und beschreibt neun Typen: „letrismo, poesía concreta, poesía fonética, poesía semiótica (o ícono-verbal), poema objeto, poesía acción, poema propuesta, videopoema, poesía cibernética“ (ebd.).
Inwiefern diese Typologien die einzelnen Typen sinnvoll definieren, mag dahingestellt bleiben. Indes lässt sich mit ihrer Hilfe der Zusammenhang zur Poesía Visual bestimmen. Anhand der dargestellten Eigenschaften der poesía experimental wird klar, dass Poesía Visual als deren Genre zu verstehen ist.
Des Weiteren lässt sich festhalten, dass das Visuelle die wohl stärkste Ausprägung der spanischen experimentellen Dichtung ist. So bemerkt bereits Felipe Boso:
Ohngeachtet der individuellen Varianten und Abschattungen ist, was die spanische experimentelle Dichtung am meisten auszeichnet, ihre Anschaubarkeit, ihre Betonung des Visuellen […]. Das Auge dichtet. Oft scheint es, als fehlten dem spanischen experimentellen Dichter andere Sinne. (Boso 1972, 303)
Dass Anschaulichkeit und Betonung des Visuellen als wichtige Merkmale der poesía experimental hingestellt werden, erklärt, wieso sich die Bezeichnung bis heute als Synonym von Poesía Visual hält (z. B. Diputación Badajoz 2002-2013, Hermosilla 2013, López Gradolí 2012; Morales Prado 2004). Poesía experimental bedeutet auch Poesía Visual, aber nicht nur. Sie hat zudem, wie bereits dargelegt, viele andere Ausrichtungen. Daher ist, zusammenfassend, Poesía Visual immer dann der angemessene Begriff, wenn er explizit das Visuelle an der Gestaltungsform des Gedichtes bezeichnen soll.
Wie sich im Kapitel zur Problematik der Begriffsverwirrung erwiesen hat, ist es erforderlich, der begrifflichen Entwicklung nachzugehen. Aus spanischer Sicht ist Poesía Visual als ein wesentliches Genre der poesía experimental zu verstehen (vgl. z. B. Fernández Serrato 1995b; Lanz Rivera 1992; López Fernández 2008). Demgegenüber sehen internationale allgemein vergleichende Forschungen Visuelle Poesie als eigenständige Gattung (vgl. Adler/Ernst 1990; Dubiel 2004; Bohn 1986; Millán Domínguez 1999). Beide Arten der Auslegung schließen einander nicht aus und sind daher nicht als Gegensätze zu begreifen. In beiden Fällen stehen Visualität und Visualisierung von Sprache als Hauptcharakteristika im Vordergrund. Poesía Visual kann sowohl in einer allgemeineren Betrachtung als Genre der poesía experimental wie auch im engeren Sinne (in der Linie der Visuellen Poesie) als autonome poetische Gattung gelten. Hier unterscheidet sich lediglich die Perspektive, aus der die Poesía Visual beleuchtet wird.
Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf Poesía Visual, wie in der Grafik (Abbildung 1) dargestellt ist. In Anbetracht der aktuellsten Veröffentlichungen (v.a. Díaz Rosales 2014; Dietz/Gálvez 2013) und Millán Domínguez’ Erklärung von der „poesía visual como género“ (1999, 1188) erscheint der Begriff Poesía Visual für die vorliegende Untersuchung sachgerecht, denn erstens verdeutlicht der (spanische) Begriff das spanischsprachige poetische Phänomen, zweitens wird das Visuelle explizit bezeichnet und drittens eine theoretisch eng gefasste Betrachtung der Gattung ermöglicht.
Spanische literaturwissenschaftliche Theorien stimmen darin überein, dass die heutige Poesía Visual als post-avantgardistische literarische Erscheinung zu sehen ist (vgl. u. a. de Cózar 1991, 396; Fernández Serrato 2005, 50 ff.; López Fernández 2008; Millán Domínguez 1999, 950 ff.; Millán/de Francisco 1998, 107). Eine direkte Verbindung zur poetischen Avantgarde besteht in zweierlei Hinsicht: zum einen aufgrund der historischen Entwicklung der Poesía Visual, die in Spanien unmittelbar an die durch den Bürgerkrieg unterbrochene künstlerische Avantgarde anknüpft (siehe hierzu Kapitel 2.4 und 2.5); und zum anderen angesichts der bis heute von Dichtern und Dichterkollektiven der Poesía Visual proklamierten poetisch-konzeptionellen Idealen, die unverkennbar aus der künstlerischen Avantgarde stammen, wie im Folgenden erläutert werden soll (vgl. Reglero 2013; Stellungnahmen der Dichterinnen und Dichter, siehe Anhang 1).
Zentrale poetische Verfahren und Zielsetzungen der Avantgarde sind für das Verständnis der Poesía Visual relevant. Bei dem Blick auf die Grundsätze der künstlerischen Avantgarde und bei der Erarbeitung der von der Poesía Visual aufgenommenen Charakteristika wird rückschauend erneut auf das Problem der begrifflichen Inkonsistenz zurückgegriffen und vorgreifend die theoretische Basis geschaffen, auf der die grenzüberschreitenden Funktionen eines poema visual als Hybrid und Intermedium zu verstehen sind.
Van den Berg und Fähnders definieren die europäische künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts wie folgt:
Die Avantgarde bildete ein Geflecht von Gruppierungen, Bewegungen, Ismen, Strömungen, Tendenzen, von Einzelkünstlern, Galeristen, Verlegern, von Zeitschriften und Zeitungen mit dem Anspruch, nicht nur eine radikale Neuerung künstlerischer Formen und der einzelnen Künste zu bewirken, sondern zugleich eine gänzlich neue Auffassung von Kunst und eine neuartige Positionierung der Kunst in der Gesellschaft durchzusetzen. (van den Berg/Fähnders 2009, 1)
Anhand der langen Liste von Bestandteilen des „Geflechts“ verweisen die beiden Autoren auf etkwas, was sie nachfolgend konkretisieren: „Die Avantgarde war eine äußerst heterogene und fluktuierende Erscheinung“ (van den Berg/Fähnders 2009, 1), die demnach terminologisch nicht eindeutig zu fassen sei.
Der Begriff Avantgarde ist von dem französischen avant-garde abgeleitet und ein Terminus aus dem militärischen Sprachgebrauch. Die sogenannte Avant-Garde bildete die Vorhut einer militärischen Einheit, die die Aufgabe hatte, „des Feindes Anrücken zu erfahren und zu erforschen“ (van den Berg/Fähnders 2009, 4).11 In einem übertragenen ästhetischen Sinn wird der Begriff das erste Mal 1912 von Guillaume Apollinaire in einer Bemerkung über die futuristischen Maler in Italien verwendet (vgl. ebd., 6). Daraufhin wird er von den Teilnehmern dieser Bewegung selbst übernommen, bis er im Verlauf des 20. Jahrhunderts von der Kunst- und Literaturgeschichte systematisiert wird. Allerdings liegt das Verständnis eines jeden Avantgarde-Begriffs und seiner jeweiligen Definition im Ermessen der einzelnen nationalen Literatur- und Kunsthistoriografie. Bis zum Zweiten Weltkrieg steht der im Französischen bereits seit dem 19. Jahrhundert auch im kulturell-künstlerischen Kontext gebrauchte Avantgarde-Begriff vordergründig für die Bezeichnung fortschrittlicher und politisch engagierter Kunst und Literatur, wobei dem Künstler die Rolle des Vorreiters zugeteilt wird. Diese Bedeutung setzt sich zunächst im Französischen und bald auch in weiteren romanischen Sprachen, wie im Spanischen, durch (vgl. ebd., 7). Es folgen unzählige Taxonomien innerhalb des Avantgarde-Begriffs, die seine genaue Bedeutung brüchig machen. So wird beispielsweise zwischen historischer Avantgarde und Neo-Avantgarde unterschieden. Dabei ist mit historischer Avantgarde die auch als klassisch bezeichnete Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeint und unter Neo-Avantgarde – auch Post-Avantgarde – diejenige zu verstehen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Im Spanischen, unter Berücksichtigung anderer politischer Bedingungen, ist von primera y segunda vanguardia die Rede.12 Mit dem Begriff vanguardia wird, wie de Torre erklärt, als Pendant zu seiner französischen Ausgangsform eine Ganzheit bezeichnet, die eine ganze Reihe avantgardistischer Bewegungen, sogenannte Ismen, subsumiert:
La vanguardia, tal como yo la entiendo, en su sentido más extensor y mayor, no ha significado nunca una escuela, una tendencia o una manera determinada. Sí el común de los diversos ismos echados a volar durante estos últimos años. […] Y a propósito, recientemente se ha publicado un inventario […] que los enumera así: futurismo, expresionismo, cubismo, ultraísmo, dadaísmo, superrealismo, purismo, constructivismo, neoplasticismo, abstractivismo, babelismo, zenitismo, simultanéismo, suprematismo, primitivismo, panlerismo. (de Torre 1971, 26)
Die metaphorische Verwendung des Verbs „volar“ drückt im obigen Zitat die problematische Stellung der Ismen zueinander aus. Die Verkündung von Ismen ist ein typischer Akt der frühen Avantgarde, es wurden unzählige davon proklamiert. Manche wurden als die „wahren” Bewegungen der Avantgarde gekürt, andere sind gänzlich untergegangen. Allein bei der Betrachtung der von de Torre aufgezählten Ismos fällt auf, dass manche, wie beispielswiese futurismo, expresionismo, cubismo, dadaísmo, für die künstlerische Avantgarde repräsentativ sind, andere, wie neoplasticismo, abstractivismo, babelismo, zenitismo, simultanéismo, suprematismo, primitivismo, panlerismo (vgl. ebd.), bleiben eher unbedeutend. In diesem Zusammenhang betonen van den Berg und Fähnders, dass manche Ismen als Pars pro Toto der Avantgarde fungieren. Teilweise seien sie von der Historiografie, teilweise von Vertretern der Avantgarde selbst so eingeführt, um auf diese Weise ihrem Ismus mehr Gewicht zu verleihen (vgl. van den Berg/Fähnders 2009, 3). Jedenfalls werden die unterschiedlichsten Ismen unter dem Sammelbegriff Avantgarde zusammengetragen, sodass im Hinblick auf die breit gefächerte Vielseitigkeit der einheitliche Begriff Avantgarde infrage gestellt wird. Diesbezüglich wird diskutiert, ob nicht der Plural – Avantgarden – der genannten Vielfalt eher gerecht würde (vgl. Asholt/Fähnders 2005, XVI). Ob die Avantgarden - las vanguardias – oder die Avantgarde - la vanguardia –, ob Plural oder Singular: Es handelt sich bei beiden Begriffen um die Bezeichnung für teilweise sehr unterschiedliche künstlerische Bewegungen, die oftmals lediglich die Negation bestimmter Konventionen gemeinsam haben. Van den Berg und Fähnders verwenden den Begriff bewusst im Singular, als eine Art „Projekt Avantgarde“ (vgl. van den Berg/Fähnders 2009, 1) oder zusammenhängendes „Netzwerk“ (vgl. ebd.). Auf diese Weise wird dem begrifflichen Dilemma ausgewichen und vielleicht am besten die Dynamik und Komplexität des Phänomens Avantgarde verdeutlicht:
Man entgeht einigen Aporien der Avantgarde-Forschung, wenn man die Avantgarde als soziale Konfiguration auffasst und sie als ein Phänomen der sozialen Kohäsion und Gruppenbildung im kulturellen Feld beschreibt, dass sich zusammenhängend als Netzwerk begreifen lässt. Die Avantgarde erscheint dabei als ein auf der synchronen Ebene heterogenes und auf der Ebene der Diachronie sich wandelndes und wanderndes, letzten Endes aber doch einheitliches Netzwerk, das alle Kunstbereiche umfasst: bildende Künstler, Schriftsteller, Komponisten und Musiker, Architekten und Städtebauer, Designer, Filmemacher, Theaterregisseure und Bühnenkünstler, Galeristen und Zeitschriftenherausgeber. Sie alle suchen, oft in Kooperation untereinander und oft auch als Doppel- oder Mehrfachbegabung, eine neue Kunst bzw. eine künstlerische Alternative zur hegemonialen Kunst ihrer Zeit zu entwickeln. (van den Berg/Fähnders 2009, 1)
Trotz der inkonsistenten Begrifflichkeit und der ausgeprägten Heterogenität lassen sich durchaus einschlägige Merkmale in den einzelnen Bewegungen der künstlerischen Avantgarde, die den Ganzheitsbegriff plausibel machen, beobachten.
Solche gemeinsamen Charakterzüge einzelner Bewegungen, Strömungen und Ismen werden als die Grundzüge der Avantgarde bezeichnet. Sie können mit zwei Grundaspekten auf den Punkt gebracht werden. Dies sind: die „soziale Konfiguration“ oder „soziale Kohäsion“ und die „künstlerische Alternative zur hegemonialen Kunst“ (ebd.).
Guillermo de Torre fasst die Grundzüge in der Einleitung zu seiner umfangreichen dreibändigen Historia de las literaturas de vanguardia als „lemas más visibles de la vanguardia“ unter „internacionalismo“ und „antitradicionalismo“ (de Torre 1971, 26) zusammen. Unter internacionalismo oder soziale Kohäsion (nach van den Berg/Fähnders 2009) lässt sich die maßgebliche Neigung avantgardistischer Bewegungen erfassen, ein (länderübergreifendes) Netzwerk bilden zu wollen. Manifeste und Proklamationen der avantgardistischen Bewegungen wurden oft in ganz Europa und auch darüber hinaus (USA, lateinamerikanische Länder etc.) verbreitet und haben auf diese Weise häufig großen Einfluss auf gleiche Bewegungen im internationalen Raum oder auch auf ganz andere avantgardistische Bewegungen genommen. In jedem Fall ist eine enge Verflechtung der europäischen Avantgarden zu beobachten. Die Vernetzung zeigt sich vor allem in der Mehrsprachigkeit von Texten und ihrer Autoren. „Die Avantgarde“, so schreiben Asholt und Fähnders, „ist polyglott und übersetzt sich im Notfall selbst“ (2005, XX). Insbesondere im Dadaismus wurde die Mehrsprachigkeit zum Programm und oft zum Bestandteil des künstlerischen Werks. Beispielsweise wurden dadaistische Veranstaltungen häufig mehrsprachig durchgeführt. Dabei konnte ein Text simultan in mehreren Sprachen oder verschiedene Texte gleichzeitig vorgetragen werden, oder auch beides auf einmal (vgl. ebd.). Ein anderes Beispiel für die avantgardistische Vernetzung stellt die Verbreitung des ersten futuristischen Manifests von Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) dar. Das als „Geburtsurkunde des italienischen Futurismus“ (van den Berg/Fähnders 2009, 13) bezeichnete und als Gründungsdokument der künstlerischen Avantgarde geltende Manifest erschien am 20. Februar 1909 in französischer Sprache (aus dem Italienischen übersetzt) auf der Titelseite der Pariser Tageszeitung Le Figaro. Kurz darauf, im März, erschien es in Mailand und Moskau, im Mai folgte seine Publikation in Japan, im Juli in Berlin, Köln, Madrid und Buenos Aires und im August in Lissabon (vgl. ebd.). Zwar wurde der Text nicht immer im Original, sondern unter abgeändertem Titel und teilweise in gekürzter Fassung gedruckt, doch zeigt sich hier, wie stark schon zu Beginn die Bereitschaft zur internationalen Vernetzung war. Erstaunlich ist der für die damaligen Verhältnisse fortgeschrittene Sinn für Vernetzung, auch wenn er aus der Perspektive des heutigen Internetzeitalters geradezu trivial erscheint. So war es dieser Sinn für Vernetzung, der 100 Jahre später eine ähnliche Zirkulation des futuristischen Gründungsdokuments verursacht. Am 20. Februar 2009 erschien in der internationalen Tagespresse eine Fülle von Artikeln, die eben jener Veröffentlichung im Le Figaro gedachten (vgl. ebd.).
Antitradicionalismo oder die künstlerische Alternative zur hegemonialen Kunst (nach van den Berg/Fähnders 2009) erfasst das avantgardistische Grundprinzip der Erneuerung; gemeinsames Ziel aller Bewegungen ist die Revolution einer als veraltet angesehenen Kunst und der Bruch mit der Tradition. Es handelt sich um die Abwendung vom bestehenden Ästhetizismus zugunsten einer neuen Kunstauffassung, der zufolge die Rollen aller Beteiligten – vom Kunstschaffenden bis zum Publikum – neu bestimmt werden müssen. Innerhalb dieser neuen Kunstästhetik soll keine Homogenität erzeugt werden. So gilt die infolge dynamischer Transgressionsprozesse typische Hybridisierung verschiedener (Kunst-)Gattungen als Grundprinzip. Die künstlerische Avantgarde beansprucht für sich eine Kombination verschiedener künstlerischer Manifestationen, sie bedeutet „aglutinamiento, asociación y combinación“ (López Gradolí 2008, 13). Darüber hinaus wird die neue Auffassung durch die eigene Entwicklung von Ismen, Proklamationen und Manifesten theoretisch gefestigt.
Charakteristisch für die avantgardistischen Bewegungen sind ihre Manifeste. Meistens werden darin die Ziele der jeweiligen Bewegung proklamiert. Sie bieten daher einen theoretischen Rahmen, der im Zusammenhang mit dem künstlerischen Werk einerseits dem Leser und Betrachter einen Einblick gewährt und andererseits den Kunstschaffenden die Möglichkeit eröffnet, neben ihren Zielen ihre Position zu definieren (vgl. Asholt/Fähnders 2005, XV). Oftmals werden auch implizit oder explizit Forderungen an die Gesellschaft formuliert, die ihrerseits mit den Mitteln der Kunst an allererster Stelle verändert beziehungsweise erneuert werden soll. Dabei ist das Manifestieren selbst ein revolutionärer, avantgardistischer Akt. Neben der radikalen Abwendung vom Ästhetizismus zeigt sich demnach auch eine Festigung durch die Veröffentlichung und Verbreitung von Manifesten in der Theorie der Künste. Obwohl das Manifest nicht nur als theoretisches Zusatzmaterial zum Kunstwerk verstanden werden darf, sondern auch als eine eigenständige Gattung zu sehen ist, dürfen die einzelnen künstlerischen Manifestationen einer avantgardistischen Bewegung nicht oder nur bedingt isoliert betrachtet werden. Asholt und Fähnders bemerken, dass Manifeste Wegweiser seien und offenbar dann geschrieben würden, wenn „das künstlerische Werk als Botschaft dem Autor nicht mehr auszureichen scheint und er über sein ästhetisches Produkt hinaus andere Weisen der Vermittlung erprobt“ (ebd., XVI). Das Manifest ist also ein Teil des Gesamtkunstwerks, dem noch literarische Texte, Malereien, Skulpturen, Theaterstücke, Aktionen etc. angehören können. Alle künstlerischen Manifestationen zusammen ergeben die Kunst der Bewegung, dabei sind sie alle gleichberechtigt. Die künstlerische Avantgarde legt großen Wert auf die Aufwertung des künstlerischen Kollektivs. Das Manifest stellt die Erklärung für Außenstehende dar und gilt daher als „ureigenes“ Medium der künstlerischen Avantgarde. Keine andere künstlerische Bewegung zuvor (und auch nicht danach) hat das Manifest so sehr geprägt wie die Avantgarde (vgl. ebd., XV). Einen Dadaismus ohne Manifest hätte es nie gegeben, betonen Asholt und Fähnders in der Einführung zu ihrer umfangreichen Anthologie avantgardistischer Manifeste. Außerdem wäre kein Ismus, keine avantgardistische Zeitschrift etc. ohne Manifeste zustande kommen (vgl. ebd.).13 Das Zielpublikum des Manifests, wie im Übrigen aller Kunstwerke, ist die gesamte Gesellschaft. Dadurch kristallisiert sich ein weiteres Grundprinzip heraus: Die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben. Gefordert wird eine Teilhabe der Kunst an der Gesellschaft. Sie soll Teil des Lebens eines Jeden sein. In diesem Zusammenhang führt die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Kunst und realem Leben auch zur Neubestimmung der Kunstschaffenden. Zudem werden die bestehenden künstlerischen Werte abgelehnt, darunter ganz besonders die „illusionäre Realitätsvergegenwärtigung“, durch Hinwendung zu einer „volkstümlichen Kultur“ (van den Berg/Fähnders 2009, 182). Die Avantgarde wendet sich radikal von der hegemonialen Kunst ab und fordert als Alternative die Sozialisation der Kunst, in der die Rolle des Künstlers entmystifisziert werde und jeden Menschen als Künstler oder Künstlerin ansehen könne. Mit der Neubestimmung der Kunstschaffenden geht außerdem die Neubestimmung des Publikums einher: Die passive Rolle des Rezipienten oder Perzipienten wird aufgegeben und seine Funktion aufgewertet. Das Publikum wird als ein emanzipiertes Subjekt des schöpferischen Prozesses verstanden (vgl. ebd., 15).
Avantgardistische Erneuerungspraktiken beruhen insbesondere auf dem Prinzip der Transgression. Mit diesem von van den Berg und Fähnders verwendeten Begriff lässt sich Hybridisierung präzise beschreiben. So schreiben sie, dass
die „offene“ Struktur des Netzwerkes und des „Projektes“ der Avantgarde sich einheitlichen Beschreibungen [verweigert], stattdessen existiert eine Vielzahl von künstlerischen Praktiken, die in sich widersprüchlich bleiben bzw. bleiben können - aber avantgardistische Praktiken zeigen auch eine einheitliche Tendenz, die auf Neues zielt: auf Grenzüberschreitung, Grenzverletzung, auf Transgression (van den Berg/Fähnders 2009, 17; Hervorhebung v. d. Verf.).