Poesie des Mordens - Steintór Rasmussen - E-Book

Poesie des Mordens E-Book

Steintór Rasmussen

0,0

Beschreibung

Tóki Narvason ist tot. Der bekannte färöische Schriftsteller wird erst Tage später in seiner Kopenhagener Wohnung aufgefunden. War es ein unglücklicher Unfall? Oder beging der einsame Autor Selbstmord? Als am nächsten Tag in Tórshavn auch die Leiche der tonangebenden Kulturschaffenden Inga Einarsdóttir gefunden wird, besteht für die färöische Bevölkerung kein Zweifel mehr: Die beiden Todesfälle können kein Zufall sein. Jákup á Trom, der leitende Kriminalbeamte, hat selbst ein Geheimnis, das er mit aller Macht zu schützen versucht. Und auch die Damen des Strickclubs aus Norðvík scheinen etwas zu wissen, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 572

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Steintór Rasmussen

Martin Schürholz (Übersetzer)

Poesie des Mordens

Färöer-Krimi

Band 3

Rasmussen, Steintór: Poesie des Mordens. Färöer-Krimi Band 3. Hamburg, ­edition krimi 2021

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-948972-38-7

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-948972-37-0

Übersetzung: Martin Schürholz

Korrektorat: Malin von Lehenner, Hamburg

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: © Eyðbjørn Jacobsen, Hintergrundstruktur

© ­pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© edition krimi, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Inhalt

Titel

Impressum

Personen, Orte und Fakten

Poesie des Mordens

Personen, Orte und Fakten

Strickclubs sind auf den Färöer-Inseln weit verbreitet. Sie bestehen in der Regel aus Frauen, die sich aus der Schule oder der näheren Umgebung kennen und sich im Winter regelmäßig treffen wollen. Die Abende finden wechselweise bei jeder Einzelnen zu Hause statt, wo sie sich ohne Einmischung ihrer Männer zusammensetzen, plaudern, ein Getränk genießen, sich amüsieren und dabei vielleicht auch diversen Handarbeiten nachgehen.

Norðvík, der Heimatort der ›Strickclubdamen‹, ist die zweitgrößte Stadt der Färöer und zählt ca. 5.000 ­Einwohner. Er kommt daher dem realen Klaksvík, das auch als die färöische Fischereihauptstadt bezeichnet wird, ziemlich nahe.

Ein großer Teil dieses Romans spielt in Tórshavn, der tatsächlichen Hauptstadt des Landes. Das Hotel Atlantis, in dem die Strickclubparty stattfindet, sowie sämtliche Künstlernamen sind frei erfunden.

*

Zum Strickclub gehören:

Anitaá Trom, geboren 1978, ist Erzieherin. Sie ist verheiratet mit Jákup, einem Polizisten. Die beiden haben einen Sohn, Bárður, und eine Tochter, Bjørk.

RonjaRóksdóttir, Jahrgang 1978, arbeitet als Journalistin für das Medienhaus ›VIKAN‹. Sie ist mit Niki befreundet, dem Webmaster des gleichen Unternehmens.

LinaVálará, geboren 1975, arbeitet als Krankenschwester. Sie ist auf der Südinsel aufgewachsen und hat in Norðvík Dennis, einen Steuermann und den älteren Bruder von Anita, geheiratet. Die beiden haben drei Kinder, u.a. die Söhne Bogi (19) und Bjarnur (21).

JórunFlink Olsen, Jahrgang 1978, ist unausgebildete Arbeiterin in einer Fischverarbeitungsfabrik. Sie lebt mittlerweile getrennt von dem dänischen Geschichts­lehrer und Akademiker Ulrik, mit dem sie in sehr jungen Jahren ihren Sohn Jónas bekam.

Mariaí Geilarhorni, auch Jahrgang 1978, arbeitet als Lehrerin und ist mit Poul verheiratet, einem Bank­angestellten. Die beiden haben vier Kinder: die 16-jährige Røskva, die Zwillingssöhne Rókur und Rani und die kleine Vár, das Nesthäkchen.

BjørgBeniti, auch 1978 geboren, hat in London Umwelt- und Rechtswissenschaft studiert und dabei ihren Mann, den Ägypter Salar, kennengelernt. Sie ist Leiterin des Lebensmittelcenters ›Føroya Matvørudepil‹. Die gemeinsamen Kinder heißen Ari und Nakita.

*

Die Opfer und deren familiäres Umfeld:

Tóki Narvason, färöischer Dichter, lebt in Kopenhagen.

Inga Einarsdóttir wird als die ›Kulturkönigin der Färöer‹ bezeichnet. Sie führt eine Fernbeziehung mit Tóki Narvason und lebt selbst in Tórshavn.

Carlos, Ex-Mann von Inga, arbeitet als Designer in Mailand.

Greta Ingudóttir Romano, die leibliche Tochter von Inga und Carlos, ist 21 Jahre alt und besucht die ›Dänische Kunst- und Designerschule‹ in Kopenhagen.

Pálma Einarsdóttir, die ältere Schwester von Inga ist mit Steingrímur verheiratet.

Ingibjørn Jenisson, Pfarrer und Ingas Vetter.

Terji Narvason, Tókis Bruder und nächster Angehöriger.

*

Weitere mehrfach genannte Personen (alphabetisch geordnet):

Borgny Brimborg, studiert Medienwissenschaften und schreibt eine Masterarbeit mit dem Schwerpunkt ›Kulturkriminalität auf den Färöern im 21. Jahrhundert‹.

Eyðrið, eine aktuell erfolgreiche Sängerin.

Finn Hagalíð, Journalist des färöischen Fernsehens.

Herr Hermann, Komiker und Moderator bei der Strickclubparty.

Jean Legrand, Tanzlehrer u.a. für angehende Models in Mailand.

Magdalena Blik ist Vorsitzende des ›Färöischen Kultur­fonds‹, engagiert sich aber auch für den Kunst- und Kultur­verein LIME.

Monika, in Schottland lebende Freundin der ›Strickclubdamen‹.

Omar Johansen, Schriftsteller.

Per Tindoy, früher ein angesehener Künstler, heute eher dem Alkohol verfallen.

Sveinur Skel, Sänger und Pianist.

Villi Nesmann, Chefredakteur des Medienunternehmens ›VIKAN‹.

*

Das Ermittlerteam:

Bei wichtigen Kriminalfällen ermitteln bei der Polizei Nord in Norðvík vor allem Jákup á Trom,Birita Suðurnes und Grímur Gullaksen. Da in diesem Roman Kopenhagen und Tórshavn als mögliche Tatorte gelten, erhalten die drei Unterstützung von Bo Rønne Hansen, einem dänischen Einsatzpolizisten, und Louis Borgarson, dem Polizeichef von Tórshavn.

ICH HATTE SIE wirklich geliebt. Als mir vor einigen Jahren der Gedanke kam, wollte ich ihn auf keinen Fall mit in meine krankhaften Pläne einbeziehen. Ich hatte gehofft, dass alles nur ein Missverständnis war. Bei uns beiden war es steil aufwärts gegangen. Unser Leben wurde durch das Denken und Handeln zweier gebildeter, erwachsener Menschen bestimmt. Die Vergangenheit darf uns nur nicht zerfleischen. Aber jetzt habe ich wirklich Angst davor, dass etwas schieflaufen könnte. Sie verfolgt mich. Und wird mich niemals zur Ruhe kommen lassen.

Meine Rachsucht steigert sich von Tag zu Tag. Was mein Vorhaben betrifft, fühle ich mich immer stärker und entschlossener. Vielleicht sollte ich einmal einen Psychologen aufsuchen. Aber ich weiß auch so, woran es mir fehlt, denn ich selbst kenne meine Geschichte besser als jeder andere. Sie ist wie ein dunkler, sichtbarer Faden, der mich bis heute begleitet hat. Und vor dessen Ende ich mich fürchte.

Ich halte es für unwürdig, jemanden umzubringen. Aber was genau war passiert in unseren jungen Jahren, als unsere Liebe in voller Blüte stand? Und dann plötzlich verwelkte und starb. Ohne eine Frucht davongetragen zu haben. Und ich für sie zu einem Krüppel werden sollte, den sie ein für alle Mal von sich stieß.

Ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben, wie mich das zugrunde gerichtet hat. Aber wahrscheinlich würde es nur ein Klassiker unter vielen werden. Eine Alltagsgeschichte. Ein paar bittere Beispiele über die Schattenseiten des Lebens. Eine Geschichte über Gleichgültigkeit und Hass. Die den Musiker einsperrte und den Gesangskünstler zum Schweigen brachte.

Die ganze Woche über hat das Klavier unberührt in der Ecke gestanden. Es sieht aus, als würden die Tasten ihren ­Virtuosen vermissen. Aber in mir steckt nichts als ein Missklang. Ein furchtbarer Nachhall, der mich wahnsinnig werden lässt. Sollte ich die Kammertöne jemals wiederfinden wollen, dann gäbe es nur eins zu tun.

HILFLOS LAG ER in einer kleinen Wohnung in der Hamlets­gade in Kopenhagen auf dem Rücken, umgeben von einer lauwarmen Bierlache. Wie eine Schildkröte, die nicht mehr in der Lage ist, sich vom Fleck zu rühren. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon so auf dem Boden gelegen hatte. Jegliches Zeitgefühl war ihm verloren gegangen. Er warf einen Blick auf die starke Lampe, die von der Decke herabhing. War das das Licht, von dem die Rückkehrer aus dem Totenreich gesprochen hatten? Der Tunnel, den es zu durchqueren galt? Nach einer Weile wurde ihm etwas klarer vor Augen. Die Panik traf ihn wie ein Nackenschlag. Mit aller Kraft versuchte er, sich aufzurichten. Sein Kopf war so übel zugerichtet, dass er kaum eine Verbindung zwischen Gehirn und den übrigen Körperteilen auszumachen vermochte. Einzig und allein in den Fingern seiner linken Hand war noch etwas Leben zu spüren. Und das Handy? Ach ja, es lag drüben auf dem Tisch. Wenigstens das registrierte er. Mit Müh und Not gelang es ihm, sich mit einem Arm hoch zur Tischkante zu kämpfen. Er bekam das gepflegte, schwere Holz zu fassen. Mit der begrenzten Kraft seiner linken Hand versuchte er, sich daran hochzuziehen. Die alte Eichenplatte schaffte es jedoch nicht, die einseitige Belastung auszuhalten. Der Wohnzimmertisch geriet in Schräglage, sodass die darauf stehende Keramikteekanne zu Boden fiel. Auch ein Becher verlor den Halt und kullerte hinterher. Und dann auch das Bier. Zwei Dosen starkes Elefantenbier. Schließlich war der PC mit all seinen gespeicherten Dateien an der Reihe. Eine von ihnen trug den Titel ›TÓKI – 666 Lieder‹. Zu guter Letzt kippte der gesamte Tisch um. Seine Platte erreichte mit einem heftigen Schlag den Boden und begrub das bärtige Gesicht unter seinem Gewicht.

Während er mehr tot als lebendig auf dem Boden lag, außerstande etwas auszurichten, meinte er, sie in der Ferne zu hören. Dann vernahm er irgendwo im Raum einen Klingelton. Doch seine linke Hand lag eingeklemmt unter dem umgestürzten Möbelstück. Vielleicht war sie sogar gebrochen. Er war nicht in der Lage, Hände und Füße zu bewegen. Geschweige denn, sein Handy zu fassen zu bekommen. Er hatte keine Chance, die Tastatur zu bedienen und irgendjemanden um Hilfe zu rufen. Aber langsam war ihm alles egal. Es war zu spät, den eigenen Lebenswandel zu bereuen, zu ändern oder sich, bei wem auch immer, zu entschuldigen. Aber warum sollte er auch? Verdammt, er würde nun als letzter Märtyrer des offenen Wortes sterben. Erbarmungslos und im Exil. In einem literarischen Niemandsland. Und mit einem großen Pflaster auf dem Herzen. Immerzu hatte er sie bei sich gehabt. In seinen Gedanken und Worten. Das Phänomen ›Liebe‹ konnte sowohl grenzenlos als auch mörderisch sein. Wie auch das übrige Leben, das zweifellos aus mehr als nur aus diesem kalten, homophoben Inselstaat im Atlantik bestand. Wo viele Menschen zu Hause sind, die nie über ihren Geburtsort hinausgekommen sind.

Ja, so war die große Masse schon immer gewesen. Es gab aber auch die, die es geschafft hatten, auszubrechen. Die Intellektuellen. Inga und er hatten es vorgezogen, eigene Wege zu gehen. Sowohl woanders als auch zu Hause. Sie hatten den Unterschied zwischen dem Ausdrucks­starken und der Armseligkeit frühzeitig erkannt. Ruhe und Wirbel­stürme erlebt. Und viele Touren in die Einsamkeit der Großstädte gemacht. In Schau­fenster hineingeblickt, in denen Dichter und Schriftsteller ihr ganzes Können unter Beweis stellten. Das mythische Pferd Pegasus gesattelt und durch dunkle Nächte geritten. Über die Welt sinniert und selbige auf ihren Reisen bewundert. Die einfachste Art, Wissen zu erwerben und die eigene Biografie zu bereichern. Sie mit ­unbeantworteten philosophischen Fragen zu füllen. Worin liegt der Sinn des Daseins? Wenn es tatsächlich ein Leben vor dem Tod geben sollte?

*

Am liebsten ging sie das letzte Stück zu Fuß. Sie bedankte sich für die Fahrt und legte die Quittung in ihre schwarze Handtasche, die sie meist über ihrer Schulter hängen hatte. Ihren kleinen Reisekoffer zog sie hinter sich her. Irgendwie war diese Frau anders. Sie trug etwas Unergründliches in sich. Ihr Haar war flammenrot gefärbt und passte gut zu den hohen Lederstiefeln, die sie auf einer ihrer Reisen nach Dänemark gekauft hatte. Aber ihr Schritt auf der abschüssigen Straße wirkte etwas schwerfällig. Wie mochte es Tóki wohl gerade gehen? Sie hatte vorgehabt, ihn zu besuchen, aber diesmal hatte es die Zeit nicht zugelassen.

Ein grauer Regenschauer trieb die Heðingsgøta hi­nunter. Sie hielt es daher für angebracht, sich ihre selbstgestrickte Mütze über die eingefrorenen Ohren zu ­ziehen und ihren avocadogrünen Mantel zuzuknöpfen. So schnell wie möglich eilte sie über den Bürgersteig und um die nächste Hausecke.

Sie war froh, als sie ihr Haus in der Nólsoyargøta erreichte, das bereits Anfang der 1930er Jahre von ihrem Großvater erbaut worden war. Sie spürte den Geruch von angerauchtem Holz und eingetrockneter Farbe. Im Flur hing ein vergrößertes Foto ihrer Eltern. Auch sie hatten sich unter genau diesem Dach geliebt und gestritten. Die meisten Menschen neigten dazu, sowohl eine teuflische als auch eine göttliche Seite in sich zu tragen. Später, nachdem sich Carlos plötzlich aus ihrem Leben verabschiedet hatte, hatte sie hier einige Jahre nur mit ihrer ­Tochter zusammen­gelebt. Das Mädchen war damals noch so klein gewesen, dass es sich kaum an seinen Vater erinnern konnte. Das Schlimmste aber war, dass Greta ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Und das leider nicht nur in Bezug auf ihr Aussehen, nein, sie hatte auch seinen Charakter und seine Oberflächlichkeit geerbt. Für eine Mutter war es schwer, das mit ansehen zu müssen. Immer wieder hatte sie sich gefragt, warum das so sein musste. Aber auch ihr einziges Kind hatte sie nicht auf immer und ewig. Als Greta volljährig war, ihre Gedankengänge aber nach wie vor unreif waren und ihre Einstellung zum Leben immer noch der eines Kindes ähnelte, sie ihre Ratschläge jedoch weder hören noch befolgen wollte, hatte sie ihr freigestellt, zu gehen. Sie hatte ihr noch einmal tief ins Gewissen geredet, doch es schien Greta wenig zu bedeuten, was ihre Mutter sagte und tat. Und so war sie mit 18 Jahren zu ihrem Vater nach Italien gezogen. Die blauäugige Greta hatte sich für eine berufliche Laufbahn in der Mode- und Bekleidungsindustrie Mailands entschieden. Das Fehlverhalten ihres Vaters war wohl die Hauptursache dafür, dass sie diesen außergewöhnlichen Drang verspürte, gesehen und bewundert werden zu wollen. Mittlerweile waren schon drei Jahre vergangen, seit sie das Land verlassen hatte. Ihre Beziehung hatte sich seitdem mal so und mal so entwickelt.

Nein, sie würde niemals so werden wollen wie ihre Mutter. Mit diesen Worten hatten sie sich zuletzt voneinander verabschiedet. Die Bindung zueinander hatte Greta nicht davon abhalten können, ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Das Leben ist ein Prozess, bei dem nach und nach sämtliche Bänder abreißen. Eine rationelle Denkweise auf dem Weg, frei und selbständig zu werden. Nur so kann man lernen, das Unausgesprochene auszusprechen, noch nicht Getanes zu tun und das ­Ungesehene zu sehen. Und nicht zuletzt in sich selbst zur Ruhe zu kommen und eine Richtung einzuschlagen, die durch den eigenen Willen bestimmt wird.

Daher hatte sie heute das ganze Haus für sich allein und demzufolge reichlich Platz für ihre eigenen Interessen. Ihre Büchersammlung füllte sowohl die Regale des Wohnzimmers als auch den hübsch eingerichteten Keller. Ihre vielen Bücher waren die Seele des Hauses. Sie war daher stets in bester Gesellschaft. Vielmehr noch ließen aber die Baukunst des Hauses sowie die vielen ­Gemälde und Lithografien den Besucher Hören und Sehen vergehen. Einen Großteil der Kunstwerke, die ihre Wände zierten, hatte sie selbst angefertigt, aber sie war auch von wertvollen Originalen umgeben. Díðrikur av ­Skarvanesi, Mikines, Ruth Smith, Hans Hansen, Jack Kampmann und Frida Zachariassen gestalteten ihr zu Hause zu einer nahe­zu göttlichen Sammlung.

LINA VALARÁ LIEF unruhig hin und her. Sie konnte es nicht mehr länger aufschieben. Nein, es musste endlich ausgesprochen werden: »Eure Mama ist krank. Sie hat Krebs.« Gott im Himmel. Was für eine Botschaft, die sie ihren Liebsten überbringen musste. Ihr Mann war auf See, und die Jungen lebten bereits ihr eigenes Leben. Aber ihre Familie sollte es unter allen Umständen zuerst erfahren. Und zwar bevor ihre Freundinnen aus dem Strickclub beginnen würden, Verdacht zu schöpfen und Fragen zu stellen.

Lina saß allein am Wohnzimmerfenster und blickte hinaus in den grauen Tag. Sie hatte das weiße Schriftstück zurück in den Umschlag gesteckt und diesen in eine Schublade gelegt, in der sich ansonsten bezahlte Rechnungen, Versicherungsunterlagen und diverse Ausweise befanden. Es tat gut, die Wahrheit zu verstecken. Aber nur noch über dieses eine Wochenende. Dennis würde am Montag oder Dienstag zurückkommen. Zuerst würden sie sicher zusammen weinen, aber dann würden sie sich zusammenreißen und den Jungen erklären müssen, wie es tatsächlich um sie bestellt war. Ob das das Ende bedeuten würde? Ihr letztes Weihnachtsfest? Sie hatte schon länger eine Vor­ahnung gehabt. Jetzt aber wusste sie, dass der Knoten, den sie unter der einen Brust gespürt hatte, bösartig war. Dass sie eine Geschwulst in sich trug, die sich ausbreiten und in ihre Leber oder auch ihre Bauchspeicheldrüse fressen könnte, wenn sie sich nicht so schnell wie möglich einer Operation unterziehen würde. Die Diagnose hatte sie im Reichskrankenhaus in Kopenhagen erhalten, wo sie sich im Zuge eines Seminars über Krebstherapien selbst hatte untersuchen lassen. Ziel der Schulungsmaßnahme war es gewesen, das Pflegepersonal auf den Färöer-Inseln hinsichtlich der medizinischen Entwicklung in Sachen Behandlung und Genesung von Krebspatienten auf den neuesten Stand zu bringen. Eigentlich hatte ihre persönliche Kontroll­untersuchung keine große Sache werden sollen. Sie hatte lediglich ihre Bedenken loswerden und die Wahrheit erfahren wollen. Sie arbeitete bereits seit 20 Jahren in der Krankenpflege und war sich darüber bewusst, dass man eine Krebserkrankung durchaus besiegen und wieder völlig gesund werden konnte. Voraussetzung war allerdings, dass die Krankheit rechtzeitig erkannt wurde und man in einem frühzeitigen Stadium mit der Behandlung beginnen würde.

Lina stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie war erst 43 Jahre alt. Zusammen mit Dennis wollte sie das Leben genießen und die Welt erkunden. Für das Frühjahr hatten sie eine Kreuzfahrt in die Karibik geplant. Es gab noch so viele interessante Orte, die sie besuchen und erleben wollte. Seitdem ihr Mann seit einigen Jahren die Möglichkeit ­hatte, mit einem modernen Tiefseetrawler auf Fangreise zu gehen, war ihre finanzielle Lage besser denn je. Das Haus war abbezahlt, und auch sie hatte einen guten Job im Krankenhaus. Lina legte ihre linke Hand auf die rechte und tastete nach dem Ehering, den sie in all den Jahren an ihrem Finger trug. Sie glaubte, immer eine gute und treue Ehefrau gewesen zu sein, auch wenn sie nicht jeden Tag über diesen Vorsatz nachgedacht hatte. Aber sie fühlte sich geliebt, und das war das Wichtigste. Sie war keineswegs bereit, schon jetzt zu sterben. Nein, ganz bestimmt nicht. Sie nahm sich vor, den Kampf anzunehmen, dem sie nun ausgesetzt sein würde. Sie hoffte, dass ihr noch viele gute Jahre vergönnt sein würden. Sie wollte mitbekommen, wie sich ihre Söhne ihr eigenes Zuhause aufbauten. Erleben, Oma zu werden. Es gab so viel im Leben, an dem man sich erfreuen konnte. Es war immerhin ein kleiner Trost, dass sie noch lebte und keinen körperlichen Schmerz verspürte. Deshalb wollte sie nun weder Trübsal blasen noch das Wochenende ungenutzt verstreichen lassen. Sie atmete tief durch. Was hatte sie sich auf die große Strickclubparty im Hotel Atlantis gefreut. Auf die gemeinsame Tafelrunde, das Zusammensein mit den anderen, den späteren Tanz und die Übernachtung vor Ort. Da es möglicherweise die letzte große Feier ihres Lebens sein konnte, war sie fest davon überzeugt, dass sie dabei sein musste.

Lina saß im Wohnzimmer und starrte auf ihre kalt gewordene Tasse Tee. Die ganze Zeit versuchte sie, sich einzureden, dass sie glücklich wäre. Aber das war wahrlich nicht einfach. Sie fühlte sich permanent angegriffen. Sie hatte das Gefühl, als würden durch sämtliche Türen dunkle Gedanken auf sie zuströmen, mit der Absicht, ihren angeschlagenen Körper und ihre Psyche zu attackieren. Es war schier unmöglich für sie, zur Ruhe zu kommen. Sich hinzusetzen. Immerzu meinte sie, etwas tun oder über irgendetwas nachzudenken zu müssen. In ihrem bisherigen Leben war sie weitgehend von Krankheiten und Sorgen verschont geblieben. Sie selbst hatte nie einen wirklichen Grund gehabt, zu ­klagen. Ihrem Strickclub dagegen hatte das Schicksal gerade im ­letzten Jahr übelst mitgespielt. Es grenzte nahezu an ein Wunder, dass sie alle noch lebten. Maria war in einer Dezember­nacht 2016 nur Sekunden davon entfernt gewesen, zu ertrinken. Und ein halbes Jahr später war Bjørg in den Klauen eines irrsinnigen Mörders gelandet. Sie hatte mehr Glück als Verstand gehabt, dass auch sie ­überlebte. Schon im September hatte Bjørg wieder begonnen, zu arbeiten. Den ganzen Sommer über war sie in die Berge gegangen und hatte ihre Runden gedreht. Sie hatte das als körperliche Wiedergenesung und Balsam für ihre geschundene Seele empfunden. Da sie sich bei vollem Bewusst­sein durch diese erschütternden Ereignisse hatte hindurchkämpfen müssen, hatte sie es auf Biegen und Brechen vermeiden wollen, dass ihre traumatischen Erlebnisse in ihrem Körper Wurzeln schlugen. Bjørg sprach so wenig wie möglich über die Grausamkeiten, denen sie als Geisel eines furchtlosen Mörders, der ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebundenen hatte, ausgesetzt gewesen war. Die färöische Natur war ihre Rettung gewesen. Die frische Luft, das Meeressalz und die Höhe des Himmels. Und dennoch würde sie wohl Zeit ihres Lebens von Schweißausbrüchen und Albträumen geplagt werden. Das war ihr bewusst. Auf der anderen Seite gab es so viele Dinge, für die sie dankbar war und es sich lohnte, zu leben. Bjørg hatte zwei Kinder, einen netten Mann und eine abwechslungsreiche Arbeit.

Lina dachte wieder an sich selbst. Plötzlich erschien ihr alles so ungerecht. Warum musste ausgerechnet sie in so jungen Jahren von einer Krebserkrankung getroffen werden? Ihr war jedoch klar, dass sie diese Frage nicht weiterbrachte. Sie musste sich jetzt vielmehr selbst überzeugen, dass sie mit der Geschwulst schon fertig werden würde und durchaus in der Lage war, alle erforderlichen Kräfte zu mobilisieren, um die Therapie unbeschadet zu überstehen. Ihre Herausforderung für das ­Wochenende lag nun darin, die große, gemeinsame Party, bei der eine Vielzahl von Strickclubdamen aus dem ganzen Land zusammen­kommen würden, einigermaßen genießen zu können. Sie strich sich mit den Fingern durch ihr dichtes Haar. Wie würde es jetzt weitergehen? Fürs Erste sollte sie nun alle Gedanken zum Thema Krebs und Chemo­therapie von sich weisen. Sie zwang sich zu einem leichten Lächeln, und das machte ihr Mut.

DAS BLUT RANN ihm aus dem Mundwinkel. Nun kam diese entsetzliche nervliche Anspannung wieder zurück. Wo war Inga heute Abend geblieben? Sie war seine ­große prosaische Liebe. Lebendige erotische Kunst. Eine vaginale Rhythmusbox, durch die die Poesie ihren Sinn bekam. Seine unersättliche Lesenymphomanin. Das intellek­tuelle Brunstaroma für die Männerwelt. Sie würde seinen Tod in Vorlesungen und Abhandlungen verarbeiten und ihm so innerhalb der Literaturgeschichte das ewige Leben schenken. Sie waren gemeinsam durch die Länder und über die Meere dieser Welt gereist. Hatten in berühmten Konzertsälen gesessen und die Kunst­museen in Paris, Rom und London besucht. Er hatte das als sehr interessant, aber auch als anstrengend empfunden. Philosophische, geschichtliche und kulturelle Themen würden den aufgeklärten Menschen immer und ewig beschäftigen. Inga und er hätten so ein schönes gemeinsames Leben führen können. Es wäre möglich gewesen, auf der Champs-Elysées zusammen zu frühstücken oder ein Glas Wein zu genießen und in Griechenland gemeinsam in den Sternenhimmel zu blicken. Er erinnerte sich daran, wie sie schweißüberströmt auf die Akropolis in Athen gestiegen waren und in aller Kälte einen Spaziergang über den Roten Platz in Moskau gemacht und sich dabei über Lenin und den Umschwung des kommunistischen Systems ­unterhalten hatten. Es würde wohl auf knallhartes Betondenken hinaus­laufen, waren sie einer Meinung gewesen. Wer in dieser neuen Gesellschaftsform der Freund und wer der Feind sein würde, bliebe noch abzuwarten. Der Hochmut der Menschheit kenne eben keine Grenzen. Nach dem Besuch der Pyramiden Ägyptens hatte sie ihre Reise weiter nach Indien geführt. Genauer gesagt zum Taj Mahal, wo der wohlhabende Shah Jahan durch gnadenlose Sklavenarbeit eine unfassbare ­Ruhestätte für seine ­Lieblingsfrau hatte bauen lassen. Es war ihnen auch vergönnt gewesen, zusammen Amerika zu erleben. Die Freiheitsstatue in New York und die Armen­viertel ­Manhattans zu sehen. Sie hatten vor dem Haus John Lennons gestanden und die Straße besucht, auf der der gefühlvolle und doch provokante Musiker von einem wahnsinnigen Anhänger erschossen worden war. Es war so schwer, sich nun von allem trennen zu müssen. Von diesem ­zeitweise verhassten und doch so kostbaren Leben. Leider hatte er es nie geschafft, in den Grand Canyon zu kommen. Er spürte, wie das Blut langsam seine Adern verließ und er sich auf dem Weg in den Abgrund befand. Dunkel erinnerte er sich daran, dass er irgendwo in der Wohnung etwas gehört oder gesehen hatte. Irgendetwas, das sich vor und zurück bewegte. Oder war das jetzt reine Illusion? Die weinende Sonne des Lebens war dabei, in den pechschwarzen Horizont zu versinken. Tóki atmete schwer und versuchte, sein Gehirn noch einmal zum Leben zu erwecken. Und ging dabei erneut auf Reisen.

Sein Weg führte ihn zur Grabstätte Pablo Nerudas in Chile. Es gab Orte auf der Erdkugel, die man unbedingt einmal erlebt haben sollte, ehe die eigene Sanduhr ablief. Ebenso gab es Dichter und Idealisten, denen man niemals genug Respekt zollen konnte. Die Tatsache, dass ­Neruda, der beliebte chilenische Schriftsteller und Empfänger des Literaturnobelpreises, im Anschluss an Augusto ­Pinochet Machtübernahme 1973 nur noch wenige Tage zu leben hatte, war für ihn unvorstellbar. Auch heute noch erscheint vielen das Schicksal des damals 69-jährigen Autors rätselhaft. Es ist nie herausgekommen, wie er wirklich zu Tode kam. Ob er krank war oder vergiftet wurde. Neruda, der sich selbst als Präsidentschaftskandidat für die kommunistische Partei ins Gespräch gebracht hatte, es dann aber vorgezogen hatte, Salvador Allende auf demo­kratische Weise zu unterstützen, soll von Trauer und Misstrauen gezeichnet gewesen sein, als er den gewalt­tätigen, gnadenlosen Putsch hatte mit ansehen müssen. Damals waren Tausende Chilenen von herzlosen Soldaten verfolgt und getötet worden, als diese von Haus zu Haus gingen, Menschen auf der Straße niederschossen und Druckereien, Verlage und Geschäfte in Beschlag nahmen. Eine Gruppe von faschistischen Teufeln und Dreckskerlen, die sich später auf den Marktplätzen der Städte trafen und marxistische Schriften in Flammen aufgehen ließen.

Ein wunder Punkt in der Geschichte Chiles, der sie beide aber sehr beeindruckt hatte. Vor allem auch aufgrund der Worte, die der angesehene Dichter in all seiner Aussichtslosigkeit gesagt haben soll.

Seht euch ruhig um. Es gibt nur eine Sache hier, die euch gefährlich werden könnte.

Die Poesie!

WENN ICH BRIEFE schreibe, dann schreibe ich sie aus Leiden­schaft. Ich stamme aus einer Zeit, in der Kugelschreiber und Schreibmaschine noch als das Werkzeug schlechthin galten. Immer wieder habe ich mich für zeitgemäße Ideologien begeistern können. Ja, und für Schriftsteller, die in ihren Dachgeschossen oder Gauben saßen und ihr kostbares Papier mit großen Gedanken und Gefühlen füllten. Ich bin voller Demut, wenn ich an das Zeitalter der Romantik denke, als gott­begnadete Komponisten mit ihren Griffeln symphonische Meisterwerke auf die Notenblätter brachten. Ich sehe Mozart und Beethoven vor mir. Die ersten Klaviere. Finger, die Geigen streichen und auf Cembalos spielen. Und schöne Blasinstrumente. Ich höre die klaren Töne. Klarinetten und hohe Oboen. Sehe fein geschmückte Festhallen und kulturell gebildete Leute, denen man nachsagte, dass sie nur zuzuhören brauchten, um die ganze Schönheit zu verstehen, die die Rokokozeit und klassische Musik zu bieten hatten. Aber selbst ein Wolfgang Amadeus Mozart, das ­größte Wunder­kind und Genie von allen, musste in dieser aristo­kratischen Welt, die von der Vorherrschaft gut situierter ­Barone und hinterlistiger Ratsherren bestimmt war, einen Großteil seines Lebens darum kämpfen, ein angemessenes und würdiges Einkommen zu beziehen. So ist es eigentlich schon immer gewesen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Selbst im Zeitalter der Aufklärung, als Werte wie Demokratie und Humanismus mehr und mehr Zuspruch gewannen.

Ich selbst bin ein Kind des 20. Jahrhunderts. Damals war die Welt noch anders. Die Färöer-Inseln bekamen Elektrizität und Telefon. Motorboote begannen, aufs Meer hinauszuziehen. Die ersten Autos kamen ins Land. Aber auch die Engländer fanden den Weg hierher. Um das Land gegen Hitler und den National­sozialismus zu verteidigen. Meine Eltern waren Kinder, als der 2. Weltkrieg tobte. Sie verlebten ihre Jugend in den Fünfzigern, also nach der Blütezeit des Jazz und vor Elvis. Sie gingen ins Schauspielhaus zum Tanzen. Möglicherweise war es nach einem jener populären Abende, bei denen die färöischen Tanzbands ›Gággan‹ oder ›Tey av Kamarinum‹ aufspielten, als ich ins Blickfeld kam. Ich wurde mitten in einer Epoche geboren, die als Beatlemania bezeichnet wurde. Und wuchs auf, als ABBA ihren Höhepunkt erlebte. Kam im selben Jahr zur Schule, als Elton John ‘Rocket Man’ sang. Lange Zeit war er eines meiner großen Vorbilder. Aber sein Stil entspricht nicht mehr dem meines eigenen Lebens. Heute gebrauche ich in erster Linie meinen Heimcomputer und das E-Piano, das bei mir im Wohnzimmer steht.

Aber jetzt fühle ich mich einsam. Es gibt keine Familie, um die ich mich zu kümmern habe. Das Glück meiner Eltern hielt nicht lange an. Vielleicht war ich ja ihr Problem. Oder war es die fehlende Sesshaftigkeit, die man der Familie meines Vaters nachsagte? Sein Lebenswandel war alles andere als vorbildlich. An einem kalten Sonntagmorgen wurde er mit einer fremden Frau im Bett erwischt. Sie hatten es wohl schon länger miteinander getrieben, ehe ihre Sünden ans Tageslicht kamen. Obwohl meine Mutter meinen Vater auf die Straße setzte und ihm den Befehl erteilte, sich nie wieder im Landavegur – wo ich die ganze Kindheit über gewohnt hatte – blicken zu lassen, verschwand er nicht wirklich aus unserem Leben. In all den Jahren kam er weiter regelmäßig zu Besuch. Als ich vierzehn war und konfirmiert wurde, war meine Mutter wieder in Umständen. Die meisten sagen, dass meine Schwester und ich unserem Vater ähneln. Als meine Mutter 2014 starb, dauerte es nur zwei Wochen, bis er ihr folgte. Trotz aller Untreue und Reibereien war ihr Band der Liebe offensichtlich unzerreißbar stark gewesen.

Ein Leben kann sich in viele Richtungen entwickeln. Wehmütig blicke ich auf die vergangenen Jahre zurück. Eigentlich mache ich das viel zu selten. Leider. Zu sehr bin ich mit meiner eigenen Person und dem beschäftigt, für das ich brenne. Hoffentlich wird es mir gelingen, meinen Beruf und mein Hobby weiter auszuüben. Das wird bestimmt nicht einfach, denn ich bin zurzeit ziemlich von der Rolle. Mein Kopf ist voller kranker und unerlaubter Gedanken. Der gefährliche Mann in mir, den ich viele Jahre lang im Käfig halten konnte, läuft wieder frei herum. Er ist bereit, sich an die Arbeit zu machen.

Ob mich mein tränenreicher Brief noch retten kann? Mein unbekannter Leser ist mein Seelenhirte. Ich schreibe in erster Linie, um mich selbst zu finden. Wie damals in meinen jungen, sorglosen Jahren. Denn das Wort hat schon immer Macht gehabt. Aber damals glaubten wir noch an das ewige Glück und eine gute Zukunft. Zusammen.

IN EINER DER kleinsten Hauptstädte der Welt. Die zu den Ältesten Nordeuropas zählt. In einer Stadt, die nach dem norrönen Götternamen Thor und seinem natur­schönen Hafen benannt worden ist. Dort, wo die ­Wikinger ihr Thing abhielten und später Handelsschiffe an den Bojen lagen. In den Straßen und Gassen, in denen die färöische Bevölkerung schon seit Jahrhunderten Volksfeste veranstalten. Im Zentrum des Atlantiks, in dem seit dem Mittelalter Traditionen wie färöischer Tanz und Walfang aufrechterhalten werden. Unter blauem Himmel, mit dem Blick auf das graubleiche Meer. Auf diesen unbekannten sogenannten Schafsinseln. Mitten in einer lebendigen Speisekammer. In einem faszinierenden und grünen Gebirgsland. Unspoiled. Unexplored. Unbelievable. Wie es im Werbeslogan heißt. Nur fünf Minuten vom Rathaus entfernt. Und vom Parlament, von wo aus die Wurzeln der Demokratie sich verzweigen und gedeihen. Und Entscheidungen für das Land und ihre Bewohner getroffen werden. Sowohl für den Einfachgestrickten als auch den Intellektuellen. Für ein kleines Volk. Söhne und Töchter. Ein- und Auswanderer. Und für die, die wir als ›unsterblich‹ bezeichnen. In der Nähe des Friedhofs. Jenseits des schmucken Messingportals, das nur einen einzigen Namen am Briefkasten trägt. Inga Einarsdóttir. In einem gemütlichen Lesezimmer. Mit tiefen Arne-Jacobsen-Sesseln und einem gehobelten Sprossenfenster, das einen Ausblick auf einige gutgewachsene Buchenbäume gewährt. Zwischen Schönem und Erdichtetem. Unheilverkündendem und Tatsachen … Dort klingelte ein schwarzes, antikes Telefon.

Der aufbrausende, aggressive Ton dröhnte durch das ganze Haus. Inga schrak zusammen. Da sie gerade keinen gesteigerten Wert darauf legte, gestört zu werden, hatte sie ihr Handy ausgeschaltet. Aber dann legte sie die Gedichtsammlung doch zur Seite. ›Die Blumen der Sünden‹ mussten warten. War er es? Das Herz in ihrer Brust begann, zu pochen.

Inga hielt sich den Hörer ans Ohr. Am anderen Ende begrüßte sie eine Frau. Sie hatte vor, mit ihr über die diesjährige Strickclubparty zu sprechen. Sie brauchten einen Gastredner. Am liebsten eine bekannte Person, die es verstand, zu sticheln, gleichzeitig aber auch imstande war, interessant und humoristisch herüberzukommen. Die Leitung stand unter Hochspannung. Inga zögerte ihre Antwort mit Absicht hinaus. Sie konnte es sich erlauben, die fremde Frau eine Weile zappeln zu lassen. Ob sie sich wirklich darauf einlassen sollte? … Laut Kalender war sie über das Wochenende zu Hause und hatte am Samstagabend auch keine anderweitigen Termine. Benötigte die Frauenwelt der Färöer so kurz vor Weihnachten nicht dringend einen kulturellen Weckruf? … Inga gab ein wohlwollendes Lachen von sich.

Die Frau am Telefon fragte sie erleichtert nach ihren Honorarvorstellungen. Kultur und Unterhaltung seien heutzutage nicht mehr kostenlos, entgegnete Inga. Aber diesbezüglich würden sie sich schon einig werden. Eine solche Veranstaltung würde natürlich eine gewisse Vorbereitung erfordern. Ob sie mit 5.000 Kronen auf einer Wellenlänge lägen? Nein, das sei nicht zu viel verlangt. Wunderbar. Es sei großartig, dass Inga bereit sei, zu kommen. Und die Frau bedankte sich ein weiteres Mal.

*

Inga legte schmunzelnd den Hörer auf die Gabel. Vielleicht hätte sie es ablehnen sollen, sich auf dieses Niveau herabzulassen. Als ihr die Frau am Telefon anfangs ­erklärte, ­worum es ginge, hatte Inga sogar geglaubt, es handele sich um einen Joke. Dass sich irgendein Radioteam einen Spaß mit ihr erlaubt hätte. Aber als ihr dann die Wahrheit aufgegangen war, hatte sie sich auf einmal geschmeichelt gefühlt und dazu verleiten lassen, das Angebot anzunehmen. Dieses Engagement verschaffte ihr immerhin die Möglichkeit, sich für einen Abend auf das Level einer Herde färöischer Strickclubdamen zu begeben, die es wohl wert waren, in ihrem zunehmenden Rausch näher in Augenschein genommen zu werden.

Jeder wusste, dass billige Popmusik und einfache Unter­haltung sie nur langweilten. Sie war vielmehr auf der Suche nach ausgefallener, wagemutiger Kunst. Wahres Können begann für sie an der Schwelle zum Unmöglichen. Nur durch grenzenloses Leiden könne der Wahrheit auf den Grund gegangen werden. Die Fähig­keit, die Dinge korrekt einzuschätzen, sei die Mutter einer jeden Kultur. Der Aphorismus. Der Gedanke und das Ereignis. Alles komme von innen. Die schöpferische Geistes­wissenschaft, die selbst der Färinger eines Tages annehmen werde. Die alles Sterbliche überleben und Ausnahmekünstler produzieren würde, die von kommenden Generationen noch im Rückspiegel bewundert werden würden. Davon war sie fest überzeugt. Auf ihrem Nachttisch lag das Nachschlagewerk ›Art History and Cultural Life‹. Sie las über die Kulturvorstellungen, die der Färinger besaß, bevor er die Bedeutung des Wortes erfasste. Auf ihren zahlreichen Auslandsreisen hatte sie unglaublich schöne und beeindruckende Dinge erlebt. Es war ihr wichtig, diesen Eindrücken auch öffentlich Ausdruck zu verleihen. Aber auch auf den Färöer-Inseln waren ihr tüchtige und wahre Ästheten ins Auge gefallen. Die Bildern Perspektive und Worten Ruhm verschafften. Bei einzelnen Schriftstellern, Musikern und Künstlern war der Horizont eben größer, der Himmel höher und die Gedanken tiefer als bei anderen. Selbst ein kleines Land brauchte echte Fachleute. Niemand konnte so gut beurteilen wie sie, was niveauvolle Kunst tatsächlich bedeutete. Ja, darüber würde sie vor den Leuten sprechen können. Falls sich überhaupt jemand für ihre Meinung interessierte. Ihre eigene Person wollte sie dabei keineswegs unerwähnt lassen. Sie war schließlich eine tüchtige und anerkannte Trendsetterin, sowohl im In- als auch im Ausland. Immer wieder wurden ihr interessante Einladungen zuteil. Sie empfand ihr Leben als eine kulturell reiche Reise.

Inga ging in die Küche und zündete den Teekessel an. Es war herrlich, es sich vor dem alten, glutheißen Radiator gemütlich zu machen, denn er verbreitete eine wunderbare Wärme. Draußen war es kalt und unangenehm. Ein langer, dunkler Winter stand vor der Tür und peitschte bereits gegen das gemütliche Holzhaus im Zentrum der Stadt.

Sie klappte ihren Laptop auf und begann, zu schreiben. Es war ihr nie schwergefallen, Tatsachen in Worte zu fassen. Oder war es eher umgekehrt? Wurde das, über das sie sich Gedanken machte, allein durch ihre Niederschrift schon zu einer Art Realität?

IM AUGENBLICK WAR er wieder bei Bewusstsein. Seine Hirnzellen waren noch einmal zum Leben erwacht, doch es nützte ihm nichts. Sein Körper wollte die Anweisungen seines klugen Kopfes nicht entgegennehmen. Und es gab niemanden, den er herbeirufen und um Hilfe bitten konnte. Er lag zu Hause in seinem eigenen Dreck.

Vor sieben Jahren hatte er bei einer nordischen Preisverleihung in Reykjavík in einem traditionellen dunkelbraunen färöischen Strickpullover mit Knöpfen auf der Bühne gestanden und den Literaturpreis ausgehändigt bekommen, mit dem er ausgezeichnet worden war. Im Grunde mochte er es nicht, im Rampenlicht zu stehen und wie ein öffentliches Standbild auf seine Enthüllung zu warten. Als Schriftsteller blieb es ihm jedoch nicht ganz erspart, ab und an bei diesen aufgesetzten Komödien mitspielen zu müssen. Er hatte damals vorgehabt, seinen im Vorfeld ohnehin schon zweifelhaften Ruf noch weiter auszuschmücken, indem er der Veranstaltung fernblieb. Aber Inga Einarsdóttir, seine eigene kunstgelehrte Inga, der einen großen Teil der Ehre dafür gebührte, dass er für diesen würdevollen Preis nominiert worden war, hatte ihm die Leviten gelesen. Ihre verbale Tracht Prügel hätte weder von seinem Vater, seiner davongelaufenen Frau noch vom Druck der Gesellschaft getoppt werden können. Denn auch für sie hatte eine Menge auf dem Spiel gestanden. Sie selbst vertrat die Färöer in dem für die Verleihung zuständigen Auswahlkomitee und legte großen Wert darauf, ihrer Rolle gerecht zu werden. Das müsse ihm doch klar sein, hatte sie ihm klipp und klar zu verstehen gegeben. Und so war ihm keine andere Wahl geblieben, als sich ihrem Druck zu beugen und bei der Preisverleihung dann doch zu erscheinen. Worüber er jetzt nachdächte, hatte sie kurz nachgehakt. Nein, nein, es gäbe nichts, das weiter diskutiert werden müsse, hatte er klein beigegeben.

Aber als er dann in Reykjavík stolz wie Oskar hinauf auf die Bühne schritt und mit Reden, Rosen und Goldmünzen überschüttet wurde, hatte ihm das dennoch ein gutes Gefühl gegeben. Er musste sich selbst eingestehen und in aller Öffentlichkeit zugeben, dass ihm diese Form der Anerkennung nur allzu gut gefallen hatte. Sie hatte ihn sozusagen in einen Rausch versetzt. Der Preis hatte in ihm aber auch eine gewisse Überheblichkeit ausgelöst. Er war ihm zu Kopf gestiegen. Im Nachhinein hatte er erwartet, dass seine Bücher ins Englische und Französische übersetzt würden. Dass er an der Schwelle zum inter­nationalen Durchbruch stünde. Aber jenseits der Landesgrenzen schlugen seine Worte keine Wurzeln. Und so hatte sich ein Gefühl von dichterischer Abstinenz eingestellt. Die Erkenntnis, dass das Interesse unter Journalisten und in literarischen Kreisen nach und nach im Meer der Zeit versank.

Aus der Wohnung unter ihm dröhnten Bässe durch die Betondecke. Es musste Wochenende sein, denn das dänische Paar ließ laute Musik durch ihre Boxen schallen. Er hatte versucht, mit seiner immer schwächer werdenden Hand auf den Boden zu klopfen. Aber nicht, um die Musik zum Schweigen zu bringen, sondern nur, um um Hilfe zu bitten. Seine armseligen Notrufe wurden jedoch von niemandem gehört. Ihm war, als hätte die Verwesung seines Körpers bereits begonnen. Er würde wohl keine schöne Leiche abgeben. Früher hatte er einmal davon geträumt, jung zu sterben. Zum Club der Schriftsteller, Musiker und Sänger zu zählen, denen die eigentliche Kunst mehr bedeutete hatte als ein Leben, das nur vom Rühren der Werbetrommel geprägt war. Robert Burn, Jimmy Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison waren einige der Vorbilder, auf die er in seiner Jugend große Stücke gehalten hatte. Nachdem Kurt Cobain als Vertreter seines eigenen Jahrgangs 1967 schon mit 27 sein ewiges Nirvana gefunden und Amy Winehouse viele Jahre später das Künstlersterben im Jugendalter fortgeführt hatte, würde in Kürze also auch sein ekelhafter, alter Schlachtkörper von sich übergebenden Rettungssanitätern hochgehievt werden müssen. War er wirklich derartig einsam, dass er hier nun schon seit mehreren Tagen lag, ohne dass ihn jemand gefunden hatte? Seine Haut hing wie in toten Klumpen über den Kieferknochen, seine Lippen waren trocken, und seine starrenden Augen quollen aus dem Schädel heraus. Das Erbrochene in seinem halblangen Bart war mittlerweile hart geworden. Er war nicht mehr in der Lage dazu, seinen Schmerz zu spüren. Alles war dabei, allmählich zu verblassen. Oben über seinem Kopf leuchtete nach wie vor die grelle Lampe, während unter seinem kahlen Hinter­kopf die Bässe dröhnten. Es kam ihm vor, als würde er sich selbst zum Grab begleiten. Aber warum war sie nicht gekommen und hatte ihn besucht? So wie sie es vereinbart hatten? Oder war sie es gewesen, die er in der Ferne gehört und verschwommen gesehen hatte?

Der letzte Rest seines Gehirns war kurz davor, den Geist aufzugeben. Ihm wurde schwindlig. Seine ­Vorahnung hatte sich bewahrheitet. Er hatte gewusst, dass er sterben würde. Es stand so schlecht um ihn, dass er am liebsten eine Grabrede für sich selbst halten würde. Dabei sollte er unbedingt den Zyniker erwähnen. Diesen Typ Mensch, der im eigenen Leben auf vieles trifft, das ihm nicht gefällt, dieses aber am liebsten auf andere überträgt. Dieses Wesensmerkmal sollte ihn bis zum letzten Atemzug begleiten. Seine geistige Stütze sein. Das Geländer, an das er sich anlehnen konnte und das ihm auf seiner Reise ins Totenreich, wo ihn die größten Dichter aller Zeiten wie König Salomon, ­Shakespeare, ­Dostojewski und Dante willkommen heißen würden, Halt geben würde.

Der Tod ist ein Vagabund

umgeben von ungläubigen Jüngern

die am Hofe Gottes

mit Petrus und dem Teufel die Religion diskutieren

2. September 1988

Liebe Inga

Hoffentlich bist Du gut in Frankreich angekommen. Nach all dem, was passiert ist, wird es Dir guttun, Dich für eine ­Weile davonzumachen. In Nizza scheint sicher die Sonne. Wie ich es verstanden habe, sind die Trauben schon reif für die Ernte. Hier zu Hause regnet es. Und auch an meinem persönlichen Himmel treiben nach wie vor dunkle Wolken. Aber in der ­Ferne kann ich, wenn auch nur undeutlich, zumindest eine kleine Auf­lockerung erahnen.

Obwohl wir uns erst vor einer Woche verabschiedet haben, kommt es mir vor, als sei bereits ein voller Monat oder gar ein ganzes Jahr vergangen. Ich sehne mich nach Dir, und Du wirst für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Du weißt ja, wie ich denke und fühle. Ich hatte mir gewünscht, dass Du bei mir auf den Färöer-Inseln bleibst. Dass wir Geld für eine lange gemeinsame Trekking-Tour sparen würden. Wir hatten davon gesprochen, zusammen Indien und Nepal zu erleben. Uns Inspiration aus einem fremden Kulturkreis zu holen, indem wir den Fußspuren des Dalai Lama und des Beatles Georg ­Harrison folgten. Unsere Augen mit der Schönheit einer anderen Welt füllten. Ziellos in Richtung der höchsten Berge der Welt bummelten und durch die Täler der Sinne wanderten. Glaub mir, Inga, irgendwann werden wir den Rucksack packen und zusammen das Weite suchen. Die Welt ruft uns. Du hast Dich nun schon auf den Weg gemacht. Und ich verstehe Dich gut.

Unser schöner Sommer geht langsam zur Neige. Er begann mit so viel Freude und Spaß, aber er wurde uns beinahe zum Verhängnis und endete in einem dänischen Krankenhaus. Ich glaube aber, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Alles zu seiner Zeit. Du sollst deine Ausbildung machen, und ich werde meine Kräfte für ein neues Projekt ­einsetzen. Aber irgendwann werden wir uns die Welt zu Füßen legen. Und später werden wir Kinder haben und ihnen Zeit und ein Zuhause schenken können. Im Moment gilt es jedoch, all die anderen spannenden Dinge des Lebens mitzunehmen. Und so liegst Du zweifellos richtig damit, schon jetzt nach Frankreich zu gehen. Du hattest ja immer davon gesprochen, dass Du Französisch lernen und Dich mit der dortigen Kultur vertraut machen wolltest. Ich werde niemals diesen einen romantischen französischen Abend bei Euch zu Hause vergessen. Als Deine Eltern Urlaub in Dänemark machten und wir das ganze Haus für uns allein hatten. Da hast Du bewiesen, meine Liebste, welch guten Stil das Stadtmädchen pflegte. Alle Gäste waren begeistert, und ich war stolz wie ein Papst. Weißwein, Frischkäse, ja, eine ganze Käseplatte, Würstchen und Pommes. Und all das andere dazu.

Nächste Woche werden wir übrigens ins Studio gehen und die Songs aufnehmen. Unsere Freunde vermissen Deine Stimme. Aber ich sehne mich genauso nach Deinem Lächeln, Deinen Umarmungen und Deiner Liebe. Hoffentlich höre ich bald von Dir. Je t’aime.

Alles erdenklich Gute!

Dein geliebter Freund

DIE REDE FÜR die Strickclubparty stellte keine besondere Herausforderung dar. Sie beherrschte die Kunst des Schreibens, auch wenn ihr erster Roman noch auf sich warten ließ. Dank ihrer lebendigen, bildreichen Sprache gelang es ihr wie kaum jemand anderem, das tragi­komische menschliche Dasein aufs Korn zu nehmen und so die Gesellschaftsstruktur der Inseln zu beleuchten. Unter anderem am Beispiel des einfältigen Fischers draußen auf dem Atlantik, der sich von freundlichen Handelsleuten und schleimigen Politikern immer wieder in die Irre führen ließ, indem er ihnen Glauben schenkte. Die meisten Färinger hatten nach wie vor ein relativ niedriges Bildungsniveau. Je höher die Berge, desto größer die Beschränktheit. Dort, wo die Landschaft frei und offen ist, ist es eindeutig leichter, den Horizont zu sehen. Sie duldete kein Drumherumreden. Stets offenherzig und treffsicher vertrat sie die Ansicht, dass die Fakten einer Rede nicht zu brav verpackt werden durften. Ein Staat, der Ambitionen zeige, sich selbst tragen zu wollen, erfordere eine intellektuelle Bevölkerung, in der nicht nur jeder hinter dem anderen herlaufe, begründete sie ihren Standpunkt. Sie selbst beharrte auf ihrem Recht, über alles, das sowohl sie als auch alle anderen Bürger des Landes möglicherweise zu klügeren Menschen machen könnte, frei denken, lesen, sprechen und schreiben zu dürfen. Sie fand, dass ihre ehrliche Meinung ein bedeutender Teil der Demokratie sei. Schon seit vielen Jahren nahm sie sich die Freiheit, ihr eigenes Urteil zu Büchern, Theaterstücken, Kunst und Musik zu veröffentlichen. Der Ministerpräsident hatte sie in einer Rede einmal als die Kulturkönigin des Landes bezeichnet, und das hatte ihr zu einer besonderen Position und Ehre innerhalb der Gesellschaft verholfen. Sie hoffte, diesem Ansehen gerecht zu werden. Die Kunst war schon immer ihr liebstes Kind gewesen.

Alles, was auf den Färöer-Inseln gesungen und aufgenommen wurde, war in ihren Augen nahezu lächerlich. Jeder Zweite verfügte über ein eigenes Heimstudio und meinte, das Johnny-Cash-Gen in sich zu tragen. Bei den meisten der Songs handelte es sich jedoch um nichts Wertvolleres als einfache Sonntagsschultexte oder die Wiederaufbereitung längst in der Versenkung verschwundener Ideen. Lieder, die meist nur wenig zu sagen hatten. Inga lachte spöttisch vor sich hin. Kennst du einen Musiker, kennst du alle. Gleiches galt für alle die, die meinten, malen zu können, nur weil sie in ein oder zwei Wintern Abendschulkurse für Bildkunst belegt hatten. Eigentlich hätte man meinen sollen, dass das Jantegesetz, das im Kern besagt ›Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besseres bist‹, auf den Färöern aufgehoben sei. Viele dieser Möchtegern­künstler waren kaum in der Lage, Farben zu mischen oder gar den Pinsel in der Hand zu halten, kauften aber trotzdem kostspielige Malerleinwände und glaubten, ihren inneren Picasso oder Munk gefunden zu haben. Ganz nebenbei bemerkt, was mochten diese Leute wohl denken, wie weit sie mit ihren Werken kommen würden? Amateure, die nichts anderes als Berge, Boote, Häuser und Topfblumen auf ihre Leinwände brachten? Herrgott nochmal! Beinahe noch schlimmer als die einheimischen Musiker und Maler waren jedoch die vielen selbst­ernannten Schriftsteller. Diese allzu große Anzahl naiver Heimautoren, die in ihrem Schreib- und Veröffentlichungs­begehren den Markt mit hoffnungslosen Texten und Erzählungen überfluteten, die jede Grundlage und Weitsicht ­vermissen ließen, selbst aber meinten, einen Platz in den großen Bücher­regalen verdient zu haben …

*

Inga hatte ein klares Muster vor Augen, was in ihr Haus hineingetragen werden durfte und was nicht. Sie hatte kein Interesse daran, ihre Zeit damit zu verschwenden, Lotteriezettel zu checken oder Reklameprospekte wegzuräumen. Dazu gab es viel zu viele andere spannende Dinge im Leben. Ihre alte Dachstube mit einer Vielzahl faszinierender Bilder an den Wänden inspirierte sie. Sie hatte die Gabe, sich in andere Realitäten hineinversetzen zu können. Für einen Moment schloss sie ihre Augen. Sie träumte von einer aufgeschlossenen, grenzenlosen Welt. Viele Gedanken strömten ihr durch den Kopf. Ihr Wissens­schatz war enorm. Ideen, wie sie ihre Rede beginnen konnte, gab es zuhauf. Ihr war, als würden gerade Milliarden kleiner Gehirnzellen aktiviert, die ein interessantes und schönes Ganzes schaffen würden. Ein aktuelles Prosastück. Mit der Begründung, dass der liebe Gott bei der Erschaffung des Mannes, dem bekanntlich alles nur am Zweitbesten gelingt, ein bisschen zu sehr geschlampt habe, wollte sie die färöischen Frauen in ihrem Vortrag als das bessere Gesellschaftsmodel hervorheben. Humor hatte sich schon immer als Hilfsmittel bewährt. Aber selbstverständlich musste sie sich nach den Gegebenheiten richten und darauf achten, dass ihr intellektueller Horizont verglichen mit dem, was der gewöhnliche Färinger zu verstehen imstande war, nicht die Oberhand gewinnen würde.

Sie schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein und dachte einmal mehr an ihren befreundeten Schriftsteller in Kopen­hagen, der in den letzten Tagen offenbar den Beleidigten spielte und daher weder ihre Anrufe entgegennahm noch ihre SMS-Nachrichten beantwortete. Das Treffen mit dem Auswahlkomitee des ›Nordischen Poeten‹ am Mittwochabend hatte sich in die Länge gezogen. Am Ende der langwierigen Veranstaltung waren alle ­Teilnehmer zu einem gemütlichen Essen in die ›Tagenskro‹ eingeladen worden. Als die letzte Rotweinflasche auf den Tisch kam, war es so spät geworden, dass sie keine Kraft mehr gehabt hatte, auch noch bei ihrem umstrittenen Freund vorbeizuschauen. Tóki war zuletzt immer wieder das Thema gewesen. Sie hatte alles dafür getan, was in ihrer Macht stand, dass der färöische Dichter zum ›Nordischen Poeten des Jahres 2017‹ gewählt werden würde. Oder zumindest zu einem der drei Nominierten zählte. Aber auch die großen Länder stellten ihre Kandidaten. Auch sie hätten hinreißende und bedeutende Bücher geschrieben und bei den Menschen Bewunderung und Hoch­achtung hervorgerufen, bekam sie von allen Seiten zu hören. Sie hatte ihre großartigen Überzeugungsqualitäten eingesetzt und nichts unversucht gelassen, um ihrem guten Freund zu dieser Auszeichnung zu verhelfen. Am Ende war sie sogar so weit gegangen, die grönländische Repräsentantin Smilla Panik Egede in einem Gespräch unter vier Augen eindringlich auf die gemeinsamen Interessen von Kleinstaaten sowie die Bedeutung der kulturellen Zusammenarbeit der westnordischen Randgebiete untereinander hinzuweisen. Wenn sie sie unterstütze, könne Smilla sich sicher sein, dass sie ihr das bei einer ähnlichen Situation im Jahre 2018 wiedergutmachen werde. Aber es war nichts zu machen gewesen. Die Leute hatten Stellung bezogen und ihr klargemacht, dass die neueste Gedichtsammlung von Tóki Narvason, ›Snúskullur í vegnum‹ (frei übersetzt: Stolpersteine des Lebens), nicht das Niveau erreiche, das den Mann in früheren Jahren ausgezeichnet hatte. Er könne nicht immer nur an färöischen Themen festhalten. Aber man hatte sich zumindest auf den Kompromiss eingelassen, Tóki bei der Preisverleihung in Oslo eine besondere Bühne zu bieten, auf der er eingeladen sei, aus seinen eigenen Werken vorzulesen.

Inga war sich nicht sicher gewesen, wie sie Tóki diese Nachricht übermitteln sollte. Ob er diese Lösung möglicher­weise als Beleidigung auffassen würde? Dieser Mann war nicht immer berechenbar. Er war so nachdenklich und sensibel. Oft reagierte er, indem er schwieg und vorerst jeden Anruf ignorierte. Er konnte ohne Vorwarnung tagelang in der Versenkung verschwinden. Aber irgendwann wurde er auch wieder nüchtern. Denn er wagte es nicht und ertrug es auch nicht, zu lange am Stück zu trinken. Seine Gesundheit untersagte es ihm, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, nicht zuletzt da sich seine allgemeine Lebensführung ohnehin an der Grenze des Erlaubten bewegte.

Tóki war schon immer Genie und Sonderling in einer Person gewesen. Seine Art, Ironie und Sarkasmus zu produzieren, war berühmt-berüchtigt. Inga war stolz darauf, seine Mentorin und persönliche Freundin zu sein. Es war ungewiss, ob Tóki Narvason auch ohne ihr Netzwerk, ihre Hartnäckigkeit und ihren literarischen Weitblick so weit gekommen wäre. Viele der besten färöischen Gedichtsammlungen erreichten nicht die Verkaufszahlen, die ihnen eigentlich zustehen würden. Der heimische Buchmarkt und das allgemeine Interesse waren zu begrenzt. Dieser Punkt war in den letzten Jahren häufig diskutiert worden. Auch Inga hatte dieses Thema im Wege ihrer beruflichen Tätigkeit in In- und Ausland immer wieder zur Sprache gebracht. Selbst den neuen Rundfunkchef hatte sie dafür zu sensibilisieren versucht. Kürzlich wurde im Radio Heðin Brús1 Klassiker ›Feðgar á ferð‹ (Vater und Sohn unterwegs) aus dem Jahre 1940 vorgelesen, der vom Stellenwert von Grindwal und Kühen in Zeiten der damaligen Bauerngesellschaft erzählt. Die Stimme des souveränen Sprechers war noch nicht ganz verklungen, als sich der gleiche Mann schon bereit machte, der Bevölkerung auch den zwanzig Jahre zuvor erschienenen Titel ›Bør Børson‹ von Johan Falkberget2, dessen Handlung sich auf einen schlichten norwegischen Händler im Jahre neunzehnhundert und irgendwas beschränkt, zu Gehör zu bringen. Selbstverständlich war es Aufgabe des Senders, jedem Genre einen Platz einzuräumen, aber gegen redaktionelle Faulheit sollte man sich wehren.

Ein kulturelles Machtzentrum dieser Größenordnung habe sich bei der Auswahl des Sendeplans, seiner Verantwortung bewusst zu sein. Jeder Mensch ließe sich beeinflussen, die Wirkung eines jeden Programms sei daher nicht zu unterschätzen. Heutzutage solle nach Möglichkeit alles in einfacher Sprache oder Reimform abgefasst sein. Statt sich ein aktuelles und tiefgründiges Buch vorzunehmen, spielten Laien aber lieber selbst Autor und schrieben ihre eigenen Romane. Ja, und so werde der ohnehin schon hart unter Druck stehende Markt mit Schicksalsromanen, Geschichten vom Lande, Kapitänsromantik, Biografien und Krimis nur so überschüttet, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf.

Seufzend klappte Inga ihren Laptop zu. Die Arbeit war getan. Ehe sie sich für die Strickclubparty fertig machen würde, wollte sie sich noch einen Moment hinlegen. Als sie sich vom Tisch erhob, war ihr, als spüre sie einen Stich im Bauch. Sie hatte das Gefühl, keine Zeit verlieren zu dürfen.

1 Heðin Brú (1901-1987) gilt als einer der bedeutendsten färöischen Schriftsteller. Sein Roman ›Feðgar á ferð‹, auf Deutsch kürzlich unter dem Titel ›Vater und Sohn unterwegs‹ neu aufgelegt, wurde auf den Färöern zum ›Buch des 20. Jahrhunderts‹ gewählt.

2 Johan Falkberget (1879-1967) war ein norwegischer Buchautor.

SIE ALLE WOLLTEN vor Ort übernachten und es sich gutgehen lassen. Daher hatten sie rechtzeitig sechs Doppel­zimmer mit Blick auf den Nólsoyarfjord gebucht. Damals hatten sie noch nicht genau absehen können, wie sich ihre Männer entscheiden würden. Aber dann hatten sie sich – ohne Rücksicht auf jedes einzelne Wenn und Aber zu nehmen – kurzerhand dazu entschlossen, für alle zusammen eine Anmeldung für die Party abzugeben. Irgendetwas im Leben mussten sich knapp 40 Jahre alte Frauen ja gönnen.

Die sechs Freundinnen aus Norðvík hatten es keineswegs nötig, sich inmitten der Meute fein heraus­geputzter Strickclubdamen, von denen viele allein gekommen waren, einige aber auch in Begleitung ihrer Männer, zu verstecken. Ein nettes Paar stand am Empfang und versuchte, beim Check-in den Überblick zu behalten und allen die Schlüssel für die Zimmer auszuhändigen. Alle sechs waren auf dem gleichen Flur untergebracht. Rónja Róksdóttir und ihr Lebensgefährte Niki hatten ihren Schlüssel bereits entgegengenommen. Jórun fragte, wie hellhörig die Zimmer seien. Als der Rezeptionist die Namen Bjørg und Salar Beniti ins Computersystem tippte, blickte er für ein paar Sekunden überrascht auf. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass diese Frau, die von diesem südländisch aussehenden Mann begleitet wurde, vor nur wenigen Monaten die menschliche Hölle auf Erden erlebt hatte. Die nächste Frau in der Schlange war Lina, Anitas Schwägerin, die nie ein großes Brimborium um ihre Person machte. Ihr Mann war auf See. Sie war es gewohnt, ihre Nächte zu einem großen Teil des Jahres allein zu verbringen. Also würde sie das auch an diesem Abend schaffen. Maria bat um das Zimmer auf den Namen Poul í Geilarhorni, der lächelnd und zufrieden an ihrer Seite stand. Nun wartete nur noch Anita darauf, bedient zu werden. Sie sei ohne Partner, erklärte sie und setzte ihre Unterschrift auf das dafür vorgesehene Papier. Wo aber war Jákup? Sein Fernbleiben kam für alle etwas unterwartet. Hatte er kein frei bekommen, oder was war passiert? Planmäßig sollte Jákup, der soeben einen zweiwöchigen Lehrgang in Dänemark absolviert hatte, am Nachmittag auf die Färöer-Inseln zurück­kehren. Sie beide hatten sich darauf gefreut, noch am gleichen Abend zusammen auf die Party im Hotel Atlantis zu gehen. Aber allem Anschein nach sollte es dann doch nicht so sein. Anita nahm den Schlüssel in Empfang und bedankte sich. Nein, manchmal war es nicht leicht, mit einem Polizisten verheiratet zu sein. Ihre Augen wurden plötzlich groß und ihr Blick geheimnisvoll. Es bestand kein Grund, ihren Unmut so laut zu äußern, dass es die gesamte Gesellschaft mitbekäme. Trotz allem. Sie wusste ohnehin nur wenig und konnte ihren Freundinnen nicht viel erzählen. Ja, es sei korrekt, dass Jákup an diesem Tag mit dem Flugzeug nach Hause kommen wollte, aber als Bediensteter der Kriminal­polizei müsse er halt zur Verfügung stehen. So lauteten die Bedingungen. Anita schüttelte etwas resigniert den Kopf. Die letzten Worte flüsterte sie den anderen zu, während sie sich langsam von der Rezeption entfernten …

»Unmittelbar, bevor Jákup nach Hause fliegen ­wollte, ist in einer Kopenhagener Wohnung die Leiche eines Färingers gefunden worden. Eine alleinstehende Person, wenn ich das richtig verstanden habe. Die Umstände hörten sich etwas suspekt an. Aber bitte, meine Lieben … Fragt nicht weiter und sprecht nicht mehr davon … Ich meine das ernst … Wir sind doch hierhergekommen, um uns auf einer coolen Party zu amüsieren … All right?!«

*

Das Hotelgebäude fügte sich gut in die umliegende Landschaft ein. Es lag hoch über der Stadt, und für den, der über die Bergroute nach Tórshavn kam, wirkte das Dach so, als sei es ein Teil der angrenzenden Grasflächen. Die bräunlichen norwegischen Rundbohlen in Kombination mit den färöischen Steinmauern gaben dem Haus Stabilität. Dank seiner Architektur war es in aller Munde und hatte in den einheimischen Medien stets für große Überschriften gesorgt. Die Perle im Atlantik. Die norröne Götter­halle. Die färöische Gebirgsblume. Selbst im Ausland zeigte man sich von dieser Konstruktion beeindruckt.

An diesem kühlen, stillen Novemberabend ­flackerten draußen große, lebendige Fackeln. Das Feuer stellte gleichzeitig eine Wärmequelle für die Raucher dar, die zum Zeitvertreib vor die Tür gegangen waren. Auf dem Hof wurde geplappert und sich in Szene gesetzt, wobei die meisten Augen auf die vielen Autos gerichtet waren, die am Haupteingang anhielten und ihre schick gekleideten Insassen ins warme Hotel entließen.

Auch die gemischte Gesellschaft, die im Foyer zusammentraf, begann, sich lebhaft zu unterhalten. Viele fragten sich, wie oft das heutige Hotel Atlantis schon seinen Namen und Besitzer gewechselt hatte. Aber das war jetzt nicht mehr so sehr von Bedeutung, denn in den letzten Jahren hatte das Gebäude für Stabilität und Qualität gestanden. Und so hatte jeder allen Grund, sich auf dieses tolle und stilvolle Fest zu freuen, das pünktlich um 19.00 Uhr beginnen sollte. In Sachen Service würde es an nichts fehlen. Das Hotel, das nur unwesentlich jünger als die meisten der redseligen Raucher war, war erst kürzlich renoviert worden. Es war nur eine Frage der Zeit, wann auch der fünfte Stern die Hauswand zieren würde.

Das architektonische Meisterwerk war aber nicht aus dem Nichts gekommen. In den 80er Jahren herrschten auf den Färöer-Inseln andere Zeiten. Der finanzielle Bogen wurde bis zum Äußersten ausgereizt. Der bekannte Dichter William Heinesen3 war in seinen besten Zeiten auf alten Pfaden unterwegs und hatte davon erzählen können, wie sich die Türme am Ende der Welt gen Himmel richteten. Aber dann hatte der Färinger begonnen, sich seine eigene Welt aufzubauen. Ein Großteil der Bevölkerung war in die Hauptstadt gezogen, um neu anzufangen. Die Räder der Gesellschaft mahlten plötzlich schneller. Die Millionen waren ins Rollen gekommen. Ingenieure und Architekten hatten mittlerweile ein bedeutendes Wörtchen mitzureden, wenn es galt, Entscheidungen zu treffen. Kleinbauern, Lotsen und Fischer sollten auf den Färöern der Zukunft keine große Rolle mehr spielen. Handel und Profit lautete die neue Devise. Große Pläne erblickten das Licht der Welt. Internationales Kapital machte sich breit. Die Flotte wurde erneuert, und im Privatbereich erreichten Häuser und Autos ein nie dagewesenes Niveau. Auf einmal lohnte es sich, zu spekulieren. Die Leute nahmen Kredite im Ausland auf und hatten vor, auf den Färöer-Inseln zu investieren.

Fachleute kamen ins Land und versuchten, vor Kreditmissbrauch und Überhitzung der Konjunktur zu warnen. Sie hielten eine Konferenz im historischen Stadtteil Tinganes ab, verbrachten eine Nacht im Hotel und schickten eine gepflegte Rechnung. Der kleine Mann auf der Straße stand da und reckte den Hals. Schaute verunsichert nach unten und wieder hoch. Der Färinger musste dem Glauben schenken, was ihm vorgespielt wurde. Schiffs­makler, Bankberater und Baulöwen sahen sich vom Erfolg gekrönt. Der unausweichliche Knall kam aber dennoch wie der Blitz aus heiterem Himmel. Die Landeskasse und das Volk mussten einmal mehr richtig bluten. Die Leute verließen ihre Häuser und wurden zu Tausenden aus dem Land getrieben. Viele Schiffe und Gebäude mussten zwangsversteigert werden. Aber die großzügige Stadt, die in den färöischen Basalt gehauen worden war, hielt dem Druck stand. Neue Gesellschaften übernahmen die teuren und schmucken Besitztümer. Es gab nur einen Weg, nämlich den nach vorne. Das färöische Volk war gezwungen, seine Identität wiederzufinden. Seinen Kurs zu ändern. Sich seinen Rohstoffen und seiner psychischen Stabilität bewusst zu werden. Den Abwechslungs­reichtum und die Vielfalt, die die Inseln und deren Bevölkerung ausmachten, schätzen zu lernen. Aber das Leben bestand nicht nur aus Geld und Statussymbolen. Die besten Investitionen waren immer noch der Friede mit Gott, den Nachbarn und mit sich selbst sowie die Fähigkeit, den Moment zu genießen und sich an der Gesellschaft mit netten Menschen zu erfreuen. Und nicht zuletzt die Gewissheit, sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten nicht alleingelassen zu werden.

Die gute Stimmung in der Empfangshalle verbreitete sich über die Flure und das ganze Haus. Alle freuten sich auf einen Damenabend allererster Klasse. Die Partner, sofern sie mit von der Partie waren, mussten sich entscheiden, ob sie in ihrer affektierten, männlichen Art lieber die gegenseitige Nähe suchen oder ihre geschlechtsbedingte Benachteiligung zum eigenen Vorteil umwandeln wollten. Es würde gewiss nicht wenige Männeraugen geben, die diese schöne, farbenfrohe Weide mit ihren Blicken begleiten würden. Prachtvolle Kleider und ­aufdringliche Kostüme. Duftende und bezaubernde Frauenkörper, die – je später der Abend wurde – immer mehr Haut zeigen würden. Ihr neugieriges Strahlen und verlockendes Gelächter. Und dann die Liebe, die in die verführerische Nacht hinausgelassen werden würde.