Pony - R.J. Palacio - E-Book

Pony E-Book

R.J. Palacio

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Beschreibung

In ihrem neuen Roman beweist "Wunder"-Autorin R.J. Palacio ihr einmaliges Erzähltalent – mitreißend, bewegend, atmosphärisch!

Silas ist ein besonderer Junge: Er überlebte einen Blitzeinschlag, und sein bester Freund Mittenwool ist für andere unsichtbar. Ihr behütetes Leben auf einer abgeschiedenen Farm endet, als eines Nachts drei Fremde auftauchen und Silas' Vater zwingen, mitzukommen. Als am nächsten Morgen ein Pony vor der Tür auftaucht, kann das nur ein Zeichen sein: Silas muss seinen Pa zurückholen! Mit Mittenwool an seiner Seite begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise. Dabei bekommt er es nicht nur mit realen Gefahren zu tun, sondern muss sich auch den Geistern der Vergangenheit stellen.

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Das ist das Cover des Buches »Pony« von R.J. Palacio

Über das Buch

In ihrem neuen Roman beweist »Wunder«-Autorin R.J. Palacio ihr einmaliges Erzähltalent — mitreißend, bewegend, atmosphärisch! Silas ist ein besonderer Junge: Er überlebte einen Blitzeinschlag, und sein bester Freund Mittenwool ist für andere unsichtbar. Ihr behütetes Leben auf einer abgeschiedenen Farm endet, als eines Nachts drei Fremde auftauchen und Silas' Vater zwingen, mitzukommen. Als am nächsten Morgen ein Pony vor der Tür auftaucht, kann das nur ein Zeichen sein: Silas muss seinen Pa zurückholen! Mit Mittenwool an seiner Seite begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise. Dabei bekommt er es nicht nur mit realen Gefahren zu tun, sondern muss sich auch den Geistern der Vergangenheit stellen.

R. J. Palacio

Pony

Wenn die Reise deines Lebens lockt, mach dich auf den Weg

Aus dem Englischen von André Mumot

Hanser

Für meine Mutter

Was wir sind, lässt sich nicht in Worte fassen …

Margot Livesey, Der Ruf der Elstern

Fare thee well, I must be gone

And leave you for a while.

But wherever I go, I will return,

If I go ten thousand miles.

Ten thousand miles, my own true love,

Ten thousand miles or more.

And the rocks may melt and the seas may burn,

If I no more return.

Oh, come back, my own true love,

And stay a while with me.

For if I had a friend all on this earth,

You’ve been a friend to me.

Unbekannter Verfasser, »Fare Thee Well«

Gehab dich wohl, ich muss nun gehen,

und dich verlassen für ein Weilchen.

Doch wohin ich geh, ich kehr zurück,

bin ich auch zehntausend Meilen weit fort.

Zehntausend Meilen, meine wahre Liebe,

zehntausend Meilen weit fort und mehr,

und es mag schmelzen Gestein und verbrennen die See,

kehr ich nicht mehr zurück.

Oh, komm zurück, meine wahre Liebe,

und bleib ein Weilchen hier,

denn hatt ich je einen Freund auf der Welt,

warst Du ein Freund für mich.

Unbekannter Verfasser, »Fare Thee Well«

Eins

Ich habe Ithaka verlassen, um ihn zu suchen.

François Fénelon, Die Abenteuer des Telemach, 1699

Aus dem Boneville Courier, 27. April 1858:

Vor Kurzem kam ein Farmjunge von zehn Jahren während eines schweren Gewitters auf seinem Nachhauseweg an einer großen Eiche vorbei. Er suchte Schutz unter dem Baum, nur wenige Augenblicke, bevor dieser von einem Blitz getroffen wurde. Der Junge stürzte zu Boden, wo er leblos liegen blieb, während ihm die Kleidung am Leib zu Asche verbrannte. Doch die Vorsehung meinte es an diesem Tag gut mit dem Kind. Seinem geistesgegenwärtigen Vater, der den Vorfall mitangesehen hatte, gelang es nämlich, den Jungen mithilfe eines Kaminblasebalgs wiederzubeleben. Das Kind trug von diesem Erlebnis keinen bleibenden Schaden davon, abgesehen von einem besonderen Erinnerungsstück — auf seinem Rücken prangt seitdem ein Abbild des Baumes! Diese »Daguerreotypie durch Blitzschlag« ist einer von mehreren Fällen, die in den letzten Jahren dokumentiert wurden, und stellt somit eine weitere wundersame Kuriosität der Wissenschaft dar.

1

Es war mein Zusammenprall mit dem Blitz, der meinen Pa dazu brachte, sich intensiv der Fotografie zu widmen. So fing damals alles an.

Pa hatte sich schon immer für das Fotografieren interessiert, schließlich kam er aus Schottland, wo solche Künste seit jeher sehr beliebt waren. Nachdem er sich in Ohio niedergelassen hatte — einer Region, in der es viele Salzquellen gibt (aus denen man Brom gewinnt, das beim Entwicklungsprozess eine entscheidende Rolle spielt) —, mühte er sich eine Weile mit Daguerreotypien ab. Da diese aber ziemlich kostspielig waren und nur wenig Gewinn einbrachten, fehlten Pa schlicht die Mittel, um die Sache weiterzuverfolgen. Die Leute haben kein Geld für so feine Andenken, stellte er fest. Deshalb wurde er Schuster. Stiefel brauchen die Leute immer, sagte er. Pas Spezialität war der wadenhohe Wellington aus genarbtem Leder, in dessen Hacken er ein Geheimfach einbaute, wo sich Tabak oder ein Taschenmesser verstecken ließ. Diese Annehmlichkeit war bei der Kundschaft sehr begehrt, und so kamen wir mit den Stiefelbestellungen ziemlich gut über die Runden. Pa arbeitete im Schuppen neben der Scheune, und einmal im Monat reiste er — mit einem Wagen voller Stiefel, der von Mule, unserem Maultier, gezogen wurde — nach Boneville.

Doch nachdem der Blitz das Bild der Eiche auf meinem Rücken hinterlassen hatte, wandte Pa seine Aufmerksamkeit erneut der Fotografie zu. Er war davon überzeugt, dass das Bild auf meiner Haut als Folge derselben chemischen Reaktion entstanden war, die man sich bei der Fotografie zunutze macht. Der menschliche Körper, erklärte er mir, während ich ihm dabei zuschaute, wie er Chemikalien miteinander vermischte, die nach faulen Eiern und Apfelessig rochen, ist ein Gefäß, das mit denselben geheimnisvollen Substanzen gefüllt und denselben physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist wie alles andere im Universum. Wenn ein Bild dadurch festgehalten werden kann, dass Licht auf deinen Körper einwirkt, dann kann dies mit derselben Einwirkung auch auf Papier geschehen. Deswegen interessierte er sich auch nicht mehr für Daguerreotypien, sondern hatte sich stattdessen einer neuen Form der Fotografie zugewandt, bei der man Papier in einer Lösung aus Eisen und Salz einweicht. Auf diesen Papierbogen kann man dann mithilfe des Sonnenlichts ein positives Bild von einem auf Glas festgehaltenen Negativ übertragen.

Pa eignete sich diese neue Kunstfertigkeit rasch an und wurde zu einem gefragten Verwender des sogenannten Kollodiumverfahrens, was in diesem Teil der Welt noch eine absolute Seltenheit darstellte. Es war ein herausforderndes Betätigungsfeld, das viel Herumexperimentieren nötig machte, schließlich aber auch zu Bildern führte, deren Schönheit absolut erstaunlich war. Pas Eisentypien, wie er sie nannte, verfügten zwar nicht über die Genauigkeit der Daguerreotypien, waren aber durchdrungen von subtilen Schattierungen und sahen aus wie Kohlezeichnungen. Für den Sensibilisator benutzte er seine ganz eigene, geheime Formel, bei der dann auch das Brom zum Einsatz kam, und bevor er ein Studio in Boneville eröffnete, nur ein paar Häuser entfernt vom Gerichtsgebäude, meldete er ein Patent auf sein Verfahren an. In kürzester Zeit wurden seine mit Eisen bestäubten Porträts auf Papier eine große Attraktion in der ganzen Gegend. Sie waren nämlich nicht nur weitaus billiger als die Daguerreotypien, man konnte sie auch wieder und wieder von ein und demselben Negativ abziehen. Ihre Wirkung erhöhte Pa sogar noch, indem er die Bilder — gegen einen Aufpreis — mit einer Mischung aus Eiweiß und Farbpigmenten einfärbte, sodass sie ungeheuer lebensecht wirkten. Die Leute reisten von überall an, um sich porträtieren zu lassen, und einmal kam eine elegante Dame sogar den ganzen Weg von Akron bis zu uns für eine Sitzung. Ich half Pa in seinem Studio, richtete das Deckenlicht aus und säuberte die Einstellscheiben. Ein paarmal ließ Pa mich sogar die neue Porträtlinse aus Messing polieren, die eine große Investition für das Geschäft gewesen war und die man deshalb mit besonderer Vorsicht behandeln musste. Unsere Lebensumstände, Pas und meine, hatten sich derartig gewandelt, dass er überlegte, sein Schustergeschäft vollständig aufzugeben. Ihm war nämlich, wie er sagte, der Geruch der vermischten Chemikalien weit lieber als der der stinkenden Füße seiner Kunden.

Genau zu dieser Zeit änderte sich unser Leben für immer, als wir, noch vor Sonnenaufgang, Besuch erhielten — von drei Reitern und einem Pony mit merkwürdig weißem, beinahe kahl wirkendem Gesicht.

2

Es war Mittenwool, der mich in jener Nacht aus tiefem Schlaf weckte.

»Silas, schnell, wach auf. Es kommen Reiter in unsere Richtung«, sagte er.

Ich müsste lügen, würde ich behaupten, ich wäre wegen seiner drängenden Worte sofort auf die Füße gesprungen. Ich tat nichts dergleichen. Ich murmelte bloß vor mich hin und drehte mich im Bett wieder um. Daraufhin stupste er mich fest in die Seite, was für ihn keine leichte Aufgabe war. Geistern fällt es ziemlich schwer, Dinge in der materiellen Welt zu bewegen.

»Lass mich schlafen«, erwiderte ich missmutig.

Doch schon im nächsten Augenblick hörte ich, dass Argos unten wie angestochen aufheulte und Pa sein Gewehr entsicherte. Ich schaute aus dem winzigen Fenster neben meinem Bett, aber die Nacht war pechschwarz, und ich konnte nichts erkennen.

»Sie sind zu dritt.« Auch Mittenwool spähte mit zusammengekniffenen Augen über meine Schulter aus dem Fenster.

»Pa?«, rief ich und sprang vom Speicherboden herunter, auf dem mein Bett stand. Pa war voll bekleidet, hatte bereits seine Stiefel an und schaute aus dem vorderen Fenster.

»Halt den Kopf unten, Silas«, sagte er angespannt.

»Soll ich eine Lampe anmachen?«

»Nein. Hast du sie von deinem Fenster aus gesehen? Wie viele sind es?«, fragte er.

»Ich selbst hab sie nicht gesehen, aber Mittenwool sagt, es sind drei.«

»Mit gezogenen Waffen«, fügte Mittenwool hinzu.

»Sie haben die Waffen gezogen«, sagte ich. »Was wollen die, Pa?«

Pa antwortete nicht. Inzwischen hörten wir, dass das Galoppieren auf uns zukam. Pa stieß die Eingangstür einen Spaltbreit auf und hielt das Gewehr schussbereit. Er warf sich seinen Mantel über und drehte sich zu mir um.

»Du kommst nicht raus, Silas. Ganz gleich, was passiert«, sagte er mit strenger Stimme. »Wenn es Ärger gibt, läufst du rüber zum Haus von Havelock. Hinten raus und über die Felder. Hörst du?«

»Du gehst doch da nicht raus, oder?«

»Kümmere dich um Argos«, sagte er. »Lass ihn nicht aus dem Haus.«

Ich legte Argos sein Halsband um. »Du gehst doch da nicht raus, oder?«, fragte ich erneut. Ängstlich.

Er hielt nicht inne, um mir eine Antwort zu geben, sondern öffnete die Tür und trat auf die Veranda, das Gewehr auf die sich nähernden Reiter gerichtet. Er war ein mutiger Mann, mein Pa.

Ich zog Argos dicht an mich, kroch mit ihm zum vorderen Fenster hinüber und spähte hinaus. Ich sah, wie die Männer näher kamen. Drei Reiter, genau wie Mittenwool gesagt hatte. Hinter einem von ihnen trabte noch ein viertes Pferd, ein riesiges schwarzes Ross, und daneben das Pony mit knochenweißem Gesicht.

Die Reiter wurden langsamer, als sie das Haus beinahe erreicht hatten und Pas Gewehr zur Kenntnis nahmen. Der Anführer der drei, ein Mann in gelbem Staubmantel auf einem gefleckten Pferd, hob friedfertig die Arme und brachte sein Ross vollständig zum Stehen.

»Immer mit der Ruhe!«, sagte er zu Pa, gerade einmal zehn Meter von der Veranda entfernt. »Sie können Ihre Waffe runternehmen, Mister. Ich komme in Frieden.«

»Dann nehmen Sie Ihre zuerst runter«, rief Pa, das Gewehr immer noch gegen die Schulter gedrückt.

»Meine?« Der Mann schaute theatralisch auf seine leeren Hände, dann nach links und rechts, und tat so, als würde er erst jetzt bemerken, dass seine Begleiter ihre Waffen gezogen hatten. »Nehmt sie runter, Jungs! Ihr macht einen schlechten Eindruck.« Er wandte sich wieder an Pa. »Tut mir leid. Die beiden sind ganz harmlos. Reine Gewohnheit.«

»Wer sind Sie?«, fragte Pa.

»Sind Sie Mac Boat?«

Pa schüttelte den Kopf. »Wer sind Sie? Kommen hier mitten in der Nacht angaloppiert.«

Der Mann im gelben Staubmantel schien sich vor Pas Gewehr nicht im Mindesten zu fürchten. Ich konnte ihn im Dunkeln nicht besonders gut erkennen, aber ich hatte den Eindruck, als wäre er kleiner als Pa (der allerdings auch einer der größten Männer in Boneville war). Und jünger. Er trug eine Melone auf dem Kopf wie ein Gentleman, aber, soweit ich das sehen konnte, war er keiner. Er sah aus wie ein Schläger. Mit spitzem Bart.

»Na, na, jetzt regen Sie sich mal nicht auf«, sagte er unbekümmert. »Meine Jungs und ich wollten eigentlich erst bei Sonnenaufgang hier eintreffen, aber wir sind schneller vorangekommen als gedacht. Ich bin Rufe Jones, und das hier sind Seb und Eben Morton. Versuchen Sie gar nicht erst, die beiden auseinanderzuhalten, das ist unmöglich.« Erst jetzt fiel mir auf, dass die beiden grobschlächtigen Männer exakte Abziehbilder voneinander waren und identische Melonen mit breiten Hutbändern trugen, die ihnen tief in den kreisrunden Mondgesichtern hingen. »Wir bringen Ihnen ein interessantes Angebot von unserem Boss, Roscoe Ollerenshaw. Von dem haben Sie doch sicher schon gehört, oder?«

Pa reagierte nicht darauf.

»Nun, Mr. Ollerenshaw weiß jedenfalls, wer Sie sind, Mac Boat«, fuhr Rufe Jones fort.

»Wer ist Mac Boat?«, flüsterte Mittenwool mir zu.

»Ich kenne keinen Mac Boat«, sagte Pa hinter seinem Gewehr. »Ich bin Martin Bird.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Rufe Jones rasch und nickte. »Martin Bird, der Fotograf. Mr. Ollerenshaw ist mit Ihrer Arbeit sehr vertraut! Deswegen sind wir hier, verstehen Sie? Er hat einen geschäftlichen Vorschlag, den er gern mit Ihnen besprechen würde. Wir haben einen langen Weg hinter uns gebracht, um uns mit Ihnen zu unterhalten. Können wir vielleicht kurz reinkommen? Wir sind die ganze Nacht geritten. Mir steckt die Kälte in allen Knochen.« Er hob den Kragen seines Mantels, um dies zu unterstreichen.

»Wenn Sie über ein Geschäft sprechen wollen, kommen Sie tagsüber in mein Studio wie jeder zivilisierte Mensch«, sagte Pa.

»Na, warum schlagen Sie mir gegenüber denn einen derartigen Ton an?« Rufe Jones tat, als wäre er völlig verblüfft. »Die Art von Geschäft bespricht man eben besser mit einer gewissen Privatsphäre, das ist alles. Wir wollen Ihnen nichts Böses, weder Ihnen noch Silas, Ihrem Jungen. Das ist er doch, oder? Der da am Fenster kauert?«

Ich geb’s zu — ich musste schlucken und zog den Kopf sofort vom Fenster weg. Mittenwool, der hinter mir war, gab mir mit einem Stoß zu verstehen, dass ich mich noch tiefer zusammenkauern sollte.

»Ich gebe Ihnen fünf Sekunden, um mein Grundstück zu verlassen!« Ich konnte an Pas Stimme erkennen, dass er seine Warnung ernst meinte.

Rufe Jones schien den drohenden Ton in Pas Worten jedoch nicht bemerkt zu haben, denn er lachte bloß. »Na, na, nun seien Sie mal nicht so gereizt. Ich bin doch bloß der Bote!«, erwiderte er gelassen. »Mr. Ollerenshaw hat uns aufgetragen, Sie zu holen, und genau das tun wir. Wie gesagt, er will Ihnen nichts Böses. Genau genommen will er Ihnen helfen. Er hat mir gesagt, ich solle Ihnen ausrichten, dass bei der Sache viel Geld für Sie rausspringen kann. Ein kleines Vermögen, lauteten seine exakten Worte. Dafür müssen Sie nur einige wenige Unannehmlichkeiten auf sich nehmen. Bloß eine Woche Arbeit, und Sie sind ein reicher Mann. Wir haben sogar Pferde für Sie mitgebracht. Ein schönes großes für Sie und ein bezauberndes kleines für Ihren Jungen. Mr. Ollerenshaw ist so eine Art Pferdesammler, Sie sollten sich also geehrt fühlen, dass er Sie seine feinen Rösser reiten lässt.«

»Ich bin nicht interessiert. Sie haben jetzt noch drei Sekunden, um zu verschwinden«, antwortete Pa. »Zwei …«

»Na schön, na schön!«, sagte Rufe Jones und wedelte beschwichtigend mit den Händen in der Luft. »Wir ziehen ab. Seien Sie unbesorgt. Na los, Leute.«

Er riss an den Zügeln seines Pferdes und schwenkte es herum, ebenso wie die Brüder, die die beiden reiterlosen Pferde hinter sich herzogen. Sie begannen, ganz langsam in die Nacht und vom Haus wegzutraben. Aber nach wenigen Metern hielt Rufe Jones doch noch einmal an. Er streckte die Arme aus, als hinge er an einem Kruzifix, um zu zeigen, dass er noch immer unbewaffnet war. Dann warf er Pa über die Schulter einen Blick zu.

»Aber morgen kommen wir wieder«, sagte er. »Und zwar mit sehr viel mehr Männern. Um die Wahrheit zu sagen: Mr. Ollerenshaw ist niemand, der einfach so aufgibt. Heute Nacht bin ich in Frieden gekommen, aber dass es morgen genauso sein wird, kann ich nicht versprechen. Mr. Ollerenshaw … nun ja — was er will, will er.«

»Ich werde dem Sheriff Bescheid sagen«, drohte Pa.

»Ach, wirklich, Mr. Boat?«, entgegnete Rufe Jones. Seine Stimme klang jetzt bedrohlicher. Sie hatte all ihre Leichtigkeit verloren.

»Bird lautet der Name«, sagte Pa.

»Stimmt. Martin Bird, der Fotograf von Boneville, der mitten im Nirgendwo, weit weg von allen Menschen, mit seinem Sohn lebt — Silas Bird.«

»Sie verschwinden jetzt besser.« Pas Stimme klang heiser.

»Na schön«, antwortete Rufe Jones. Aber er gab seinem Pferd nicht die Sporen.

All das beobachtete ich atemlos, mit Mittenwool dicht an meiner Seite. Einige Sekunden verstrichen. Keiner bewegte sich, und niemand sprach ein Wort.

3

»Wir haben folgendes Problem«, sagte Rufe Jones, der die Arme noch immer zu beiden Seiten von sich streckte. Der leichte Singsang kehrte in seine Stimme zurück. »Es ist natürlich eine ziemliche Mühe, wenn wir jetzt wieder den ganzen Weg zurückreiten, über all die Felder und durch den Wald, nur um morgen früh mit einem Dutzend Männern Verstärkung zurückzukommen — bis an die Zähne bewaffnet. Gott weiß, was passieren kann, wenn hier Pistolenläufe in jede Richtung zielen. Sie wissen ja, wie so was abläuft. Ganze Tragödien können sich zutragen. Aber wenn Sie heute Nacht mit uns kommen, Mr. Boat, können wir diese hässliche Geschichte vermeiden.«

Er drehte seine Hände um, sodass die Handflächen nach oben zeigten.

»Lassen Sie uns das nicht unnötig in die Länge ziehen«, fuhr er fort. »Sie und Ihr Junge werden auf diesen feinen Pferden einen schönen, munteren Ritt mit uns haben. Und in einer Woche bringen wir Sie beide wieder zurück. Das ist ein feierliches Versprechen von dem großen Boss persönlich. Er hat mir übrigens aufgetragen, Ihnen das ganz genauso mitzuteilen. Dass ich das Wort feierlich benutzen soll. Na, kommen Sie, das ist doch ein lukratives Geschäftsangebot für Sie, Mac Boat! Was sagen Sie?«

Ich sah Pa, sah, dass sein Gewehr noch immer auf den Mann gerichtet war, seine Finger immer noch am Abzug, seine Kiefer zusammengepresst. Sein Ausdruck in diesem Augenblick war mir fremd. Ich erkannte seinen fest angespannten Körper nicht wieder.

»Ich bin nicht Mac Boat«, sagte er langsam. »Ich bin Martin Bird.«

»Ja, natürlich, Mr. Bird! Bitte um Verzeihung«, erwiderte Rufe Jones grinsend. »Wie auch immer Ihr Name lautet, was sagen Sie? Vermeiden wir doch alle Hässlichkeiten. Nehmen Sie Ihr Gewehr runter und kommen Sie mit uns. Es ist ja nur für eine Woche. Und dann kehren Sie als reicher Mann zurück.«

Pa zögerte eine weitere lange Sekunde. Mir kam es vor, als wäre alle Zeit der Welt in diesem einen Moment enthalten. Und so war es in gewisser Weise auch, denn es war dieser Moment, der mein Leben für immer ändern sollte. Pa senkte seine Waffe.

»Was macht er denn?«, flüsterte ich Mittenwool zu. Plötzlich hatte ich mehr Angst, als ich wohl jemals zuvor gehabt hatte. Es war, als wäre mir das Herz stehen geblieben. Als hätte die gesamte Welt aufgehört zu atmen.

»Also schön. Ich komme mit Ihnen.« Pas leise Stimme durchbrach die Stille der Nacht wie ein Donnerschlag. »Aber nur, wenn Sie meinen Sohn aus der Sache raushalten. Er bleibt hier, wo er ist, in Sicherheit. Er wird niemandem auch nur ein Wort verraten. Es kommt sowieso nie jemand hier vorbei. Und in einer Woche bin ich zurück. Sie sagten, ich habe Ollerenshaws feierliches Versprechen. Keinen Tag länger.«

»Hm. Ich weiß nicht«, murrte Rufe Jones und schüttelte den Kopf. »Mr. Ollerenshaw hat uns aufgetragen, Sie beide mitzunehmen. In diesem Punkt war er sehr bestimmt.«

»Wie gesagt«, erwiderte Pa mit resoluter Stimme, »nur unter dieser Bedingung werde ich heute Nacht ohne Gegenwehr mit Ihnen kommen. Wenn nicht, wird es eine hässliche Geschichte, entweder jetzt und auf der Stelle oder wann immer Sie wieder hier auftauchen. Ich bin ein guter Schütze. Stellen Sie mich nicht auf die Probe.«

Rufe Jones nahm seine Melone vom Kopf und kratzte sich die Stirn. Er schaute seine beiden Begleiter an, aber diese sagten nichts. Vielleicht zuckten sie mit den Schultern, aber in der Dunkelheit war, abgesehen von ihren platten bleichen Gesichtern, nicht viel zu erkennen.

»Schön, schön, bleiben wir friedlich«, willigte Rufe Jones ein. »Dann eben nur Sie. Aber es muss sofort sein. Werfen Sie Ihre Waffe hier rüber. Bringen wir das hinter uns.«

»Sie können sie haben, wenn wir beim Wald angekommen sind. Nicht früher.«

»Na schön, aber los jetzt.«

Pa nickte. »Ich hole meine Sachen.«

»Oh, nein! Ich bin nicht in der Stimmung für irgendwelche Tricksereien«, erwiderte Rufe Jones rasch. »Wir reiten jetzt los! Sie steigen auf dieses Pferd hier, und wir brechen sofort auf, sonst ist die Abmachung hinfällig.«

»Nein, Pa!«, schrie ich und stürzte zur Tür.

Pa wandte sich mit jenem Ausdruck auf dem Gesicht zu mir um, der mir völlig fremd war. Als hätte er den Teufel selbst erblickt. Es machte mir Angst, dieses Gesicht. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Du bleibst im Haus, Silas«, befahl er und zeigte mit dem Finger auf mich. Er klang so barsch, dass ich wie angewurzelt im Türrahmen stehen blieb. In meinem ganzen Leben hatte er noch nie so mit mir gesprochen. »Mir wird nichts passieren. Aber du darfst das Haus nicht verlassen. Unter keinen Umständen. Ich bin in einer Woche zurück. Bis dahin hast du genug zu essen. Du wirst gut zurechtkommen. Hast du verstanden?«

Ich sagte nichts. Ich hätte auch nichts sagen können, selbst wenn ich es versucht hätte.

»Hast du verstanden, Silas?«, fragte er lauter.

»Aber, Pa«, flehte ich mit zitternder Stimme.

»So muss es sein«, erwiderte er. »Hier bist du in Sicherheit. Wir sehen uns in einer Woche wieder. Keinen Tag später. Jetzt geh zurück ins Haus, schnell.«

Ich tat, was er sagte.

Er ging zu dem riesigen schwarzen Pferd hinüber, schwang sich auf den Sattel, und nach nur einem kurzen weiteren Blick in meine Richtung zog er das Tier herum und galoppierte davon. Es dauerte nur Augenblicke, schon waren er und die anderen Reiter in der endlosen Nacht verschwunden.

Und so trat mein Pa in den Dienst eines berüchtigten Geldfälscherrings, auch wenn ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste.

4

Ich könnte nicht sagen, wie lange ich an der Tür gestanden und zu dem Bergkamm hinübergeblickt habe, über den Pa verschwunden war. Lange genug jedenfalls, um zu sehen, wie der Himmel sich aufhellte.

»Komm, Silas, setz dich hin«, sagte Mittenwool behutsam.

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte Angst, den Blick von dem Punkt in der Ferne abzuwenden, an dem ich Pa zum letzten Mal gesehen hatte. Ich fürchtete, die Stelle nie wiederfinden zu können, wenn ich sie einmal aus den Augen verlor. Die Felder um unser Haus erstreckten sich flach in jede Himmelsrichtung, und begrenzt wurden sie nur von dem Bergkamm, der sich langsam ostwärts erhebt und sich dann zum Wald hin absenkt, einem Gewirr aus uralten Bäumen, umgeben von dichtem Eisenholz, durch das nicht einmal die schmalsten Wagen hindurchkommen würden. So hieß es jedenfalls.

»Setz dich, Silas«, wiederholte Mittenwool. »Es gibt nichts, was wir jetzt tun könnten. Wir müssen einfach abwarten. Er kommt ja in einer Woche wieder.«

»Aber was, wenn nicht?«, flüsterte ich, und Tränen rannen meine Wangen herab.

»Das wird er, Silas. Pa weiß, was er tut.«

»Was wollen die von ihm? Wer ist dieser Mr. Oscar Ren-sowieso? Und wer ist dieser Mac-Boat-Mensch? Ich verstehe überhaupt nicht, was da gerade passiert ist.«

»Ich bin mir sicher, Pa wird alles erklären, wenn er zurückkommt. Du musst einfach abwarten.«

»Eine ganze Woche!« Die Tränen hatten meine Sicht derartig verschwimmen lassen, dass ich den Punkt, an dem Pa verschwunden war, nicht mehr erkennen konnte. »Eine ganze Woche!«

Ich wandte mich zu Mittenwool um. Er saß neben dem Tisch und beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien. Er sah bestürzt aus, so sehr er auch versuchte, es mich nicht merken zu lassen.

»Du musst dir keine Sorgen machen, Silas«, sagte er nachdrücklich. »Ich bin ja bei dir. Und Argos. Wir leisten dir Gesellschaft. Alles wird gut. Und bevor du dich versiehst, ist Pa zurück.«

Ich warf einen Blick auf Argos, der sich in der kaputten Mehlkiste zusammengerollt hatte, die er als Bett benutzte. Er war ein ziemlich zerrupfter Hund, hatte nur ein Ohr und krumme, wacklige Beine.

Und dann schaute ich wieder Mittenwool an, der die Brauen gehoben hatte und versuchte, mir Mut zu machen. Ich habe ja schon erwähnt, dass Mittenwool ein Geist war, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob diese Bezeichnung wirklich auf ihn zutraf. Gespenst. Erscheinung. Tatsache war, dass ich nicht wusste, welche Bezeichnung die richtige für ihn war. Pa dachte, er wäre ein imaginärer Freund oder etwas in der Art, aber ich wusste, dass er das nicht war. Mittenwool war so wirklich wie der Stuhl, auf dem er saß, das Haus, in dem wir lebten, so wirklich wie der Hund. Dass niemand außer mir ihn sehen oder hören konnte, hieß nicht, dass es ihn nicht gab. Aber egal. Wer ihn sehen oder hören hätte können, hätte vermutlich gesagt, dass er ein Junge von etwa sechzehn Jahren war, groß und dünn, mit leuchtenden Augen, einem dunklen ungebändigten Haarschopf und einem herzhaften Lachen. Er war schon mein Begleiter, solange ich denken konnte.

»Was soll ich nur machen?«, fragte ich atemlos.

»Du setzt dich erst mal hin«, antwortete er und klopfte mit der flachen Hand auf den Stuhl neben sich. »Du machst dir jetzt Frühstück. Damit du einen heißen Kaffee in den Magen bekommst. Und wenn du so weit bist, schauen wir uns die Situation noch mal ganz in Ruhe an. Dann überprüfen wir die Schränke, finden heraus, was wir zu essen im Haus haben, und stellen genug für sieben Tage zurück, damit dir nichts ausgeht. Dann melken wir Moo, holen die Eier rein und geben Mule wie jeden Morgen frisches Heu. Genau das machen wir jetzt, Silas.«

Während er redete, setzte ich mich ihm gegenüber an den Tisch. Er beugte sich vor.

»Alles wird gut werden«, sagte er und lächelte mich aufmunternd an. »Du wirst schon sehen.«

Ich nickte, weil er sich so viel Mühe gab, mich zu trösten, und ich ihn nicht enttäuschen wollte, aber tief im Herzen glaubte ich nicht, dass alles gut werden würde. Und wie sich herausstellen sollte, hatte ich damit recht. Denn nachdem ich Moo gemolken, mich um die Hühner gekümmert, Mules Heu gewendet, mir ein paar Eier gemacht und Wasser aus dem Brunnen geholt hatte, nachdem wir die Kammer ausgeräumt hatten, um die Vorräte einzuteilen — eine Portion von allem für jeden einzelnen Tag der kommenden Woche —, und nachdem wir den Boden gefegt und das Feuerholz in kleine Zunderstücke geschnitten und Pfannkuchen gebraten hatten, die ich am Ende doch nicht aß, weil ich überhaupt keinen Hunger hatte, sondern mir irgendwie übel war vom Runterschlucken der ganzen Tränen, schaute ich aus dem Fenster und sah, dass vor unserem Haus das Pony mit dem kahlen Gesicht stand.

5

Bei Tageslicht war es nicht so klein, wie es im Dunkeln gewirkt hatte. Vielleicht waren die anderen Pferde auch nur besonders groß gewesen, ich weiß es nicht. Aber nun, da es an der verkohlten Eiche graste, schien das Pony eine ziemlich durchschnittliche Größe zu haben. Das Fell des männlichen Tieres schimmerte schwarz im Sonnenschein, sein Hals war gebogen und muskulös, und an dessen Ende saß dieser strahlend weiße Kopf, was eine wirklich seltsame Erscheinung abgab.

Ich ging hinaus und schaute mich um. Von Pa war nichts zu sehen — auch nichts von den Männern, mit denen er davongeritten war. Die Felder erstreckten sich still in die Ferne wie immer. Es hatte am späten Vormittag ein wenig geregnet, aber jetzt war der Himmel klar, abgesehen von einigen Wolken, die sich dünn in die Länge zogen wie Rauch.

Mittenwool folgte mir, während ich auf das Pony zuging. Tiere werden für gewöhnlich unruhig in Mittenwools Nähe, aber als wir näher kamen, schaute das Pony ihn nur neugierig an. Es hatte lange schwarze Wimpern und eine schmale Schnauze. Blassblaue Augen, die wie bei einem Reh weit auseinanderstanden.

»Hallo, mein Freund«, sagte ich sanft und streckte vorsichtig die Hand aus, um ihm den Hals zu streicheln. »Was machst du denn wieder hier?«

»Ich nehme an, es konnte mit den großen Pferden nicht mithalten«, schlug Mittenwool vor.

»War es so?«, fragte ich das Pony, das seinen Kopf umwandte und mich anschaute. »Haben sie dich zurückgelassen? Oder haben sie dich losgemacht?«

»Das ist ein seltsam aussehendes Geschöpf.«

Etwas lag in der Art, mit der das Pony mich anschaute, so direkt, dass es mir ein warmes Gefühl vermittelte. »Ich finde ihn wunderschön«, sagte ich.

»Ein Gesicht wie ein Totenschädel.«

»Glaubst du, sie haben ihn zu mir zurückgeschickt?«, fragte ich. »Vergiss nicht, sie wollten, dass ich Pa begleite. Vielleicht haben sie es sich anders überlegt und wollen nun doch nicht, dass ich hierbleibe.«

»Wie hätte das Pony wissen sollen, wie es hierherkommt?«

»Ich überlege ja nur«, antwortete ich und zuckte mit den Schultern.

»Schau nach, ob etwas in den Satteltaschen ist.«

Da ich fürchtete, das Pony zu erschrecken, griff ich ganz behutsam über das Tier, um in den Taschen nachzusehen. Aber es fuhr lediglich fort, mich kühl zu beobachten. Es musterte mich ohne Angst oder Scheu.

Die Satteltaschen waren leer.

»Vielleicht hat Rufe Jones einen der Brüder zu mir zurückgeschickt«, sagte ich. »Und er hat das Pony mitgenommen, weil ich darauf reiten sollte. Aber dann ist ihm irgendwas zugestoßen. Er ist vom Pferd gefallen oder so? Und das Pony ist einfach ohne ihn weitergelaufen.«

»Ich denke, das ist möglich, aber es erklärt immer noch nicht, wie es den Weg zurück zum Haus finden konnte.«

»Wahrscheinlich ist es einfach demselben Pfad gefolgt, den es auch letzte Nacht genommen hat«, überlegte ich, aber noch bevor ich den Satz zu Ende sprechen konnte, kam mir ein neuer Gedanke. »Vielleicht war es auch Pa!« Ich schnappte nach Luft. »Mittenwool! Vielleicht ist Pa den Männern entkommen und auf dem großen schwarzen Pferd hierher zurückgeritten. Aber dann ist er abgeworfen worden — und das Pony ist weitergelaufen.«

»Nein, das ergibt keinen Sinn.«

»Warum nicht? Könnte doch sein! Pa könnte irgendwo im Wald liegen! Ich muss ihn finden!« Ich begann, meinen Fuß, nackt, wie er war, in den Steigbügel zu hieven. Aber Mittenwool stellte sich mir in den Weg.

»Warte, mach mal langsam. Lass uns das vernünftig durchdenken, in Ordnung?«, sagte er mit fester Stimme. »Wenn Pa den Männern entkommen wäre, hätte er nicht dieses Pony mitgeschleppt. Er wäre in vollem Galopp davongeprescht, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Was du sagst, ergibt also wenig Sinn, verstehst du? Was Sinn ergibt, ist, dass sich das Pony irgendwie im Wald verirrt und dann hierher zurückgefunden hat. Deshalb würde ich sagen: Geben wir ihm etwas Wasser, denn es ist bestimmt völlig ausgelaugt, und gehen wir zurück ins Haus.«

»Mittenwool«, sagte ich und schüttelte den Kopf, denn während er sprach, waren mir mehrere Dinge in den Sinn gekommen. Und all diese Gedanken in meinem Kopf schienen mich zum Handeln aufzufordern. »Bitte hör mich an. Ich glaube, das Pony hier ist … ist ein Zeichen. Ich glaube, es ist meinetwegen hier. Ich weiß nicht, ob Pa es geschickt hat oder der liebe Gott, aber es ist ein Zeichen. Ich muss nach Pa suchen.«

»Also wirklich, Silas. Ein Zeichen?«

»Ja, ein Zeichen.«

»Pffah.« Verächtlich schüttelte er den Kopf.

»Glaub, was du willst.« Wieder hob ich meinen Fuß in den Steigbügel.

»Pa hat dir gesagt, dass du auf ihn warten sollst. Du darfst nicht das Haus verlassen. Unter keinen Umständen. Das hat er gesagt. Und daran musst du dich auch halten. Er kommt in einer Woche zurück. Du musst nur Geduld haben.«

Einen Augenblick lang kam meine Entschlossenheit ins Wanken. Eine Sekunde zuvor war alles so klar gewesen, aber genau das machte Mittenwool manchmal mit mir: Er konnte mir Dinge ausreden, mich ins Zweifeln bringen.

»Außerdem weiß du ja gar nicht, wie man ein Pferd reitet«, fügte er hinzu.

»Natürlich weiß ich das! Ich reite Mule doch andauernd.«

»Mule ist eher Esel als Pferd, machen wir uns nichts vor. Und du verhältst dich im Augenblick übrigens auch ein bisschen wie ein Esel. Jetzt komm ins Haus.«

»Du bist der Esel.«

»Komm schon, Silas. Gehen wir wieder rein.«

Sein Drängen überzeugte mich beinahe, meinen Plan aufzugeben. Um ganz ehrlich zu sein, ich war in meinem Leben nur zweimal auf einem Pferd geritten, und in beiden Fällen war ich noch so klein gewesen, dass Pa mich auf den Sattel heben musste.

Aber dann schnaufte das Pony, blähte seine Nüstern weit auf, und irgendwie kam mir das wie eine Einladung vor, auf ihm zu reiten. Mit meinem nackten Fuß immer noch halb im Steigbügel, hievte ich mich rasch auf den Sattel. Aber als ich versuchte, mein zweites Bein auf die andere Seite zu bekommen, rutschte mein Fuß aus der Lederschnalle, und ich fiel rückwärts in den Schlamm. Das Pony stieß ein kurzes Wiehern aus und schlug mit dem Schweif.

»Verdammt!«, brüllte ich und schlug mit den Händen auf den Matsch ein. »Verdammt! Verdammt!«

»Silas«, sagte Mittenwool behutsam.

»Warum hat er mich hiergelassen?«, rief ich. »Warum hat er mich ganz allein gelassen?«

Mittenwool kniete sich neben mich. »Du bist nicht allein, Silas.«

»Doch, bin ich!« Ich spürte, wie eine große Träne plötzlich und unerwartet an meiner linken Wange herunterrann. »Er hat mich hier allein gelassen, und ich weiß nicht, was ich tun soll!«

»Hör mir zu, Silas. Du bist nicht allein. Hörst du? Ich bin hier. Das weißt du.« Bei diesen Worten schaute er mir direkt in die Augen.

»Ich weiß, aber …« Ich hielt inne und wischte mir mit dem Ärmel die Tränen ab. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden. »… aber, Mittenwool, ich kann nicht hierbleiben. Ich kann nicht. Etwas sagt mir, dass ich aufbrechen und Pa suchen muss. Ich spüre es in allen Knochen: Ich muss ihn finden. Das Pony ist meinetwegen hier. Siehst du das denn nicht? Es ist zu mir gekommen.«

Mittenwool seufzte und schaute kopfschüttelnd zu Boden.

»Ich weiß, es klingt verrückt«, fügte ich hinzu. »Gott, vielleicht bin ich verrückt. Ich sitze hier im Schlamm und streite mich mit einem Geist über ein aus dem Nichts aufgetauchtes Pony. Wenn das nicht verrückt klingt.«

Mittenwool zuckte unmerklich zusammen. Ich wusste, dass er das Wort nicht mochte. Geist.

»Du bist nicht verrückt«, sagte er leise.

Ich schaute ihn flehentlich an. »Ich reite nur bis zum Waldrand. Versprochen. Weiter werde ich nicht gehen. Wenn ich jetzt aufbreche, schaffe ich es dorthin und kann bis Sonnenuntergang wieder hier sein. Der Ritt dauert doch nur zwei Stunden, oder?«

Mittenwool blickte zum Bergkamm hinüber. Ich wusste, was ihm durch den Kopf ging. Vielleicht dachte ich es selbst. Ich hatte mich seit Jahren vor diesem Wald gefürchtet. Pa hatte mich einmal versuchsweise zum Jagen dorthin mitgenommen, als ich acht gewesen war, und am Ende war ich vor lauter Angst in Ohnmacht gefallen. Ich habe schon immer in Bäumen alle möglichen bösen Gestalten erblickt. Ich glaube auch, es ist kein Zufall, dass ich vom Blitz getroffen wurde, als ich in der Nähe einer Eiche stand.

»Und was willst du tun, wenn du beim Wald angekommen bist?«, wandte Mittenwool ein. »Du guckst nur mal kurz rein, sagst Guten Abend und kommst zurück? Was soll dabei herauskommen?«

»Zumindest weiß ich dann, dass Pa nicht so nah bei uns ist, dass ich ihm hätte helfen können. Ich weiß dann, dass er nicht in unserer Nähe in irgendeinem Graben liegt, verletzt ist oder …« Meine Stimme verlor sich. Ich schaute ihn an. »Bitte, Mittenwool. Ich muss das tun.«

Er wandte sein Gesicht ab, stand auf und kaute auf seiner Unterlippe. Das tat er immer, wenn er angestrengt über etwas nachdachte.

»Schön«, sagte er schließlich. Es klang bedauernd. »Du hast gewonnen. Bringt ja nichts, mit einer Person vernünftig zu reden, wenn sie etwas in allen Knochen spürt.«

Ich wollte etwas sagen.

»Aber du reitest nicht barfuß da raus!«, fuhr er fort. »Oder ohne Jacke. Und dieses Pony braucht Wasser. Also, eins nach dem anderen. Führen wir es erst mal zur Tränke, und dann packen wir ein paar Vorräte ein. Und danach reiten wir — selbstverständlich — bis zum Waldrand und suchen nach Pa. Klingt das gut?«

Ich spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug.

»Heißt das, du kommst mit?« Ich hatte nicht gewagt, ihn darum zu bitten.

Er hob die Augenbrauen und lächelte. »Natürlich komme ich mit, du Dummkopf.«

Zwei

Die Geschichte des Ich liebe dich,

sie hat kein Ende.

Unbekannter Autor, »The Riddle Song«

1

Ich weiß, es hört sich unwahrscheinlich an, aber ich kann mich an den Tag erinnern, an dem meine Mutter gestorben ist. Den größten Teil davon war ich in ihrem Bauch, und während sie in den Wehen lag, konnte ich ihr Herz hören, das wie ein wilder kleiner Vogel flatterte. Als ich schließlich zur Welt gekommen war, legte Pa mich in ihre Arme. Ich wand und krümmte mich, und sie lächelte. Aber der wilde Vogel in ihrem Inneren war schon zum Abflug bereit, also reichte sie mich an Pa zurück, kurz bevor ihre Seele ihren Körper verließ. Ich sah es mit meinen Babyaugen, und noch heute erinnere ich mich, dass ihre Seele aufstieg wie Rauch aus einer Flamme.

Ich weiß, wer das liest, wird glauben, Mittenwool hätte mir meine Geburt bloß genau beschrieben und als meine eigene Erinnerung ausgegeben, aber das ist nicht der Fall. Ich erinnere mich erstaunlich genau. An Mamas Augen und ihr Lächeln, daran, wie müde sie war und so voller Traurigkeit, weil sie nicht mehr Zeit mit mir zusammen auf dieser Welt verbringen konnte.

Ich weiß nicht, warum ich an die Umstände meiner Geburt dachte, als ich von unserem Haus davonritt. Es ist schon seltsam, welche Wege unser Verstand in unruhigen Zeiten einschlägt. Ich musste schon an Mama gedacht haben, bevor ich das Haus verlassen hatte, denn warum hätte ich sonst ihre bayerische Geige mitnehmen sollen auf eine Reise, von der ich doch glaubte, sie würde nur sehr kurz werden? Dort war sie, in ihrem Kasten an einem Haken bei der Tür. Zwölf Jahre lang hatte sie dort gehangen, war wie ein Schatz gehütet, aber niemals hervorgeholt worden. Ohne jeden ersichtlichen Grund schnappte ich mir den Kasten vom Haken und nahm ihn mit. Dabei hatte ich bereits ein aufgerolltes Seil und ein Messer und eine Feldflasche mit Wasser und einen Sack voll Brot und gepökeltem Fleisch in den Händen — was ja alles sinnvoll war für meine Reise. Aber eine Geige? Die ergab keinen Sinn. Ich kann es mir nur so erklären: Vielleicht weiß das Leben manchmal schon, wohin es einen führen wird, bevor man es selbst weiß, und irgendwo tief in meinem Inneren, in den Kammern meines Herzens, wusste ich wohl, dass ich nicht wieder nach Hause zurückkehren würde.

2

Das Pony stapfte so langsam durch das hohe Gras der Felder, dass Mittenwool neben uns hergehen konnte, ohne schnelle Schritte machen zu müssen. Argos dagegen hatte keine Lust, mitzuhalten. Ganz gleich, wie sehr ich ihn anflehte, sich zu beeilen, oder mit der Zunge schnalzte, um ihn zu uns zu locken, mein einohriger Hund folgte uns lustlos in seinem üblichen watschelnden Gang. Als wir schließlich auf der ersten Anhöhe angekommen waren, schaute er mich an, als wolle er sagen: Ich gehe jetzt zurück, Silas. Leb wohl! Und dann drehte er sich um und humpelte ohne jede Gefühlsseligkeit davon.

»Argos!«, rief ich. Meine Stimme klang belegt in der feuchten Luft. Ich begann, das Pony herumzudrehen, um ihn wieder einzufangen.

»Lass ihn laufen«, sagte Mittenwool. »Er wird sicher nach Hause kommen.«

»Ich kann ihn doch nicht allein zurücklaufen lassen.«

»Der Hund kommt wunderbar ohne uns klar, Silas. Wenn er Hunger hat, wird er zum Haus des alten Havelock laufen wie immer. Außerdem bist du bei Einbruch der Nacht ja wieder zu Hause. Oder? Das hattest du doch versprochen.«

Ich nickte, denn zu diesem Zeitpunkt hatte ich das wirklich vor. »Ja.«

»Also, lass ihn ruhig nach Hause laufen. Dann kommen wir auch ein bisschen schneller voran und müssen nicht immer aufpassen, dass die alte Schlafmütze nicht den Anschluss verliert.«

Mittenwool begann, die andere Seite des Kamms hinunterzurennen, die von kurzem Büffelgras und giftigem Knopfbusch bedeckt war, der in einzelnen Tupfen zwischen langen Sandsteinstreifen hervorspross. Das ist der Grund, warum diese Gegend es einem so schwer machte, etwas anzubauen, und diese Teile des Landes so verlassen waren; warum man dort stundenlang wandern und keiner Menschenseele begegnen konnte. Kein Farmer hätte das Land angerührt, kein Rancher begab sich auch nur in die Nähe. Gottverlassene Prärie, so hätte man es auf der Landkarte bezeichnen sollen.

Ich atmete tief ein und gab dem Pony einen leichten Stoß mit den Hacken, damit es schneller wurde und wir Mittenwool einholen konnten. Ich hatte Angst, dass das Tier scheuen und mich abwerfen oder in einen wilden Galopp ausbrechen würde. Stattdessen nahm es einen ganz sanften Trab auf. Als wir Mittenwool überholten, fühlte es sich an, als schwebten wir einen halben Meter über dem Boden.

»Schau dich an, auf deinem geflügelten Ross«, sagte er bewundernd.

Ich zog an den Zügeln, um das Pony langsamer werden zu lassen. »Siehst du, wie er dahingleitet? Seine Hufe berühren kaum den Boden.«

Mittenwool lächelte. »Es ist ein feines Pferd«, gab er zu.

»Oh, er ist besser als fein«, erwiderte ich, beugte mich vor und tätschelte Ponys Hals. »Stimmt das nicht, Pony? Du bist besser als bloß fein, nicht wahr? Du bist ein fabelhaftes Pferd, das bist du.«

»So willst du ihn nennen? Einfach Pony?«

»Nein. Ich weiß noch nicht, wie ich ihn nennen will. Vielleicht Bukephalos? Das war das Pferd von Alexander dem Gro—«

»Ich weiß, wer Bukephalos war!«, unterbrach er mich beleidigt. »Und das ist ein viel zu großspuriger Name für ihn. Pony ist viel besser. Passt besser zu ihm.«

»Nicht von seinem Rücken aus. Ich sage dir, dieses Pferd hat etwas ganz Besonderes an sich.«

»Das will ich gar nicht bestreiten. Aber ich glaube trotzdem, dass Pony der richtige Name für ihn ist.«

»Mir wird noch was Besseres einfallen, wart nur ab. Möchtest du mit mir auf ihm reiten?«

»Ach, ich geh ganz gern zu Fuß.« Er trat mit einem nackten Fuß gegen die knöchrigen Büsche. Solange ich ihn kannte, hatte Mittenwool niemals Schuhe getragen. Ein weißes Hemd, schwarze Hosen, Hosenträger. Manchmal ein Hut. Aber niemals Schuhe. »Auch wenn ich zugeben muss, dass sich dieser Boden sehr seltsam anfühlt unter den Füßen.«

»Das müssen die Salzstellen sein«, sagte ich und schaute mich um. »Pa gräbt hier immer nach Bromsalz.«

»Als würde man auf einem ausgetrockneten Teich laufen.«

»Weißt du noch, wie er einmal erzählt hat, das alles hier wäre irgendwann ein Ozean gewesen, vor Millionen von Jahren?«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass es sich so rau angefühlt hat, als wir das letzte Mal hier waren.«

»Verdammt, Mittenwool, ich hätte mit ihm gehen sollen.«