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Seitenzahl: 149
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20 landestypische Kurzgeschichten zum Deutschlernen
von Ann Natalie Schmid
PONS GmbH
Stuttgart
PONS
DAS ERBE DER GROSSTANTE HEDWIG
20 landestypische Kurzgeschichten zum Deutschlernen
von
Ann Natalie Schmid
Alle Personen und Handlungen sind erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und tatsächlichen Begebenheiten wären rein zufällig.
1. Auflage 2017
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Projektleitung:Canan Eulenberger-Özdamar
Redaktion:PONS Verlag
Logoentwurf:Erwin Poell, Heidelberg
Logoüberarbeitung:Sabine Redlin, Ludwigsburg
Titelfotos:Shutterstock/Michael Thaler (Sylt), Shutterstock/Ziven (Illustrationen), Shutterstock/Markus Beck (Blaulicht), Shutterstock/M. Unal Ozmen (Eis), Shutterstock/Photology1971 (Frau), Shutterstock/Eduard Zhukov (Essen), Shutterstock/T-Design (Haus), Thinkstock/Henrik Dolle (Tübingen)
Einbandgestaltung:Anne Helbich, Stuttgart
Layout:PONS GmbH, Stuttgart
ISBN: 978-3-12-050109-1
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Viel Spaß
Ann Natalie Schmid
Ann Natalie Schmid wurde in London geboren. Aufgewachsen ist sie in Baden-Württemberg, wo sie heute noch lebt. Bereits als Kind entdeckte sie ihre Leidenschaft für Bücher. Nach einem Ausflug in die Naturwissenschaft – sie studierte Geologie und leitete ein kleines Fossilien- und Mineralienmuseum – machte sie diese Leidenschaft zum Beruf und wechselte in das Verlagwesen. Hier war sie unter anderem für die Redaktion eines Fachlexikons zuständig und betreute eine Jugendbuchreihe und viele andere Projekte.
Seit 2004 arbeitet sie als freie Lektorin und Redakteurin. Nach einer Reihe von Ausund Weiterbildungen übernahm sie noch vielfältigere Aufgaben. Heute gibt sie vorwiegend Text-Seminare und schreibt gerne Kurzgeschichten.
etw. – etwas
idiom. – idiomatisch
jmd. – jemand
jmdm. – jemandem
jmdn. – jemanden
umg. – umgangssprachlich
Heute war kein gewöhnlicher Samstag, heute sollte sein großer Tag werden: Der erste Fernsehauftritt von Nicolo di Monfalcone.
Nicolo di Monfalcone. Das klang elegant. Ganz anders als Niklas Schmiffke, wie er eigentlich hieß. Mit dem Namen Niklas Schmiffke konnte man keine Karriere als Magier1 oder Illusionist machen. Das war klar.
Seit über zwanzig Jahren träumte er schon davon. Und jetzt war es endlich so weit.
Zusammen mit bekannten Showgrößen sollte er bei einer Spendengala auftreten, hier in der Marienkirche in Lübeck. Die Spendengala wurde live im Fernsehen übertragen. Und neben den Prominenten sollte ein einheimischer Illusionist auftreten. Wie sie auf ihn kamen, war Niklas ein Rätsel2.
Als er den Anruf bekam, dass er im Fernsehen auftreten sollte, glaubte Niklas zuerst an einen Scherz3. Aber es stellte sich heraus, dass alles seine Richtigkeit hatte4. Niklas hatte nicht viel Zeit, seinen Auftritt zu planen. In zwei Monaten musste er ein halbstündiges Programm zusammenstellen, das ein Fernsehpublikum bei Laune hält5.
Niklas wusste, dass die anderen Showgäste viel besser waren als er. Aber er hatte sich fest vorgenommen6, sein Bestes zu geben und eine super Show abzuliefern. Deshalb arbeiteten er und seine Assistentin Sissy Tag und Nacht. Und als die zwei Monate vorbei waren, klappte ihr Auftritt perfekt.
Niklas und Sissy wollten sich um 15.00 Uhr in der Marienkirche treffen. Dort herrschte ein geschäftiges Treiben7. Kisten standen herum oder wurden durch die Gegend gefahren und überall stolperte man über Kabel. Unvorstellbar, dass hier in wenigen Stunden eine glamouröse Gala stattfinden sollte!
Als Sissy auftauchte, erschrak Niklas. Denn Sissy sah furchtbar aus. Sie war ganz blass, schnäuzte8 sich dauernd und ihre Augen glänzten vom Fieber. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten9.
„Mein Gott, Sissy, was ist denn los? Du siehst ja furchtbar aus!“ Niklas war in Sorge. Selbstverständlich wegen Sissy, aber hauptsächlich wegen des Auftritts am Abend.
Doch Sissy antwortete nicht. Sie rannte los auf die Toilette. Dort blieb sie ziemlich lange. Sie hatte einen Magen-Darm-Infekt bekommen, der immer schlimmer wurde.
Niklas musste ihr letztendlich ein Taxi rufen, das sie nach Hause brachte.
Niklas war verzweifelt. Wie sollte er den Abend ohne seine Assistentin zu einem guten Ende bringen? Er fragte den Event-Manager. Der antwortete nur „Hol‘ Dir doch einfach jemanden aus dem Publikum!“
Inzwischen war es bereits nach 19.00 Uhr.
Die 160 festlich gekleideten Saalgäste wurden eingelassen10. Tatsächlich war von dem Chaos, das am Nachmittag geherrscht hatte, nichts mehr zu sehen. Der Innenraum der Kirche war in stimmungsvolles11 violettes Licht getaucht, aus der Anlage kam leise Musik.
In der Garderobe verfolgte Niklas den ersten Auftritt. Er war perfekt. Niklas war nervös, als er die Bühne betrat. Jetzt half nur noch eins: Augen zu und durch12.
Er nahm sich ein Mikrophon. Scheinbar selbstsicher begrüßte er das Publikum mit einem breiten Lächeln und erklärte, dass seine Assistentin leider nicht kommen könnte und stattdessen jemand aus dem Publikum auf die Bühne kommen sollte. Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen13. Und da sah er sie. Sie saß in der zweiten Reihe. Er bat sie, zu ihm zu kommen und ihm zu assistieren.
Die junge Frau stand auf und lächelte schüchtern. Rein äußerlich unterschied sie sich sehr von den anderen Damen. Diese waren festlich gekleidet, viele trugen ein langes Abendkleid. Niklas wunderte sich, dass man die junge Frau überhaupt hereingelassen hatte. Denn sie trug eine Strickjacke mit braunen und blauen Streifen. Eine Strickjacke auf einer Gala! Unter der Strickjacke sah man eine olivgrün geblümte Bluse. Über der tannengrünen Strumpfhose trug sie einen dunkelblauen Rock. Ihre überraschend groß-en Füße steckten in schwarzen Herrenschuhen. Und, was Niklas schon von Weitem erkennen konnte, um ihren Hals hing eine Goldkette mit einem großen Medaillon.
Die langen braunen Haare wurden mit einer Spange14 aus dem Gesicht gehalten. In ihren Händen hielt sie eine große Tasche aus beigem Kunstleder.
Niklas wollte die junge Frau mit einem Küsschen auf die Wange begrüßen. Zuerst drehte sie den Kopf weg, überlegte es sich dann aber anders und drückte ihm ihre gespitzten Lippen15 mitten auf den Mund. Dabei stieß sie ihm ihre große Nase ins Gesicht, sodass ihm ein gequältes16 „Autsch“ entfuhr17. Er machte ein so verblüfftes Gesicht, dass die ersten Leute lachten.
Aber Niklas fing sich18 gleich wieder. Er fragte seine neue Assistentin nach ihrem Namen und hielt ihr das Mikrophon vors Gesicht.
„Meierbier“ war die kurze Antwort. „Und dein Vorname?“ fragte Niklas freundlich.
„Frau. Frau Meierbier.“ Das Gelächter im Publikum wurde lauter.
Niklas wollte Frau Meierbiers Tasche nehmen und sie am Bühnenrand abstellen. Doch Frau Meierbier hielt sie mit beiden Händen fest und schaute ihn wütend an. Als er ihr erklärte, dass die Tasche auf der Bühne doch nur stören würde, hängte sie sich die Tasche einfach um den Hals und warf sie mit Schwung19 nach hinten auf den Rücken. Das Publikum johlte20 begeistert!
Niklas wollte zur Einstimmung einen Zaubertrick21 zeigen. Also ließ er vor Frau Meierbiers Gesicht ihre Goldkette mit dem Medaillon baumeln22, die er ihr unbemerkt abgenommen hatte. Als sie danach greifen wollte, kreuzte er kurz die Hände – und die Kette war verschwunden. Frau Meierbier wurde sichtlich wütend. Und das Publikum johlte wieder!
Das Lächeln auf Niklas Gesicht war nur noch eine Maske. Er lächelte, was das Zeug hielt23. Als er sich umdrehte, um seinen Haupt-Trick mit dem fliegenden Schrank zu zeigen, nahm Frau Meierbier Anlauf24 und sprang auf seinen Rücken. Mit beiden Fäusten25 schlug sie auf ihn ein und rief: „Gib mir meine Kette zurück!“
Da trat die Moderatorin mit einem Lächeln auf die Bühne und beendete charmant den Auftritt. Frau Meierbier kletterte von Niklas herunter. Und der gab ihr sofort das Medaillon zurück.
Wie in Trance schnappte er ihre Hand und verbeugte26 sich mit ihr. Das Publikum applaudierte frenetisch27, aber Niklas bemerkte das nicht. Er war überzeugt, dass seine ganze Karriere als Magier und Illusionist nun für immer vorbei war. Ganz Deutschland hatte seine Blamage im Fernsehen gesehen. Neue Aufträge würde er sicher nicht mehr bekommen. Nicolo di Monfalcone war für immer Geschichte.
Die nächsten Tage klingelte Niklas‘ Telefon ohne Pause. Zuerst wollte er nicht rangehen, aber das Klingeln hörte nicht auf. Von überallher bekam er Angebote. Eine Künstleragentur wollte ihn unter Vertrag nehmen. Die Presse war voll des Lobes28 – über das Komikerduo Nicolo di Monfalcone und Frau Meierbier.
Erika wollte es sich gerade mit einem Buch gemütlich machen1, als es Sturm klingelte2.
„Omi, Omi, mach auf!“.
Es war ihre vierzehnjährige Enkeltochter Melissa.
„Aber Meli, Kind, was ist denn?“, fragte Erika.
„Mama sitzt in der Küche und heult. Sie ist fix und fertig3.“
Erika stieg mit Melissa die Treppe hinauf ins erste Obergeschoss des Wiesbadener Stadthauses, wo ihr Sohn Jörg mit seiner Frau Andrea und seiner Tochter wohnte. In der Küche saß Andrea völlig aufgelöst4 auf dem Boden. Erika kniete sich neben ihre Schwiegertochter und nahm sie den Arm.
„Heute ist doch das wichtige Geschäftsessen mit Herrn Hauser von Hauser Metalltechnik. Es geht um einen riesigen Auftrag für Jörg. Herr Hauser ist als Feinschmecker5 bekannt, deshalb wollte ich etwas ganz Besonderes für ihn kochen.
Molekularküche6. Und alles ist schiefgegangen7!“, schluchzte Andrea.
„Wann ist denn das Essen?“, fragte Erika. „Schon in eineinhalb Stunden. Die Zeit reicht nicht einmal, um einen Catering-Service zu beauftragen. Höchstens den Pizza-Dienst!“. Andrea war ganz verzweifelt.
„Eineinhalb Stunden sind eine Menge Zeit. Du gehst jetzt erst einmal in die Badewanne und nimmst ein Bad. Und danach machst Du Dich hübsch. Meli und ich werden uns um alles kümmern. Mir fällt da schon was ein. Glaub mir, alles wird gut!“ Erika redete beruhigend auf ihre Schwiegertochter ein.
Pünktlich um 19.00 Uhr klingelte es. Andrea war gerade fertig. Sie trug das kleine Schwarze8 und öffnete die Tür. Hoffentlich ging alles gut! Sie hatte keine Ahnung, was es zu essen geben würde, aber alles war besser als ihr misslungener9 Versuch. Dabei hatte sie weder Kosten noch Mühen gescheut10 und extra einen Molekular-Kochkurs besucht. Sie wusste, dass Erika sehr gut kochen konnte. Aber Erikas Küche war so … so … so traditionell. Andrea dagegen folgte gerne neuen Trends. Und Herr Hauser galt als Feinschmecker!
Vor der Tür standen Jörg und Herr Hauser. Die beiden Männer waren sichtlich11 gut gelaunt. Herr Hauser war ein äußerst gutaussehender Mann, Ende fünfzig, mit faszinierend grünen Augen. Aber vor lauter Angst, dass der Abend schiefgehen wird, bemerkte Andrea nur den Wein, den er mitgebracht hatte. Einen Wiesbadener Neroberg12Riesling13. Um Himmels Willen!14 – Er war wirklich ein Feinschmecker! Sie gingen zusammen ins Esszimmer. Andrea hatte den Tisch vorher schon gedeckt.
Sehr minimalistisch, selbstverständlich ohne Tischdecke, damit die Maserung15 des Holztisches schön zur Geltung kam16. Als Platzsets hatte sie Schieferplatten17 ausgewählt. So wirkte das weiße Geschirr besonders edel18. Die einzige Dekoration war ein langer Korkenzieherhaselnusszweig19 in der Mitte des Tisches. Aber was musste sie jetzt sehen? Sie fiel beinahe in Ohnmacht20.
Der Tisch war gedeckt wie im letzten Jahrhundert! Mit einer Damast21-Tischdecke und Erikas Speiseservice mit Rosendekor!
Dazu rosafarbene Servietten und zwei Kerzenleuchter mit rosa Stabkerzen. Und zu guter Letzt waren an den Korkenzieherhaselnusszweig rosa Rosen aus Erikas Garten gebunden. Andrea wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken22. Was musste Herr Hauser nur von ihr denken!
Die Herren unterhielten sich gut, Andreas Verzweiflung bemerkten sie gar nicht.
Da ging auch schon die Tür auf und Melissa brachte eine Suppenterrine. Eine Suppenterrine23 – ein Relikt aus vergangener Zeit. Jörg hob den Deckel und füllte Herrn Hauser den Teller. Es gab eine klare Suppe mit Eierstich24.
Mit Eierstich – wie in den Siebzigern! Herr Hauser probierte – und strahlte. Er wandte sich an Andrea: „Was für ein wunderbares Aroma! Sie haben die Brühe mit Zwiebeln und Nelken gekocht, nicht wahr?“ Andrea konnte nicht antworten. Sie war den Tränen nahe.
Melissa räumte den Tisch ab und kam wieder mit einer Servierplatte, darauf Petersilienkartöffelchen und Reis. Hinter ihr ging Erika – und trug schon wieder eine Terrine! Andrea wurde langsam wütend. Das war hier doch wie in einem alten Film. Erika nahm den Deckel der Terrine ab. „Nein! Das gibt’s doch gar nicht! Königsberger Klopse25!“, jubelte Herr Hauser.
Er wartete gar nicht mehr ab, bis man ihm das Essen reichte. Er griff einfach nach dem Schöpflöffel und lud sich selbst eine große Portion auf den Teller. Andrea verstand die Welt nicht mehr26. Dieser Mensch sollte ein Feinschmecker sein? Herr Hauser schwärmte27:
„Königsberger Klopse, mein Lieblingsessen aus meiner Kindheit.“ Er nahm eine Gabel voll und rollte verzückt28 mit den Augen. „Mmh, köstlich! Die schmecken genauso wie bei meiner Großmutter. Und dazu gab es immer Rote Bete29. “Erika freute sich: „Die Rote Bete kommt sofort!“
Herr Hauser aß drei gehäufte Teller voll. Und zweimal Nachtisch. Herrencreme – eine sahnige Vanillecreme mit Schokoraspeln und einem guten Schuss30 Weinbrand. Andrea wunderte sich sehr. Erika und er hatten wirklich keine Ahnung, wie man im 21. Jahrhundert aß.
Es war schon sehr spät, als Herr Hauser sich verabschiedete. Er nahm Erikas Hände in seine und blickte ihr – mit seinen faszinierend grünen Augen – tief in die ihren. „Erika, ich danke Ihnen für diesen traumhaft schönen Abend. Der wunderschön gedeckte Tisch … Und dieses wunderbare Essen … Seit meine Großmutter gestorben ist, sie kam aus Ostpreußen, habe ich keine so wunderbaren Königsberger Klopse mehr gegessen. Sie haben mich richtig glücklich gemacht. Wenn Sie wüssten, was man mir bei Geschäftsessen meistens vorsetzt. Meist Meeresfrüchte oder Sushi – ich kann dieses Zeug nicht mehr sehen. Aber das Schlimmste war letztens, Sie werden es kaum glauben: Geleekügelchen, sogenannte Molekularküche!
Man muss wohl nicht mehr erwähnen, dass Jörg den riesengroßen Auftrag bekommen hat. Und seither ist Herr Hauser auch schon des Öfteren gesehen worden, wie er mit einem Strauß Blumen, einer Schachtel Pralinen oder einer Flasche Wiesbadener Wein an Erikas Tür klingelte. Immer zur Essenszeit.
“Brr, ist das kalt!” Ulrike und Thomas kamen wieder rein. Sie hatten draußen schnell eine Zigarette geraucht. Aber wirklich nur ganz schnell, denn freiwillig blieb an diesem nasskalten Frühlingstag niemand länger an der frischen Luft als unbedingt nötig.
Ulrike und Thomas waren heute zum ersten Mal zu Besuch bei Karin und Frank, um sich das neue Haus ihrer Freunde in der Nähe von Erfurt anzusehen. Das heißt, das Haus war eigentlich schon ziemlich alt, aber Karin und Frank hatten es erst vor einem halben Jahr gekauft. Es war ein schnuckeliges1 Häuschen aus Backstein, mit grünen Fensterläden2 und einem großen Garten mit Obstbäumen.
Ulrike fragte belustigt3: „Sagt mal, was habt ihr denn für Nachbarn? Das müssen ja richtige Spießer4 sein. Die haben ja einen richtigen Gartenzwerg5. “Frank lachte: „Ach, der Jockel“. „Jockel?“, fragte Ulrike interessiert.
Da erzählten Frank und Karin von ihren Nachbarn, Heinz und Anni Bachmann. „Unsere Nachbarn sind ein reizendes6 altes Pärchen. Herr Bachmann ist jetzt fast achtzig, aber immer noch fit. Abends sitzt er gerne auf seiner Bank, raucht seine Pfeife7 und spricht mit dem Jockel. Seine Anni ist eine winzige8 Person. Sie kann kaum noch laufen, deshalb hält sie sich meistens in der Wohnung auf. Manchmal, wenn besonders schönes Wetter ist, hilft er ihr mit ihrem Rollator9 und sie setzt sich zu ihm auf die Bank. Aber meistens sitzt er dort alleine und spricht mit dem Jockel. Und der Jockel ist bestimmt auch schon fünfzig Jahre alt.“
Ulrikes Augen blitzten. „Erinnert ihr euch an den Film „Die fabelhafte Welt der Amélie?“ Da entwendet10 Amélie doch heimlich den Gartenzwerg ihres Vaters und gibt ihn einer befreundeten Stewardess mit. Und diese Freundin schickt dem Vater daraufhin von überallher Fotos von seinem Zwerg.“
„Ulrike, bitte, mach jetzt keinen Quatsch11!“ Karin kannte ihre Freundin nur zu gut.
Ulrike hatte, wie sie es selbst nannte, eine „subversive Ader12“.
Als sich Herr Bachmann am nächsten Tag auf seine Bank setzen wollte, war Jockel weg. Dort, wo Jockel sonst immer gestanden hatte, lag jetzt ein Zettel unter einem Stein. Auf dem Zettel stand:
Seit Jahren stehe ich hier und nichts passiert.Das ist stinklangweilig! Deshalb gehe ich und schauemir die Welt an. Bevor es zu spät ist!Herzliche Grüße, Dein Jockel
Herr Bachmann erzählte jedem von der Reise seines Zwerges. Auch Karin. Die wusste selbstverständlich sofort, wer Jockel geklaut13 hatte. Aber sie verriet ihre beste Freundin nicht.
Ulrike stellte Jockel bei sich zu Hause in den Wintergarten14. Ihm sollte es bei ihr gut gehen. Denn obwohl sie Leute mit Gartenzwergen spießig fand, gefiel ihr der Zwerg.
Vor allem, weil er nicht aus billigem Kunststoff, sondern aus lackiertem Ton war. Außerdem hatte er eine drollige15Knollennase